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HARALD HÖFFDING
Lotzes Lehren über Raum und Zeit (1)

"Seit Kant ist es gewöhnlich gewesen, Zeit und Raum zusammenzustellen und einen Parallelismus zwischen ihnen, sowohl was ihre psychologische Natur als was ihre objektive Gültigkeit betrifft, anzunehmen. Kant betrachtete beide als subjektive Anschauungsformen, in welchen unser Bewußtsein unwillkürlich den in den Empfindungen gegebenen Inhalt ordnet, welche wir aber als absolute Formen der Dinge-ansich zu betrachten nicht berechtigt sind. Lotze bestreitet diesen Parallelismus, sowohl in psychologischer wie auch in metaphysischer Hinsicht."

LOTZE nimmt einen hervorragenden Platz in der Philosophie der Jetztzeit ein. Er ist der bedeutendste Repräsentant der idealistischen Richtung und hat nach vielen Seiten die Tradition aus den Zeiten der großen deutschen Systeme bewahrt. Aber seine Philosophie hat auf der anderen Seite einen entschieden realistischen Charakter, indem es sein Grundgedanke ist, daß die ideale Welt, welche das innerste Wesen des Daseins ist, für unsere Erfahrung sich als eine streng mechanische Naturordnug darstellt. Er glaubt, wie er sagt, wohl an  wirkende,  aber nicht an  hexende  Ideen. Und das Wirken der Ideen spürt er eben in dem festen Zusammenhang zwischen allen Erscheinungen, welchen die moderne Wissenschaft mehr und mehr aufzuzeigen vermag. Während die älteren idealistischen Systeme in Deutschland in der Welt der Ideen schwelgten und die realen Formen und Bedingungen ihrer Offenbarung in der Erfahrungswelt übersahen, sucht LOTZE eben die Annahme eines idealen Zusammenhangs als notwendig zum Verständnis des gegebenen realen Zusammenhangs darzulegen. Er will zu seinen idealistischen Resultaten durch einen Rückschluß vom Gegebenen, nicht durch ein Überspringen desselben gelangen. Zur Durchführung dieses Plans war LOTZE vorzüglich ausgerüstet sowohl in naturwissenschaftlicher wie auch in philosophischer Hinsicht. Ein großer - mitunter vielleicht zu großer - Scharfsinn, ein feines Beobachtungs- und Kombinationsvermögen und ein lebendiger Sinn für die individuellen Nuancen der Erscheinungen machen seine Schriften außerordentlich lehrreich. Wie weit es ihm gelungen ist, sein Programm durchzuführen, soll hier nicht untersucht werden. Ich habe nur seine allgemeine Richtung andeuten wollen, damit die Bedeutung von REINHOLD GEIJERs Nachforschungen über einzelne Punkte seiner Lehre, die hier im Zusammenhang dargestellt sind und besprochen werden soll, besser verstanden werden können.

Es ist leicht verständlich, daß LOTZE besonders in Schweden Sympathie und Zustimmung finden mußte. Die schwedische Philosophie hat in ihrem allgemeinen Charakter nicht wenig mit dem Hintergrund von LOTZEs Lehre gemein (2). Der Unterschied zwischen ihnen in einem einzelnen wichtigen Punkt wird im Folgenden erwähnt werden. Hier soll nur als der Mangel der schwedischen Philosophie hervorgehoben werden, daß sie eben nur Hintergrund, keinen Vordergrund hat. Sie nähert sich LOTZE in ihren allgemeinen metaphysischen Ideen, aber es fehlt ihr sein lebendiger Sinn für die realen Erscheinungen und seine ernste Überzeugung, daß eine idealistische Anschauung nur dann einen wissenschaftlichen Wert hat, wenn sie als notwendiger Hintergrund der Erfahrungswelt dargelegt wird.

REINHOLD GEIJER hat besonders LOTZEs Lehre von Raum und Zeit untersucht. Er hat über diese Seite an LOTZEs System ein klares und scharfes Licht geworfen, hat merkliche Änderungen und ein eigentümliches Schwanken in LOTZEs Anschauungen aufgezeigt. Besonders interessant ist die Studie über LOTZEs Zeitauffassung, welche mit großer Gründlichkeit und Klarheit (obgleich vielleicht mit zu großer Ausführlichkeit: 273 Seiten groß!) durchgeführt ist, und zeigt, wie genau diese Frage mit den tiefsten religionsphilosophischen Problemen zusammenhängt. Ich werde eine Übersicht über die Abhandlungen GEIJERs geben und mir erlauben, daran einige kritische und ergänzende Bemerkungen zu knüpfen.

I. In der Lehre vom Raum schließt sich LOTZE, wie die meisten Philosophen unserer Zeit (sowohl die englische wie auch die deutsche Schule), wesentlich an KANTs Lehre an, insofern diese den Raum als eine Form betrachtet, unter welcher die materiellen Erscheinungen sich vor unserer Auffassung darstellen, welche man aber nicht den Dingen ansich zuschreiben darf. LOTZE legt hier besonders darauf Gewicht, daß wir den Raum nur durch unsere eigenen Empfindungen kennen, und daß daher ein besonderer Beweis gefordert werden muß, wenn man ihn als eine absolute, den Dingen ansich zukommende Eigenschaft betrachten will. Die sinnlichen Qualitäten (Farbe, Ton, Geschmack etc.) betrachtet man ja jetzt einstimmig als subjektive Phänomene, welche uns keine Bilder der Dinge geben; und der Raum muß ebenso betrachtet werden. Es würde zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führen, wenn wir den Raum als absolut objektiv betrachten würden. Alle Punkte des Raumes sind gleich, und doch sollen sie einander gegenseitig bestimmen, weil die Lage jedes einzelnen Punktes auf seiner Beziehung zu anderen Punkten beruth. Wie kann denn die verschiedene Lage erklärt werden, wenn alle Punkte - und also auch alle Beziehungen der einzelnen Punkte - gleich sind? Diese Schwierigkeit fällt weg, wenn wir den Raum als eine bloße Anschauungsform betrachten, in welcher das Bewußtsein, von gewissen Motiven geleitet, seine Empfindungen ordnet. Wie die Dinge ansich auch beschaffen sein mögen, durch die Art, in welcher sie uns reizen, müssen gewisse Kennzeichen gegeben sein, welche wir in unserer Anschauung dadurch ausdrücken, daß wir den Inhalt jeder einzelnen Empfindung auf eine bestimmte Stelle unseres Raumbildes beziehen. Ähnlich geht es ja mit unserer Farbenauffassung: den qualitativen Verschiedenheiten (in der Wellenlänge der Schwingungen) entsprechen die qualitativen Verschiedenheiten (die Farbnuancen); Reiz und Empfindung sind einander gar nicht ähnlich. - Wir können im Ganzen, behauptet LOTZE, Beziehungen, Relationen kein Bestehen an und für sich zuschreiben; wir müssen stets ein Bewußtsein hinzudenken, welches die Glieder der Relationen zusammenfaßt und vergleicht.

