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(1843-1931) Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgang Kants [2/2]
II. Analyse und Konstruktion 8. Ich kehre nun zu einem früheren Punkt in KANTs Entwicklung zurück, um eine andere Reihe seiner Gedanken zu verfolgen, so wie ich dem Kausalbegriff nachzuspüren suchte. Daß die verschiedenen Gedankenreihen während der Entwicklung ineinander greifen, folgt von selbst; darum kann es aber dennoch ersprießlich sein, jede für sich klar zu stellen. Die Kontinuität tritt hierdurch umso deutlicher hervor. Und an den wichtigsten Punkten werden wir eine Untersuchung ihrer Wechselwirkung nicht unterlassen. Das Jahr 1762 (und der Anfang des folgenden Jahres) ist eines der fruchtbarsten in KANTs Schriftstellerleben. Nicht weniger als vier bedeutende Abhandlungen rühren aus diesem Jahr her, das schon dieser starken Produktion wegen die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Die eine dieser Schriften kennen wir bereits: den "Einzig möglichen Beweisgrund". Diese behandelte den Kausalbegriff in seiner Bedeutung für die Naturwissenschaft und als das die Naturerkenntnis und die Gotteserkenntnis verbindende Glied. Als spezielles Beispiel enthielt sie eine kurze Übersicht der sieben Jahre vorher aufgestellten kosmogonischen Hypothese. Die drei anderen Schriften ("Die falsche Spitzfindigkeit der syllogistischen Figuren"; "Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral"; "Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen") (1) behandeln anscheinend ganz andere Fragen. Und doch wurden die hierin angestellten Untersuchungen gerade für die Auffassung desjenigen Begriffs entscheidend, auf dessen Bedeutung für die Naturwissenschaft und die natürliche Theologie KANT noch im "Beweisgrund" so großes Gewicht gelegt hatte. Im genannten Jahr (dessen Produktivität sich vielleicht eben hieraus erklären läßt) bewegten sich zwei Gedankenreihen in KANTs Bewußtsein, deren Zusammenstoß ihn einem wichtigen Problem gegenüberstellen mußte. In seiner Kritik der Schlußfiguren geht KANT von dem Gesichtspunkt aus, daß jedes Urteil ein Vergleichen ist. Urteilen heißt ein Merkmal mit einem Ding vergleichen und es als Resultat dieses Vergleichens dem Ding entweder zu- oder abzusprechen (2). Eine ähnliche Auffassung der Natur des Denkens liegt der Abhandlung "Über die Deutlichkeit der Grundsätze" zugrunde. Hier wird der Unterschied zwischen der philosophischen und der mathematischen Methode eingeschärft. Die Methode der Philosophie ist die Analyse, die der Mathematik die Konstruktion. Die Mathematik vermag sogleich fertige Begriffe zu bilden, mit denen sie operieren kann. In der Philosophie aber, die ihren Stoff der Erfahrung entnimmt, wird die Begriffsbestimmung erst dann fertig, wenn die Analyse des Gegebenen vollendet ist. Hier stellt sich nun die Schwierigkeite ein, auf welche Weise man sich überzeugen kann, daß die Analyse hinlänglich weit geführt ist, so daß keine anderen Merkmale mehr zu entdecken sind! In der Mathematik bildeten Definitionen deshalb den Anfang, während sie in der Philosphie erst am Schluß kommen können. Die Unvollkommenheit der früheren Philosophie werden daraus abgeleitet, daß man mit unfertigen Begriffen operiert und sich auf voreilige Konstruktionen eingelassen hat. Als Beispiel eines Begriffs, mit dem man in der dogmatischen Philosophie ruhig operiert hat, als wäre er fertig und abgeschlossen, wird der Begriff "Geist" (denkende Substanz) genannt, der bei DESCARTES, LEIBNIZ und WOLFF eine so große Rolle spielte. Derselbe sei willkürlich konstruiert, stützt sich nicht auf eine durchgeführte Analyse (3). KANT erklärt es für weit schwieriger, die Analyse verwickelter Erkenntnisse durchzuführen, als einfache Erkenntnisse durch Synthese zu verbinden und Schlüsse auf dieselben zu stützen. Die Metaphysik sei deswegen die schwierigste aller Wissenschaften - es ist aber noch keine Metaphysik geschrieben! Es werde noch lange dauern, bis man in der Metaphysik synthetisch verfahren könne. Dies werde erst geschehen können, wenn die Analyse zu deutlichen und ausführlich entwickelten Begriffen verholfen hat. Es mußte hier eine Konsequenz nahe liegen: Nur solche Verhältnisse sind verständlich, wo das Denken auf dem Weg der Analyse von einem Glied des Verhältnisses zum andern hinüberführen kann. Diese Konsequenz zog KANT jedoch nicht in der Abhandlung "über die Deutlichkeit". Dagegen erhält die vierte Schrift, die Abhandlung über die negativen Größen in der Philosophie, ihre große Bedeutung, weil hier diese Konsequenz mit voller Klarheit gezogen wird. Indem KANT in dieser Schrift den von den spekulativen Philosophen aller Zeitalter so oft übersehenen Unterschied zwischen logischer Negation und realem Gegensatz einschärft, kommt er ganz natürlich auch zur Untersuchung solcher Fälle, in denen eine Etwas aufgehoben wird, weil ein anderes Etwas eintritt; und hier tritt ihm nun das Kausalproblem entgegen. Auf dem Weg der Analyse oder der Vergleichung könne man nicht die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen dem Eintreten des einen und dem Aufhören des anderen nachweisen, ebensowenig wie überhaupt, daß etwas geschieht, weil etwas anderes geschieht. KANT läßt die Frage ungelöst dahingestellt sein. Nur dessen ist er sicher, daß der Grundsatz des Widerspruchs, auf welchen der Dogmatismus alle Begründung zurückführen wollte, keine Erklärung gibt. (4) KANT hat hier das Kausalproblem so ziemlich in ähnlichen Ausdrücken aufgestellt, wie schon HUME es aufstellte. Eigentlich hatte er aber bereits in seinen früheren Schriften, zuletzt im "Beweisgrund" mit