ra-2ra-2D. Koigenvon HallerJ. Mausbachvon HumboldtW. Hasbach    
 
HEINRICH von TREITSCHKE
Regierung und Regierte
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"Die Gesamtheit derer, die im Auftrag des Souveräns die Leitung des Staates in Händen haben, bezeichnet man summarisch als die Regierenden; und diese werden in jedem denkbaren Staat durch einen tiefen Gegensatz der politischen Anschauung von den Regierten getrennt sein. Wer nur regiert wird, sieht die Dinge von unten her, er denkt zunächst an die Stelle, wo ihn der Schuh drückt, er tritt fordernd an den Staat heran. Das ist die natürliche Gesinnung der Regierten; es gibt Naturen, die darüber nicht hinauskommen."

"Es ist rein unmöglich, in das Durcheinander des Parteiengewoges irgendein festes Prinzip zu bringen und vor allen Dingen muß man sich hüten vor der Selbstbespiegelung moderner Menschen, daß die Parteien sich durch zunehmende Bildung veredeln, daß sie sich im Laufe der Geschichte über ihren Zweck und über ihre Natur immer klarer werden. Gut oder schlecht wie die Parteien von jeher waren, werden sie auch in Zukunft sein."

"Das Widerwärtige an der deutschen sogenannten freisinnigen Partei in den Tagen Bismarcks war, daß diese Leute keine praktischen politischen Ziele hatten und nur vom Haß und Groll gegen den Mann lebten, der größer war als sie, und dem sie sein Dasein nicht verzeihen konnten. Daß die Dummheit und die Niedertracht Großmächte in der Geschichte sind, müssen wir zugeben. Parteien der Dummheit müssen vorhanden sein, weil einmal ein großer Teil der Menschen mit dieser Eigentümlichkeit behaftet ist."

"Es hat des Christentums bedurft, um den Gedanken von der Würde der menschlichen Persönlichkeit zu erwecken. Aristoteles sagt hinsichtlich der Sklaverei, es sei eigentlich nicht Recht, Menschen als Sachen zu gebrauchen, da es aber nunmal Menschen gibt, die sich über die Tiere nicht erheben können, soll man sie auch als solche behandeln. Also auch dieser freieste Kopf seiner Zeit konnte sich nicht zu der Anschauung erheben, welche die Grundlage des Christentums bildete."

Betrachten wir eine andere Gedankenreihe aus den Grundbegriffen der Staatswissenschaft: das Verhältnis von Regierung und Regierten als solchen, abgesehen von sozialen Gegensätzen. Wie alle bürgerliche Gesellschaft verschiedene Klassen des Vermögens und des sozialen Ranges enthält, so muß in jedem Staat ein natürlicher Gegensatz von Regierenden und Regierten vorhanden sein, es muß ein Oben und ein Unten geben. Die Gesamtheit derer welche in rechtlichen Formen die Herrschaft ausüben, wird kurz mit dem Wort Obrigkeit bezeichnet, und ihr stehen alle Übrigen als Untertanen gegenüber.

Es ist eine aus Frankreich herübergekommene radikale Schrulle, wenn man im Wort Untertan etwas Ehrenrühriges sieht und dafür Staatsbürger einsetzt. Untertan und Staatsbürger sind zwei ganz und gar sich deckende Begriffe, nur daß in jenem mehr die Verpflichtung, in diesem mehr die Berechtigung betont wird. Als der Freiherr von VINCKE im preußischen Abgeordnetenhaus einmal von Untertanen sprach, und die Leute von der Fortschrittspartei das als Servilität [knechtische Gesinnung] bezeichneten, da antwortete VINCKE ganz richtig: "Ja, meine Herren, ich bin Untertan des Königs von Preußen und Sie alle sind es auch". Natürlich sind wir Untertanen nicht eines sterblichen Menschen als solchen, sondern nur insofern er der Träger der gesamten Staatsgewalt ist, sie in sich vereinigt. Es ist die staatsrechtliche Unterordnung, die gegenüber dem Träger der Ordnung stattfindet.

Da der Staat unter allen Umständen eine Regierung über Regierte ist, so ist in jedem Staat der Gegensatz von Regierenden und Regierten gegeben. Der Staat allein ist souverän, ihm gegenüber sind alle Anderen Untertanen. Es ist also falsch, vom Privateigentum einer Familie am Staat zu reden, ebenso falsch aber auch, von einer Volkssouveränität zu sprechen, wonach das Volk gleichsam außerhalb des Staates gestellt wird. Man kann nur sagen: der Staat ist souverän und die Körperschaft, welche nach der positiven Verfassung die höchste Gewalt erhalten hat, wird als die souveräne bezeichnet. Das tritt in der Monarchie besonders deutlich hervor, es ist aber auch in jeder anderen Staatsform nachzuweisen. Der Sprachgebrauch der Venetianer war sehr bezeichnend; der gemeine Mann nannte den Großen Rat mit dem Kollektivnamen: Unser durchlauchtigster Fürst. Die Gesamtheit dieser Herrengeschlechter bildete den Souverän von Venedig. In der reinen Demokratie ist unzweifelhaft das Volk der Souverän, aber nicht im Sinne der Jesuiten oder ROUSSEAUs, sondern das Volk in seinen gesetzmäßigen Versammlungen. Daß aber in der Demokratie dann das Volk der Souverän ist, wird in der nordamerikanischen Bundesverfassung deutlich ausgesprochen: "Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, beschließen" usw.

Da es das eklektische [uneinheitliche - wp] Ideal eines gemischten Staates, der weder Fisch noch Fleisch ist, nicht gibt und nicht geben kann, so wird sich auch in den sogenannten konstitutionellen Monarchien der wirkliche Souverän überall erkennen lassen. Die Lehre vom gemischten Staat, in dem sich die Souveränität verteilen soll auf Verschiedene, ist unhaltbar. Dergleichen eklektische Torheiten pflegen nur politische Leisetreter wie CICERO zu begehen. CICERO lebte in einer der konsequentesten Aristokratien welche je bestanden haben und angesichts dieses hocharistokratischen Staatslebens hat er den Mut zu behaupten, das sei ein angenehmes Gemisch von Aristokratie, Monarchie und Republik. Die Souveränität läßt sich aber nicht teilen. Hier gilt es scharf zuzusehen und sich nicht durch verfassungsrechtliche Phrasen täuschen zu lassen.

Was man unter dem Wort Konstitutionalismus begreift, sind in Wahrheit ganz verschiedene Staatsformen, in denen sich auch der Sitz der Souveränität an ganz verschiedenen Stellen befindet. So ist in Belgien offenbar das Volk der Souverän. Der ganze Geist des Staates spricht das aus; "alle Gewalten gehen von der Nation aus" sagt der wichtigste Artikel der belgischen Verfassung. Die Dynastie regiert noch heute von Volkes Gnaden; der König ist ein republikanischer Beamter vom Volk eingesetzt, trotz aller schönen Reden von Erblichkeit. Wenn man das auf Deutschland anwenden wollte, so hieße es die Geschichte verfälschen. Wir waren allerdings 1848 in Preußen drauf und dran die belgische Verfassung anzunehmen. Ein größerer Teil der Bestimmungen ist in unsere Verfassung übergegangen Dank BENEDIKT WALDECK; das heillose Gemisch von Radikalismus und klerikalen Tendenzen sollte auch in unser ehrliches Preußen eingeführt werden. Aber jener Hauptsatz, von dem Alles abhängt, wurde in Preußen nicht aufgenommen, weil selbst die Radikalen fühlten, daß dies doch ein widerschreiender Widerspruch ist gegenüber unserer monarchischen Geschichte. Und so ist in Preußen trotz der Verfassung der Monarch König geblieben.

