p-4ra-2 A. BolligerA. PfänderH. MünsterbergDer gute und der böse Wille    
 
GOTTLOB FRIEDRICH LIPPS
Der freie Wille

"Man kann beispielsweise nicht angeben, wann der einzelne Mensch sterben wird. Aber für 10 000 oder 100 000 gleichzeitig geborener Menschen, die eine Generation bilden, besteht eine feststellbare und tatsächlich in den Sterbetabellen festgestellte Absterbeordnung, die den Lebensversicherungsgesellschaften als Grundlage dient."

Es könnte scheinen, daß die Aufgabe, vor der wir uns gestellt sehen, keiner Lösung zugänglich sei. Denn wir setzen den Lebenstrieb voraus, weil wir die äußeren Einflüsse nicht für die unmittelbare Ursache der Lebensbetätigungen halten können und uns doch eine Ursache denken müssen. Diese Ursache ist aber bloß in der Weise bestimmbar, daß wir die Wirksamkeit ebenjener äußeren Einflüsse in Betracht ziehen, ohne uns hierbei auf die Vermittlung der Wirksamkeit durch den Lebenstrieb zu stützen.

Die Verlegenheit, die wir empfinden, verschwindet indessen, sobald wir bemerken, daß der Mangel an einer eindeutigen Abhängigkeit das Bestehen gesetzmäßiger Beziehungen zwischen den äußeren Einflüssen und den mit ihnen zusammenhängenden Lebensäußerungen nicht hindert.

Diese Bemerkung führt uns zum Kernpunkt unserer ganzen Untersuchung. Wenn es nämlich möglich ist, den Zusammenhang zwischen den Einflüssen, denen wir unterliegen und den Handlungen, die wir vollführen, so festzustellen, wie er tatsächlich besteht, ohne Rücksichtnahme auf die Vermittlung durch den Lebenstrieb, dessen Annahme die eindeutige Bestimmtheit unseres Handelns ohne weiteres zur Folge hat, - dann wird es begreiflich, daß anstelle des Lebenstriebes, den das Bedürfnis nach einer durchgreifenden Kausalität allen Geschehens fordert, auch ein in anderer Weise sich betätigender Wille vorausgesetzt werden kann, der seinerseits durch freie Entscheidung aufgrund vernünftiger Überlegung den Mangel an eindeutiger Bestimmtheit des Handelns beseitigt.

Um das einzusehen, müssen wir darauf achten, daß es in Wahrheit zwei Arten von Gesetzmäßigkeiten gibt, die den Zusammenhang der Geschehnisse regeln.

Die Gesetzmäßigkeiten der einen Art bestimmen den einzelnen Vorgang in seinem unmittelbaren Verlauf: etwa den Fall eines Körpers; seinen Zusammenstoß mit einem anderen Körper; die Anziehung und Abstoßung zweier Körper aufgrund ihres elektrischen oder magnetischen Zustandes; die chemische Zerlegung und Verbindung der Körper. An diese Gesetzmäßigkeiten pflegt man zu denken, wenn man vom Naturgeschehen spricht.

Die Gesetzmäßigkeiten der anderen Art werden weniger beachtet; sie werden im allgemeinen nicht in ihrer Besonderheit anerkannt, da man geneigt ist, überall, wo sie bei der Beobachtung des Naturgeschehens auftreten, ihre Zurückführbarkeit auf die an erster Stelle genannten Gesetzmäßigkeiten anzunehmen. Aber wenn es auch als möglich gelten kann, die Gesetzmäßigkeiten der zweiten Art auf jene der ersten Art zurückzuführen, so ist diese Zurückführung doch nicht immer tatsächlich ausführbar. Und darum müssen wir uns diese andere Art von Gesetzmäßigkeit in ihrer Besonderheit klarlegen.

Die Besonderheit besteht darin, daß die Gesetzmäßigkeiten nicht für den einzelnen, zur Beobachtung gelangenden Vorgang gelten, sondern erst bei der Beobachtung einer größeren Anzahl von Vorgängen derselben Art zutage treten.