dem Kausalproblem zu schaffen gehabt. Was dem Gedankengang zugrunde lag, der ihm die Natur- und die Gotteserkenntnis verbunden hat, und den er zuerst betreten zu haben glaubte (siehe § 3), war ja die Unmöglichkeit, die Wechselwirkung, den Kausalzusammenhang der Dinge der Welt zu verstehen, wenn man nicht einen gemeinschaftlichen Grund ihrer aller annehmen wollte. Solange sie in ihrer Verschiedenheit dastehen, ist ihr Kausalverhältnis unverständlich. Was in den merkwürdigen Äußerungen am Schluß der Abhandlung über die negativen Größen geschieht, ist nun eigentlich nicht die Aufstellung eines ganz neuen Problems, sondern die Umsetzung eines Problems, das bisher in metaphysisch-objektiver Form behandelt wurde, in erkenntnistheoretisch-subjektive Form. Es ist zu verstehen, daß KANT, nachdem er die Gesichtspunkte, die er vor sieben Jahren zum ersten Mal dargestellt hat, von Neuem durchgearbeitet hatte, und indem er zugleich in rein logische und methodische Untersuchungen geriet, beim Zusammenstoß dieser beiden Gedankenreihen erblicken mußte, daß das Kausalverhältnis nicht nur ein objektives, sondern auch ein subjektives Problem darstellt. Unter der so intensiven und produktiven Denkarbeit dieses Jahres ist diese Umsetzung die wichtigste Frucht, allerdings eine Frucht, die noch nicht zur völligen Reife gediehen war. Derjenige Begriff, den er selbst bei seiner Erforschung der Natur auf so geniale Weise angewandt hatte, und der ihm noch vor kurzem die Brücke zwischen den Regionen der Religion und denen der Naturwissenschaft bildete, erwies sich nun plötzlich als ein großes Problem enthaltend beim Aufwerfen der einfachen Frage, wie man von dem einen Glied des durch ihn bezeichneten Verhältnisses zum anderen kommt! Daß es für KANT einen derartigen Zusammenhang zwischen dem Kausalproblem in dessen metaphysischer und in dessen erkenntnistheoretischer Form gab, ist deutlich aus einer Äußerung in den "Träumen eines Geistersehers" (Schlußkapitel) zu ersehen. Hier wird von Neuem auf das Kausalproblem aufmerksam gemacht und zwar im Zusammenhang mit dem allgemeinen Problem von der Natur der geistigen Wesen und ihrer Beziehung zur Materie. Es wird gezeigt, wie die Probleme innerhalb der Spekulation anfangen, wo man in aller Ruhe mit den "Grundverhältnissen" (Ursache und Wirkung, Substanz und Handlung) operiert, wie man aber beim fortgesetzten Philosophieren schließlich eben in den Grundverhältnissen Schwierigkeiten findet. Und dieser Zusammenhang zwischen dem metaphysische und dem erkenntnistheoretischen Problem tritt noch deutlicher in dem Brief an Mendelssohn vom 8. April 1766 hervor, indem sich die allgemeine Frage, wie etwas eine Ursache sein kann, hier aus der spezielleren auslöst, wie eine geistige Substanz das Vermögen besitzen kann, in der Beziehung zur Materie zu wirken und zu leiden. Auf Obiges micht stützend finde ich die Kontinuität in KANTs Entwicklung an einem anderen Punkt als FRIEDRICH PAULSEN. Dieser Forscher legt den Nachdruck darauf, daß KANT bei näherer Untersuchung des metaphysischen Gottesbegriffs, dem zufolge Gott der Inbegriff aller Realitäten sein soll, die Entdeckung machte, daß es ja Realitäten gibt, die in einem realen Widerspruch miteinander stehen und sich also nicht vereinen lassen. Die Abhandlung über negativen Größen wäre nun eine durch die theologischen Betrachtungen im "Beweisgrund" angeregte Spezialuntersuchung (5). Daß zwischen dem "Beweisgrund" und der Abhandlung über die negativen Größen ein Zusammenhang stattfindet, stelle ich nicht in Abrede. Schon im "Beweisgrund" wird, wie PAULSEN nachgewiesen hat, der wichtige Unterschied zwischen logischer Negation und realem Widerspruch behauptet. Mir ist die Hauptsache aber die plötzliche und eigentümliche Wendung, die KANT in der Schlußanmerkung der letztgenannten Schrift unternimmt. Er hätte das Problem der negativen Größen ausführlich und gründlich erörtern können, ohne gerade die Konsequenz zu ziehen, die er hier zieht. Diese Wendung ist es,m die ich mir nur dadurch zu erklären vermag, daß KANT das Kausalverhältnis als das Wichtigste aller Erkenntnis vor Augen hatte. Es mußte also zu einem Zusammenstoß kommen. 9. KANTs Gesamtstimmung am Ausgang des an Denkarbeit so reichen Jahres war entschieden anti-dogmatisch. Nach dem sicheren Operieren mit bisher anerkannten Begriffen fühlte er sich nun bewogen, einige der wichtigsten dieser Begriffe zu untersuchen, und er fand sie unklar und unfertig. Er stieß jetzt auf große Schwierigkeiten bei dem, was andere - und bisher auch er selbst - leicht gefunden hatten. Mit Ironie kehrt er sich gegen die gründlichen Philosophen, deren täglich mehr werden, mit dem Ersuchen, ihm diese einfachen Fragen zu lösen, vor denen er Halt gemacht hatte. Noch stärker und kecker erscheint diese Stimmung in den "Träumen eines Geistersehers", wo er die "Luftbaumeister" verspottet, die ihre Gebäude aus erschlichenen Begriffen konstruieren und denen gegenüber nicht zu tun ist, als sich zu gedulden, bis sie ausgeträumt haben. Eben der starke Gegensatz zwischen Konstruktion und Analyse bezeichnet einen Bruch mit der Philosophie der vorhergehenden Zeit. KANT fordert die Beschaffung einer ganz neuen Grundlage, ehe die Zeit einer philosophischen Systematisierung kommen kann. Seine Aufmerksamkeit war von nun an auf die Methode gerichtet, auf die Untersuchung der Grenzen der Erkenntnis. Gewiß (6) hat er schon um diese Zeit die antinomischen Methode eingeschlagen um die Grenze der Erkenntnis nachzuweisen, indem er eine solche Grenze dort gefunden hat, wo sich hinsichtlich desselben Problems einander widerstreitende Sätze begründen lassen.