LOTZE hat sich ein besonderes Verdienst erworben durch seine Untersuchung des Vorgangs, durch welchen das Bewußtsein dazu kommt, den Inhalt jeder einzelnen Empfindung an einer bestimmten Stelle seines Raumbildes anzubringen. Um dies zu verstehen, müssen wir, meint er, annehmen, daß sich bei jeder Sinnesempfindung außer ihrer eigentümlichen Qualität (rot, blau etc.) auch eine Nebenbestimmung daran knüpft, welche mit der bestimmten Stelle des Sinnesorgans, welche von einem Reiz getroffen wird, zusammenhängt. Beim Gesichtssinn (an welchen LOTZE sich besonders hält) kann diese Nebenempfindung darauf beruhen, daß alle Punkte der Netzhaut für Reize nicht gleich empfänglich sind. Unwillkürlich stellt sich das Auge darum, wenn ein Reiz eintrifft, so, daß er den gelben Fleck (die Stelle des deutlichsten Sehens) treffen kann. Mit der bestimmten Farbe bekommen wir darum zugleich eine Bewegungsempfindung, welche für jede Stelle der Netzhaut verschieden ist, weil die Bewegung, welche ausgeführt werden soll, mit der Entfernung von diesem gelben Fleck variiert. Diese Nebenempfindung nennt LOTZE das  Lokalzeichen  der Empfindung. Sie enthält eine Anweisung zu einer bestimmten Beziehung zwischen dieser Empfindung und den anderen.

GEIJER glaubt nun eine Lücke in dieser berühmten Theorie LOTZEs aufzeigen zu können.
    "Wenn", sagt er, "eine ganze Menge von Lichtreizen verschiedene Nervenpunkte der Retina  gleichzeitig affizieren und somit in der Seele nicht nur eine Menge mehr oder weniger verschiedener Farbempfindungen oder  Haupteindrücke A, B, C usw. gleichzeitig erzeugen, sondern auch ebensoviele natürlicherweise ebenfalls, zumindest miteinander, gleichzeitige lokale Nebeneindrücke  π, κ, ρ usw. - woher kommt es dann, oder worauf beruth es, daß jedes einzelne dieser Lokalzeichen (z. B. π) sich vorzugsweise und ausschließlich eben mit demjenigen Haupteindruck (A) assoziiert, welcher durch denselben Reiz wie er selbst veranlaßt ist oder in demselben Netzhautpunkt seine Ursprungsstelle hat, und nicht etwa eben so leicht mit jedwedem anderen Haupteindruck (B oder C)? Darüber gibt uns  Lotze gar keine Auskunft."
Ich glaube, daß GEIJER hierin Recht hat, und daß er hier einen Punkt angibt, auf welchen weder LOTZE noch seine Nachfolger hinlänglich aufmerksam gewesen sind. GEIJER versucht nun selbst in sehr scharfsinniger Weise die Schwierigkeit zu lösen. Er stützt sich darauf, daß eine Empfindung sich uns deutlicher darstellt, wenn die Aufmerksamkeit (die Apperzeption) sich ihr zuwendet. Wenn nun die Farbempfindung  A  uns deutlicher wird dadurch, daß unsere Aufmerksamkeit für sie geweckt wird, dann wird (infolge des physiologischen Zusammenhangs zwischen Sinnes- und Bewegungsnerven) auch die entsprechende Bewegungsempfindung  (π)  deutlicher hervortreten, und eine Assoziation der entsprechenden Vorstellungen wird zustande gebracht. Wendet sich die Aufmerksamkeit von  A  zu  B,  so wird statt  π κ  deutlicher usw.