Wiederum in England ist auch vollkommen klar, wer Souverän ist. Souverän von England ist das Parlament, d. h. Oberhaus und Unterhaus. Diese müssen zusammenwirken, damit der Souverän seinen Willen ausspricht. Die eigentliche Souveränität liegt heute unzweifelhaft im Unterhaus; das Oberhaus wirkt etwas mit und ganz bescheiden in der Ecke steht dann noch das Königtum. Dieser Zustand war vor wenigen Jahrzehnten noch ein völlig gesunder, unklar und verwirrt sind die Zustände erst geworden, seitdem demokratische Elemente emporkommen. Ob es bei steigender Macht der Demokratie möglich sein wird das Land in den alten Formen zu regieren, ist eine Frage der Zukunft. In Deutschland ist völlig klar, daß wir noch wirkliche Monarchien haben. Soweit man in den Territorien von Staatsgewalt reden kann, ist der Monarch als souverän zu betrachten; vom preußischen Königtum gilt das unbedingt.

Die Gesamtheit derer, die im Auftrag des Souveräns die Leitung des Staates in Händen haben, bezeichnet man summarisch als die Regierenden; und diese werden in jedem denkbaren Staat durch einen tiefen Gegensatz der politischen Anschauung von den Regierten getrennt sein. Wer nur regiert wird, sieht die Dinge von unten her, er denkt zunächst an die Stelle, wo ihn der Schuh drückt, er tritt fordernd an den Staat heran. Das ist die natürliche Gesinnung der Regierten; es gibt Naturen, die darüber nicht hinauskommen. Der Abgeordnete LASKER war der Typus des regierten Menschen. Alles was in der Gesellschaft laut wurde, erkannte er mit scharfem Spürsinn und machte es sofort geltend.

Höchst lehrreich ist die Art, wie das Finanzwesen von diesem Standpunkt aus kritisiert wird. In der Zeit nach 1815, da sind Jahrzehnte hindurch von einer Reihe ganz gelehrter Männer Schriften über den Staatshaushalt erschienen, die man heute von Tollhäuslern geschrieben glaubt. Man mußte politisch doch von der Frage ausgehen: was braucht der Staat, um zu bestehen? HANSEMANN dagegen, in seinem Buch "Preußen und Frankreich - Kritik des Haushalts beider Nationen", fragt ganz naiv: wie regiert man am billigsten? und streicht so ganze Heeresforderungen einfach weg. Nur ein Professor BENZENBERG, der ein Buch schrieb über Preußens Geldhaushalt, ging von den Bedürfnissen des Staates aus, berechnete zuerst die unbedingt nötigen Ausgaben und bemaß danach die Einnahmen; er betrachtete also die Verhältnisse von oben.

Im Heerwesen steht es ähnlich. Früher, so lange man den Staat wie ein wirtschaftliches Unternehmen ansah, herrschte in Deutschland die Meinung, daß man den wirtschaftlichen Grundsatz der Arbeitsteilung auch auf das Heer anwenden soll. Man forderte Berufssoldaten, wohlgedrillte Söldner, damit das bürgerliche Leben vom Wirrwarr des Krieges möglichst verschont bleibt. Erst harte und große Erfahrungen haben darin eine Änderung herbeigeführt und jetzt fühlt auch der Durchschnittsmensch, daß das Heerwesen höher steht als die wirtschaftlichen Interessen, daß es über allen Preis erhaben ist; daß es sich hier um sittliche Kräfte handelt und diese bei der allgemeinen Wehrpflicht am sichersten geweckt und verwendet werden.

Dieser naiven Selbstsucht der Regierten steht die wesentlich politische Anschauung der Regierenden gegenüber, die den Staat nicht aus einer Interessengruppe heraus, sondern vom Standpunkt der Gesamtheit betrachtet. Sie denken zunächst an die Macht und Einheit des Ganzen; und da sie die schwere Verantwortlichkeit tragen für das Los der Millionen, so betrachten sie festen Gehorsam als das erster Erfordernis. Darum muß auch in jeder gesunden Regierung das Bedürfnis des Beharrens vorwiegen. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß an die Regierung gekommene Oppositionsmänner von ihren früheren Gesinnungsgenossen meist den Vorwurf zu erleiden haben, sie hätten ihre Gesinnung gewechselt und seien unfrei geworden. Ganz mit Unrecht, denn dieselben Männer, die früher von einem einseitigen Standpunkt aus die Regierung kritisiert haben, sehen jetzt erst, daß diese noch viele andere Interessenkreise zu berücksichtigen hat. Darum ist die Selbstverwaltung von so großer politischer Bedeutung, weil sie auch die mittleren Kreise mit den Ideen der Regierenden erfüllt. Wenn eine möglichst große Zahl von Bürgern hinzugezogen wird zur politischen Selbsttätigkeit und die Verantwortung für die Verwaltung mittragen hilft, so wird ein großer Teil des Volkes mit Sachkenntnis von politischen Dingen erfüllt und erhält auch etwas vom Gefühl der Verantwortung.

Auch unter den Historikern finden wir den Gegensatz der Regierenden und Regierten wieder. Eine Betrachtung von oben gibt die größere Bürgschaft historischer Unparteilichkeit. Das Ideal ist, beides zu vereinigen, die Motive des handelnden Staatsmannes zu verfolgen und andererseits die Leidenschaften und Begierden und bitteren Nöte der Masse nicht zu übersehen. Legt man diesen Maßstab an, so sieht man, welchen ungeheuren Fortschritt die Geschichte gemacht hat durch RANKE, der den Staat von oben her betrachtet. Ein unendlicher Segen, wie RANKE die ersten archivarischen Forschungen begann. Auf der anderen Seite ist ganz unleugbar, daß man bei ihm zu wenig vom Leben der Masse des Volkes erfährt. Man bewegt sich immer unter vornehmen Leuten; die tierischen Leidenschaften der Menschen kann er nicht darstellen. Dennoch ist diese Schwäche weniger bedenklich für den Historiker als die entgegengesetzte, die für die Selbsterhaltung des Staates gar keinen Sinn macht und sich nicht aufschwingen kann, die Dinge von oben her zu sehen.

Wer im Einzelnen verfolgt, wie schwer das Regieren ist, der wird ganz von selber unbefangen und gerecht in seinem Urteil. Als ich zum ersten Mal nachgewiesen habe, daß der Zollverein ganz und gar das Werk der Regierenden war, aber zum Vorteil der Regierten, da hat die ganze Welt auf mich geschimpft. Besonders der Publizist neigt dazu die Dinge nur von unten zu sehen, tut er das aber ausschließlich, dann wird er zuletzt zu einem zankenden Toren. Ist er ein wahrhaft bedeutender Mann, so wird er versuchen, sich auf den Standpunkt der Regierenden zu stellen und sich fragen, was unter bestimmten Umständen politisch möglich und durchführbar ist. So ist FRIEDRICH GENTZ ein guter politischer Publizist, der von oben her an den Staat herantritt. BÖRNE ist das Gegenteil; er erscheint aber auch politisch geradezu als ein Stümper.