10. Diejenigen Kantforscher haben sicherlich recht, welche nachzuweisen suchten, daß die Entwicklung, die 1762 und während der folgenden Jahre in KANTs Gedankengang vorgeht, nicht mit Notwendigkeit einen äußeren Einfluß voraussetzt, sondern an und für sich sehr wohl aus seiner vorhergehenden Entwicklung zu verstehen ist. Andererseits kenne ich keinen Zeitraum in KANTs Entwicklung, für den der Ausdruck "Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer" so gut paßt, wie hier. Selbst BENNO ERDMANN, der die Entwicklung weit später ansetzt (so viel später, daß mir scheint, er gerate in Konflikt mit KANTs Äußerung, daß die Erweckung "vor vielen Jahren" eingetreten ist), erklärt die sechziger Jahre für die Epoche, in der die kantischen Gedanken am meisten im Fluß waren. Aus dogmatischem Schlummer erweckt werden will gerade heißen, daß die bisher festen Gedanken in Fluß kommen. Freilich, will man unter dem Ausdruck "Erweckung aus dogmatischem Schlummer" den vollständigen Übergang zur kritischen Philosophie verstehen, so paßt er nicht für diesen Zeitpunkt. In diesem strengen Sinn nimmt ihn BENNO ERDMANN, wenn er ihn erst dort anwendbar findet, wo die Hoffnung, die Dinge-ansich mittels des Verstandes zu erkennen, "nicht bloß bis auf die letzte Faser ausgehoben, sondern durch eine konträr entgegengesetzte Auffassung ersetzt werden konnte." (9) Dies ist doch gewiß zuviel von einer Erweckung verlangt. KANT selbst hat im Entwurf einer Vorrede zur Kr. d. r. V. geäußert:
11. BENNO ERDMANN (14) glaubt aus HERDERs Äußerungen aus den Jahren, während welcher jener KANTs Zuhörer war (1762-64), schließen zu können, daß KANT um diese Zeit noch nicht von HUME erweckt sein kann. Man müßte sonst, meint ERDMANN, an der Weise, wie HERDER von HUME spricht, etwas von der Begeisterung bemerkt haben, die KANT seinen Zuhörern zweifelsohne für den englischen Denker eingeflößt hat. Diese Annahme scheint mir keine zwingende zu sein, besonders wenn man bedenkt, daß die Erweckung höchst indirekten Charakters gewesen sein muß, so daß sie wesentlich in der Auslösung und völligen Klärung von Gedanken und Zweifeln bestanden hat, die schon im Begriff standen, sich emporzuarbeiten. Es war nach KANTs Aussage, "die Erinnerung an Hume", die ihn erweckte. Folglich hatte KANT schon früher den HUME gelesen (es handelt sich hier um des letzteren "Inquiry" in deutscher Übersetzung), der Gedanke an HUMEs Problemaufstellung hat ihn aber erst später beeinflußt. Es ist leicht zu verstehen, daß diese Erinnerung an das Gelesene, das seiner Zeit keinen besonders starken Eindruck gemacht hatte, in KANT gerade in dem Jahr auftauchen konnte, in welchem die beiden Gedankenreihen - das Kausalverhältnis als Ausdruck der Verbindung verschiedener Elemente und das Denken als Analyse, nur mit dem Grundsatz des Widerspruchs operierend, - die sich bisher in seinem Bewußtsein nebeneinander bewegt hatten, alle beide wieder zu neuer, eingehender Bearbeitung vorgenommen wurden und ein Zusammenstoß leicht eintreten mußte. Man darf annehmen, daß "die Erinnerung des Hume" diesen Zusammenstoß entweder begünstigt oder doch dessen Wirkungen verstärkt hat. Jedenfalls ist KANT sich aber wohl kaum sogleich der Bedeutung dessen, was in ihm vorging, völlig bewußt geworden; dies konnte er erst, als der durch die Erweckung eingeleitete Entwicklungsprozeß sich dem zurückschauenden Blick als durchaus fertig dargestellt hat. Somit wird es auch verständlich, daß er die Erweckung durch HUME erst viel später und, wie ERDMANN selbst darlegt, auf besonderen Anlaß in seinen Schriften erwähnt. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, daß KANT während der Zeit, die HERDER unter seinen Zuhörern sah, des HUME (als theoretischen Philosophen) in seinen Vorlesungen hätte anders gedenken sollen, als er seiner später stets erwähnt, nämlich als des Skeptikers, der mit Bezug auf den Dogmatismus ein gesundes Gegengewicht und nützliches Ferment bildete. Bisher gebrach es KANT überdies ja noch an der "höheren Einheit", dem Kritizismus, den er später über den Dogmatismus und den Skeptizismus pflegte triumphieren zu lassen, und er mußte HUME vorwiegend als einen zu überwindenden Widersacher betrachten. In den von ERDMANN angeführten Äußerungen HERDERs erwähnt dieser des HUME gerade so wie zu erwarten war, nämlich als eines feinen Kopfes, zugleich aber als eines Erzzweiflers; er beschuldigt ihn sogar "eines erstrebten Zweifelns". Ich verstehe nicht, wie ERDMANN aus diesen Äußerungen zu schließen vermag (15), KANT habe - wenn man sich auf HERDERs Zeugnis stützt - während dieser Jahre an HUME nicht den metaphysischen Zweifler, sondern nur den Moralisten hochgeschätzt. Auf den Zweifler HUME scheint HERDER doch zur Genüge aufmerksam gemacht worden zu sein! HERDER hat die Sache gewiß sogar übertrieben. Der Ausdruck "erstrebt" ist wahrscheinlich ihm, nicht KANT auf die Rechnung zu schreiben (16). HERDERs ganzem Naturell und geistiger Richtung gemäß war es kein Wunder, daß HUMEs Zweifel ihm übertrieben und willkürlich