Solche Gesetzmäßigkeiten sind schon im 17. Jahrhundert bekannt geworden. Sie wurden durch die Beobachtung der Geburten und Todesfälle für eine große Anzahl von Menschen, die in einer Stadt oder in einem Land zusammen wohnen, festgestellt. Im Jahre 1662 hat JOHN GRAUNT der königlichen Gesellschaft zu London eine Schrift überreicht, die "Natur- und Staatswissenschaftliche Beobachtungen aufgrund der Totenlisten der Stadt London" enthielt, "mit Rücksicht auf Regierung, Gewerbe, Zu- und Abnahme der Bevölkerung, Klima und Krankheiten". In jener Schrift waren durch langjährige Beobachtung der Geburten und Todesfälle zum ersten Mal Regelmäßigkeiten festgestellt worden, wie die: daß Knaben- und Mädchengeburten sich nahezu das Gleichgewicht halten, so jedoch, daß die Knabengeburten in geringerem Maße (etwa im Verhältnis 21:20) die Mädchengeburten überwiegen; daß eine nach gewissen Regeln sich vollziehende Bewegung in der Bevölkerung einer so großen Stadt wie London nachweisbar sei; daß eine gewisse Ordnung im Absterben einer größeren Anzahl gleichzeitig Geborener vorhanden sei, daß auch das Auftreten von Todesfällen bestimmter Art, der Ertrunkenen oder sonstwie Verunglückten, der Geisteserkrankungen, der Selbstmorde eine gewisse Regelmäßigkeit zeigt. - Es waren dies die Anfänge der Beobachtungen, die SÜSSMILCH in seinem Werk (1) "Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts" weitergeführt und die insbesondere der belgische Astronom QUETELET (2) zum dem gewöhnlich als "Moralstatistik" bezeichneten Untersuchungsgebiet ausgestaltet hat.

Bei der Ableitung dieser Gesetzmäßigkeiten werden die einzelnen, zur Beobachtung gelangenden Vorgänge nicht auf ihre Ursachen zurückgeführt. Das ist nicht möglich, da es an der Kenntnis der Ursachen fehlt. Aber trotz der Unbestimmbarkeit der einzelnen Vorgänge lassen sich Bestimmungen ausführen, die für die Vielheit zusammengehöriger Vorgänge Geltung beanspruchen. Auf diese Bestimmungen gründen sich die in Frage stehenden Gesetzmäßigkeiten.

Man kann beispielsweise nicht angeben, wann der einzelne Mensch sterben wird. Aber für 10 000 oder 100 000 gleichzeitig geborener Menschen, die eine Generation bilden, besteht eine feststellbare und tatsächlich in den Sterbetabellen festgestellte Absterbeordnung, die den Lebensversicherungsgesellschaften als Grundlage dient. Denkt man sich nun den einzelnen Menschen durch die gleichaltrigen Menschen einer ganzen Generation ersetzt, so kann man festsetzen, was z. B. ein Dreißigjähriger für die Dauer seines Lebens jährlich einzahlen muß, damit ihm im Falle seines Todes eine bestimmte Summe von der Versicherungsgesellschaft ausbezahlt werden kann. Denn die Gesamtheit der Dreißigjährigen, die einer Generation angehören, stirbt in vorbestimmter Weise ab, wie es die Sterbetabelle mit hinreichender Sicherheit angibt.

Zur Erläuterung solcher Gesetzmäßigkeiten dient in einfachster Weise das Würfelspiel. Nehme ich einen Würfel in die Hand, um ihn in bestimmter Weise, in bestimmter Stärke und Richtung zu werfen, so muß sich, wenn ich auch noch die Unterlage, auf die der Würfel fällt, beachte, ein ganz bestimmter Wurf ergeben. Es wird also eine ganz bestimmte Seite nach oben zu liegen kommen; der Würfel muß auch einen ganz bestimmten Weg in der Luft und auf der Unterlage, über die er rollt, zurücklegen und an einer ganz bestimmten Stelle liegen bleiben. - Aber von all diesen Bestimmtheiten habe ich keine hinreichende Kenntnis. Ich erschließe ihr Vorhandensein nur aus der allgemein angenommenen Gesetzmäßigkeit allen und jedes Geschehens, von der auch ich überzeugt bin. Ich kann jedoch, indem ich mich anschicke, den Würfel zu werfen, nicht angeben, bis zu welcher Stelle er rollen und welche Seite nach oben zu liegen kommen wird. Die Ursachen, die den Erfolg des Wurfs bestimmen, hängen somit an den Umständen, die ich nicht beherrsche, und deren Wirksamkeit sich im einzelnen meiner Kenntnis entzieht. Aber trotz meines Unvermögens, den Erfolg eines einzelnen Wurfs vorherzusagen, kann ich doch im voraus Angaben machen, die für eine Vielheit von Würfen Geltung beanspruchen. Ich kann vorhersagen, daß bei einem Würfel, der nicht gefälscht ist, sondern die richtige Beschaffenheit hat, bei oftmaligem Werfen schließlich jede Seite und jede Kombination von Seiten in einer bestimmten, durchschnittlichen Häufigkeit auftreten wird. Diese Durchschnittswerte geben die Wahrscheinlichkeit an, die für das Auftreten jeder Seite und jeder Kombination von Seiten bestehen.