Eine ideale Regierung wäre also diejenige, die beide ansich gleichberechtigte, aber auch gleich einseitige Prinzipien, das rein politische und das soziale, am Vollkommensten zu verbinden wüßte, die zwischen beiden extremen Richtungen die rechte Mitte hält. Im Allgemeinen wird eine konservative Regierung leicht zur Härte neigen, sie übertreibt gewöhnlich den Gedanken der Stärke des Staates. Eine Regierung dagegen, die aus dem Fortschritt hervorgegangen ist, wird die Nachgiebigkeit zu weit treiben, sie wird den sozialen Bedürfnissen zu viel Raum gewähren; sie wird Wunschzettel ausgeben und die Zügel der Regierung schlaff am Boden dahin schleifen lassen.

Die Gesamtgesinnung, die in der Masse der Regierten sich der Staatsgewalt gegenüber bildet, bezeichnet man als die öffentliche Meinung. Auch das ist ein Begriff, von dessen Bedeutung sich die Wenigsten eine klare Vorstellung machen. "Die öffentliche Meinung ist die sechste Großmacht", dieser Ausspruch NAPOLEONs III. ist zu einem demagogischen Schlagwort geworden. Die öffentliche Meinung ganzer Generationen kann sich aber vollkommen im Irrtum bewegen über die wichtigsten politischen Streitfragen; denken wir nur wieder an den preußischen Zollverein. Unsere politische Einheit ist jedenfalls gegen die öffentliche Meinung gemacht, erst als Alles fertig war, hat sie angefangen sich zu bekehren. Man hat also wohl zu unterscheiden unter den Hunderttausenden von Wünschen und Vorstellungen, die Tag für Tag im Volk auftauchen, unter denen sich eine Masse von Irrtümern befinden können. Es gibt große Krisen in der Geschichte eines jeden Volkes, wo diese innerste Volksüberzeugung mit einer solchen moralischen Kraft durchbricht, daß keine Regierung ihr widerstehen kann. Keine deutsche Regierung hätte 1870 dem Kriegsruf der Nation widerstehen können; es war das Gewissen der Deutschen, das hier zutage trat. Wie schwierig diese Dinge zu beurteilen sind, sieht man aber daraus, daß die Franzosen auf ihrer Seite ebenso fühlten. Sie alle haben das gesündigt, wofür sie später NAPOLEON III. verantwortlich gemacht haben.

Am richtigsten wird man urteilen, wenn man das ästhetische Gefühl des Publikums vergleicht. GRILLPARZER sagt einmal:
    "Es ist kurios: wenn man mit dem Einzelnen spricht, hört man fast nie etwas Gescheites über das Theater, und wenn sie zusammen sind, wissen sie auf einmal Alles."
Darin liegt etwas Wahres. Ob ein Drama packt, ob es das Herz im Innersten ergreift, darüber entscheidet doch zuletzt das Publikum; es hat ein Kollektivurteil, das doch am Ende das Richtige trifft. Ähnlich verhält es sich mit der öffentlichen Meinung im Staat. Nicht immer hat sie Recht; oft stimmt aber das Urteil Aller so überein, daß man das alte Wort: vox populi vox dei [Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes. - wp] anwenden kann, ohne einen Unsinn auszusprechen. Auch von den Franzosen muß man doch sagen, daß der Krieg von 1870 nicht schlechterdings frivol war von ihrer Seite. Die Stellung, die Frankreich eingenommen hatte durch NAPOLEON III., war eine führende gewesen. NAPOLEON hatte das Land zu einer Bedeutung in Europa erhoben, der die französische Diplomatie, der Frankreich selber innerlich nicht gewachsen war. Es war natürlich, daß die Franzosen das emporkommende deutsche Reich niederzuhalten suchten. Man kann also nicht von einem absoluten Irrtum der öffentlichen Meinung in Frankreich reden.

Diese öffentliche Meinung tritt nun aber der Regel nach nicht als Einheit kompakt hervor, sie ergibt sich erst aus dem Für und Wider der Parteien. Der Wert und die Bedeutung der Parteien ist sehr verschieden, bald zu gering, viel häufiger zu hoch im Guten wie im Schlimmen angeschlagen worden. BACO von VERULAM, der ja leider als Charakter ebenso tief wie als Denker hoch steht, hat behauptet, nur der niedrige Mann muß einer Partei angehören, um von ihr gehoben zu werden, der Starke bedarf ihrer nicht mehr. Er sieht also verächtlich auf die Parteien herab und verkennt ihre politische Bedeutung vollständig. Dagegen erblickte die Seelenangst der alten Polizei des Deutschen Bundes in jeder Partei schon ein Werk des Übels. Als HEINRICH von GAGERN im Jahr 1834 in der Darmstädter Kammer von einer Partei der Regierung sprach, fand die Regierung diese Äußerung so beleidigen, daß sie deshalb den Landtag auflöste (1). Wiederum der Radikalismus hat einen tollen Kultus mit dem Parteiwesen getrieben in jenen Tagen da HERWEGH sang: "Und meinen Lorbeer flechte die Partei." Das war eine beklagenswerte Verblendung, ja für einen Dichter, der über den Parteien stehen sollte, geradezu eine Raserei.

Aus einer unbefangenen geschichtlichen Betrachtung ergibt sich klar, daß die Parteien eine politische Notwendigkeit sind für freie Völker. Durch das Parteileben fassen sich die unzähligen Meinungen aller Einzelnen zusammen zu einer Durchschnittsmeinung, die das unklare Urteil des Einzelnen nach einer bestimmten Richtung hin festigt. Wenn für manche Naturen der Zwang, Farbe zu bekennen, heilsam sein kann als eine Aufrüttelung, so wirkt freilich der Terrorismus des Parteiwesens auch verderblich. Denn es ist klar, daß jede Partei einseitig ist und sein muß. Eine nationale Partei schlechthin etwa kann es nur in Völkern geben, die noch um die Unabhängigkeit kämpfen, um die Befreiung von einer antinationalen Macht. So hat eine Einigung aller Parteien in Piemont 1859 unter CAVOURs Einfluß stattgefunden. Damals hat dieser große Mann alle Parteien des Staates mit sich fortgerissen; alle Gegensätze verstummten vor der gemeinsamen Aufgabe der nationalen Einigung Italiens. In einem wohlgeordneten, selbständigen Staat, wird es ekeine nationale Partei geben. Der Name nationalliberal ist meisterhaft erfunden, so wohllautend, daß er eigentlich Jedem gefällt; aber es ist bloß ein Name.

Jede Partei muß einseitig sein und kurzlebig im Vergleich zur Universalität und Dauer des Staates. Es ist eine Schrulle, wenn man Parteien konstruieren will, die durch die ganze Weltgeschichte dauern. Das schönste Schicksal für eine Partei ist doch unterzugehen, nachdem sie ihre Ziele erreicht hat. Umgekehrt der ist der schimpfliche Tod einer Partei der, wenn sie stirbt, wei die Tatsachen der Geschichte den Unsinn ihrer Bestrebungen offen gezeigt haben. Die kleine Erbkaiserpartei der Paulskirche, die viel verhöhnt und verlacht worden war, sie verschwand im Jahr 1866 mit dem Moment, wo ihr Traum in Erfüllung ging. Die vielgepriesene Partei der Großdeutschen hingegen, welche mit ihrem bloßen Namen so viel gewonnen hatte, verschwand zur selben Zeit nach einer tödlichen Niederlage, nachdem der Erfolg gezeigt hatte, daß ihre Ziele widersinnig und unhaltbar waren. Die großdeutsche Sache wurde bei Königgrätz so in die Pfanne gehauen, daß es heute nur noch versteckte Großdeutsche geben kann. Was lebensfähig war am großdeutschen Ideal, lebt heute in der ultramontanen Partei fort. Hier sind die Neigungen für Österreich versteckt noch vorhanden, aber im Allgemeinen hat sie doch ein kirchenpolitisches Programm.