erscheinen konnte. HERDER fand keine Verwendung für denselben wie KANT, dessen Gedanken in stärkeren Fluß dadurch gesetzt wurden, ja, HERDER konnte wohl nicht einmal verstehen, wie KANT ihn zu verwenden vermochte; sein späteres Verhältnis zu KANT läßt dies vermuten. Was HERDER um diese Zeit an KANT so hoch geschätzt hat, war (nach der bekannten Äußerung in den "Humanitätsbriefen") der offene Sinn für alles Menschliche wie auch für die Natur, der lebhafte Geist und der klare Verstand. Für den suchenden, auf einsamen und dornenvollen Wegen wandelnden Denker hatte HERDER keinen Sinn. 12. Durch die klare Distinktion zwischen Konstruktion und Analyse hatte KANT einen großen Fortschritt gemacht. Der Fehler der dogmatischen Systeme war der, daß sie zu eilig zur Konstruktion geschritten sind, obgleich sie die Analyse natürlich durchaus nicht entbehren konnten, die - wenn auch noch so unvollständig und unfertig - in der Tat stets die Vorbereitung bildet. KANT erblickte vorläufig in der genaueren Analyse das wichtigste Mittel des Fortschritts. Und - was zur Behauptung der Kontinuität seines Entwicklungsgangs von besonderem Interesse ist - nie, nicht einmal in der Kr. d. r. V., gab er eigentlich die Beziehung der Analyse zur Konstruktion auf, die er in der Schrift "Über die Deutlichkeit der Grundsätze" dargestellt hatte. In seiner Hervorhebung der Bedeutung der Analyse trifft KANT mit LAMBERTs Bestrebungen zusammen. Während KANT aber die Konstruktion in blauer Ferne liegen sieht und meint, vorläufig sei es das Zeitalter der Analyse, nimmt LAMBERT an, daß das Ziel näher liegt. Durch Vergleichung und Kombination der einfachen Begriffe, zu denen die Analyse geführt hat, will letzterer ohne weiteres Axiome und Postulate bilden (Brief an Kant, November 1765). Zwar sieht er ein, daß eine nähere Prüfung der verschiedenen Kombinationen notwendig ist (17); er fühlt aber nicht das Bedürfnis, besondere Prinzipien zu finden, nach denen diese Prüfung der möglichen Grundsätze stattfinden könnte. Er nähert sich dem in der merkwürdigen Äußerung (Brief an Kant, Februar 1766), in welcher er die Frage aufwirft, ob die Erkenntnis der Form unseres Wissens zur Erkenntnis des Inhalts unseres Wissens führt. Bei der prinzipiellen Schwierigkeit des Übergangs aus der Analyse der Grundbegriffe in die Konstruktion der Grundsätze hielt er sich aber nicht auf, wie er auch nicht die Analyse in der bestimmten Richtung führte, durch welche KANT dahin gebracht wurde, die einzige Möglichkeit konstruktiver Erkenntnis in der Philosophie zu finden. Obgleich KANT daher LAMBERT als seinen Vorgänger so hoch ehrte, daß er ihm die Kritik der reinen Vernunft gewidmet haben würde, wäre LAMBERT nicht vor Vollendung des Werkes gestorben (18), so lautete doch sein Urteil über ihn dahin, daß er sich innerhalb der Analyse bewege, ohne den "kritischen" Standpunkt zu erreichen. (19) Die Analyse, die in KANTs definitiver Erkenntnistheorie von so großer Bedeutung ist, betrifft die Weise, wie das Erkenntnisvermögen selbst wirkt. Diese Richtung erhielt KANTs Analyse schon damals, als eine sorgfältigere Bestimmung der Grenzen der Erkenntnis sich notwendig zeigte (siehe hier § 9). Sie führte aber erst zu entscheidenden Resultaten, als er nach 1769 zwischen der Materie und der Form der Erkenntnis zu unterscheiden begann. Wie dieser Wendepunkt entstand, wird später zu untersuchen sein; hier soll nur erörtert werden, welcher Art die Analyse war, mittels deren KANT diese für sein definitives System so wichtige Distinktion begründete. KANT hat diese Analyse nirgends methodisch ausgeführt. Stets setzt er sie voraus oder deutet sie in großer Kürze an. In der "Dissertation" heißt es, daß wir durch Beobachtung der Weise, wie das Bewußtsein auf Anlaß der Erfahrung wirkt (attendendo ad ejus actiones occasione experentiae) die Gesetze entdeckten, nach denen dieses Wirken vorhergeht. Wird nun bei der sinnlichen Erkenntnis zwischen Stoff und Form unterschieden, so daß die Form das Gesetz bedeutet, nach welchem das Bewußtsein den empfangenen Stoff ordnet, so geht es aus den von KANT gebrauchten Ausdrücken hervor, daß die Form das Konstante, Unveränderliche der sinnlichen Wahrnehmung, der Stoff dagegen das ins unendliche Variierende ist. Die Analyse findet also einen Unterschied zwischen einem Konstanten und einem Wechselnden, einem Bestimmten und einem Unbestimmten (20). Die Form steht als unveränderliches Vorbild (typus immutabilis) da, das stets von Neuem, jedesmal wenn ein neuer Inhalt zu ordnen ist, nachgeahmt wird. In den Aufzeichnungen aus den siebziger Jahren findet sich derselbe Zug.
Auch in der Kr. d. r. V. finden sich Spuren der Analyse, mittels deren die Form vom Stoff getrennt wird. Wenn KANT - in ziemlich unglücklicher Ausdrucksweise - sagt, wir könnten die Form vor der wirklichen Wahrnehmung entdecken, so setzt er voraus, daß eine solche Analyse bereits unternommen ist, und unter wirklicher Wahrnehmung versteht er: jede bestimmte, besondere Wahrnehmung. - Einige Beispiele werden dies zeigen.