Es ist bemerkenswert, daß alle diese Gesetzmäßigkeiten mit Lebensäußerungen zusammenhängen. In der Tat würden wir an der Unbestimmbarkeit des einzelnen Wurfs beim Würfelspiel nicht mehr festhalten, wenn das Werfen des Würfels nicht mit unserer Hand, sondern durch eine Maschine vollzogen würde. Denn die Maschine, die den Würfel automatisch abschleudert und wieder aufnimmt, würde sich mit vollkommener Gleichmäßigkeit betätigen, während mit unserer, durch Übung und Ermüdung und durch sonstige, unberechenbare Einflüsse bedingten Lebensbetätigung, wenn sie auch nur im Ergreifen und Werfen des Würfels besteht, eine vollkommene Gleichmäßigkeit unvereinbar ist.

Das führt uns dazu, in den Gesetzmäßigkeiten der zweiten Art, die aus Wahrscheinlichkeitsbestimmungen hervorgehen, das charakteristische Merkmal von Lebensäußerungen zu suchen. Denn es besteht zwar natürlich die Möglichkeit, auch bei Vorgängen in der unbelebten Natur die Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechung anzuwenden und bei bloßen Wahrscheinlichkeitsbestimmungen, die im Durchschnitt vieler Fälle gelten, stehenzubleiben. Die Meteorologie insbesondere begnügt sich vielfach mit der Ermittlung von solchen Durchschnittswerten. Selbst die mechanische Wärmetheorie benutzt bei der Ableitung der Wärmewirkungen aus dem Stoß der Moleküle die Bestimmung von Durchschnittswerten nach den Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aber diese Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist in diesen Fällen nicht mit dem Wesen der Erscheinungen verknüpft. Denn die Moleküle verfolgen mit eindeutiger Bestimmtheit ihren Weg; sie stoßen aufeinander, wenn sie einander begegnen und es kann natürlich auch eine mittlere Wegelänge berechnet werden, die von den Molekülen durchschnittlich zwischen je zwei aufeinanderfolgenden Zusammenstößen zurückgelegt wird. Es ergeben sich andererseits aus der physikalischen Beschaffenheit der Atmosphäre im Verein mit den Einflüssen der Bodentemperatur und der Sonnenwärme die meteorologischen Erscheinungen wie Luftdruck, Wärme, Wolkenbildung und Niederschlag in eindeutiger Bestimmtheit. Da wir aber die in Betracht kommenden Umstände nicht insgesamt übersehen, so ist die Beschränkung auf Mittelwerte als Zugeständnis unserer mangelhaften Einsicht unvermeidlich; sie ist aber keineswegs in der Wirkungsweise der maßgebenden Faktoren begründet. Bei den Äußerungen der Lebewesen hingegen ist von vornherein eine eindeutige Bezugnahme auf die äußeren Einflüsse unmöglich, weil diese Einflüsse nicht unmittelbar, sondern nur durch die Vermittlung des Lebewesens, das sich in einem ununterbrochenen Prozeß der Entwicklung befindet, zur Geltung kommen.

Dies bezeugt insbesondere bezüglich der Handlungen, die wir selbst ausführen, das Bewußtsein, das wir von unserem Handeln haben. Den letzten Grund unseres Handelns können wir in der Tat niemals in einem äußeren Anlaß finden: unser persönliches Dasein, unser Ich nimmt alle Einflüsse in sich auf und läßt sie nur als Ausfluß seiner unteilbaren Einheit in wechselndem Grad wirksam werden. Unser persönliches Dasein, unsere Seele kann aber niemals als etwas in endlicher Abgeschlossenheit für sich Bestehendes angesehen werden. Diese Einsicht finden wir schon bei den Philosophen des Altertums. Von HERAKLIT wird der Ausspruch überliefert (3): "Der Seele Grenzen kannst dur nicht ausfinden und ob du jegliche Straße abschrittest, so tiefen Grund hat sie." Und der Grund der Seele oder des Lebens ist deshalb so unergründlich tief, weil in ihm die ganze Vergangenheit ruht und wirksam bleibt. Bei allem, was wir tun, gewinnt das, was wir früher getan haben, von neuem Einfluß und Bedeutung; und nicht nur das, was wir selbst getan haben und in selbst erworbenen Gewöhnungen zur Geltung kommt, sondern auch das, was unsere Vorfahren getan haben und durch Vererbung auf uns übergegangen ist. Da kommen wir in der Tat zu keinen Grenzen. Bis zu den Anfängen allen Lebens im werdenden Kosmos, bis zum Urgrund allen Seins in der schaffenden Gottheit müßten wir zurückgehen, um alle Einflüsse, die unser Handeln bestimmen, festzustellen. Es ist deshalb nicht möglich, die Gesetzmäßigkeiten, die unser Handeln im Durchschnitt vieler Fälle unter gleichartigen äußeren Umständen zeigt, aus der Wirksamkeit von Ursachen, aus denen die einzelnen Handlungen hervorgehen, abzuleiten.