Es ist also eine Überhebung der Theorie, wenn man von prinzipiellen Parteien redet, die dauern sollen bis in alle Ewigkeit. Hier hat namentlich in England MACAULAY gesündigt mit der Behauptung, daß sich durch alle Parteiung der Geschichte immer derselbe Gegensatz zieht. Es gäbe immer Parteien, die für "Freiheit und Fortschritt" eintreten und ihnen gegenüber solche, die von der Pietät für "Autorität und Altertum" geleitet werden; so sei überall derselbe Gegensatz von Whigs und Torys zu finden. Und da nun zu jener Zeit unter den Liberalen des Kontinents eine starke Anglomanie herrschte, so haben deutsche und italienische Gelehrte den Unsinn nachgeschrieben. An MACAULAY knüpft eine neumodische deutsche Lehre an, die völlig verkehrt ist, vom verstorbenen FRIEDRICH ROHMER, der eine so seltsame Rolle in der deutschen Geschichte gespielt hat. Er hatte eine wunderbare Gabe sein Pumpgenie zu entfalten; trotzdem hatte er einen großen Kreis von nicht unbedeutenden Menschen um sich, der mit ihm durch dick und dünn ging. ROHMER schrieb das seltsame Buch von den vier Parteien; ein törichtes Spiel mit Bildern, das ganz wertlos ist. Hier werden die Radikalen als die politischen Knaben, die Liberalen als die Jünglinge, die Konservativen als Männer und die Reaktionäre als Greise hingestellt.

Hinter solchen Prinzipien- und Bilderspielereien steckt nichts als die Selbstberäucherung der Mittelparteien, die zu dieser Eitelkeit der Natur der Sache nach leichter geneigt sind. Nicht das idem sentire de republica [in Bezug auf die Republik dasselbe zu empfinden - wp] führt Parteien zusammen, sondern das idem velle [der gemeinsame Wille - wp]. Ihr Wesen besteht nicht darin, ob sie ändern oder erhalten wollen, sondern was sie ändern oder erhalten wollen. Überdies sind "Freiheit" und "Autorität" keine Gegensätze, sondern Korrelate. Denn die Freiheit beruth auf vernunftgemäßen Gesetzen und deren Befolgung; zur politischen Freiheit ist demgemäß die Autorität der Gesetze vollständig unentbehrlich. Der Kampf der beiden großen altenglischen Parteien ist nie, wie MACAULAY behauptet, ein Prinzipienkampf gewesen, sondern drehte sich immer darum, wer die Herrschaft im Staat ausüben soll. Beide, Whigs und Torys, sind Adelsparteien gewesen und haben, je nachdem sie ins oder outs, drinnen oder draußen waren, für und gegen Alles gestimmt. Und die großen Änderungen im englischen Staatsleben sind meistens durch die Torys gemacht worden. Also wird man ganz und gar nicht sagen können, daß diese beiden Adelsparteien, die beide die Herrschaft des Parlaments über die Krone wollten, durch einen tiefen Prinzipiengegensatz getrennt gewesen sind. Gerade bei ihnen wird man ganz deutlich gewahr. Es ist der Kampf um die Macht, der Parteien zusammenschart. Torys und Whigs waren ursprünglich Anhänger der Stuarts einerseits und der legitimen Wesen andererseits. Diese Gegensätze vermischten sich allmählich, aber es blieb die alte, ererbte Parteiung der großen Familien des Landes bestehen.

Eine so lange Dauer der Parteien ist der Natur nach nur in aristokratischen Staaten möglich. Das führt zu einer Borniertheit der Parteigesinnung, die für freie Durchschnittsnaturen etwas Empörendes hat. Als WELLINGTON leitender Minister war und einsah, daß die Katholikenemanzipation notwendig ist, da entschloß er sich zu diesem Schritt, der seine Parteigenossen tödlich verletzte. Ein deutsches Gefühl wird das gerade achtenswert finden, daß Jemand sich von der überlieferten Parteisatzung losmacht zum Besten des Landes. Die Engländer aber sagen: Das mochte vielleicht notwendig sein, es war aber ein schwerer Verstoß gegen die "Ethik" der Partei. Hier wird das Wort Ethik in demselben lächerlichen Sinn gebraucht wie heute in Deutschland. Dahin gelangt ein Land, wo sich ein Parteigegensatz in Fleisch und Blut eingebildet hat. Beide Parteien erkannten die Grundlagen der neuen Verfassung vollständig an, beide waren regierungsfähig und die die englische Krone durch die "glorreiche Revolution" und die völlig rechtswidrige Berufung der Welfen auf den Thron zu einer Null geworden war, so war die parlamentarische Parteienherrschaft hier notwendig.

Das englische Parlament in seiner großen Zeit ist das würdige Gegenstück zum römischen Senat, England ist da eine aristokratische Republik größten Stils. Die Krone spielt nur die Rolle "eines kostspieligen aber im Übrigen unschädlichen Kapitäls an der Säule des Staates"; dazu kam die erbliche geistige Nullität der vier GEORGE. Nach der ganzen Geschichte des Staates war aristokratische Parteiherrschaft notwendig begründet. Sie hat Gewaltiges geleistet, England zur ersten Handelsmacht erhoben; aber sie konnte nur dauern, solange der Adel wirklich der erste Stand des Landes war und als solcher anerkannt wurde. Das beginnt sich seit Anfang des letzten Jahrhunderts langsam zu ändern. 1832 wird zuerst eine Reformbill gewagt: Erweiterung des Wahlrechts für das Unterhaus. Fortan wurde ein Viertel der Abgeordneten wirklich gewählt; bisher hatte jeder große Grundherr sein Mandat in der Tasche. Jetzt ändert sich das Alles; ein Teil des Unterhauses wird zu einer wirklichen Volksvertretung, es dringen die neuen Interessen der Mittelklassen ein in das Unterhaus. Das Wahlrecht wird dann noch mehrmals reformiert und jetzt hört man die Namen der Torys und Whigs nur noch selten. Es gibt nicht mehr zwei Parteien, sondern sechs oder acht; es wechselt schneller als bei uns. England hat, seitdem sein Unterhaus annähernd eine Volksvertretung geworden ist, nicht nur eine aristokratische Korporatioin; es ist dieselbe Buntscheckigkeit wie auf dem Kontinent, bloß daß alle diese Parteien nur zwei Führer haben, denen sie sich je nach der Lage anschließen. Es ist sofort klar, daß wir gar keine Möglichkeit haben, eine solche Zweiteilung erblicher Parteien zu schaffen; es fehlen uns alle Voraussetzungen. Vor allem widerstrebt die deutsche Natur. Die ehrliche Wahrhaftigkeit, die mit der Überzeugung heraus will, unterscheidet uns von anderen Völkern und widerstrebt einem schablonenhaften Parteiwesen. Wir bedanken uns für "die heiligen Bande der Freundschaft", welche die englischen Parteien zusammengehalten hat. Wir wollen die Staatsämter nach Verdienst verteilen; das ist unendlich schwer, aber das Ideal schwebt jedem Deutschen vor.

