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ANTON von LECLAIR
Beiträge zu einer
monistischen Erkenntnistheorie

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"Hier haben wir einen Fall, wo die Sprache hinter der Wirklichkeit in bedenklichster Weise und zu großem Schaden für die Adäquatheit der begrifflichen Auffassung jener zurückbleibt, während dieselbe Sprache vermöge anderer Eigentümlichkeiten wieder nur allzu geeignet erscheint, uns von frühester Jugend an Auffassungen einzuimpfen, die weit über die empirische Wirklichkeit hinausgehen und so für metaphysische Selbsttäuschungen den günstigsten Boden präparieren."

3. Die Spezies des Seienden

Wir sind demnach bereit, einen materiellen Unterschied innerhalb der Bewußtseinsdata anzuerkennen, aber keineswegs nach dem Kriterium eines eingeschlossenen Hinweises auf ein ihnen äußerliches, transzendentes Sein. Alle Bewußtseinsdata repräsentieren ein Sein, eine Wirklichkeit; allein es gibt verschiedene Spezies von Sein und Wirklichkeit, ich möchte bildlich sagen: eine ganze Skala von Wirklichkeitsgraden, auf welcher die niedrigsten Werte etwa durch ein momentanes Jucken an der Fußzehe oder durch die unvollkommene Erinnerung an eine gehörte Melodie, die höchsten Werte etwa durch den Weltraum oder das Gewicht des eigenen Körpers exemplifiziert werden können. Von einer Wirklichkeit kat exochen [ansich - wp] kann somit bei der fundamentalen erkenntnistheoretischen Erörterung, die sich zunächst noch nicht mit den Erfordernissen des Begriffs wissenschaftlicher Erfahrung und Naturauffassung abzugeben hat, gar nicht die Rede sein, am allerwenigsten natürlich von einer bezüglich ihres Wirklichkeitswertes inferioren [untergeordneten - wp] oder dienenden Stellung der "Erkenntnismittel" und "Erkenntnisakte". Eine Halluzination z. B. ist somit als konkretes Individuum prinzipiell gerade so wirklich wie die normale Wahrnehmung, das Denken des verrückten Satzes "Napoleon I. ist eine Ellipse mit der Exzentrizität = 0" oder des falschen Satzes am · an = amn ist nicht minder wirklich als das mustergültige Denken des exakten Forschers X. Es wird eben auf dem zunächst prinzipiell gesicherten Boden der Gegenstand besonderer Untersuchungen sein müssen, darzulegen, welche Wahrnehmung als normal, welche als Trugwahrnehmung oder Sinnestäuschung zu erklären ist, welches Denken richtig, welches falsch oder absolut sinnlos ist. Um trotz der Gefahr, den Vorwurf des Hinkens heraufzubeschwören, ein Gleichnis anzuwenden, so verhält es sich damit wie mit den pathologischen Zuständen des menschlichen Körpers. Dieselben sind nach ihrer Entstehung und ihrem Verlauf nicht minder natürliche Ereignisse als die Zustände und Funktionen des gesunden Körpers; nichtsdestoweniger lassen uns wichtige Gesichtspunkte innerhalb des Natürlichen das Normale vom Abnormalen sondern.

Wir sprachen oben mit Anwendung eines Bildes von Intensitätsgraden der Wirklichkeit. Indem ich den nur bildlich übertragenen Charakter dieser Auffassung noch einmal betone, möchte ich den Gegenstand unter diesem Gesichtspunkt noch etwas weiter verfolgen. Es müßten hierbei nämlich, um der vielfach verzweigten Mannigfaltigkeit der vom Bewußtseinsrahmen umspannten Gegebenheiten einigermaßen gerecht zu werden, mehrere Skalen in Anwendung gebracht werden. Die abgestuften Intensitäten innerhalb ein und desselben Empfindungsspezies-Gebietes, z. B. des Druck-, Temperatur- oder Tonsinns, oder innerhalb der körperlichen Lust- und Schmerzgefühle bei unveränderter Qualität liefern die Musterskala, die den anderen zum Vorbild dient.

Eine zweite Skala würde sämtliche Empfindungsspezies umfassen, insofern auch die Intensitäten zweier verschiedener Qualitäten verglichen werden können und auch die Qualitäten verschiedener Sinnesgebiete - wenigstens in einigen Fällen - vermöge gewisser Mischqualitäten ein Kontinuum darstellen (9). Indessen möchte ich auf diese noch etwas problematische Zusammenfassung weit geringeren Wert legen als auf die nun folgenden Anwendungen.