Darum gibt es niemals eine durchaus sichere Bestimmung und Voraussage bezüglich der einzelnen Handlungen, die ein Mensch vollbringt. Man wendet vielleicht ein, daß doch der Charakter des Menschen dafür bürge. Aber der Charakter ist eben das Gepräge, das die ganze ins Unbegrenzte zurückreichende Vergangenheit, soweit sie durch Vererbung und Gewöhnung der Gegenwart innewohnt und wirksam bleibt, dem Menschen aufdrückt. Und ebendieses Gepräge können wir niemals in allen einzelnen Zügen verfolgen. Es bleibt daher für unsere Auffassung der Charakter des Menschen stets mit einer gewissen Unbestimmtheit behaftet.

Wollte man daraus den Schluß ziehen, daß demnach jeder Mensch für fähig gehalten werden müse, jegliche Handlung zu begehen, so müßte zugestanden werden, daß es in Wirklichkeit sich so verhält; nur mit der Einschränkung, daß für verschiedene Menschen auch verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit für das Eintreten der verschiedenen Handlungsweisen bestehen. Und wenn man es für ausgeschlossen hält, daß ein Mensch, den wir kennen, eine bestimmte Tat begangen habe, so kann dies nur den Sinn haben, daß die Wahrscheinlichkeit für das Begehen der Tat aufgrund unserer Kenntnis überaus klein oder verschwindend klein sei. Eine, wenn auch noch so geringe Wahrscheinlichkeit ist aber immer noch vorhanden: je nach den Umständen kann die Tat, die wir als unmöglich ansehen, doch begangen werden. Denn das Wesen des Menschen ist in Wahrheit unergründlich.

Eben deswegen nehmen wir in naiver Unbefangenheit etwas im Menschen als wirksam an, das die vorhandene Unbestimmtheit beseitigt und die bestimmte Handlung herbeiführt. Dieses Etwas ist der  Wille.  Er ist für das kritisch forschende, den Zusammenhang allen Geschehens betrachtende Denken gar nicht vorhanden. Der kritischen Betrachtungsweise erweist sich der Wille an das naive Verhalten gebunden, das den Menschen, wie er leibt und lebt, in begrenzter, abgeschlossener Endlichkeit voraussetzt und ihn in dieser vermeintlichen Begrenztheit und Abgeschlossenheit als den Vollbringer seiner Taten ansieht. Anstelle des Willens tritt daher für die kritische Betrachtungsweise der Einblick in die niemals abgeschlossene vorliegende Verwebung der Handlungen mit den in die unbegrenzte Vergangenheit zurückreichenden Einflüssen, denen der Mensch unterliegt. Und es muß dabei unentschieden bleiben, ob mit dem immer weiteren Zurückgehen auf die Einlüsse der Vergangenheit die Bestimmtheit des Handelns selbst mehr und mehr ins Unbegrenzte wächst, so daß durch den Inbegriff aller überhaupt denkbaren Einflüsse das Handeln schlechthin bestimmt wird - oder ob die Bestimmtheit nur mehr und mehr gewissen Grenzen sich nähert, ohne dieselben zu erreichen und zu überschreiten. Nur dann, wenn der Bestimmbarkeit des Handelns solche unüberschreitbare Grenzen, die man Asymptoten nennen kann, gezogen sind, ist es möglich, den so sich ergebenden, schlechthin unbestimmbaren, innersten Kern und Grund des Lebens als eine übersinnlich und außerzeitliche, aber doch dem sinnlichen und zeitlichen Verlauf des Lebens immanente Daseinsweise anzusehen, wie sie KANT voraussetzt und wie sie im Anschluß an KANT auch von FICHTE und SCHELLING und nicht minder von SCHOPENHAUER angenommen wird.