GEIJER legt jedoch gewiß - sowohl in seinem Nachweis der Schwierigkeit wie auch in seinem Versuch sie zu lösen - zu großes Gewicht darauf, daß die Reize gleichzeitig eintreffen. Wohl wird, unter gewöhnlichen Verhältnissen, in jedem Augenblick das ganze Auge mit Licht gefüllt, die ganze Netzhaut gereizt. Aber die Frage ist, ob diese  gesammelte, momentane  Reizung je eine Raumauffassung und besonders eine Lokalisierung möglich machen würde. Schon aus dem Grund würde sie es nicht, weil  die Lokalzeichen unter diesen Verhältnissen gar nicht entstehen würden,  wenn sie in  Bewegungs empfindungen bestehen sollen. Wenn jeder Punkt der Netzhaut gereizt wird, muß ja auch aus jedem Punkt eine Tendenz zur Auflösung einer Bewegung entspringen; aber alle diese verschiedenen Tendenzen würden einander hemmen. Nun ist es auch aus mehreren Gründen wahrscheinlicher, daß die Raumauffassung erst durch eine Reihe sukzessiver Erfahrungen und durch Übung zustande kommt. Nehmen wir an, daß wir im ersten Augenblick die Reize  A, B  und  C  gleichzeitig bekamen, daß aber im nächsten Augenblick  A,  welches zuerst eine vom gelben Fleck entferntere Stelle getroffen hatte, aus dem einen oder dem anderen Grund unsere Aufmerksamkeit erregte:  erst dann  würde die Bewegung ausgeführt werden, welche  A  auf den gelben Fleck fallen läßt, und  erst dann  würde also die entsprechende Bewegungsempfindung  entstehen.  Zusammen mit  A's  Übergang zu größerer Klarheit entsteht eine gewisse Bewegungsempfindung  (π)  und diese zwei Elemente  (A + π)  kommen als  ein  Ganzes zu unserem Bewußtsein. Wenn  B  danach zuerst dieselbe Stelle wie  A  trifft und dann ebenfalls den gelben Fleck, bekommen wir den Empfindungskomplex  (B + π),  und nach angestellter Vergleichung sagen wir dann, daß  B  jetzt auf derselben Stelle wie früher  A  ist. Die Aufmerksamkeit, welche für das Entstehen der Lokalzeichen notwendig ist, ist die rein unwillkürliche, welche sich der Reflexbewegung oder dem Instinkt nähert. - Der Unterschied zwischen meiner Auffassung und der GEIJERs ist also der, daß er meint, die Lokalzeichen seien wohl von Anfang an da bei simultaner Reizung, müßten aber durch  Aufmerksamkeit verstärkt  werden, während ich meine, daß die Lokalzeichen erst mittels der unwillkürlichen Aufmerksamkeit  entstehen.  Durch Übung kann dann zuletzt eine solche Sicherheit und Schnelligkeit der Auffassung entstehen, daß das geordnete Raumbild sich mit einem Schlag bildet, ohne daß man sich aller einzelnen Lokalzeichen bewußt zu werden braucht. Es scheint ein allgemeines psychologisches Gesetz zu sein, daß die sukzessive Auffassung leichter als simultane (intuitive) Auffassung ist und in dieser untergeht (3). - LOTZE selbst hat vielleicht (denn ganz deutlich ist seine Darstellung nicht) die Sache in ähnlicher Weise aufgefaßt. GEIJER zeigt, daß sich seine Auffassung geändert hat; in den früheren Schriften ("Medizinische Psychologie") meint er, daß uns die Lokalzeichen nicht zu Bewußtsein kommen; anders in seinen späteren Schriften. Aber zu unserem Bewußtsein können sie zuerst nur durch  sukzessive  Auffassung kommen. - Ob man nun GEIJERs oder meine Auffassung vorziehen will, so behält er doch jedenfalls die Ehre, das zu lösende Problem aufgezeigt zu haben.

II. Seit KANT ist es gewöhnlich gewesen, Zeit und Raum zusammenzustellen und einen Parallelismus zwischen ihnen, sowohl was ihre psychologische Natur als was ihre objektive Gültigkeit betrifft, anzunehmen. KANT betrachtete beide als subjektive Anschauungsformen, in welchen unser Bewußtsein unwillkürlich den in den Empfindungen gegebenen Inhalt ordnet, welche wir aber als absolute Formen der Dinge-ansich zu betrachten nicht berechtigt sind. LOTZE bestreitet diesen Parallelismus, sowohl in psychologischer wie auch in metaphysischer Hinsicht. GEIJER richtet eine Antikritik gegen ihn und sucht die Richtigkeit der kantischen Annahme zu behaupten. - Wir beschäftigen uns zuerst mit der psychologischen Seite der Sache.

LOTZE bestreitet, daß wir eine besondere Anschauung der Zeit als allgemeiner Form von allem, was geschieht, haben. Unsere Vorstellung der reinen, leeren Zeit ist, behauptet er, nicht ursprünglich, sondern stützt sich auf die Raumanschauung und setzt diese voraus. Wir stellen uns die Zeit als eine Linie, einen Strom vor, oder welches Bild man nur anwenden will; aber ohne die Anwendung solcher, von der Raumanschauung hergeholten Bilder würden wir keine Vorstellung der Zeit im Allgemeinen haben. LOTZE kritisiert ausführlich die gewöhnliche Vorstellung von der leeren Zeit, welche sich in Widersprüche verwickelt, indem sie auf die Zeit überträgt, was nur vom Inhalt der Zeit gilt (so, wenn wir die Zeit "laufen" oder "still stehen" lassen). GEIJER hat sicher Recht darin, daß LOTZE auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch und die Widersprüche, die sich in ihm finden, zuviel Gewicht legt. LOTZE verwendet hier nicht wenig Dialektik, die zu besserem Gebrauch hätte gespart werden können.

Obgleich LOTZE die von KANT angenommene "reine" Zeitanschauung, die Vorstellung der Zeit als eines leeren und unendlichen Schemas, welches in unserem Bewußtsein als ursprüngliche Form aller Sinnesauffassung gegeben sein sollte, verwirft, leugnet er doch nicht, daß sich in der Zeitvorstellung ein apriorisches Element geltend macht. Er unterscheidet zwischen der  Zeit (als allgemeiner und endlicher Form) und der  Sukzession (dem Wechsel; GEIJER gebraucht gern das Wort  timlighet: Zeitlichkeit). Während die Vorstellung der Zeit die Vorstellung einer allgemeinen Ordnung ist, in welche wir unsere Erfahrungen einfügen, ist die Sukzession eine ursprüngliche Form aller unserer inneren und äußeren Erfahrungen. Unsere Zustände folgen einander nach, und in dieser Hinsicht ist die Sukzession ein primitiveres Element in unseren Erfahrungen als das Raumverhältnis. Nicht alle Erfahrungen fassen wir im Raum auf; und selbst die, welche wir im Raum auffassen, fassen wir zugleich als sukzessiv auf. Dagegen ist nach LOTZE die Vorstellung der allgemeinen Zeit ein psychologisches Produkt, wozu außer der Sukzessionsempfindung auch die Raumvorstellung mitwirkt.

