cr-4ra-2FichteH. CorneliusA. StorchMüller-Lyer    
 
JOHANN GOTTLIEB FICHTE
(1762 - 1814)
Über die Würde des Menschen
[gesprochen beim Schluß seiner Vorlesungen]

"Das ist der Mensch; das ist jeder, der sich sagen kann: Ich bin Mensch. Sollte er nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen, und schaudern und erheben vor seiner eigenen Majestät! - Das ist jeder, der mir sagen kann: Ich bin. - Wo du auch wohnst, du, der du nur Menschenantlitz trägst; - ob du auch noch so nahe grenzend mit dem Tier unter dem Stock des Treibers Zuckerrohr pflanzst, oder ob du an Feuerlands Küsten dich an der nicht durch dich entzündeten Flamme wärmst, bis sie verlischt, und bitter weinst, daß sie sich nicht selbst erhalten will - oder ob du mir der verworfenste, elendeste Bösewicht scheinst - du bist darum doch, was ich bin; denn du kannst mir sagen: Ich bin. Du bist darum doch mein Gesell und mein Bruder."

Wir haben den menschlichen Geist vollständig ausgemessen; - wir haben ein Fundament gelegt, auf welches sich ein wissenschaftliches System, als getroffene Darstellung des ursprünglichen Systems im Menschen erbauen läßt. Wir tun zum Beschluß einen kurzen Überblick über das Ganze.

Die Philosophie lehrt uns alles im Ich aufsuchen. Erst durch das Ich kommt Ordnung und Harmonie in die tote, formlose Masse. Allein vom Menschen aus verbreitet sich Regelmäßigkeit rund um ihn herum bis an die Grenze seiner Beobachtung, - und wie er diese weiter vorrückt, wird Ordnung und Harmonie weiter vorgerückt. Seine Beobachtung weist dem bis ins Unendliche verschiedenen, - jedem seinen Platz an, daß keines das andere verdrängt; sie bringt Einheit in die unendliche Verschiedenheit. Durch sie halten sich die Weltkörper zusammen, und werden nur ein organisierter Körper; durch sie drehen die Sonnen sich in ihren angewiesenen Bahnen: Durch das Ich steht die ungeheure Stufenfolge da von der Flechte bis zum Seraph [Engel - wp]; in ihm ist das System der ganzen Geisterwelt, und der Mensch erwartet mit Recht, daß das Gesetz, das er sich und ihr gibt, für sie gelten muß; erwartet mit Recht die einstige allgemeine Anerkennung desselben. Im Ich liegt das sichere Unterpfand, das von ihm aus ins Unendliche Ordnung und Harmonie sich verbreiten wird, wo jetzt noch keine ist; daß mit der fortrückenden Kultur des Menschen, zugleich die Kultur des Weltalls fortrücken wird. Alles, was jetzt noch unförmlich und ordnungslos ist, wird durch den Menschen sich in die schönste Ordnung auflösen und was jetzt schon harmonisch ist, wird - nach bis jetzt unentwickelten Gesetzen - immer harmonischer werden. Der Mensch wir Ordnung in das Gewühl, und einen Plan in die allgemeine Zerstörung hineinbringen; durch ihn wird die Verwesung bilden, und der Tod zu einem neuen herrlichen Leben rufen.

Das ist der Mensch, wenn wir ihn bloß als beobachtende Intelligenz ansehen, was ist er erst, wenn wir ihn als praktisch-tätiges Vermögen denken!

Er legt nicht nur die notwendige Ordnung in die Dinge; er gibt ihnen auch diejenige, die er sich willkürlich wält; da, wo er hintritt, erwacht die Natur; bei seinem Anblick bereitet sie sich zu, von ihm die neue schönere Schöpfung zu erhalten. Schon sein Körper ist das vergeistigste, was aus der ihn umgebenden Materie gebildet werden konnte; in seinem Dunstkreis wird die Luft sanfter, das Klima milder, und die Natur erheitert sich durch die Erwartung, von ihm in einen Wohnplatz und in eine Pflegerin lebender Wesen umgewandelt zu werden. Der Mensch gebietet der rohen Materie, sich nach seinem Ideal zu organisieren, und ihm den Stoff zu liefern, dessen er bedarf. Ihm schießt das, was vorher kalt und tot war, in das nährende Korn, in die erquickende Frucht, in die belebende Trauber herauf, und sie wird ihm in etwas anderes aufschießen, sobald er ihr anders gebieten wird. - Um ihn herum veredeln sich die Tiere, legen unter seinem gescheiten Auge ihre Wildheit ab, und empfangen eine gesündere Nahrung aus der Hand ihres Gebieters, die sie ihm durch willigen Gehorsam vergüten.