"Wir nennen die Synthesis des Mannigfaltigen in der Einbildungskraft transzendental, wenn ohne Unterschied der Anschauungen sie auf nichts, als bloß auf die Verbindung des Mannigfaltigen a priori geht." "Die Apperzeption und mit ihr das Denken geht vor aller möglichen bestimmten Anorndung der Vorstellungen vorher." (23) - Und wo KANT in den Prolegomena von der Entstehung der Kategorienlehre spricht, sagt er:
Diese Analyse, die darauf ausgeht, die Tätigkeitsweise eben des Erkenntnisvermögens zu finden, wird ausdrücklich unterschieden von
Den scharfen Gegensatz der mathematischen zur philosophischen Methode, den KANT in der Abhandlung Über die Deutlichkeit der Grundsätze dargestellt hatte, behauptet er jedoch stets. In dem interessanten Abschnitt "Die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauch" wird derselbe zum Teil in denselben Wendungen ausgesprochen, wie in der fast zwanzig Jahre älteren Schrift. Auch hier wird gezeigt, daß die philosophischen Begriffe, die mittels Analyse gewonnen werden, nicht aber wie die mathematischen mittels direkter Konstruktion, sich nicht im strengsten Sinn definieren lassen, da man keine apodiktische Gewißheit hat, daß der Inhalt des Begriffs vollständig ist. Als Beispiele werden die Begriffe Ursache, Recht, Billigkeit genannt. Es könnten dunkle Nebenvorstellungen vorhanden sein, die wir bei der Analyse übergehen, und die dennoch bei der Anwendung mitbetätigt sind, ohne daß wir es merken (28). Der Unterschied zwischen den älteren Schriften (1762 und folgende) und der Kr. d. r. V. ist der, daß KANT, während er früher nur zwei Arten von Begriffen unterschieden hat, die empirischen und die mathematischen, deren erstere durch Analyse, letztere durch direkte Konstruktion gewonnen werden, später drei Arten von Begriffen unterschieden hat:
2) apriorisch-diskursive, 3) apriorisch-intuitive. 14. Für die Kritik der kantischen Erkenntnistheorie (29) ist dieser Zusammenhang des älteren und des späteren Standpunktes von großem Interesse. Denn hiermit tritt die Frage nahe, ob KANT wirklich eine ganz neue Klasse von Begriffen entdeckt hat, die inmitten der empirischen und der konstruierten stehen sollen. Zur Entscheidung dieser Frage braucht man nicht über KANTs eigene Äußerungen hinaus zu gehen. Denn er erklärt ja rund heraus, daß die apriorisch-diskursiven Begriffe (d. h. die Kategorien) nicht völlig fertig sind - und dennoch operiert er mit ihnen um Grundsätze aufzustellen, als ob sie völlig fertig wären! Betrachten wir ihre Entstehungsweise, so sind sie denselben Bedingungen unterworfen wie die gewöhnlichen empirischen Begriffe. Wie wir gesehen haben, sind sie die Frucht der Beobachtung konstanter Elemente während des Wechsels unserer Erfahrungen. Die Annahme, wir hätten hier die Natur des Erkenntnisvermögens selbst (oder, wie KANT zu sagen pflegt, "die Quellen") vor uns, ist ein Schluß aus dieser Konstanz oder deren Auslegung. Sie ist also eine Hypothese. In der Vorrede zur ersten Ausgaben der Kr. d. r. V. sagt KANT dann auch, die "subjektive Deduktion" (d. h. den Nachweis der Quellen der Erkenntnis mittels der Analyse) kann als eine Hypothese aussehen, da sie ja auf die "Aufsuchung der Ursache zu einer gegebenen Wirkung" ausgeht; er meint jedoch, dem sei nicht so, und verspricht, dies bei anderer Gelegenheit zu zeigen. Dieses Versprechen hat er jedoch nicht gehalten, im Gegenteil, in seinen späteren Darstellungen diesen analytischen Teil bedeutend reduziert. KANT ist also in gewissem Sinn auf seinem definitiven Standpunkt nicht weiter gelangt, als er 1762 ar. Die Möglichkeit einer derartigen Bestimmung der "Formen", daß die Genauigkeit und Vollständigkeit der Bestimmungen völlig verbürgt wäre, hat er nicht nachgewiesen. Eigentlich kann er sich also nicht von demselben Vorwurf befreien, den er LEIBNIZ und WOLFF gemacht hat: daß sie mit unfertigen und erschlichenen Begriffen operieren. Und in dem System von Formen, das er als Fundament unserer exakten Erfahrung aufstellt, ist ein bedeutendes hypothetisches Moment. Er meint mit Recht, daß wir, können wir ganz gewiß sein, daß diese Formen bei all unserer Erfahrung, all unserer Auffassung beteiligt wären, auch von den Gegenständen der Erfahrung ein apriorisches Wissen besitzen würden. Eben diese völlige Gewißheit läßt sich aber nicht darlegen (30). Der Erkenntnistheorie bleibt kein anderer Weg übrig als das Operieren mit der durch Analyse gefundenen Grundlage wie mit einer Hypothese, indem man der fortgesetzten Analyse die Berichtigung der Grundlage, von welcher man ausgeht, überläßt. Die Sache ist die, daß die verschiedenen Operationen miteinander im Wechselverhältnis stehen. Man kann nicht alle mögliche Konstruktion beiseite legen und sich ans Analysieren machen; dies würde der Analyse selbst zum Schaden gereichen, da die Konstruktion als unterstützender Prozeß und als Experiment notwendig sein ann. KANTs eigene antinomische Methode war eigentlich ein Versuch solcher Konstruktionen, welche die Beschaffenheit der Voraussetzungen erhellen sollten, wenn diese sich nicht direkt analysieren lassen. - Ebenfalls gilt natürlich das Umgekehrte; daß die Konstruktion die Analyse voraussetzt, weshalb es sich bei näherer Untersuchung ergibt, daß sogar die mathematischen Begriffe, die durch direkte Konstruktion aufgestellt zu sein scheinen, eine vorhergehende Analyse voraussetzen. KANTs Gegensatz zwischen Mathematik und Philosophie ist also in der von ihm aufgestellten Form nicht haltbar. Die Gewißheit, daß wir an den konstanten Elementen der Erfahrung die notwendigen Formen unserer Bewußtseinstätigkeit haben, kann, wie weit die Analyse auch geführt werden mag, nur approximativ [ungefähr - wp] werden, und die Schlüsse, die sich auf diese Gewißheit stützen lassen, müssen natürlich deren Schicksal teilen. KANTs Neigung auf seinem definitiven Standpunkt, die Analyse beiseite zu schieben, machte ihn gegen seinen eigenen Willen zum Dogmatiker. Richtiger hat er 1762 gesehen, als er die analytische Methode als Waffe gegen die Dogmatiker benutzte. 