In meinen Augen ist die Distinktion LOTZEs zwischen Zeit und Sukzession sowohl deutlich als berechtigt. GEIJER kritisiert sie aber sehr scharf. Er meint, daß LOTZE hier mit einem  parti pris [Voreingenommenheit - wp] anfängt und daß seine Polemik gegen KANTs reine Anschauung der Zeit nur seiner spekulativen Auffassung der Bedeutung der Zeit den Weg bahnen soll. In einzelnen Punkten kann ich mich an GEIJER anschließen; so in seinem Urteil über LOTZEs Andeutungen davon, daß das Zeitverhältnis eigentlich nur ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis sein sollte, indem sich der eine Augenblick zum andern als Ursache zur Wirkung verhält. Obgleich LOTZE nicht im Ernst diese Theorie anzunehmen scheint, hat er doch auch hier nicht wenig Scharfsinn verschwendet. Schon die immer notwendige Warnung gegen eine Verwechslung von  post hoc [danach - wp] und  propter hoc [deswegen - wp] zeigt, daß zwischen Temporalität und Kausalität bestimmt unterschieden werden muß. - Hiervon aber abgesehen glaube ich, daß LOTZE hier einen schwachen Punkt bei KANT trifft, einen der Punkte, wo man es besonders als ein Mißgeschick empfindet, daß KANT die psychologische und die erkenntnistheoretische Betrachtungsweise nicht gehörig unterschieden hat, und zugleich einen Punkt, wo KANT noch vom Dogmatismus und von der mathematischen Betrachtungsweise zu abhängig ist. KANT lehrt:
    "Das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht  a priori zugrunde läge. - Alle bestimmte Größe der Zeit ist nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich. Daher muß die ursprüngliche Vorstellung der Zeit als uneingeschränkt gegeben sein." (Kr. d. r. V., Ausgabe Kehrbach, Seite 58-59)
KANT geht hier vom Unendlichkeitsbegriff der dogmatischen Philosophie aus, nach welchem das Unendliche dem Endlichen zugrundeliegt, indem dieses nur durch Einschränkung und Begrenzung jenes entsteht. Er geht besonders von NEWTONs  tempus verum, absolutum et mathematicum [Die Zeit ist eine absolute und mathematische Wahrheit. - wp] aus, nur daß er es nicht wie NEWTON als ein objektiv Existierendes betrachtet; die absolute Zeit ist bei KANT "hineingeschlagen", ist eine subjektive Anschauungsform geworden. Es ist im allgemeinen die Quelle der Einseitigkeiten und der Fehler KANTs, daß er den Begriffsapparat des Dogmatismus gebraucht und ihn nur aus der Welt der Objektivität in die der Subjektivität verlegt. Bei den mehr psychologisch gebildten seiner Nachfolger (z. B. FRIES) (4) findet man schon den bestimmten Unterschied zwischen der unmittelbaren Auffassung der Sukzession und der abstrakten mathematischen Zeitanschauung.

GEIJER macht nun den streng kantischen Gesichtspunkt gegen LOTZE geltend. Die Vorstellung der leeren Zeit ist nach ihm  faktisch gegeben.  Doch erläutert er dies näher so, daß "unsere ersten und meist elementaren Vorstellungen von Sukzession eine mehr oder weniger entwickelte Vorstellung der (leeren, unbegrenzten) Zeit enthalten und  voraussetzen",  oder wie er sich an einer anderen Stelle ausspricht, daß diese Vorstellung  quoad potentiam [als Vermögen - wp] oder als unentwickelte Virtualität gegeben ist.

Es scheint hierin einige Unklarheit zu liegen. Psychologisch  gegeben  kann nur eine Wirklichkeit, keine Möglichkeit sein. Eins ist, daß  wir,  welche auf die eine oder die andere Weise die mathematische Vorstellung der Zeit erworben haben, sehen können, daß die einfache Auffassung wechselnder Zustände, der Sukzessionen der Erfahrungen, ein Keim ist, aus welchem sich jene abstrakte Vorstellung entwickeln kann; ein ganz Anderes ist es, daß diese Vorstellung selbst gegeben sein sollte. Als Möglichkeit gegeben zu sein ist ein psychologischer Widerspruch.

Erkenntnistheoretisch  setzen wir den konstruierten Begriff der reinen Zeitform voraus, und wir operieren mit ihm in der Bewegungslehre und in der Mechanik. Aber  psychologisch  fassen wir nur die Sukzession der Zustände auf, nichts Weiteres, obgleich wir bei genauerem Nachdenken einräumen, daß alle wechselnden Augenblicke zu ein und derselben Zeit gehören, von welcher wir uns kaum eine Vorstellung ohne die Hilfe von Raumbildern machen können. Nur die Blindgeborenen haben vielleicht eine andere Auffassung der allgemeinen Zeit; aber von dieser können wir, die Sehenden, uns keine Vorstellung machen, obgleich sich auch unter uns große individuelle Verschiedenheiten in dem Grad, in welchem Gesichtsbilder bei der Anschauung und dem Denken angewendet werden, geltend machen. Es ist die Aufgabe der Psychologie, zu zeigen, wie sich die einfache Auffassung von Sukzession (die ich in meiner Psychologie  Zeitempfindung  genannt habe) nach und nach zu höheren Formen, zu Zeitvorstellung und Zeitanschauung entwickelt. (5) Ich will hier nur daran erinnern, daß wir unmittelbar nur sehr kleine Zeiträume auffassen und schätzen können; längere Zeiträume fassen wir symbolisch, in verkürztem Maßstab und gewiß nur mit Hilfe von Raumbildern auf. Ein operierter  Blindgeborener  konnte in der ersten Zeit nach der Operation nicht verstehen, wie das Haus größer als das Zimmer sein konnte; beide füllten ja ganz sein Blickfeld aus! Wie also unser räumliches Blickfeld immer gleich groß ist, aber wir es sehr verschiedene Anschauungen  bedeuten  lassen, so ist auch unsere unmittelbare Sukzessionsauffassung immer gleich groß, aber wir lassen sie höchst verschiedene Zeitlängen  bedeuten,  und wenn sie sehr große Zeitlängen bedeuten soll, benutzen wir gewiß alle (die Blindgeborenen ausgenommen) Raumbilder als Hilfe.