Eine dritte Skala nämlich würde sämtliche Empfindungsspezies nach der zeitlichen Persistenz umfassen, je nachdem die Inhalte flüchtige oder sporadisch und regellos auftretende oder aber das Bewußtsein längere Zeit erfüllende oder periodisch, unter bestimmten Umständen regelmäßig wiederkehrende Erscheinungen oder etwa gar integrierende Komponenten jedes beliebigen Bewußtseinsmomentes sind, wie z. B. Raumanschauung, gewisse Data des Druck- und des Muskelsinnes. Die Wichtigkeit der Tatsache, daß das konkrete Bewußtsein bei allem sonstigen, man möchhte sagen, kaleidoskopischen Wechsel seiner Zusammensetzung stets Data der genannten Gebiet aufweist, hat sich deutlich genug in den Vorstellungen über die wesentlichen Erfordernisse der Materialität ausgeprägt. Offenbar ist es der Vorzug dieser Data, daß sie den permanenten Hinter- oder Untergrund für die sonstigen höchst mannigfaltigen und rasch wechselnden Erlebnisse bilden, der ihnen eine höhere, vollere Wirklichkeit zuschreiben läßt, und zwar liegt es eben wegen dieses Vorzugs nahe, den wahren Tatbestand zu verkennen und diese in gewissen Schematen unveränderliche und auch durch die angestrengteste Abstraktion (z. B. beim Raumschema) nicht wegzubannende Wirklichkeit den "individuellen" psychischen Erlebnissen als ein (nicht etwa im räumlichen Sinn) Äußerliches, Fremdes, toto genere [völlig - wp] Verschiedenes gegenüberzustellen. Dabei wird der Umkreis "psychischer Erlebnisse" mit bemerkenswerter Inkonsequenz auf die wechselnde Staffage [Ausstattung - wp] jenes permanenten Hintergrundes eingeschränkt, und daß man glaubt, die Wirklichkeit desselben aus dem Rahmen des Bewußtseins hinausrücken zu sollen, erklärt sich auch noch durch die Nachwirkungen des naiven, reflexionslosen Standpunktes, auf welchem die oben erörterte Trennung der psychischen Tätigkeit von ihrem Objekt noch ganz unbefangen im weitesten Umfang vorgenommen wird.

Eine vierte Skala müßte die abgestuften Grade von Klarheit und Schärfe umfassen, welche den Gegensatz von Wahrnehmung und normaler Erinnerungsvorstellung umspannen, eine fünfte hätte es mit den Unterschieden der normalen und der Trugwahrnehmung oder Sinnestäuschung zu tun. Dabei kämen als Kriteriuum für die Einordnung in die Skala nicht etwa gewisse unterscheidbare Merkmale der fraglichen Data selbst, sondern nur die Art und Weise in Betracht, wie sich dieselben in den bereits empirisch festgestellten Zusammenhang der wesensgleichen Tatsachen einordnen lassen, und zwar nach Prinzipien, die diesen Zusammenhang erfahrungsgemäß durchgängig beherrschen. Auf den ersten Blick könnte man nun meinen, dieses Kriterium sei illusorisch, da es auf eine petitio principii [Es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre. - wp] hinausläuft, indem der "empirisch festgestellte Zusammenhang" bereits ein vorhandenes, gesichtetes Material legitimierter Normalwahrnehmungen zur Voraussetzung hat. Darauf wäre zu erwidern, erstens daß für den primitiven Naturzustand des menschlichen Intellekts in der Tat ein generischer Unterschied zwischen Normalwahrnehmung und Sinnestäuschung noch gar nicht existiert. Der Halluzination oder der Traumphantasie wird auf dieser Stufe ganz ebenso "geglaubt" und vertraut, wie der von uns so genannten Normalwahrnehmung.

Zweitens ist jenes fixe System "empirisch festgestellter, gesetzlicher Zusammenhänge" ein Resultat, an dem der Schweiß ungezählter Generationen klebt und das nur Schritt für Schritt durch allmähliche Ausscheidung von zahllosen Täuschungen und Irrtümern sich zu approximativer Widerspruchslosigkeit und zu einem verläßlichen Leitfaden für alle weitere Erfahrung herausgebildet hat. Die Geschichte dieses Bildungsprozesses ist die Geschichte der Naturwissenschaften. Es mußte sich im Bereich des natürlichen Seins und Geschehens, von dem die "äußeren Sinne" Kunde gaben, bald die Notwendigkeit ergeben, gewisse fundamentale Gleichförmigkeiten anzunehmen. Im entsprechenden Verhältnis zur Bewährung derselben im Fortgang der Erfahrung stieg die Erwartung, daß auch die zukünftigen Erlebnisse sich in die festgestellten Schemata werden einfügen lassen. Traten nun Erlebnisse ein, die unter den vorhandenen Nebenumständen den entgegengebrachten Erwartungen widersprachen, den entsprechenden Prüfungen nicht standhielten, so mußte denselben eine Sonderstellung eingeräumt werden: man erklärte sie für Täuschungen, Sinnesvorspiegelungen, rein individuelle oder subjektive Erscheinungen, ganz analog dem Schmerz und der Lust, die auch nur für das bestimmte Individuum wirklich sind. Einer viel späteren und höheren Entwicklungsstufe der Naturerkenntnis blieb es vorbehalten, solchen Bewußtseinsdaten durch eine genaue Erforschung ihrer empirischen Antezedentien [Vorläufer - wp], d. h. durch die Erforschung des Individuums nach seiner somatischen und psychischen Seite den häufig aufgeprägten Stempel der Übernatürlichkeit zu benehmen und dieselben als relativ normale Tatsachen in das nunmehr unendlich reichere System "von empirisch festgestellten Zusammenhängen" widerspruchslos einzuordnen.