15. Daß die Analyse in KANTs definitiver Philosophie das Stiefkind war, obgleich sie ihren Platz in ihr hat, zeigt sich besonders darin, daß die Ableitung der "Formen" aus dem konkreten Zusammenhang, in welchem sie sich nach KANT anfänglich an den Tag legen, nicht durchgeführt ist. Das gegenseitige Verhältnis der beiden Sätze, die KANT alle beide anerkennt: "Alle Erkenntnis hebt mit der Erfahrung an", und "nicht alle Erkenntnis entspringt aus der Erfahrung", hat er nicht deutlich nachgewiesen. Dies wäre nur dann geschehen, wenn er die verschiedenen Entwicklungsstufen dargestellt hätte, welche die "Formen" von der angeborenen Grundlage an bis zu der durch Übung erworbenen bewußten Klarheit durchlaufen müssen (31). Aber nicht nur als völlig fertig setzt KANT die Formen voraus; er setzt sie auch in einer idealen Vollkommenheit und Reinheit voraus, in welcher keine wirkliche Anschauung oder Erfahrung sie aufzuweisen vermag. Daß dies sich mit Bezug auf den Raum und die Zeit so verhält, bedarf keines näheren Nachweises. NEWTONs absoluter Raum und absolute Zeit sind bei KANT sozusagen eingeschlagen, sind subjektive Formen geworden - ohne jedoch ihre Absolutheit zu verlieren. So wird in der Dissertation jede der Anschauungsformen als typus immutabilis bezeichnet (§ 15, Korollar). KANT denkt sich also Vorbilder, ideale Rahmen, auf welche alles, was uns erscheint, zurückzuführen ist, um in einen allgemeinen Zusammenhang verwoben zu werden (32). Ein ähnliches Vorbild (exemplar) wird, der Dissertation (§ 9) zufolge, auch hinsichtlich der Verstandeserkenntnis gebildet und gibt den gemeinsamen Maßstab aller Realität ab. In der Kr. d. r. V. entsteht der Erfahrungsbegriff oder der Naturbegriff eben durch eine ähnliche ideale Konstruktion. Die Parallele jenes "unwandelbaren Vorbildes" tritt deutlich hervor, wenn es heißt:
"Im Ganzen aller möglichen Erfahrung liegen alle unsere Erkenntnisse." "Alle Erscheinungen liegen in einer Natur und müssen darin liegen, weil ohne diese Einheit a priori keine Einheit der Erfahrung, folglich auch keine Bestimmung der Gegenstände in derselben möglich wäre." (34) -
Im welchem Maß befriedigen nun aber die wirklichen Wahrnehmungen die ideale Forderung, die von diesem Vorbild aus an sie gestellt wird? Hiervon kann man von vornherein offenbar nichts wissen. Ein von unserer Erkenntnistätigkeit durch Abstraktion und Idealisierung gebildetes Vorbild zeigt seine Bedeutung dadurch, daß es den Gedanken in Bewegung setzt. Ob der Gedanke aber adäquate Abbilder des Vorbildes findet, und ob er inmitten der unübersehbaren Vielfachheit der Wahrnehmungen das Vorbild durchzuführen vermag, das ist die große Frage, die nicht dadurch beantwortet wird, daß man nachweist, wir könnten nur, wenn dies geschieht, die notwendige Erkenntnis haben. Mitunter spricht KANT sich dann auch so aus, als ob durch das Vorbild nur ein Suchen eingeleitet wird. So wird in der Dissertation das Prinzip, daß alles, was geschieht, der Ordnung der Natur gemäß geschieht, als ein subjektives Prinzip unserer Forschung (principium convenientiae), dem Gesetz der Sparsamkeit (§ 30) nebengeordnet aufgestellt. In einer Aufzeichnung aus den siebziger Jahren wird von einer Präsumtion [Vermutung - wp] geredet, der zufolge sich alles nach einer Regel bestimmen läßt. In einer Aufzeichnung aus der ersten Zeit des Kritizismus wird gefragt:
"Der Verstand kann a priori niemals mehr leisten als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren." 16. Nur ein einzelner Punkt soll noch zur Erhellung der analytischen Methode KANTs hervorgehoben werden. Wie wir (§ 12) gesehen haben, geht er davon aus, daß die konstanten Elemente unserer Erfahrung von der Erkenntnistätigkeit allein herrühren müssen und nur deren Gesetze ausdrücken können. Hätte KANT sich eingehender auf die Analyse eingelassen, die ihm zur Aufstellung der Formen bewogen hat, so müßte er auch dazu gekommen sein, die Berechtigung dieser Annahme genauer zu prüfen. Er geht ja von Anfang an davon aus, daß das Bewußtsein, das erkennende Subjekt, nicht das einzige Existierende, sondern nur ein Glied des ganzen Daseins ist und mit dem übrigen Existierenden in einem Wechselverhältnis steht. Die Weise, wie das Subjekt das Dasein auffaßt, kann dann nicht durch dessen eigene Natur allein bestimmt sein, sondern ebenfalls durch die Natur des Existierenden. Es liegen bei KANT verschiedene nicht beachtete Andeutungen in dieser Richtung vor. In der Kr. d. r. V. A, Seite 358 ist die Rede von