Ich glaube also, daß LOTZE in diesem Punkt vollständig Recht hat, obgleich er hier seine Auffassung nicht mit der überlegenen Klarheit entwickelt, welche sonst für ihn charakteristisch ist. Er ist vielleicht auch nicht so uneinig mit KANT als es im ersten Augenblick scheinen kann; denn im ersten Entwurf seiner kritischen Philosophie (der Dissertation von 1770) lehrt KANT, daß sowohl die Zeit- als auch die Raumanschauung erworben sind, nur nicht durch die Wahrnehmung äußerer Gegenstände, sondern durch die Beobachtung der Art, in welcher das Bewußtsein seine gegebenen Empfindungen ordnet; und in der Streitschrift gegen EBERHARD (1791) scheidet er ausdrücklich zwischen dem Angeborenen und dem Apriorischen und behauptet, daß nur die  Grundlage  der Zeit- und Raumvorstellung angeboren ist. In den von BENNO ERDMANN herausgegebenen "Reflexionen" sagt KANT sogar: "Es ist keine absolute Zeit oder Raum. Die reine Anschauung bedeutet hier  nicht etwas, was angeschaut wird,  sondern die reine formale Bedingung, die der Erscheinung vorhergeht." (6) Wenn KANT nicht in seiner kritischen Periode der Psychologie allzusehr den Rücken gekehrt hätte, würde er diesen Punkt bestimmter hervorgehoben haben und viel Unklarheit und viel Irrtum verhindert worden sein.

Das Verhältnis zwischen Zeit und Raum betreffend, ist das Resultat also dieses, daß der Parallelismus beider aufgegeben werden muß. Wenn man unter "Zeit" Sukzession versteht, dann ist sie primitiver als der Raum; aber wenn man unter "Zeit" unsere entwickelte Vorstellung der Zeitreihe als unbegrenzte und kontinuierliche Form all dessen, was geschieht, versteht, dann ist sie dem Raum gegenüber sekundär.  Zeit  in dieser letzten Bedeutung ist das Produkt eines psychologischen Verschmelzungsprozesses, zu welchem sowohl die Raumvorstellung als auch die Sukzessionsauffassung ihre Beiträge geben. GEIJER bemerkt, daß LOTZE sonst die Annahme solcher psychologischer Verschmelzungen als eine unberechtigte Übertragung materieller Verhältnisse auf das Gebiet des Geistes abzuweisen pflegt. Er hat Recht darin, daß LOTZE insofern inkonsequent ist. Mir ist aber diese Inkonsequenz interessant, weil sie zeigt, wie LOTZEs häufige spiritualistische Indignation der "naturalistischen" Psychologie gegenüber sich selbst straft, indem sie den vortrefflichen Mann in Streit mit sich selbst bringt.

III. REINHOLD GEIJERs Studium LOTZEs hat ihn dazu geführt, darzulegen, wie seine Auffassung in den verschiedenen Schriften in etwas verschiedener Form hervortritt. Dies gilt von der eben besprochenen Lehre von den Lokalzeichen und es gilt - was von besonders großem Interesse st - auch von seinen Anschauungen von der objektiven, absoluten Bedeutung der Zeit (der Sukzession).

In seinen früheren Schriften (auch dem größten Teil des "Mikrokosmus") nimmt LOTZE - ohne doch die Sache einer näheren Prüfung zu unterwerfen - die Gültigkeit der Zeit (der Sukzession) für die absolute Wirklichkeit - nicht nur für die Erscheinungen der Erfahrung - an. Nun ist es ein Grundgedanke in LOTZEs Philosophie, daß die absolute Wirklichkeit nicht den Einzelwesen, welche uns die Erfahrung darstellt, zugeschrieben werden kann. LOTZE huldigt gewiß in der Physik der Atomlehre und behauptet in der Psychologie die Existenz der Seele als einer vom Körper unterschiedenen Substanz; aber weder die Seelen noch die Atome (wobei letztere für ihn zuletzt auch aus Seelen bestehen) sind ihm absolute Substanzen. Aus der Tatsache, daß alle Einzelwesen der Welt in gegenseitiger Wechselwirkung stehen, schließt er, daß sie alle nur Glieder oder Momente einer einzigen unendliche Ursubstanz sind, welche sich in allen rührt, und deren Aktionen sie jedes für sich sind. Seine Philosophie bestreitet den Pluralismus und lehrt einen fundamentalen Monismus. Es tritt eine starke pantheistische Richtung bei LOTZE hervor und es ist nur eine gewisse Halbheit bei ihm und ein in meinen Augen ungebührlicher Gebrauch theologischer Wörter (denn mehr als Wörter sind es nicht), welche machen, daß seine Religionsphilosophie dem populären religiösen Vorstellungskreis nahe zu stehen scheint. Wenn LOTZE in seinen ersten Schriften der Sukzession (und damit dem Werden, der Veränderung, der Entwicklung) eine absolute Bedeutung zuschreibt, dann wird dies also sagen, daß die Ursubstanz, die Gottheit selbst in einem ewigen Werden, einem unendlichen Entwicklungsprozeß begriffen ist. GEIJER meint, daß LOTZE diese Anschauung teils von seinen naturwissenschaftlichen Studien, teils von seinen philosophischen Vorgängern übernommen hat. Wenn er unter diesen letzteren HEGEL und HERBART nennt, ist es kaum mit Recht, denn sie leugnen beide die absolute Gültigkeit der Zeit. Dagegen muß man hier (wie im Ganzen bei LOTZEs religionsphilosophischem Standpunkt) ein sehr großes Gewicht auf den Einfluß legen, welchen sein Lehrer C. H. WEISSE, der bedeutendste Vorkämpfer eines philosophischen Theismus in unserer Zeit, auf ihn geübt hat, einen Einfluß, den LOTZE selbst öfter in warmen Worten anerkannt hat. WEISSE schärfte schon in seinen frühesten Schriften - eben im Gegensatz zu HEGEL - die reale Bedeutung des Zeitverhältnisses ein. In seiner kühnen und tiefsinnigen (freilich auch theosophischen und phantastischen) Religionsphilosophie behauptet er, daß die Gottheit sich in der Zeit entwickelt, daß sie das innere beseelende Entwicklungsprinzip in Allem ist, was sich in der Zeit und im Raum entfaltet. Er betont besonders, daß eben eine  theistische  Auffassung die absolute Gültigkeit der Zeit anerkennen muß, weil ein persönliches Dasein undenkbar ist, wenn es nicht ein Leben in der Zeit ist und weil die Gottheit nicht Ursache der Entwicklung sein kann, wenn sie sich nicht selbst entwickelt. WEISSE scheut nicht einmal die Konsequenz, daß Gottes Wesen  nicht  abgeschlossen und fertig sein kann: es findet ein ewiger Fortgang, ein unendlicher Erhöhungsprozeß auch für ihn und in ihm statt. (7)