Eine sechste Skala könnte die Gesamtheit der Reproduktionsvorstellungen umfassen. Die letzteren lassen sich sachgemäß in Erinnerungs- und Phantasievorstellungen sondern. Für die Anordnung der Wertskala müßte der Grad der Übereinstimmung mit dem primären Datum d. h. mit erlebter und noch erlebbarer Wahrnehmung maßgebend sein. Da "Gedächtnis" und "Phantasie" den ihnen überantworteten Wahrnehmungs"stoff" niemals in dem Sinne abändern oder fälschen können, daß durch sie sogenannte einfache oder elementare Inhalte produziert werden, zu denen sich keine vorherige Wahrnehmung findet, so kommt es lediglich auf die Kombination der Elementarinhalte an. In ihr erweist sich einerseits Gedächtnis als treu oder untreu, andererseits Phantasie als steril und lahm oder als originell und schwungvoll. Je größer nun die auf verschiedenen Wegen kontrollierbare Übereinstimmung des sekundären Datums mit dem zugehörigen primären Datum, dem das sekundäre überhaupt sein Auftreten verdanke, desto höher der beigemessene Wirklichkeitswert; und was die Phantasievorstellungen betrifft, so werden wieder stufenweise Unterscheidungen gemacht werden können nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit, daß der Fortgang der Erfahrung auf entsprechende Wahrnehmungen führen, somit der sekundären Wirklichkeit die entsprechende primäre an die Seite setzen wird. Der Grad dieser Wahrscheinlichkeit ist ganz wohl einer Schätzung zugänglich und zwar nach Maßgabe der Vergleichbarkeit oder annähernden Übereinstimmung des fraglichen Phantasieentwurfs mit bereits bekannten Typen primärer Wirklichkeit.

Eine besondere Stellung nehmen Phantasieentwürfe künstlerischer oder technischer Natur ein, da ihnen in der Regel die Überzeugung schon bedingend vorangeht, daß sie durch Eingreifen des menschlichen Willens mittels vorhandenen Materials "realisiert" werden können. Und endlich verdienen auch noch gewisse Phantasiegebilde erwähnt zu werden, denen zwar die äußerste Unwahrscheinlichkeit, mitunter sogar die Unmöglichkeit, durch eine primäre Verwirklichung bestätigt zu werden, an die Stirn geheftet ist, die aber nichtsdestoweniger vermöge ihrer begrifflichen Ausstattung und vermöge innigster Beziehungen zu wichtigen praktischen Interessen der Menschennatur im Gesamtbewußtsein eine dominierende Stellung einnehmen können. Da jedoch bei solchen Produkten das begriffliche Beiwerk die Hauptrolle spielt, so würde diese Erscheinung passender bei der siebenten und letzten Skala erwähnt, zu der wir nun übergehen wollen.

Sie umfaßt den Gegensatz der ursprünglich gegebenen Bewußtseinsdata einerseits, der an und aus ihnen gewonnenen Abstrakta, die wir - mit einer hier nebensächlichen Ungenauigkeit - insgesamt Begriffe nennen wollen, dann der an ihnen oder an Begriffen ausgeübten Denktätigkeit des Urteilens und Schließens andererseits. Die letzte Koordination bedarf der rechtfertigenden Erläuterung, daß im Grunde die Anführung der Begriffe genügen würde, da sie ja doch die fertigen Endergebnisse jeglicher Denktätigkeit darstellen, somit für ihre Synthesen das Urteilen voraussetzen, während das letztere wiederum das Schließen voraussetzt. Die konkrete, in Raum und Zeit, den fundamentalen principia inviduationis, auseinandergelegte Fülle der ursprünglichen Data macht sich natürlich gegenüber den durch Isolierung und einseitige Fixierung derselben gewonnenen Resultaten der begrifflichen Analyse mit der vollen Wucht der primären Wirklichkeit geltend; sie sind da nur um ihrer selbst willen, nicht im Dienst eines Anderen, sie sind der Urstoff, aus dem sich unser Weltbild zusammensetzt, sie wollen unter allen Umständen berücksichtigt sein und an Berücksichtigung fehlt es wahrlich nicht: das ganze ungeheure, auf die Säulen der Kategorialfunktionen sich stützende System unserer Begriffe ist aus ihnen herausgedacht worden, sie sind der Stoff, an dem sich jegliches Denken, auch das abstrakteste, in abgestufter Mitteilbarkeit betätigt, sie sind dasjenige, was unseren Gedanken ihre sichere Grundlage, ihren Sinn und ihren Wert verleiht, an ihnen muß sich das nur allzu sehr zu Ikarusflügen disponierte Denken immer wieder zurechtfinden. Die Abstrakta, z. B. rot, Apfel, Hund, Quadrat, haben als solche ihre besondere Art von Wirklichkeit, aber ihre lebendige Funktion in unserem Denken ist durch eine stete Bezugnahme auf die Fülle von konkreten Individuen bedingt, deren Gattungscharakter den Inhalt jener Begriffe bildet; die konkreten Individuen aber, die als solche noch unter den Gesichtspunkten von "Eigenschaft", "Ding", "Gestalt" etc. stehen, sind durch die ursprünglichsten, d. h. kategorialen Denkfunktionen aus dem ursprünglich Gegebenen herausgearbeitet worden.