Wir erkennen jedoch zugleich, daß diese Daseinsweise nicht das Feld ist, in dem sich der freie Wille betätigt. In ihr stellt sich der innerste verborgenste Kern des Lebenstriebes dar, der unableitbar und unbestimmbar ist, auch keiner Verursachung unterliegt. Aber soweit er in den Handlungen des Menschen zur Geltung kommt, können wir ihn nicht als eine Willensbetätigung ansehen, die nach vorbestimmten Zielen mit Überlegung strebt und dieses Streben schließlich auch ebensowohl unterlassen könnte. Wir müssen ihn vielmehr als die ursprünglich bestehende und eindeutig wirksame Ursache unseres Handelns ansehen, mit der sich alle äußeren Einwirkungen unter Preisgabe ihrer selbständigen Wirksamkeit verweben und so den unaufhörlich sich verändernden und sich entwickelnden Lebenstrieb in seiner jeweiligen Gestaltung bedingen.

Sobald wir jedoch zur naiven Auffassung zurückkehren und den Menschen in scheinbar abgeschlossener Endlichkeit als den Täter seiner Taten ansehen, stellt sich auch mit unaufhebbarer Notwendigkeit der Wille ein, der die Unbestimmtheit des Handelns aufhebt und die Entscheidung herbeiführt. Und dieser, der naiven Auffassungsweise unentbehrliche Wille muß als frei gelten, da er von sich aus entscheidet und aufgrund seiner Entscheidung handelt.

Es besteht demnach in der Tat der Zwiespalt in der Auffassung unseres Handelns, den KANT zuerst mit voller Deutlichkeit erkannt hat. Er hat jedoch nicht, wie KANT meint, im Zusammenbestehen einer sinnlichen und übersinnlichen Daseinsweise seinen Grund, sondern im Zusammenbestehen der naiven und der kritischen Auffassungsweise unseres Daseins.

Indem wir nämlich ein Bewußtsein von unserem Handeln gewinnen, das niemals mit eindeutiger Bestimmtheit aus äußeren Anlässen hervorgeht, sehen wir uns genötigt, den unmittelbaren Grund für all unser Tun und Lassen nicht in der Außenwelt, sondern in uns selbst zu suchen. Wir haben nun die Neigung, unser Dasein so, wie es in unserem Bewußtsein zutage tritt, als abgeschlossen vorliegend und für sich bestehend anzusehen. Darin zeigt sich unser naives Verhalten. Wir glauben alsdann die Ursache für die Betätigungen unseres Daseins eben in dem Bewußtsein zu finden, in dem es sich darbietet; und wir machen demgemäß das freie, von sich aus erfolgende Walten eines vernunftbegabten Willens oder einer willensstarken Vernunft für unsere Handlungen verantwortlich. Ebendieselbe Neigung macht sich mit dem entsprechenden Erfolg bei der Auffassung aller Dinge und der ganzen Welt geltend. Darum betrachten wir in unserem naiven Verhalten die Dinge und die ganze Welt wie etwas für sich Bestehendes, an das wir herantreten, um es so wahrzunehmen und zu erkennen, wie es in seiner vermeintlichen, unbedingt und schlechthin bestehenden Wirklichkeit beschaffen ist.

Bei fortschreitender Entwicklung unseres geistigen Lebens werden wir aber darauf aufmerksam, daß wir selbst es sind, die alle Dinge und auch unser eigenes Dasein in unserem Bewußtsein erfassen und daß somit die ganze, in vermeintlicher Unabhängigkeit bestehende Wirklichkeit nur in den Unterscheidungen und Verknüpfungen unseres Denkens sich zu erkennen gibt. Das führt uns zu kritischen Verhalten. Wir werden uns nun der Tatsache bewußt, daß wir durch unser Wahrnehmen und Denken zur Erkenntnis der Dinge und unseres Daseins gelangen. Dann vermag sich das scheinbar für sich Bestehende nur noch in den von uns vollzogenen Unterscheidungen und Verknüpfungen zu behaupten; und demgemäß gewinnt auch unser eigenes Dasein nur im Inbegriff der Bedingungen und Bestimmungen seinen Halt, durch die es sich in unserem Denken und Erkennen mit der Gesamtheit allen Geschehens verknüpft.

Das Fortschreiten zum kritischen Verhalten hebt jedoch das naive Verhalten, das im Getriebe des täglichen Lebens mit unabwendbarer Notwendigkeit immer wieder sich geltend macht, keineswegs auf. Und so verwebt sich so die naive Ansicht von unserem anscheinend abgeschlossen vorliegenden, von einem freien Willen beherrschten Dasein mit der kritischen Betrachtungsweise, die unser Leben und unser Handeln an den Verlauf des ganzen Weltgeschehens in vorbestimmter Gesetzlichkeit gebunden findet.