Im Schluß des "Mikrokosmus" (Bd. III, Seite 597 der ersten Ausgabe) findet sich wohl schon eine bemerkenswerte Äußerung, in welcher LOTZE die absolute Bedeutung der Zeitunterschiede zu leugnen scheint. Aber in seinem Hauptwerk "Drei Bücher der Metaphysik" (1879) wird doch bestimmt gelehrt, daß zwar nicht die leere Zeitform, aber die Sukzession, das lebendige Wirken und Leiden der Ausdruck des innersten Wesens des Daseins ist. Die Lehre LOTZEs ist ein teleologischer Idealismus: das innerste Wesen des Daseins ist ein geistiges Leben, welches in einem stetigen Wirken und Leiden die Weltentwicklung von niederen zu höheren Stadien fortführt.

Erst in einer der letzten Schriften, an welche LOTZE selbst Hand gelegt hat, nämlich den nach seinem Tod herausgegebenen "Grundzügen der Metaphysik" welche keineswegs nur ein Auszug des größeren metaphysischen Werkes sind, bricht LOTZE entschieden mit seiner früheren Anschauung (siehe besonders § 56-58), indem er erklärt, daß der wesentliche Gedanke, der den Begriff des Wirkens ausmacht, nämlich der der "tatkräftigen Bedingung" des Einen durch das Andere, zu seiner Geltung der Zeit nicht bedarf. Nach der weiteren Ausführung wird hierdurch nicht nur die leere Zeit, sondern auch die Sukzession ausgeschlossen. In den (ebenfalls posthumen) "Grundzügen der Religionsphilosophie" (§ 67) wird behauptet, daß Gott über allen Zeitverlauf erhaben sein muß. - GEIJER meint, daß besonders religiöse Motive LOTZE zu diesen Andeutungen geführt haben, welches vielleicht weiter entwickelt worden wären, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, das größere Werk über Ethik und Religionsphilosophie, welches er plante, auszuarbeiten. Es soll nämlich ein unabweislicher Drang des religiösen Gefühls sein, das höchste Wesen, die wahre Wirklich als ein in sich abgeschlossenes Ganzes, eine absolute Totalität zu denken, welche weder wachsen noch abnehmen kann, weil sie in sich alle Vollkommenheit und alle Realität befaßt. Was wird und sich entwickelt, das sei alles notwendig endlich und unvollkommen. Es habe in jedem Augenblick nur eine fragmentarische Existenz; sein Dasein sei in die Zeit zersplittert. Der teleologische Idealismus kann - nach GEIJER - die Idee der vollkommenen Totalität nicht befriedigen. Die Gottheit des teleologischen Idealismus ist einerseits der dunkle unvollkommene Grund des ewigen Daseinsprozesses, andererseits das ferne, unerreichbare Ziel, nach welchem hin sich dieser Prozeß bewegt. Aber die absolute, vollendete Wirklichkeit, welche das religiöse Gefühl - und wie GEIJER hinzufügt, auch der systematische Drang unserer Vernunf - verlangt, kann der teleologische Idealismus auf keinem Punkt statuieren. Er leidet unter den Widersprüchen, welche KANT in seinen berühmten "Antinomien" aufgezeigt hat, und welche nur aufgehoben werden können, wenn man  entweder  die objektive Gültigkeit der Idee des Absoluten, der vollkommenen Totalität leugnet, und also mit dem Kritizismus diese Idee zu einem bloß subjektiven Ideal macht, - &oder  auch die absolute Gültigkeit der Zeit (der Sukzession) leugnet, indem man annimmt, daß das Dasein nur vom menschlichen Gesichtspunkt gesehen als Bewegung und Entwicklung erscheint. Wenn man den ersten Ausweg wählt, geht man zur kritischen Philosophie über, wird aber dann - nach GEIJERs Meinung - in einen Positivismus hinübergleiten, welcher nur das faktisch Gegebene als real annimmt; wenn man den anderen Ausweg wählt, kommt man zu einem "rationalen Idealismus", welchen BOSTRÖM entwickelt hat und welcher den Standpunkt der schwedischen Philosophie bezeichnet. - So weit REINHOLD GEIJER.