Sollten sich dem Leser noch immer Zweifel aufdrängen, was denn eigentlich unter den ursprünglich gegebenen Bewußtseinsdaten zu verstehen ist, so kann ich allerdings, um ganz präzise zu sein, nur eine negative Charakteristik liefern, welche jedoch bei hinreichender Klarheit der abgelehnten Bestimmungen und im Verein mit der Berufung auf jedermanns eigene Erfahrung genügten dürfte. Es handelt sich, bildlich gesprochen, um eine Subtraktion, deren Minuend und Subtrahend bekannt sind. Ziehen wir vom gesamten Bewußtseinsinhalt alle begrifflichen Gebilde sowie alle an und mittels solchen sich vollziehenden Aktionen ab, so bleiben die ursprünglichen Data zurück, allerdings eine rudis indigestaque moles [eine rohe und ungeordnete Masse - wp]. Diese Subtraktion sauber auszuführen, ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Erstens könnte man meinen der Aufgabe schon nachgekommen zu sein, wenn man, alles Generische hinter sich lassend, bei der Mannigfaltigkeit der Dingwelt mit ihren organischen und unorganischen Individuen und deren Tätigkeiten, Bewegungen, Veränderungen stehen bliebe, ohne dabei gewahr zu werden, daß diese Auffassung der Dingwelt [ggstd] weit mehr ist als bloße Anschauung, daß sie selbst schon die begriffliche Umspinnung desjenigen voraussetzt, was wahrhaft Anspruch hat, als ursprünglich Gegebenes zu gelten. Daß hier ein anderes Begriffssystem in Betracht kommt als die Generalisationen des gemeinen Lebens und der Wissenschaft, soll hier nur angedeutet werden.

Zweitens ist jene Subtraktion nur durch das Denken (im engeren Sinne des Wortes) zu vollziehen, das Denken wieder vollzieht sich anhand der Sprachsymbole, die Sprachsymbole aber bezeichnen stets nur Begriffliches, Allgemeines, Abstraktes, die Negation der Individualität. Wir sind somit bei jener Subtraktionsaufgabe in die eigentümliche Lage versetzt, denkend hinter das Denken blicken zu sollen. Vielleicht ist dies doch möglich, ohne daß wir Gefahr laufen den Vorwurf zu hören, daß wir nun selbst eine Art von bescheidenerem transcensus wagen. Die Exemplifikation ist der Stein des Anstoßes.

Gesetzt ich schlage dem A vor, sich meinem Beispiel folgend auf einer schwarzen Vertikalebene in der Entfernung von 1m die Wahrnehmung eines ziegelroten Quadrats von 10cm Seitenlänge zu verschaffen, und zwar so, daß der obere Rand des Quadrates in die Horizontalebene fällt, die wir durch die Drehpunkte der Augen des aufrecht stehenden Beobachters gelegt denken, so ist zwar die Anweisung vielleicht so genau, als sie überhaupt gegeben werden kann, ist aber dennoch gänzlich unzureichend, dem A genau dieselbe individuelle Wahrnehmung zu verbürgen, wie ich sie habe. Ich bin bereit auch noch die Bestimmung der Lichtquelle hinzuzufügen, sowohl nach Qualität und Quantität, als auch nach ihrer Position zu mir und zur schwarzen Tafelfläche. Dadurch wird die Sache keineswegs besser. Denn die individuelle Nuance der Ziegelröte und die "scheinbare" Größe des Quadrates bleiben vollkommen unbestimmt und unbestimmbar, da hierfür der verwendete Farbstoff und das Auge des Beobachters vermöge seiner individuellen Sehschärfe und seines ganzen Baus die ausschlaggebenden Faktoren sind (10). Mit den begrifflichen, aus der Allgemeinheit nie heraustretenden Bestimmungen, welche die obige Anweisung enthält, bleiben wir also weit zurück hinter der konkreten Wahrnehmung und eben dies gibt uns einige Hoffnung, daß die fragliche Subtraktion ein verständliches Resultat gibt.

Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf das rote Quadrat konzentriere und von den influierenden Nebenumständen absehe, wird es mir möglich sein, mich dem Eindruck als einem Ganzen, als einer eigentümlichen Einheit hinzugeben; und wenn auch, was ich nie verhindern kann, diesen Eindruck fortwährend die längst geläufigen Begriffe umspielen und zu umspinnen geneigt sein werden, so wird es mir dennoch möglich sein, das Ganze als solches im Auge zu behalten, ferner zu erwägen, daß die nach Assoziationsgesetzen sich herandrängenden Begriffe selbst nur aus solchen Einheiten durch Analyse gewonnen sein können. Daß wir verschiedene Bestimmungen ein und demselben Objekt als seine Bestimmungen anheften, setzt doch wahrlich voraus, daß sie vorher als Einheit in einem noch unterschiedenen Zusammensein gegeben sind. Dieses nur in der Anschauung ganz lebendige und erlebbare Zusammensein kann keineswegs deswegen geleugnet werden, weil es durch Begriffe, durch die Mittel der Sprache so ganz und gar nicht ausgedrückt werden kann. Wie kümmerlich ist allerdings der sprachliche Notbehelf der Gemeinsamkeit eines Subjekts für mehrere Prädikationen! Die Synthesis des Urteilens setzt die Analyse einer Einheit voraus, die Analyse aber setzt die primäre Synthese unterscheidbarer Momente voraus. Die völlige Unvergleichbarkeit dieser Synthese der Anschauung, die man bloß durch einen Fingerzeig konstatieren kann, und jener nachhinkenden Synthese des Urteilens bekräftigt uns die bereits ausgesprochene Erwartung, daß unsere Subtraktion einen verständlichen Rest ergibt. Hier haben wir einen Fall, wo die Sprache hinter der "Wirklichkeit" in bedenklichster Weise und zu großem Schaden für die Adäquatheit der begrifflichen Auffassung jener zurückbleibt, während dieselbe Sprache vermöge anderer Eigentümlichkeiten wieder nur allzu geeignet erscheint, uns von frühester Jugend an Auffassungen einzuimpfen, die weit über die empirische Wirklichkeit hinausgehen und so für metaphysische Selbsttäuschungen den günstigsten Boden präparieren. Wie schwierig die saubere Abtrennung desjenigen ist, was mit Fug und Recht als ursprünglich Gegebenes gelten kann, ersieht man übrigens schon daraus, daß die Bezeichnungen "Ganzes", "Einheit", "Zusammensein" deshalb unzutreffend und nur als unvermeidliches Übel zuzulassen sind, weil diese Begriffe streng genommen nur im Hinblick auf ihre Korrelatbegriffe "Teil", "Vielheit" oder "Mehrheit", "Auseinandersein" Leben und Sinn haben. Von einem Ganzen kann man erst dann sprechen, wenn bereits diskrete Teile gedacht worden sind, so daß begrifflich die letzteren das prius, das "Ganze" das posterius darstellt, während wir als ursprünglich Gegebenes nur dasjenige anerkennen können, was für beide Begriffe das prius und die reale Basis ist, auf welche bezogen dieselben sinnvoll sind. Daß die Sprache nicht ohne lästige Antizipationen an die gesuchte Sache heranzukommen vermag, kann man anerkennen, ohne deshalb an der Möglichkeit zu verzweifeln, seine Meinung mit Anwendung aller gebotenen Kautelen [Vorbehalten - wp] zu einem vollen Ausdruck zu bringen. Nach dieser Abschweifung müssen wir aber daran denken, den bei der siebenten Skala der Wirklichkeitswerte fallen gelassenen Faden unserer Betrachtungen wieder aufzunehmen.

Es liegt der Gedanke nahe, daß auch die Wirklichkeitsspezies der Abstrakta für sich eine Skala abgestufter Werte zuläßt, insofern wir durch fortgesetzte Abstraktion zu immer inhaltsärmeren, allgemeineren Begriffen aufsteigen. Es erinnert dieser Prozeß an die mannigfaltige Behandlung eines Erzquantums zu Zweck der Gewinnung eines darin vorkommenden seltenen Grundstoffes. Oft muß ein sehr beträchtliches Quantum Erz verschiedenen chemischen Agentien, mehrfacher Schmelzung und Abdampfung unterworfen werden, um nach sukzessiver Verminderung des Stoffquantums endlich eine verschwindend kleine Menge des kostbaren Elements zu erhalten. In demselben Maß nun, als bei höheren Abstraktionsstufen die Schwierigkeit wächst, den konventionellen oder auch willkürlich festgestellten Begriffsinhalt hoher Generalisations-"Potenz" rein festzuhalten und sich hierin zu unterstützen, indem man zeitweilig durch die vielen trennenden Zwischenglieder hindurch die ganze gewaltige Basis eines solchen Begriffs zu überblicken sucht: in demselben Maß oder vielmehr in rascher steigendem Verhältnis wächst die Schwierigkeit, ausschließlich mit solchen Begriffen wissenschaftlich zu operieren. Darin bestehen die genugsam bekannten und verlästerten Schwierigkeiten des philosophischen Denkens, zumal desjenigen, das sich mit den grundlegenden Fragen über das Wesen des Erkennens selbst befaßt. Kommt nun der Fall vor, daß jemand, mag er auch sonst in seinem Spezialfach ein ganz tüchtiger und ausdauernder Denker sein, den hochabstrakten Inhalt philosophischer (erkenntnistheoretischer) Begriffe nicht festzuhalten vermag, weil er vielleicht hieren eine spezielle Übung versäumt hat, so kann ihn diese Erfahrung leicht zu dem unmutsvollen Vorwurf hinreißen, daß es sich da überhaupt um gar keinen Denkinhalt, sondern nur um Worte und nichts als leere Worte handelt. Dieser Vorwurf ist schon oft genug erhoben worden und mancher metaphysischen Spekulation gegenüber wahrlich nicht mit Unrecht. Dies soll übrigens lediglich als Jllustration für meine Behauptung angeführt werden, daß die Wirklichkeit der Abstrakta mit Zunahme ihrer Allgemeinheit immer flüchtiger, luftiger, ungreifbarer wird, somit gemäß dem für unsere Betrachtung adoptierten Gesichtspunkt immer gerindere Werte annimmt.