Den Widerspruch, der zwischen dem ursprünglich vorhandenen naiven Verhalten und der allmählich sich regenden kritischen Betrachtungsweise besteht, vermag indessen der denkende Mensch nicht hinzunehmen. Er fühlt das Bedürfnis nach einer widerspruchslosen Welt- und Lebensanschauung. So sucht er also zunächst, wie die antike und die christlich-mittelalterliche Auffassungsweise es uns vor Augen stellt, die Vernunft- oder Willenskraft, die dem naiven Menschen als Ursache des eigenen Handelns sich darbietet, zugleich als die Ursache allen Seins und Werdens in der gesamten Wirklichkeit zu erweisen.

Aber anstelle der Vernunftkraft PLATOs, die sich Ziele vorsetzt, erstrebt und festhält und anstelle der Willenskraft AUGUSTINs, die das Dasein der Dinge begründet, erfaßt und zu erhalten strebt, tritt für die kritische Betrachtungsweise der modernen Zeit die Auffassung des Geschehens in seiner reinen Gesetzlichkeit. Da werden triebartige Zustände der Dinge vorausgesetzt, die von sich aus unveränderlich beharren und nur durch ihr Zusammenbestehen mit den triebartigen Zuständen anderer Dinge, die ihrerseits von sich aus unveränderlich beharren - also durch innere Entwicklungen - zu einer Änderung veranlaßt werden.

Es ist ein mit Notwendigkeit sich vollziehender Entwicklungsgang, der in diesem, von der Antike durch das Mittelalter bis in unsere Tage sich erstreckenden Wandel der Grundauffassung allen Geschehens uns vor Augen tritt. Das Wesentlichste, für uns Bemerkenswerteste an diesem Wandel besteht darin, daß anstelle der in den Dingen selbst liegenden, von selbst sich vollziehenden Änderung ein beharrender Zustand tritt, der sich nicht von sich aus ändert, sondern nur durch äußere Einwirkungen geändert wird.

Daß aber diese moderne Auffassungsweise nicht oberflächlich und veräußerlicht ist, sondern in der Natur unseres Denkens ihren Grund hat und in die Tiefe führt, zeigt sich darin, daß nun eine, den vielgestaltigen Beziehungen unseres Denkens entsprechende Mannigfaltigkeit der Gesetzmäßigkeiten des Geschehens erfaßbar und feststellbar wird, während die, aus dem Wirken der Vernunft oder des Willens hervorgehende Gesetzmäßigkeit in jedem Fall von derselben Art sein mußte, da eine und dieselbe Vernunft oder ein und derselbe Wille den letzten Grund allen Geschehens bildete.

Um diese Vielgestaltigkeit in der Gesetzmäßigkeit des Geschehens einzusehen, bedarf es nur der einfachen Bemerkung, daß von vornherein, solange die Erfahrung noch keine Entscheidung herbeigeführt hat, jeder in unserem Denken erfahrbare Zusammenhang von Geschehnissen als möglich und der Verwirklichung fähig angesehen werden muß. Wir dürfen nicht von vornherein sagen, daß dieses oder jenes Geschehen unmöglich sei: Es ist möglich, wenn es denkbar ist. Nur solche Geschehnisse, die wir in unserem Denken nicht erfassen können, sind also unmöglich zu bezeichnen. Dies ist die einzige unerläßliche Voraussetzung. Denn wir sind denkende Menschen und wir verknüpfen in unserem Denken das ganze Weltgeschehen zu einer in sich zusammenhängenden Einheit. So wenig wir Dinge sehen und sonstwie wahrnehmen können, die keine räumliche Form haben und nicht in der Zeit beharren oder sich verändern, ebensowenig vermögen wir eine, in unserem Denken nicht vollziehbare Verknüpfung der Geschehnisse als in Wirklichkeit bestehend anzunehmen: Wir können ein außerräumliches und außerzeitliches Bestehen der Dinge nicht erfassen und wir sind auch nicht imstande ein Entstehen aus nichts und ein Vergehen in nichts zu denken. Alle denkbaren Veränderungen müssen hingegen als mögliche Arten des tatsächlich in der Welt sich vollziehenden Geschehens anerkannt werden. - Dies ist die Grundlage, auf der unsere Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang beruht.