So ist die englische Parteiherrschaft in ihrer alten Form bewunderungswürdig, aber doch nur unter bestimmten historischen Verhältnissen; ein Vorbild für uns kann sie nicht sein. So albern die Katzbalgereien unserer Fraktionen auch sein mögen, wir müssen doch gestehen, daß alle parlamentarischen Parteien ihren Rückhalt in den Parteien des Landes haben. Es ist rein unmöglich, in dieses Durcheinander des Parteiengewoges irgendein festes Prinzip zu bringen und vor allen Dingen muß man sich hüten vor der Selbstbespiegelung moderner Menschen, daß die Parteien sich durch zunehmende Bildung veredeln, daß sie sich im Laufe der Geschichte über ihren Zweck und über ihre Natur immer klarer werden. Gut oder schlecht wie die Parteien von jeher waren, werden sie auch in Zukunft sein. Das hat der welterfahrene alte WACHSMUTH in seiner "Geschichte der Parteien" mit Recht ausgesprochen. Wenn der Staat der Welt des Handelns angehört, so müssen Parteiungen durch einen gemeinsamen Willen und nicht durch gemeinsame Doktrinen zusammengehalten werden.

Betrachten wir die Dinge unbefangen, so sind die Anlässe zur Parteibildung die denkbar mannigfaltigsten. Wie der Sand der Dünen weht, so bilden sich neue Parteien. Sie sind die Eintagsgebilde des freien politischen Lebens, hervorgehend aus der Fülle von Gegensätzen sozialen, nationalen, religiösen Charakters. Sie sind notwendig in einem freien Volk, um aus den vielen Einzelwillen den Durchschnittswillen zu bilden, aber sie zu überschätzen ist immer ein Zeichen geistiger Dürftigkeit gewesen. Völlig aufzugehen in seiner Partei heißt sich absichtlich bornieren und wirklich freie Naturen haben immer eine gewisse Abneigung gehabt gegen die Einseitigkeit des Parteisinns.

Von jeder Art von Partei kann man sagen, daß sie unter Umständen zerstörend wirkt. Soziale Parteien können zum Bürgerkrieg führen, weil sie geleitet sind von den niedrigsten Leidenschaften. Unermeßlich ist die Macht des Neides gerade in freien, demokratisierten Nationen; die Vorstellung der Gleichheit wird krampfhaft festgehalten, eben weil sie nicht wahr ist, weil die Ungleichheit der Personen als solcher uns überall entgegentritt. So wird hier eine Empfindung des Neides erweckt, von deren ungeheurer Stärke die unerfahrene Jugend sich kaum einen Begriff macht. Wird man älter und kann man auf Einiges zurückblicken was man getan hat, und was anderes nicht zustande gebracht haben, dann vermag man erst die unermeßliche Kraft des Neides zu begreifen. Ganze Institutionen der Demokratie sind auf die Befriedigung dieser niedrigen Leidenschaft berechnet, so der *Ostrakismus im alten Athen. Andererseits können nationale Gegensätze im Inneren zum völligen Zerfall des Staates führen, wie die Geschichte Schleswig-Holsteins und Dänemarks zeigt. Wie wiederum religiöse Parteien das Volksgemüt verwüsten können, das lehrt die grauenhafte Geschichte des dreißigjährigen Krieges.

Soziale Interessen sind in der Parteibildung immer das erste Motiv. Es wirken aber noch viele andere Gegensätze mit, und man kann hier nur aussprechen, daß starke trennende Kräfte innerhalb einer Nation das Recht und die Pflicht haben, parteibildend zu wirken. Wenn eine Gesinnung in einem gewissen Landstrich vorherrscht, so muß sie auch zutage kommen. Rein landschaftliche und kirchliche Parteien haben immer etwas Unberechenbares und Hochgefährliches, weil sie das ganze öffentliche Leben verfälschen. Das ist die Stellung des Zentrums bei uns. Das Zentrum ist in der eigentlichen Politik grundsätzlich grundsatzlos, wie die römische Kirche selber. Der Papst verhandelt je nach seinen Lebensinteressen mit jeder erdenklichen Staatsgewalt bloß von dem Gesichtspunkt aus, ob es ihm nützt oder nicht. Die Grundsatzlosigkeit des Zentrums ergibt sich also konsequent aus seiner Verachtung des weltlichen Staates. Daß solche Parteien unberechenbar sind, springt in die Augen. Gerade heute, wo diese Partei systematisch von oben herab gepflegt wird, sehen wir die Folgen an dem schrecklichen Durcheinander der Meinungen (2).

Man wird eine Parteibildung natürlich und notwendig dann nennen können, wenn über einen vorhandenen realen Gegensatz des wirtschaftlichen, des nationalen, des religiösen Lebens gestritten wird. Krankhaft ist die Parteibildung, wenn sie sich nährt von Reminiszenzen [Erinnerungen - wp], von altem Haß und Groll. Das war das Widerwärtige an der deutschen sogenannten freisinnigen Partei in den Tagen unseres großen Kanzlers [Bismarck - wp]. Die Leute hatten keine praktischen politischen Ziele, sie lebten nur vom Groll gegen den Mann, der größer war als sie, und dem sie sein Dasein nicht verzeihen konnten. Daß die Dummheit und die Niedertracht Großmächte in der Geschichte sind, müssen wir zugeben. Parteien der Dummheit müssen vorhanden sein, weil einmal ein großer Teil der Menschen mit dieser Eigentümlichkeit behaftet ist.

Aus all dem folgt sonnenklar der alte Satz, daß es die Aufgabe einer Regierung ist, über den Parteien zu stehen und gleichsam, wie BISMARCK einmal gesagt hat, aus den verschiedenen Parteien die Diagonale der Kräfte zu finden. Wenn der Staat die Ordnung der wägenden Gerechtigkeit ist, so ist seine Natur die Unparteilichkeit. Hierin liegt die sittliche Überlegenheit der wohlgeordneten Monarchie gegenüber Republiken, weil in Monarchien die Staatsgewalt auf einem eigenen Recht beruth und unparteiisch sein kann, wenn sie es auch nicht immer ist. In Republiken wird dagegen immer eine Partei ihre Leute ans Ruder bringen und daher die Gerechtigkeit der Staatsgewalt viel schwieriger zu handhaben sein als in Monarchien.

Durch dieses Für und Wider, Auf und Ab der Parteien bildet sich also das, was man die öffentliche Meinung zu nennen pflegt. Die Forderung dieser öffentlichen Meinung nun dem Staat und der Regierung gegenüber ist immer zuerst die Freiheit gewesen. Was ist darunter zu verstehen? Es ist zunächst ein inhaltsleeres Wort; man muß fragen: Freiheit wovon? Die Antwort kann nur lauten: Freiheit von einem vernunftwidrigen Zwang. Die Freiheit, wie wir schon wissen, besteht in vernünftigen Gesetzen, denen der Einzelne mit sittlicher Zustimmung folgen kann, und im Halten dieser Gesetze. Die Begriffe: gesetzliche Macht und gesetzliche Freiheit sind keine Gegensätze, sondern Korrelate. Eine Freiheit, die nicht gesichert ist, die nicht ausgeübt wird durch den allgemeinen Gehorsam gegen die Gesetze, wäre unhaltbar; und so ist in edlen Nationen das Dienen, das dem Vaterland Dienen immer in Ehren gehalten worden. Mit wohlberechtigtem Stolz trug EDWARD, der schwarze Prinz von Wales, auf seinem Schild unter der Straußenfeder die Devise: "Ich bin der erste Untertan des Königs von England." Es kommt einer völligen Auflösung des Staates gleich, wenn man, wie die Polen taten, in der Freiheit die Loslösung von jeglicher Autorität erblickt. Das Übermaß der Freiheit wird Sklaverei, denn wenn es keine Autorität mehr gibt, so ist der Starke unumschränkt, der Schwache verfällt dem Recht der Faust. Die Überspannung der Freiheit führt nicht allein zur Knechtschaft, sondern ist selbst schon Knechtschaft. Auch wir Deutschen neigen sehr stark zu diesem überspannten Freiheitsbegriff. Man sagte früher: Reichsfrei ist von Kaiser und Reich frei; man wollte nichts über sich dulden. Dahin neigt die deutsche Natur in sehr hohem Maß, und das erschwert unleugbar eine gesunde politische Entwicklung. Es ist der falsche Freiheitsbegriff, welcher nicht die Freiheit im Staat, sondern vom Staat sucht.