Das eigentümliche Verhältnis der Dienstbarkeit und materiellen Abhängigkeit, in dem die abstrakten Denkinhalte und Denkbewegungen zu den individuellen Daten des Wahrnehmbaren stehen, mag die bereits von anderer Seite hervorgerufene Tendenz, der psychischen Tätigkeit ihr Objekt in einem realen Sinn gegenüberzustellen, wesentlich unterstützt haben.

Mit der aufgeführten Reihe von Skalen glaube ich keineswegs die Anwendbarkeit des verfolgten Gesichtspunktes systematisch erschöpft zu haben; auch lädt bei manchen der angeführten Punkte die Erörterung dringend zu einem weiteren Ausgreifen ein. Ich erinnere z. B. an die Kategorialbegriffe und an den Wirklichkeitswert des erschlossenen Ich des Nebenmenschen oder fremden Bewußtseins überhaupt. (11) Indessen dürfte, ganz abgesehen von der durch den verfügbaren Raum auferlegten Beschränkung, das Gesagte zur Beleuchtung meiner Grundabsicht mehr als ausreichend sein. - -


4. Die wissenschaftliche Stellung der
monistischen Erkenntnistheorie.

Wir haben es oben "als die allerwichtigste Aufgabe" der monistischen Erkenntnistheorie erklärt,
    "den Begriff des Seins jedem Versuch einer mißverständlichen und scheinwissenschaftlichen Verwertung dadurch zu entrücken, daß anhand der unmittelbar gegebenen Tatsachen seine Geltungssphäre und sein einzig verständlicher Sinn aufgezeigt wird, wodurch zugleich der Begriff der Wirklichkeit in die richtige Beleuchtung gebracht wird."
Jetzt fragt es sich noch, ob durch den gewonnenen Fundamentalsatz (Denken = Denken eines Seins; Sein = gedachtes Sein) in der Tat für die Erkenntnistheorie, Logik und Wissenschaftstheorie eine Basis gewonnen ist, die vermöge ihrer unmittelbaren Anlehnung an die allgemein und jederzeit zugänglichen Tatsachen der sogenannten äußeren und inneren Erfahrung und vermöge ihrer dadurch bedingten leichten Kontrollierbarkeit ein verläßlicher Untergrund für ein System wissenschaftlicher Einsichten werden kann. Wissenschaftlich wird das entwickelte System erkenntnistheoretischer Einsichten auch dann zu nennen sein, wenn jede einzelne Spezialwissenschaft unter diesen Einsichten auch jene vorfindet, deren sie zum völlig befriedigenden Abschluß ihrer Betrachtungen nach oben hin d. h. nach der Seite ihrer höchsten und allgemeinsten Begriffe bedarf und die sie, beschränkt auf ihre eigenen Mittel, zu gewinnen weder imstande noch auch überhaupt berufen ist.