"Viele Kräfte der Natur, die ihr Dasein durch gewisse Wirkungen äußern, bleiben für uns unerforschlich; denn wir können ihnen durch Beobachtung nicht weit genug nachspüren. Das den Erscheinungen zugrunde liegende transzendentale Objekt, und mit demselben der Grund, warum unsere Sinnlichkeit diese vielmehr als andere oberste Bedingungen hat, sind und bleiben für uns unerforschlich, obgleich die Sache selbst übrigens gegeben, aber nur nicht eingesehen ist." (Kr. d. r. V. B 585 und 631f) Aus diesen Andeutungen ist zu ersehen, daß KANT nicht nur den Stoff, sondern auch die Form aus dem Ding-ansich abgeleitet hat. Wenn dem aber so ist, wird es unberechtigt, daß er so oft ein Dilemma aufstellt, das die Wahl gibt, ob der Gegenstand die Vorstellung oder die Vorstellung den Gegenstand bestimmt. In seiner eigenen Theorie wird in der Tat beides vorausgesetzt. KANT kann konsequent daher nicht der strenge Aprioriker sein, der er gern sein möchte. Es gibt eine Grundvoraussetzung, die er nicht hervorgehoben hat, und auf die sich doch sein ganzes "System der Grundsätze" stützt: diejenige nämlich, daß das Ding-ansich konstakt wirkt. Wäre dies nämlich nicht der Fall, so würden ja, die Natur des Subjekts als unveränderlich vorausgesetzt, die konstanten Elemente der Erfahrung, welche die wirkliche Grundlage von KANTs gesamtem erkenntnistheoretischen Aufbau bilden, Abänderungen erleiden können, und alsdann würden die Grundsätze sich ebenfalls verändern. - Auch von dieser Seite zeigt es sich, daß "die kritische Philosophie nur hypothetisch philosophieren kann". KANTs Glaube, eine Philosophie der Erscheinungen durchführen zu können, ohne es nötig zu haben, irgendeine Voraussetzung vom Ding-ansich aufzustellen, war falsch. Schon seine ersten Kritiker machten darauf aufmerksam, daß das Ding-ansich, wenn er die Begriffe Ding, Existenz und Ursache von demselben gebraucht, doch nicht absolut sein kann. Es sei jedoch hinzugefügt, daß er auch voraussetzt, dasselbe wirke auf regelmäßige Weise. KANT glaubte einen Beweis von der Gültigkeit des Kausalgesetzes geführt zu haben, was WOLFF durchaus mißlungen war. Während WOLFF denselben aus dem Grundsatz des Widerspruchs herleiten wollte, begründet KANT ihn als die Voraussetzung der Möglichkeit der Erfahrung (38). KANTs Beweis stützt sich auf die Annahme, der Kausalbegriff sei eine der subjektiven Formen, ohne die keine Erfahrung im strengen Sinn entstehen kann. Ebensowenig aber wie der Umstand, daß wir äußere Erscheinungen in der Form des Raumes auffassen, sich aus der Natur des Subjekt allein herleiten läßt, ebensowenig betrachtet KANT es als vom Ding-ansich unabhängig, daß wir die Erscheinungen als Ursachen und Wirkungen auffassen. Dies ist aus einer Äußerung wie folgender zu ersehen:
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1) Die vier Schriften sind wahrscheinlich (vgl. Benno Erdmann: Reflexionen Kants, Bd. 1, Site XVIIf) in folgender Reihe erschienen: 1) Die Spitzfindigkeit; 2) Beweisgrund; 3) Über die Deutlichkeit; 4) Die negativen Größen. - Für das Verhältnis ihres Gedankeninhalts ist die Reihenfolge des Verfassens und des Erscheinens natürlich nicht maßgebend. 2) "Etwas als ein Merkmal mit einem Ding vergleichen heißt urteilen." (Über die falsche Spitzfindigkeit, § 1). - Vgl. "Träume eines Geistersehers" (1766): "Unsere Vernunftregel geht nur auf die Vergleichung nach der Identität und dem Widerspruch." (2. Teil, drittes Hauptstück) (Kehrbachs Ausgabe, Seite 64) 3) "Träume eines Geistersehers" sind eigentlich nur eine nähere Entwicklung dieses Beispiels um zu zeigen, wohin das Operieren mit unfertigen Begriffen führt. Der Begriff "Geist" (in einem spiritualistischen Sinn) wird hier zu einem erschlichenen Begriff erklärt. Das Resultat der geistreichen Schrift ist: "Die Pneumatologie der Menschen kann ein Lehrbegriff ihrer notwendigen Unwissenheit in Absicht auf eine vermutete Art Wesen genannt werden." (1. Teil, 4. Hauptstück) (Kehrbachs Ausgabe, Seite 43). Vgl. hiermit Kants "Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen" (1765-1766), wo es heißt, die empirische Psychologie frage gar nicht, ob der Mensch eine Seele besitze. - Wie man sieht, war an diesem Punkt der Entwicklung Kants nicht nur die Kritik der Theologie, sondern auch die Kritik der rationalen (bzw. spiritualistischen) Psychologie wesentlich fertig. 4) Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. (Die Äußerungen über das Kausalproblem finden sich in der Schlußanmerkung.) - Vgl. "Träume eines Geistersehers" (2. Teil, drittes Hauptstück): "Unsere Vernunftregel geht nur auf die Vergleichung nach der Identität und dem Widerspruch. Sofern aber etwas eine Ursache ist, so wird dadurch etwas gesetzt, und es ist also kein Zusammenhang vermöge der Einstimmung anzutreffen; wie den auch, wenn ich eben dasselbe nicht als eine Ursache ansehen will, niemals ein Widerspruch entspringt." (Kehrbachs Ausgabe, Seite 64) 5) Friedrich Paulsen, Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie, Seite 64f. 6) Wie von Benno Erdmann nachgewiesen in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Prolegomena, Seite LXXVIf und ausführlicher in den Reflexionen II, Seite XXXV - XLVII. 7) Reflexionen II, Seite 4 (Nr. 4). Hiermit stimmt eine Äußerung in einem Brief an Garve vom 21. September 1798 überein, es seien die kosmologischen Antinomien der reinen Vernunft, die "ihn aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckten und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieben, um den Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben." (Der Brief ist abgedruckt in Albert Stern, Über die Beziehungen Garves zu Kant.) 8) Reflexionen II, Seite 158 (Nr. 507). 9) Erdmann, Einleitung zu Prolegomena, Seite XCII. 10) Reflexionen II, Seite 4 (Nr. 3). - Ich betone das Wort "ganz". 11) Kr. d. r. V., Vorrede zur zweiten Auflage, Seite XXXV. 12) "Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll", Königsberg 1790, Seite 78. 13) Auf diesen Zeitpunkt wird die "Erweckung" von Kuno Fischer, Riehl und Vaihinger zurückgeführt (letzterer nimmt jedoch auch eine spätere Erweckung an). Meine Motivierung unterscheidet sich jedoch von der dieser Forscher. 