Staatsmacht und Völkerfreiheit gehören unzertrennlich zusammen. Alle Völker mit kräftiger Staatsgesinnung fassen daher die Störung des öffentlichen Friedens sehr streng auf. In England ist die Bestrafung politischer Verbrechen eine bis zur Grausamkeit harte, während bei uns unter dem Einfluß radikaler Ideen besonders in der Gesellschaft eine sentimentale Auffassung politischer Verbrechen Mode geworden ist. Der Staat soll bei politischen Verbrechen nicht nach der Gesinnung, sondern nach der Gemeinschädlichkeit fragen; ob Ehrlosigkeit oder Schwärmerei die Ursache war, muß für den Staat gleichgültig sein. Es ist entweder ein Zeichen einer schlechten Rechtsordnung, ein Zeichen, daß der Staat an sich selbst verzweifelt oder ein Zeichen schwacher Sentimentalität, wenn er den politischen Ungehorsam milde beurteilt. Entschuldigt wird die deutsche Gefühlsseligkeit in diesen Dingen einigermaßen dadurch, daß wir so lange in elenden politischen Verhältnissen gelebt haben.

Über das Wesen der Freiheit hat ARISTOTELES die tiefsinnige Wahrheit ausgesprochen, die dauern wird für alle Zeiten:
    "Der eine Bestandteil der Freiheit ist, abwechselnd zu regieren und regiert zu werden, der andere, zu leben nach eigenem Belieben."
Wenn wir den ersten Satz ins Allgemeinere übersetzen, so ist der eine Teil der Freiheit die Teilnahme Bürgers an der Staatsleitung in irgendeiner Form, also die politische Freiheit im engeren Sinn, der andere die möglichst unbeschränkte Bewegung der Persönlichkeit im Privatleben. Dieser Gegensatz von politischer und persönlicher Freiheit durchdringt die ganze Geschichte, und es ist für den Charakter der Völker und der einzelnen Perioden bedeutsam, nach welcher von beiden Seiten sich der Freiheitsbegriff wesentlich entwickelt. Im Altertum ist die politische Auffassung so vorherrschend, daß man sich wundern muß, wie ARISTOTELES als antiker Mensch noch eine persönliche Freiheit aufstellen konnte. Die Neuzeit dagegen richtet ihr Augenmerk immer zunächst auf die bürgerliche Freiheit; man denkt eben mehr an die sozialen Verhältnisse. Der moderne Mensch will zunächst Spielraum und Schutz für seine wirtschaftliche Tätigkeit; erst in zweiter Linie steht der Wunsch, sich an der Staatsleitung zu beteiligen. Das Ideal ist natürlich, beides zu vereinen; die bürgerliche und die politische Freiheit, beide müssen im Kulturstaat reich entwickelt sein. Falsch aber ist die Auffassung, die in der Freiheit ein Selbstherrschen ohne Beherrschtwerden sieht.

Über die politische Freiheit kann ich ausführlich erst sprechen bei der Behandlung der einzelnen Verfassungsformen. Hier will ich nur im Allgemeinen hervorheben, daß sich die politische Freiheit im Verlauf des historischen Lebens immer mehr erweitert; die Teilnahme an der Regierung dehnt sich auf immer größere Kreise aus. Unleugbar vollzieht sich in der Entwicklung des historischen Lebens eine immer weiter sich ausdehnende Demokratisierung. Diese Beobachtung berechtigt jedoch folglich zu dem Schluß, daß die letzte Form eines ausgereiften Staatswesens die Demokratie sein muß. Es ist überhaupt eine politische Modetorheit der Gegenwart, die die politische Freiheit in bestimmten Staatsformen zu suchen, z. B. in der konstitutionellen Monarchie oder auch in der Republik. Wir dagegen fassen die Freiheit als den Bestand und die Geltung vernünftiger Gesetze, die von den Bürgern in freier sittlicher Zustimmung gewollt und befolgt werden und dann ist deutlich, daß die Freiheit nicht erst im Jahr 1789 entdeckt worden ist. Die Eitelkeit des 19. Jahrhunderts, die sich das einbildet, wird zu Schanden vor dem gesunden politischen Leben der alten Republiken und Monarchien. Weshalb sollte man denn einen so gewaltigen Kriegerstaat wie das Reich PHILIPPs von Mazedonien als unfrei bezeichnen? Es war ein freiwilliger Gehorsam. Oder wollen wir den Staat des Großen Kurfürsten unfrei nennen? Unsere Tage schwärmen für die Freiheit, das 17. Jahrhundert schwärmte für die Herrschaft. Sehen Sie sich doch einmal das Standbild auf der Langen Brücke an; das fällt jedem modernen Menschen auf, daß hier ein edler und milder Fürst, der die Hugenotten in Preußen aufnahm, dargestellt ist mit vier gefesselten Sklaven. Es ist aus der Idee des 17. Jahrhunderts heraus gedacht; das schwärmte für die Herrschaft und konnte sich nicht genug tun im Darstellen von Emblemen der Herrschaft und Unterordnung. Daß in den Tagen des Großen Kurfürsten gerade der Absolutismus der Träger der Freiheit war, ist ganz unleugbar; alle Männer der Freiheit: LEIBNIZ, PUFENDORF, THOMASIUS, denen wir das Wiedererwachen Deutschlands verdanken, sie waren alle harte Absolutisten. Wer sind die Reaktionäre jener Zeit? Es sind die Männer der sogenannten Freiheit, KONRAD von BURGSDORFF und General KALKSTEIN, die Führer der ständischen Partei, welche den gemeinen Mann knechten wollten zum Vorteil der ständischen Interessen.

Es ist also ganz deutlich, daß die Freiheit nicht allein und nicht wesentlich auf bestimmten Staatsformen beruhen kann. Die konstitutionelle Herrlichkeit ist nirgends größer als in Bulgarien und Griechenland; sind diese Staaten daraum freier? Dergleichen Unsinn, unter einem Freistaat eine bestimmte Staatsform zu verstehen, ist heute noch sehr gefährlich für den Halbdenker. Es hat eine Zeit gegeben, in der man meinte, Spanien und Portugal seien freier als Preußen. Was ist denn aus der Freiheit Spaniens und Portugals geworden? Wo hat sich so wenig politische Vernunft gezeigt wie bei diesen Völkern? Suchen wir das historisch Sichere zu kontaktieren, so läßt sich nur sagen: die Eigenschaften, auf welchen die Fähigkeit zur Teilnahme am Staat wesentlich beruth, Wohlstand und Bildung, verbreiten sich im Laufe der Kulturgeschichte in immer weiteren Kreisen und daher können wir ein historisches Gesetz der Demokratisierung der Staatsformen beobachten. Es erweitert sich die Berechtigung zur aktiven Teilnahme auf immer größere Kreise. Wenn diese Erweiterung in vernünftigen Schranken bleibt, wird sie jeder Historiker als begründet ansehen müssen. Wir in Deutschland sind leider an der äußersten Grenzen angelangt, über deren Unvernünftigkeit nichts mehr hinaus geht, beim allgemeinen gleichen Stimmrecht.