Wem sollte es entgangen sein, wie machtvoll in unserer Gegenwart die einzelnen Spezialwissenschaften, zumal die der äußeren Natur zugewendeten, nach jenem Abschluß hindrängen? Die weit gediehene Entwicklung der einzelnen Erkenntnisprovinzen hat es mit sich gebracht, daß man mit den Problemstellungen immer näher und näher an das logisch-erkenntnistheoretische Gebiet heranrückt; Chemie, Physik, Astronomie, Geologie, Biologie, Physiologie liefern hierfür den Beleg. Daß nun aber die Anläufe, vom Boden des Spezialgebietes aus jene abschließende Krönung zu unternehmen, nur Unbefriedigendes zutage fördern konnten, ist ganz natürlich. Die auf dem betreffenden Spezialgebiet vollberechtigte einseitige Betrachtungsweise wird, auf das Gebiet der philosophischen Reflexion übertragen, stets Aufstellungen liefern, die für die übrigen Spezialfächer wenig oder nichts leisten. Allein nicht nur unfruchtbar und sozusagen nur für den engeren Hausbedarf der fraglichen Spezialwissenschaft leistungsfähig wird eine derartige Philosophie sein müssen, es wird vielmehr nicht fehlen können, daß dieselbe in einen offenen Konflikt mit anderen Spezialfächern gerät - ganz natürlich! Die in Anwendung kommenden Begriffe, die aufgestellten Grundsätze sind von so hoher Allgemeinheit, daß sie weit über das spezielle Tatsachengebiet, auf das sich ihre Wurzeln beschränkten, hinausreichen und somit notwendig Anspruch erheben auf eine ebenso weit hinausreichende Geltung. Diese Geltung aber sinkt in sich zusammen, sobald andere Tatsachengebiete, denen die fraglichen Grundsätze nicht auf den Leib geschnitten sind, offenen Widerspruch erheben. Dadurch muß sich aber die "Spezialphilosophie" sogar auch für ihre interne Aufgabe diskreditieren.

Aus all dem dürfte hinreichend klar die Berechtigung hervorgehen, die Feststellung der erkenntnistheoretischen Einsichten als Aufgabe einer besonderen Disziplin zu betrachten und für dieselbe - in Falle der Erfüllung der bekannten Bedingungen - den Charakter der Wissenschaftlichkeit in Anspruch zu nehmen. Fassen wir nochmals die Kriterien der letzteren mit besonderer Rücksicht auf die wissenschaftliche Erkenntnistheorie zusammen:
    - unmißverständlicher, für jedermann kontrollierbarer Ausgangspunkt;

    - Problemstellungen, die keinerlei über die zugrunde gelegten Tatsachen hinausgehende Präsumtion [Annahme - wp] einschließen, keine unlegitimierte Problemlösung bereits voraussetzen;

    - Lösung der gestellten Probleme durch die allgemeinen und allgemein bewährten Mittel der logischen Bearbeitung überhaupt und durch eine bis zu den letzten und einfachsten Elementen vordringende Analyse der Spezies des Denkens insbesondere;

    - endlich die Bewährung der gewonnenen Resultate durch den eingehenden Nachweis ihrer gleichmäßigen Geltung im Weg der Konfrontation mit den einzelnen Tatsachengebieten, bzw. Spezialwissenschaften
Gelingt diese Bewährungsprobe, so stellt das gewonnene System von Einsichten zugleich die höchste Einheit dar, in der sich sämtliche Spezialfächer zu einem wohlgegliederten System der wissenschaftlichen Weltauffassung, der Auffassung des Seienden zusammenschließen.

Dieser Satz bleibt in seiner Gültigkeit völlig unberührt, wenn es auch gewissen eng umschriebenen Spezialforschungen gemeinsam ist, von erkenntnistheoretischen Pro- [Einführung - wp] oder Epilegomena [Nachwort - wp] völlig Umgang zu nehmen. Die inneren Bedürfnisse der Untersuchung, die sich auf einen ganz engen Bezirk einer größeren Objekten- oder Tatsachenprovinz beschränkt, führen von Haus aus nicht auf Fragen oder Aporien, die ihre Lösung nur in erkenntnistheoretischen Exkursen finden könnten. Es wäre nun freilich ein arges Sophisma, wenn der Spezialforscher vom Gefühl der vollkommenen methodischen Beherrschung seines Gebietes sich soweit fortreißen läßt, den richtigen Satz, daß für die Richtigkeit und Wissenschaftlichkeit seiner Resultate die Applikation [Anwendung - wp] erkenntnistheoretischer Gesichtspunkte irrelevant ist, dahin auszubeuten, daß diese Applikation nirgends notwendig oder auch nur ersprießlich ist und daß überhaupt die ganze Disziplin, welche ausschließlich jene Gesichtspunkte zu verfolgen unternimmt, wertlos und überflüssig ist. Wer sein Leben lang die Welt durch gelbe Brillengläser betrachtet hat, muß glauben, daß es gar kein anderen Farben gibt als in Gelb getauchte. Der Spezialforscher ist dem Künstler vergleichbar, der für einen weitläufigen Palastbau die Zeichnung eines Treppengitters entwerfen soll. Wohl sind für ihn bei der Lösung dieser Aufgabe die Dimensionen, die Architektonik und die sonstige beabsichtigte Detailornamentik des betreffenden Treppenhauses von Belang; dagegen braucht er zur vollendetenn Erfüllung des Auftrages keineswegs die Grund- und Aufrisse des ganzen Gebäudes zu studieren oder über die spezielle Verwendung der Räumlichkeiten, über die verwendeten Baumaterialien und über die Kosten der Herstellung sich Aufschluß zu verschaffen. Das Treppenhaus selbst, als Ganzes genommen, wird sich allerdings als nicht unwesentlicher Bestandteil in den organischen Zusammenhang des Gesamtplans harmonisch eingliedern müssen. -