Wir fassen nun in der Tat die im Raum zusammenbestehenden Körper als zusammengehörig auf. Wir müssen es daher für möglich halten, daß die Körper in Wahrheit räumlich zusammenhängen, daß aber die Veränderung des einen Körpers von einer zugehörigen Veränderung eines anderes Körpers begleitet ist. Wir sagen alsdann, daß die Körper aufeinander stoßen oder drücken, einander anziehen oder abstoßen oder sonstwie sich gegenseitig beeinflussen. In dieser Weise begreifen wir die Geschehnisse in der unbelebten Natur. Wir rden zwar von Kräften; aber wir können nur feststellen, daß sich mit dem einen Körper ein anderer verändert oder daß eine Einwirkung des einen Körpers auf den anderen stattfindet. Jeder denkbare Zusammenhang muß zunächst als möglich gelten. Und nur die Erfahrung kann lehren, welche Zusammenhänge zwischen den räumlich benachbarten Körpern tatsächlich bestehen. Diese tatsächlich bestehenden Zusammenhänge werden in ihrer Gesetzmäßigkeit erforscht und klargestellt.

Wir fassen aber andererseits auch die in der Zeit aufeinandfolgenden Zustände der Körper als zusammengehörig auf. Es sind ja Zustände desselben Körpers. Wir vergessen nicht, wie ein Körper, der sich verändert, vor seiner Veränderung beschaffen war. Wir müssen es somit als möglich ansehen, daß die Veränderungen eines bestimmten Körpers nicht nur von den anderen Körpern, die im Raum mit ihm zusammen vorhanden sind, sondern auch von den früheren Zuständen, die jener Körper gehabt hat und jetzt nicht mehr hat, abhängen. Auch da können wir von vornherein nur die Möglichkeit einer Beeinflussung durch die früheren Zustände behaupten; wir können jedoch ohne die Inanspruchnahme der Erfahrung nicht sagen, welche Beeinflussung ein Körper durch seine früheren Zustände tatsächlich erleidet. Hinsichtlich der Geschehnisse in der unbelebten Natur bedürfen wir des Zurückgehens auf die vergangenen Zustände nicht. Zur Erklärung der Veränderungen und Betätigungen der mit Leben begabten Körper ist aber die Berücksichtigung der vergangenen Zustände unerläßlich. Wir sind dann geneigt, von besonderen seelischen Vermögen oder Kräften zu reden, durch welche die in den vergangenen Zuständen begründeten Äußerungen des Lebens veranlaßt werden. Aber die seelischen Zustände selbst nicht ersparen. Und schließlich vermögen wir doch nur den Zusammenhang mit den vergangenen Zuständen in seiner Gesetzmäßigkeit festzustellen und zu erforschen. Die seelischen Kräfte oder Vermögen sind ebenso wie die Kräfte der unbelebten Natur keine Erklärungen des wirklichen Geschehens. Sie bieten auch keinen Ersatz für eine auf die Tatsachen der Erfahrung gestützte und in der Erkenntnis des gesetzmäßigen Zusammenhangs der Tatsachen bestehende Erklärung.

Wollen wir wissen, was ein unbelebter Körper eigentlich ist, so müssen wir feststellen, wie er sich aufgrund seines jeweiligen Zustandes im Zusammenhang mit anderen Körpern seiner Umgebung ändert. Auf seine früheren Zustände brauchen wir keine Rücksicht zu nehmen; wenn wir nur seine gegenwärtige Verfassung kennen. In diesem Sinn können wir sagen, daß ein unbelebter Körper keine Vergangenheit hat. Bei einem lebenden Wesen reicht hingegen die Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes nicht aus, wenn wir sein Verhalten unter irgendwelchen Einwirkungen feststellen wollen. Wir müssen wissen, was ein lebendes Wesen früher war, um angeben zu können, was es jetzt ist und wie es sich irgendwelchen Einwirkungen gegenüber verhalten wird. Ein lebendes Wesen hat eine Vergangenheit. Es steht unter dem Einfluß seiner Vergangenheit.

Dieser Einfluß der Vergangenheit erschließt uns das Verständnis für das Verhalten der Lebewesen. Er macht es begreiflich, daß ein lebendes Wesen nicht wie ein unbelebter Naturkörper den von außen kommenden Einflüssen preisgegeben ist, sondern durch diese äußeren Einflüsse nur bis zu einem gewissen Grad beeinflußt wird. Dieser immer wieder zur Geltung kommende Einfluß der Vergangenheit begründet im besonderen die persönliche Eigenart oder den Charakter des Menschen. Wir erkennen so, daß der tatsächlich vorhandene Charakter kein ursprüngliches, unwandelbares Sein ist, das sich in einer unveränderlichen Beschaffenheit in unseren Handlungen enthüllt, sondern daß er sich "im Strom der Welt" bildet. Nur, das bleibt unentschieden, ob durch die in die Vergangenheit zurückreichenden Einflüsse in ihrer endlosen Aneinanderreihung der Charakter vollständig oder nur bis zu gewissen Grenzen bestimmt wird, so daß ein uranfänglich bestehender Kern anerkannt werden müßte. Er wird indessen in dem einen wie im anderen Fall beeinflußt: er gestaltet sich und er kann auch umgestaltet werden.