Die Klarheit und Schärfe, mit welcher GEIJER die Widersprüche LOTZEs (und vieler anderer) religionsphilosophischer Anschauung entblößt, muß in hohem Grad anerkannt werden. Wegen der herrschenden Distinktion (Unterscheidung - wp] zwischen Glauben und Wissen hat man jetzt eine zu große Neigung dazu, mit halb durchdachten Begriffen vorlieb zu nehmen und einfache logische Widersprüche zu übersehen, wenn von religiösen Annahmen die Rede ist. Ich bin mit GEIJER darin ganz einverstanden, daß ein absolutes Wesen, welches nicht zu etwas von ihm Unterschiedenen in einem Verhältnis steht und welches in sich alle wahre Wirklichkeit befassen soll, nicht werden und sich entwickeln kann. Wenn es noch etwas erreichen könnte, würde es ja nicht absolut, sondern begrenzt und endlich sein. Es wären ihm dann Grenzen gesetzt, die es noch nicht überwunden hätte. Wenn nun GEIJER und die schwedische Philosophie darin Recht haben, daß der Gedanke einer absoluten Totalität als der wahren Wirklichkeit ein für die menschliche Vernunft notwendiger Gedanke ist, dann muß alle Sukzession und Entwicklung zuletzt nur eine bloß menschliche Auffassungsart (wie Farbe, Ton usw.) sein.

Aber verhält es sich nun so? Die menschliche Erkenntnis sucht gewiß unter allen Formen und auf allen Stufen die gegebenen Erfahrungen zusammenzufassen, sie zur Einheit und Totalität zu verbinden, einen inneren Zusammenhang zwischen ihnen aufzuzeigen. Die höchste Erkenntnis, welche wir uns denken können, würde mit  einem  Blick den Zusammenhang der Natur durchschauen und die unzähligen Erscheinungen unter  einem  großen Weltgesetz verbunden sehen. Aber die wirkliche Erkenntnis buchstabiert sich nur in der Richtung eines solchen Ideals fort und wird über das Buchstabieren niemals hinauskommen. Die Annahme eines ewigen Systems als der wahren Wirklichkeit kann nicht eine Vernunftnotwendigkeit genannt werden. Unsere Erkenntnis ist in fortwährender Entwicklung, nicht nur, weil wir endliche Wesen sind, sondern auch, weil sich das Dasein selbst ändert und entwickelt: nicht nur unsere Erkenntnis, sondern auch der Gegenstand ist in einem beständigen Werden begriffen. Sollte es widersprechend sein das zu behaupten? Die Erkenntnis braucht darum nicht ihr Ideal aufzugeben; dieses kann - in der Form, in welcher wir es uns vorstellen - unerreichbar sein, und man kann doch von einer Annäherung an dasselbe reden, wenn es nur gelingt, immer größere Einheit und größeren Zusammenhang in unsere Erfahrung zu bringen. Daß die Zeit immer neue Erfahrungen und damit neue Aufgaben bringt, streitet nicht gegen die Richtigkeit des Ideals: denn die Bedeutung eines Ideals ist nicht die, ein Bild der Vollendung zu geben (dies würde nur ein Zeitvertreib für die Phantasie sein), sondern die, eine Anweisung dazu zu geben, wie gestellte Aufgaben behandelt werden sollen.

Wenn ich den ersten der von GEIJER aufgezeigten Auswege wähle, tue ich es in der Gewißheit, daß man sich im Lager des Kritizismus oder Positivismus vortrefflich befinden kann.

Ich glaube auch nicht, daß man ohne weiteres (mit GEIJER, welcher hier zum Teil von LOTZE gestützt wird), sagen kann, daß ein religiöser Drang dazu führt, das Absolute als ewig und unveränderlich anzunehmen. Es gibt gewiß einen natürlichen Drang dazu - durch eine Art von Kontrastwirkung (8) - sich ein Dasein zu denken, welches von all dem Wechsel und der Veränderung, vom Wogen der Hoffnung und der Furcht, des Glücks und des Unglücks, welchem das endliche Dasein unterworfen ist, frei sei. Man fühlt sich getröstet dadurch, daß es eine Macht gibt, welche nicht der Zeit unterliegt. Jedenfalls gibt es aber eine andere Seite des religiösen Gefühls oder ein anderes religiöses Bedürfnis, welches in eine entgegengesetzte Richtung zeigt indem es fordert, die Gottheit als Vorbild, als Mitkämpfer im harten Kampf des Daseins zu haben, und indem man wünscht, dasjenige Mitgefühl zu finden, welches sich nur bei dem finden kann, der selbst Schmerz und Not getragen hat. Aus diesem religiösen Bedürfnis stammt die Vorstellung des leidenden Gottes.

Die zwei religiösen Bedürfnisse oder Postulate kommen freilich in Konflikt miteinander; was man das Paradoxon des christlichen Glaubens genannt hat, entsteht durch den Zusammenstoß dieser entgegengesetzten Strömungen; aber ich glaube nicht, daß man sich ohne weiteres auf das religiöse Gefühl für die eine oder die andere der entgegengesetzten Seiten berufen kann.

Jeder ernste Versuch, den Persönlichkeitsbegriff auf das Absolute (9) zu übertragen, leidet unter diesem Widerspruch. WEISSE und LOTZE haben sicher darin Recht, daß wir uns ein persönliches Wesen nur in der Zeit denken können. Denken, Fühlen und Wollen sind Wirksamkeiten, und wenn wir alle Sukzession wegnehmen, bleibt nichts zurück, das wir unter jenen Worten verstehen können. Die Psychologie zeigt uns immer klarer, wie die eine Gedanken-, Gefühls- oder Willensäußerung durch die vorausgehende bestimmt wird. Ohne Kontrast und Gegensatz fällt alles Gefühl und damit jedes Willensmotiv weg. Sukzessiv läßt sich erleben, was simultan nicht möglich wäre. Was wäre ein Denken und ein Wollen, das keine Aufgaben zu lösen, keinen Widerstand zu überwinden, keine Schranken zu entfernen hätte? Und ohne Sukzession kann man nicht Widerstand und Sieg, Einschränkung und Freiheit kennen;  sub specie aeterni [im Licht der Ewigkeit - wp] verduften diese Erlebnisse.