Dazu kommt, daß die Ausübung dieses Stimmrechts ansich gar keine Schule politischer Bildung ist, daß die politische Freiheit weit weniger hierauf beruth als auf der anspruchslosen aber ernst verpflichtenden Teilnahme an der Verwaltung. Es kommt sehr viel darauf an, ob eine Nation in ihren eigensten Angelegenheiten, in den Verwaltungsgeschäften, bloß bevormundet und gegängelt wird, oder ob sie selbst Hand anlegt an die Verwaltung; auf die Formen des Staatsoberhauptes kommt es bei dieser ernsten Frage gar nicht an.

Nun aber ist deutlich, daß alle Selbstverwaltung aristokratisch ist und sein muß, selbst im kleinsten Kreis. Es ist unmöglich, daß jeder Knecht das Amt eines Schulzen übernehmen könnte; es werden die eigentlichen Vollbauern sein, denen die Leitung zufällt. Man muß etwas Muße haben, die nur durch einen bescheidenen Besitzstand erworben wird. Dadurch allein schon sind die Massen des Volkes von der Selbstverwaltung ausgeschlossen, das Gesetz der Demokratisierung also modifiziert. Gegen diese gegebene soziale Notwendigkeit ist durch Staatsgesetze gar nichts auszurichten. Wird dennoch einmal ein solcher Zustand begründet, daß nicht mehr die Besitzenden die Verwaltung leiten, sondern die eigentliche Masse regiert, dann entsteht eine verkehrte Welt, die nicht lange dauert. Es gehört eben zu allem Regieren eine gewisse Überlegenheit gegenüber den Regierten durch Bildung, Vermögen, Geburt oder was es sonst sein mag.

Betrachten wir zum zweiten die persönliche Freiheit, so sehen wir, daß das Leben nach eigenem Belieben selbstverständlich ebenfalls kein unbeschränktes sein kann. Wenn der Einzelne ein Glied des Staates ist, so können seine individuellen Rechte nie absolute sein, sie sind abhängig vom Gesamtzustand des Staates. Wenn das Dasein des Staates auf dem Spiel steht, im Krieg und bei Aufruhr im Inneren, behält sich jeder Staat seine Suspension der persönlichen Rechte seiner Bürger vor. Er kann nicht anders. Wenn es sich um sein Dasein handelt, müssen die persönlichen Rechte der Bürger zurücktreten vor dem einen Gedanken der Rettung des Vaterlandes.

Das ist stets so gewesen und wird auch immer so bleiben. Hier erhebt sich eine bekannte Streitfrage der praktischen Gesetzgebung, an der man die politische Gesinnung der einzelnen Völker erkennen kann. Ist es richtiger, die diskreten [unauffälligen - wp] Rechte der Verwaltungsbehörden schon in Friedenszeiten auszudehnen, oder ist es richtiger, in der Regel die diskrete Gewalt der Obrigkeit in ihren Schranken zu lassen, aber von Zeit zu Zeit einen Ausnahmezustand zu schaffen? Deutschland geht bei seiner Gesetzgebung von dem Grundsatz aus, daß man wohl tut die diskrete Gewalt nicht zu sehr zu beschränken; England dagegen kennt solche diskreten Befugnisse der Polizeibehörde nicht. Die Folge ist, daß in England beständig der Belagerungszustand verkündet wird; es vergeht kein Jahr, wo in den drei vereinigten Königreichen nicht an einzelnen Orten die Meuterei-Akte verlesen wird. Ich finde die deutsche Auffassung richtiger. Es stört das Rechtsgefühl weniger, wenn die Behörde über eine diskrete Gewalt verfügt, welche von Zeit zu Zeit ausgeübt wird, als wenn der ganze gesetzliche Zustand durch eine Meuterei-Akte aufgehoben wird.

Sehen wir näher auf die Bedeutung der persönlichen Freiheiten, so sind sie auch ansich als absolute zu betrachten, die etwa mit uns geboren werden. Sie sind erst das Ergebnis einer langen und schweren Entwicklung des Menschengeschlechts. Das war der Fehler der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts, daß man sich Freiheiten konstruierte, die mit dem Menschen geboren sein sollten. Nun ist aber klar, daß die allererste Freiheit der Persönlichkeit, welche die Sklaverei ausschließt, ein erst historisch Gewordenes ist. Es hat des Christentums bedurft, um den Gedanken von der Würde der menschlichen Persönlichkeit zu erwecken. ARISTOTELES sagt hinsichtlich der Sklaverei, es sei eigentlich nicht Recht, Menschen als Sachen zu gebrauchen, da es aber nun einmal Menschen gibt, die sich über die Tiere nicht erheben können, soll man sie auch als solche behandeln. Also auch dieser freieste Kopf seiner Zeit konnte sich nicht zu der Anschauung erheben, welche die Grundlage des Christentums bildete. Es ist höchst bezeichnend für die Gedankenlosigkit der modernen Radikalen, daß sie immer auf das Christentum schimpfen und gar nicht ahnen, daß sie die besten ihrer Freiheitsgesetze eben diesem geschmähten Christentum verdanken. Gewisse Freiheitsvorstellungen sind in Wahrheit erst das Resultat eines langen Entwicklungsprozesses und auch die christliche Idee der Gotteskindschaft hat sich sehr langsam weiter entwickelt. Was wir heute als absolut betrachten, ist eben auch in den Fluß der Zeiten gestellt. Die unendliche Entwicklung der göttlichen Vernunft ist reicher als die öde Vorstellung von einem absoluten Vernunftkodex außerhalb allen positiven Rechts. Daß gerade im 18. Jahrhundert ein solcher Kodex sogenannter Menschenrechte formuliert wurde, ist geschichtlich wohl zu begreifen; die starke Gebundenheit der persönlichen Kraft im 17. und 18. Jahrhundert führte in einem natürlichen Rückschlag zu radikalen Theorien vom Recht der Persönlichkeit.

KANTs Satz: "Kein Mensch darf bloß als Mittel benutzt werden" enthält das Resultat der metaphysischen Freiheitskämpfe jener Tage. Er hat die Anerkennung einer ganzen Reihe von persönlichen Freiheitsrechten zur Folge. Bekanntlich ist zuerst in Amerika bei der Unabhängigkeitserklärung der Versuch gemacht worden, diese Menschenrechte aufzustellen. Es ist klar, daß die braven Farmer, durchaus nüchterne Geschäftsmänner, himmelweit entfernt waren von aller moralphilosophischen Theorie. Aber da sie des Beistandes der Europäer bedurften, so mußten sie ihren Aufstand irgendwie rechtlich begründen. Auf das positive Recht konnten sie sich nicht berufen, das war auf Seiten Englands und es wurde durchaus kein unerträglicher Druck ausgeübt. Es war eine Revolution, die man rechtlich begründen wollte. Das ist eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] und so griff man dann zu dem Recht, das in den Sternen geschrieben sein sollte, unveräußerlich usw. Das war die Modeanschauung der Zeit; man mußte solche Schlagworte gebrauchen, die in der Tat in Europa zündeten. Frankreich ist recht eigentlich durch die Freiheitsphrasen in den amerikanischen Krieg hineingerissen worden; der aufgeklärte Adel verleitete die Krone zur Teilnahme. Der Marquis de LAFAYETTE hing in seinem Zimmer die amerikanischen Menschenrechte auf und daneben eine weiße Tafel mit der Überschrift: die Menschenrechte der Franzosen.