Was mehr ist, um den Menschen herum veredeln sich die Seelen; je mehr einer Mensch ist, desto tiefer und ausgebreiteter wirkt er auf Menschen; und was den wahren Stempel der Menschlichkeit trägt, wird von der Menschheit nie verkannt; jedem reinen Ausfluß der Humanität schließt sich jeder menschliche Geist und jedes menschliche Herz auf. Um den höheren Menschen einen Kreis, in welchem derjenige sich dem Mittelpunkt am meisten nähert, der die größere Humanität hat. Ihre Geister streben und ringen sich zu vereinigen, und nur einen Geist in mehreren Körpern zu bilden. Alle sind ein Verstand und ein Wille und stehen da als Mitarbeiter am großen einzig möglichen Plan der Menschheit. Der höhere Mensch reißt gewaltig sein Zeitalter auf eine höhere Stufe der Menschheit herauf; sie sieht zurück und erstaunt über die Kluft, die sie übersprang; der höhere Mensch reißt mit Riesenarmen, was er ergreifen kann, aus dem Jahrbuch des Menschengeschlechts heraus. -

Brecht die Hütte von Leimen [aus Lehm - wp], in der er wohnt! Er ist seinem Dasein nach schlechthin unabhängig von allem, was außerhalb von ihm ist; er ist schlechthin durch sich selbst; und er hat schon in der Hütte von Leimen das Gefühl seiner Existenz, in den Momenten seiner Erhebung, wenn Zeit und Raum, und alles, was nicht er selbst ist, ihm schwinden; wenn sein Geist sich gewaltsam von seinem Körper losreißt, - und dann wieder freiwillig, zur Verfolgung der Zwecke, die er durch ihn noch erst ausführen möchte, in denselben zurückkehrt. - Trennt die zwei letzten nachbarlichen Stäubchen, die ihn jetzt umgeben; er wird noch sein; und er wird sein, weil er es wollen wird. Er ist ewig, durch sich selbst und aus eigener Kraft.

Hindert, vereitelt seine Pläne! - Aufhalten könnt ihr sie: aber was sind tausend und abermals tausend Jahre im Jahrbuch der Menschheit? - was der leichte Morgentraum ist beim Erwachen. Er dauert fort, und er wirkt fort, und was euch Verschwinden scheint, ist bloß eine Erweiterung seiner Sphäre: was euch Tod scheint, ist seine Reife für ein höheres Leben. Die Farben seiner Pläne, und die äußeren Gestalten derselben können ihm verschwinden; sein Plan bleibt derselbe; und in jedem Moment seiner Existenz reißt er etwas Neues außerhalb seiner in seinen Kreis mit fort, und er wird fortfahren an sich zu reißen, bis er alles in demselben verschlingt: bis alle Materie das Gepräge seiner Entwicklung trägt, und alle Geister mit seinem Geist einen Geist ausmachen.

Das ist der Mensch; das ist jeder, der sich sagen kann: Ich bin Mensch. Sollte er nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen, und schaudern und erheben vor seiner eigenen Majestät! - Das ist jeder, der mir sagen kann: Ich bin. - Wo du auch wohnst, du, der du nur Menschenantlitz trägst; - ob du auch noch so nahe grenzend mit dem Tier unter dem Stock des Treibers Zuckerrohr pflanzst, oder ob du an Feuerlands Küsten dich an der nicht durch dich entzündeten Flamme wärmst, bis sie verlischt, und bitter weinst, daß sie sich nicht selbst erhalten will - oder ob du mir der verworfenste, elendeste Bösewicht scheinst - du bist darum doch, was ich bin; denn du kannst mir sagen: Ich bin. Du bist darum doch mein Gesell und mein Bruder. O, ich stand einst gewiß auf der Stufe der Menschheit, auf der du jetzt stehts; denn es ist eine Stufe derselben, und es gibt auf dieser Leiter keinen Sprung - vielleicht ohne Fähigkeit des deutlichen Bewußtseins, vielleicht so schnell darüber hineilend, daß ich nicht die Zeit hatte, meinen Zustand zum Bewußtsein zu erheben: aber ich stand einst gewiß da: - und due wirst einst gewiß - und dauere es Millionen und millionenmal Millionen Jahre - was ist die Zeit? - du wirst einst gewiß auf der Stufe stehen, auf der ich jetzt stehe: und du wirst einst gewiß auf einer Stufe stehen, auf der ich auf dich, und du auf mich wirken kannst. Auch du wirst einst in meinen Kreis mit hingerissen werden und mich in den deinigen mit hinreißen; auch dich werde ich einst als meinen Mitarbeiter an meinem großen Plan erkennen. - Das ist mir, der Ich bin, jeder, der Ich ist. Sollte ich nicht beben vor der Majestät im Menschenbild; und vor der Gottheit, die vielleicht im heimlichen Dunkel - aber die doch gewiß in dem Tempel, der dessen Gepräge trägt, wohnt?

Erde und Himmel und Zeit und Raum und alle Schranken der Sinnlichkeit schwinden mir bei diesem Gedanken; und das Individuum sollte mir nicht schwinden? - Ich führe Sie nicht zu demselben zurück.

Alle Individuen sind in der einen großen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen; (1) dies sei das letzte Wort, wodurch ich mich Ihrem Andenken empfehle; und das Andenken, zu dem ich mich Ihnen empfehle.
LITERATUR - Johann Gottlieb Fichte, Sämtliche Werke, Bd. 1, Berlin 1845
    Anmerkungen
    1) Selbst ohne mein System zu kennen, ist es unmöglich, diese Gedanken für spinozistisch zu halten, wenn man nur wenigstens den Gang dieser Betrachtung im Ganzen überblicken will. Die Einheit des reinen Geistes ist mir ein unerreichbares Ideal; letzter Zweck, der aber nie wirklich wird.