14) Erdmann, "Kant und Hume um 1762", Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. I, Seite 62-77; 216-230. 15) a. a. O., Seite 216 16) Ein Brief Kants an Herder vom 9. Mai 1767 (auf den ich erst durch ein freundliches Geschenk des Herrn Bibliothekars Dr. Rudolf Reicke in Königsberg aufmerksam wurde) zeigt, daß Kant um diese Zeit dennoch eine mehr positive Auffassung des Hume hatte, als man aus Herders Äußerungen vermuten möchte. Kant wünscht seinem jungen Freund, er möge die (keineswegs gefühllose) Ruhe des Gemüts erhalten, die dem Philosophen im Gegensatz zum Mystiker eigentümlich ist, und setzt darauf hinzu: "Ich hoffe diese Epoche Ihres Genies aus demjenigen, was ich von Ihnen kenne, mit Zuversiht, eine Gemütsverfassung, die dem, so sie besitzt, und der Welt unter allen am nützlichsten ist, worin Montaigne den untersten und Hume, soviel ich weiß, den obersten Platz einnehmen." Dieses in Kants Mund so bedeutende Lob muß nach dem ganzen Zusammenhang nicht dem "Moralisten" allein gelten. (Der Brief ist abgedruckt in der "Altpreußischen Monatsschrift", Bd. 28, Heft 3 und 4. 1891: zu Herders Briefwechsel, von Viktor Diederichs.) 17) J. H. Lambert, Neues Organon, Leipzig 1764, Bd. 1, Seite 323f, 499. 18) Siehe den Entwurf einer Widmung: Reflexionen II, Seite 1f. 19) Reflexionen II, Seite 67f (Nr. 225, 227, 231). 20) Tempus est ... subjectiva condition per naturam mentis humanae necessaria, quaelibet sensibilia certa lege sibi coordinandi. [Zeit ist ... die durch die menschliche Natur notwendige persönliche Bedingung, wonach gewisses Sinnliche nach eine festen Gesetz geordnet wird. - wp] (Dissertation § 14, 5) Spatium est ... subjectivum et ideale e natura mentis stabili lege proficiscens, veluti schema, omnia omnino externe sensa sibi coordinandi. [Der Raum ist ... etwas Subjektives und Ideales, was aus der Natur der Seele nach einem festen Gesetz hervorgeht, wie ein Schema, um alles äußerlich Wahrgenommene zu ordnen. - wp] (Dissertation § 15 D) 21) Lose Blätter, a. a. O., Seite 16; 19-21 (vgl. hier § 5 Ende). 22) Kant äußert sich hier in der Weise der alten Abstraktionstheorie, obgleich er diese an anderen Orten entschieden verwirft. Siehe Kr. d. r. V. B, Seite 457 (die Note zur ersten Antithesis). Reflexionen II, Seite 126 (Nr. 412). 23) Kr. d. r. V., B, Seite 35, 60, 345; A, Seite 118. 24) Prolegomena, Riga 1783, Seite 119. 25) Dissertation § 15, Korrolar [Zugabe - wp]. - Kr. d. r. V., B, Seite 1f und 90. - Wilhelm Dilthey, Aus den Rostocker Kanthandschriften, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 3, Seite 87. 26) Wie von Benno Erdmann in der Einleitung zur Prolegomena, Seite XXXII - XXXVIII nachgewiesen. 27) Vgl. ebenfalls den Brief an Trieftrunk vom 11. Dezember 1797 über den Begriff der Zusammensetzung, der allen Kategorien zugrunde liegt. 28) Kr. d. r. V., B, Seite 756. - Vgl. hiermit die "Träume eines Geistersehers" (1. Teil, 1. Hauptstück, Kehrbachs Ausgabe, Seite 6, Note), wo die Beschreibung erschlichener Begriffe die angeführte Stelle der "Kritik" lebhaft ins Gedächtnis ruft. 29) Vgl. schon "Aenesidemus" (von G. E. Schulze) 192, Seite 401 und 406. 30) Vgl. die Distinktion [Unterscheidung - wp] zwischen dem Angeborensein und dem ursprünglichen Erwerben in der Dissertation, § 8, Korollar. - Über eine Entdeckung usw. Seite 68. - Kr. d. r. V. B, § 27. - Brief an Herz vom 21. Februar 1772. - Von einem rein psychologischen Standpunkt aus muß ebenfalls ein Einwurf gegen Kants Distinktion des Stoffs und der Form erhoben werden. Die Empfindungen sind nicht bloß passiv aufgenommener Stoff, sondern jede Empfindung wird in ihrer Entstehung und Beschaffenheit durch den Gesamtzustand des Bewußtseins bestimmt. Hier findet insofern, was die Empfindungen selbst betrifft, ein Formen und Verbinden, eine Synthese statt. Vgl. meine "Psychologie in Umrissen", zweite Auflage, Leipzig, Seite 152f. Dieser Einwurf hebt Kants Distinktion nicht auf, führt sie aber weiter und anders durch, als er es getan hat. 31) Was die Zeit betrifft, macht Kant keinen Unterschied zwischen Zeitempfindung, Zeitvorstellung und Zeitanschauung. Vgl. meine "Psychologie", zweite Auflage, Seite 250-260 und meine Abhandlung "Lotzes Lehren über Raum und Zeit und Reinhold Geijers Beurteilung derselben" (Philosophische Monatshefte, Bd. 24, Heidelberg 1890, Seite 422-440). - Was den Raum betrifft, so drückt Kant sich in anderen Schriften weit deutlicher aus als in der Kr. d. r. V. So heißt es in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" (Riga 1786), Seite 3f: "Der absolute Raum ist ansich nichts und gar kein Objekt, sondern bedeutet nur einen jeden anderen relativen Raum, den ich mir außer dem gegebenen jederzeit denken kann." - Seite 16: "Der absolute Raum ist für alle mögliche Erfahrung nichts." 32) Kr. d. r. V. A, Seite 110. 33) Kr. d. r. V. B, Seite 185, 263. 34) Kr. d. r. V., A, Seite 97 (vgl. B 103) 35) Lose Blätter I, a. a. O., Seite 35, 136. - Reflexionen II, Seite 307 (Nr. 1071). - Kr. d. r. V. A 126; B 303. 36) Schon Salomon Maimon hat dies nachgewiesen. "Für mich ist Erfahrung im strengen Sinn kein in der Anschauung darstellbarer Begriff, sondern eine Idee." (Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist, Leipzig 1794, Seite 154. - "Die kritische Philosophie kann nur hypothetisch philosophieren." (Die Kategorien des Aristoteles, Berlin 1794, Seite 133.) 37) Vgl. den Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789: "Das Realwesen von Raum und Zeit und der erste Grund, warum jenem drei, dieser nur eine Abmessung zukommt, ist uns unerforschlich." 38) Kr. d. r. V. B, Seite 264. 39) Kr. d. r. V. B, Seite 522. |