So wurden unmittelbar durch das amerikanische Beispie die Wünsche der Franzosen nach Menschenrechten für sie selber geweckt und als die Revolution ausbrach, war ein Kodex der Menschenrechte das nächste Verlangen. Und da nun die Revolution gleich in den ersten Tagen darauf ausging Propaganda zu machen und eine grenzenlose Überhebung zeigte, so wurde von LAFAYETTE der Gedanke angeregt, Menschenrechte für alle Völker der Erde zu begründen. Es kam in der liberalen Welt die Vorstellung auf, daß jedes freie Volk einen solchen Kodex von Grundrechten besitzen muß. Daher sind auch die Grundrechte der neuen deutschen Verfassungen entstanden. Man darf sie nicht unbedingt verdammen, denn man muß zugeben, wenn ein Volk innerlich einen dialektischen Prozeß durchgemacht hat, so wird es das Bedürfnis fühlen, diese Resultate zu formulieren.

Man wird also die Grundrechte von 1848 nicht als überflüssig betrachten können. Sieht man aber diesen Kodex, etwa in der Reichsverfassung von 1849, näher an, so ist sofort zu erkennen, daß er eine imperfekte Gesetzgebung ist wie der juristische terminus technicus lautet. Auch hier gilt der Satz: Kein Verbrechen ohne Strafe, keine Strafe ohne Strafgesetz. Die Verkündung eines Satzes wie: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei, bedeutet juristisch ansich noch gar nichts; er gewinnt erst Sinn, wenn im Einzelnen ausgeführt wird, welche Befugnisse darin enthalten, welche Strafen für die Übertretung festgesetzt sein sollen. Denn das behauptet keiner mehr, daß ein solcher Satz alle bestehenden Gesetze bricht und daß nun jeder beliebige Mensch jede beliebige Schule gründen kann. Es ist nur ein leitender Grundsatz, nach dem sich die kommenden Gesetzgeber unseres Staates richten sollen; ohne einen Zwang des Staates gibt es gar kein wirksames Gesetz. Alle Grundrechte kranken am Fehler der unsicheren Allgemeinheit, man muß ihnen durch ausführende Gesetze erst einen realen juristischen Sinn geben. Gleichwohl kann man sagen, daß sich in den modernen Kulturvölkern eine Reihe von Freiheitsrechten ausgebildet hat, welche nach der Anschauung des Durchschnittsmenschen ewig und unverletzlich sind.

Fragen wir nun im Einzelnen: Welches sind die Freiheitsrechte der Persönlichkeit? so finden wir zunächst das Recht auf den Schutz des rein physischen Daseins. Diesen Schutz übt der moderne Staat mit einem solchen Zartgefühl aus, daß er sogar die ungeborene Leibesfrucht beschützt und ihre Verletzung bestraft. Es gibt nun radikale Theoretiker, welche behaupten, aus diesem Recht auf Schutz des physischen Daseins folgt mit logischer Notwendigkeit die Abschaffung der Todesstrafe. Aber wenn der Tat das Recht hat, Hunderttausende in der Blüte ihrer Jugend in den Tod zu schicken, um das Leben und die Existenz der Gesamtheit zu erhalten, so wäre es doch absurd ihm das Recht absprechen zu wollen, Verbrecher aus der Welt zu schaffen, wenn sie gefährlich sind für den Bestand der öffentlichen Ordnung. Alle bürgerliche Freiheit ist politisch beschränkte Freiheit und kann verwirkt werden durch eigene Schuld. Es ist keine Verletzung eines Menschenrechts, wenn ein Staat die Todesstrafe für notwendig hält oder auch die Prügelstrafe, die in gewissen Kulturzuständen in der Tat eine Notwendigkeit ist. Wohl aber folgt aus der Hochachtung der physischen Persönlichkeit die Beseitigung der körperlichen Verstümmelung von Staatswegen. Solche Strafen, einmal aufgehoben, kehren nicht wieder. Es gibt hier eine ganz sichere Probe: Was vom Gesamtbewußtsein überwunden ist, kehrt nicht wieder. Die Folter ist nie wiedergekommen, die Todesstrafe dagegen ist immer wiedergekommen und sie wird auch bleiben. Wir sind in diesen Dingen schon bis zur Sentimentalität empfindlich geworden. Die Prügelstrafe wäre in gewissen Fällen noch heute sehr gut, und daß wir den Pranger abgeschafft haben, ist ein wahres Unglück. Wenn wir einen Börsenschwindler heute noch an den öffentlichen Pranger stellen könnten, das würde viel besser wirken als eine lange Gefängnisstrafe.

Aus dem Begriff der freien Persönlichkeit ergibt sich ferner von selbst die Anerkennung des Einzelnen als Rechtssubjekt. Daraus folgt, daß die Strafe des sogenannten bürgerlichen Todes, wonach Jemand, obwohl er lebt und atmet, für rechtlich tot erklärt wird, mit unseren Rechtsbegriffen nicht vereinbar ist. Auch diese Strafe ist fast überall beseitigt worden und wird voraussichtlich nicht wiederkehren. Aus dieser Anerkennung als Rechtssubjekt folgt aber nicht die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Das ist, genau besehen eine unrichtige Formulierung; nur die Gleichheit vor dem Richter kann gefordert werden. Das Gesetz macht z. B. einen wohlbegründeten Unterschied zwischen Jung und Alt, Mann und Frau, Beamten und Nichtbeamten.

Erkennen wir die Persönlichkeit als eine Person im Sinne des Rechts, so ergibt sich von selbst die Abschaffung der Sklaverei und Leibeigenschaft, die einmal vollzogen dauern wird und dauern muß. Die Einführung der Sklaverei war in den allerältesten Zeiten unzweifelhaft einer der größten Fortschritte menschlicher Gesittung. Dadurch hörte das entsetzliche unbedingte Morden im Krieg auf. Mit dieser Abschaffung wurde ein wirtschaftliches Schaffen und Sorgen für die Zukunft überhaupt erst möglich. Der Sklave wurde in seiner Arbeitskraft verhältnismäßig geschont, solange die menschliche Arbeit noch einen großen Wert hatte. Mit fortschreitender Kultur aber wurde die Sklaverei absolut und relativ immer härter. Das mußte zu einem großen Rückschlag führen und man kann im Ganzen die Aufhebung der Leibeigenschaft und ihrer Konsequenzen durch die französische Revolutioin und die STEIN-HARDENBERGschen Gesetze als einen Segen betrachten, ebenso die Aufhebung der Plantagensklaverei durch den Einfluß Englands. Englands nächste Absicht war allerdings, die Kolonien der Konkurrenten zu zerstören; die Bewegung war aber auch ansich eine notwendigeund ein Unglück war es nur, daß sie überhastet wurde. Nordamerika hat die absolute Emanzipation zu früh eingeführt. Daran ist aber nichts zu beklagen; es war die Streitfrage eines großen Krieges, und da muß man immer radikal vorgehen.
LITERATUR - Heinrich von Treitschke, Politik [Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin] hg. von Max Cornelius, Bd. I, Leipzig 1899
    Anmerkungen
    1) HEINRICH von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. IV, Seite 617f
    2) Vorlesung aus dem November 1892.