Wir gewinnen so die Überzeugung von der durchgreifenden Bestimmheit und Gesetzlichkeit allen menschlichen Handelns und allen Geschehens überhaupt: von derselben Bestimmtheit und Gesetzlichkeit, zu der auch der Glaube an die antike Vernunftkraft und die mittelalterliche Willenskraft führt und zu der jede umfassende und einheitliche Auffassung der Welt und des Lebens hinführen muß.

Wir werden aber auch darauf aufmerksam, daß wir, eben wegen des Zurückreichens der bestimmenden Einflüsse in die uns keinesfalls völlig bekannte Vergangenheit, niemals imstande sind, die Ursachen unseres Handelns mit eindeutiger Bestimmtheit anzugeben.

Das ist der entscheidende Punkt. Wir sind als denkende Menschen von der durchgreifenden Gesetzlichkeit des menschlichen Handelns überzeugt. Wir glauben an diese Gesetzlichkeit und sind demgemäß geneigt, die Tat eines Menschen für ebenso bestimmt und notwendig zu halten wie ein sonstiges Geschehnis in der Natur. Aber die Bestimmtheit und Notwendigkit vermögen wir beim lebendigen, von seiner Vergangenheit beeinflußten Menschen nicht nachzuweisen. Wir sind zwar überzeugt, daß der Mensch durch die in ihm schlummernde, seine Persönlichkeit bedingende Vergangenheit unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen durchaus bestimmt wird und gar nicht anders handeln kann, als er in Wirklichkeit handelt. Wir müssen aber auch zugeben, daß die Bestimmtheit und Notwendigkeit des Handelns nicht bis in jede Einzelheit nachweisbar ist. Und diese beim Mangel an erkennbarer Bestimmtheit notwendig übrig bleibende Unbestimmtheit ist der Grund dafür, daß wir naiver Weise einen Willen annehmen, der von sich aus, also vollkommen frei, die Entscheidung herbeigeführt, die in der von uns erkennbaren Verursachung des Handelns noch nicht ausreichend begründet ist.

So löst sich für uns das Problem der Willensfreiheit durch die Unterscheidung des naiven und kritischen Verhaltens: gehen wir bis auf die letzten Bestimmungsgründe unseres Handelns in dem durch äußere Einflüsse bedingten Lebenstrieb zurück, so können wir keinen Willen und somit auch keine Möglichkeit anders zu handeln als so, wie wir tatsächlich handeln, anerkennen. Da aber die letzten Bestimmungsgründe unseres Handelns in Wahrheit nicht erfaßbar sind, so bleibt für unsere naive Betrachtungsweise, die nur das jeweils Erfaßbare kennt, die Möglichkeit bestehen, daß wir doch anders hätten handeln können. Und dann nehmen wir zur Erklärung der von uns nicht weiter verfolgbaren Entscheidung den Willen an, der die Entscheidung herbeiführt. Der Wille ist somit frei. Aber er ist für eine auf die letzten Gründe zurückgehende, kritische Betrachtungsweise gar nicht vorhanden. Er stellt sich indessen in unserer Auffassungsweise immer wieder ein, sobald wir uns und unsere Nebenmenschen in der uns erfaßbaren Bestimmtheit auffassen und so zur naiven Betrachtungsweise zurückkehren.

Wir verstehen hiernach, daß der Mensch in seiner ursprünglichen naiven Unbefangenheit mit Notwendigkeit an das Vorhandensein eines Willens glaubt, der die Befähigung zu freier Entscheidung hat; daß ber der Mensch, der zu kritischer Besonnenheit gelangt, mit gleicher Notwendigkeit aufgrund seiner Einsicht in die durchgreifende Gesetzlichkeit und Bestimmtheit allen Geschehens von der Annahme einer freien Willensbetätigung absieht.
LITERATUR - Gottlob Friedrich Lipps, Das Problem der Willensfreiheit, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    1) JOHANN PETER SÜSSMILCH, 2. Auflage 1762
    2) ADOLPHE QUETELET, Lettres sur la théorie des probabilités, 1846; Physique sociale, 1869
    3) DIELS, Fragmente der Vorsokratiker; Herakleitos