LOTZE hat selbst ausdrücklich "die Fähigkeit zu leiden" als notwendiges Attribut der Persönlichkeit hervorgehoben. Wie kann aber ein absolutes und allmächtiges Wesen leiden? Wenn LOTZE hierauf antwortet, daß das Gefühl der Gottheit nur durch "innerliche Produktionen ihrer eigenen schöpferischen Phantasie" (Grundzüge der Religionsphilosophie, § 34) erregt werden kann, dann kann man kaum eine solche Antwort als wohl durchdacht oder ernst gemeint betrachten. Wenn die Gottheit keine anderen Schwierigkeiten zu überwinden hat als diejenigen, welche ihre eigene Phantasie hervorbringt, dann ist ihr Leben nur ein ästhetischer Tand und ein jämmerliches Vorbild für uns, die wir unter dem harten Widerstand der strengen Wirklichkeit zu leiden haben. Sie führt dann ein Traumleben, welchem wir sie überlassen müssen, weil wir ernstere Sachen zu tun haben.

Theoretisch ist die Bedeutung hiervon die, daß es sich unmöglich zeigt, dem Begriff der Persönlichkeit eine solche Änderung zu geben, daß er auf ein unendliches und absolutes Wesen angewendet werden kann. Ein Wesen, welches Ursache zu allem, auch zu sich selbst ist, kann nichts hervorbringen, das einen wirklichen Widerstand gegen es ausüben und ihm eine Aufgabe stellen könnte, welche sein Leben zu einer ernsten Sache machen könnte.

Die schwedische Philosophie geht einen Schritt weiter als LOTZE in der Ausreinigung des Persönlichkeitsbegriffs von allen Anthropomorphismen, indem sie (was LOTZE nur an einzelnen Stellen andeutet) auch die Zeitvorstellung zurückhält. Aber selbst wenn wir von den oben besprochenen theoretischen Schwierigkeiten absehen, wie verhält es sich dann mit dem praktischen Interesse, welches dieser Glaube haben soll? GEIJER weist darauf hin, daß jeder höhere religiöse Glaube die Überzeugung enthält, daß wir hier in der Welt der Zeitlichkeit für die Ewigkeit leben und wirken können. Diese Möglichkeit scheint doch eben durch die Annahme der Zeitlosigkeit der wahren Wirklichkeit ausgeschlossen zu werden. Wenn nämlich die Vollkommenheit des innersten Wesens der Welt ewig und unveränderlich ist, dann können wir sie ja durch unsere Arbeit nicht vermehren! Kein Zuwachs ist möglich. Jeder Fortschritt muß dann eine Jllusion sein, und wir können uns unsere Furcht und unsere Hoffnung sparen. Jene zeitlose Wirklichkeit kann jedenfalls für uns keine praktische Bedeutung haben; der Gedanke von ihr kann kein Motiv sein, höchstens ein Quietiv [Beruhigungsmittel - wp], wenn das Wogen in der Welt der Sukzession zu stark wird. Aber  für  die Ewigkeit könnte ich nicht leben; sie ist, was sie ist, und kann nicht anders und Mehreres werden; nichts kann ihr zugute kommen.

Während ich an einigen Stellen dieser Abhandlung LOTZE gegen GEIJER zu verteidigen versucht habe, an anderen Stellen ihm LOTZE gegenüber Recht gegeben habe, mußte ich in dem zuletzt berührten Punkt gegen beide polemisieren. Ob man nun die Zeitfolge als Ausdruck der wahren Wirklichkeit betrachtet oder nicht, - jede Übertragung des Persönlichkeitsbegriffes auf den Grund des Daseins ist nur ein Anthropomorphismus, ein unzureichendes Symbol; und wenn man alles Anthropomorphe auszuscheiden versucht, dann bleibt - darin bin ich mit SPINOZA und KANT einig - nur das bloße Wort zurück. Welcher Meinung man aber in dieser Frage huldigt, man muß anerkennen, daß eine so gründliche Untersuchung wie die REINHOLD GEIJERs viel zur Klärung des Problems beiträgt.
LITERATUR - Harald Höffding, Lotzes Lehren über Raum und Zeit und Reinhold Geijers Beurteilung derselben, Philosophische Monatshefte, Bd. 24, Heidelberg 1888
    Anmerkungen
    1) Mit Beziehung auf: a) Reinhold Geijer, Hermann Lotzes lära om rummet, 1880; b) Darstellung und Kritik der Lotzeschen Lehre von den Lokalzeichen, Philosophische Monatshefte, 1885; c) Hermann Lotzes tankar om tid och timlighet i kritisk Belysning, 1887.
    2) Ich erlaube mir auf meine Abhandlung "Die Philosophie in Schweden", Philosophische Monatshefte 1879, hinzuweisen.
    3) Vgl. meine "Psychologie in Umrissen" (Leipzig 1887), Seite 13f, 188f, 230f und öfter. - Siehe auch LOTZE, "Drei Bücher der Metaphysik", Seite 364.
    4) FRIES, Neue Kritik der Vernunft, § 38-39.
    5) Vgl. meine "Psycholgie in Umrissen", Seite 231-242.
    6) Reflexionen Kants zur Kritik der reinen Vernunft. Aus KANTs handschriftlichen Aufzeichnungen herausgegeben von BENNO ERDMANN, Leipzig 1884, Seite 126. - Vgl. übrigens die Note in der Kr. d. r. V. (Kehrbachs Ausgabe), Seite 357
    7) Vgl. "Das philosophische Problem der Gottheit", Leipzig 1842 - Philosophische Dogmatik § 528 und 544.
    8) Vgl. meine Psychologie, Seite 352.
    9) Ich sehe im Folgenden ganz von den in diesem Begriff liegenden erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten ab. Vgl. hierüber meine Psychologie, Seite 272f.