Zum Schluß wollen wir noch einem immerhin möglichen Einwurf zuvorzukommen suchen. Eine übel angebrachte skeptische Wallung könnte auf den Gedanken bringen, ob denn nicht die Resultate der erkenntnistheoretischen Selbstbesinnung in ihrer Gültigkeit dadurch gefährdet sind, daß sie eben wieder nur durch ein Erkennen gewonnen sind, also durch einen reflexionslosen, vorderhand noch unlegitimierten Gebrauch desselben Werkzeugs, dessen Wesen, Betätigungsweisen, Wirkungssphäre, Wahrheitskriterien usw. erst festgestellt werden sollen. Es ist dies ein Einwand, der mit demselben Recht oder Unrecht auch jede beweisende Darstellung der gemeinen Logik als Jllusion bezeichnen könnte, der aber unschwer zu erledigen ist.

Was die Logik betriff, liegt es auf der Hand, daß es ungereimt wäre, eine Begründung der einzelnen Denkgesetze zu begehren, ohne anzuerkennen, daß diese Begründung eben wieder nur durch Denken und zwar als solches, das den Anspruch erhebt logisch zu sein, geleistet werden kann und daß also selbst für diesen internen Dienst des Denkens seine Verläßlichkeit und Gültigkeit schlechterdings vorausgesetzt werden muß. Jegliche Theorie ist ein Wissen, Wissen aber kann nur beschafft werden durch Denken. Verzichten wir also nicht auf jegliches Wissen und erwarten wir es auch nicht von einer übernatürlichen Eingebung, so werden wir wohl oder übel der Güte des Werkzeugs vertrauen müssen, ohne das ein Wissen nicht zu beschaffen ist. Übrigens kann das Verlangen nach einem Beweis der Gesetze des Denkens nur hinsichtlich eines Teils derselben ernst genommen werden. Einen theoretischen Satz beweisen heißt denselben als mehr oder weniger vermittelte logische Konsequenz anderer Sätze darstellen, die entweder eine Evidenz besitzen, weil sie bereits bewiesen wurden, oder als an und für sich evidenz eines Beweises weder bedürftig noch fähig sind. Sätze von letzterer Beschaffenheit sind selbst die obersten Prinzipien allen Beweisens und können von der Logik lediglich als ihre Fundamentaleinsichten konstatiert und registriert werden. Speziellere (abgeleitete) logische Gesetze dagegen können ganz wohl nach ihren Gültigkeitsansprüchen befragt werden, die Logik liefert demgemäß ihre Begründung und kann jederzeit über die Beweismittel Rede stehen, die natürlich von jenen Prinzipien ausgehen müssen.

Es sind wahrscheinlich dem obigen Einwand verwandte Motive gewesen, die zu dem Versucht geführt haben, die logischen Normen insgesamt und ebenso die ganze Erkenntnistheorie auf ein psychologisches Fundament zu stellen. Was die ersteren betrifft, so liegt es auf der Hand, daß es ein hoffnungsloses Beginnen ist, das allgemeine Organon jeglicher wissenschaftlichen Regung als ein Abgeleitetes aus einem System spezieller Einsichten ans Licht ziehen zu wollen, dessen allerbescheidenste Anfänge schon an die Aktion jenes Organons gebunden sind. Man scheint das in seiner Art einzige Überordnungsverhältnis der logischen Grundsätze zu den Spezialwissenschaften dem Umstand zuliebe zu übersehen, daß nunmehr doch das Fach A zurückgeführt oder gegründet ist auf ein Fach, das nicht A, sondern B ist. Es macht sich hier die bemerkenswerte Schwäche oder - fast möchte man sagen - Naivität unseres Erklärungstriebes geltend, daß wir einen Zusammenhang A, in dem wir eine noch ungelöste Schwierigkeit erblicken, glauben weit besser begriffen zu haben, wenn wir ihn zurückverfolgen bis zum Zusammenhang B, der zwar genau dieselbe Schwierigkeit, aber verhüllter und in Gesellschaft anderer Nebenumstände enthält.

Was die Psychologie für die Erkenntnistheorie zu leisten oder nicht zu leisten vermag, hat jüngst in trefflicher Weise JOHANNES REHMKE in einer Anzeige des ersten Bandes von WUNDTs "Logik" auseinander gesetzt (12).

Das Erkennen vermag, wie es am deutlichsten beim Ichbewußtsein hervortritt, sich mit seiner Spitze auf sich selbst umzubiegen, sich selbst- natürlich immer in einer Spezies - zu seinem Objekt zu erheben. Der Mineraloge (M) z. B. ist dem Anschein nach allerdings mit seinem Erkennen in einer völlig verschiedenen Lage. Nehmen wir an, er habe einen kugeligen Klumpen Gold vor sich. Er hat dabei gar keinen Anlaß und von seinem Spezialfach aus auch nicht die geringste Verbindlichkeit, über dier erkenntnistheoretische Deutung und Wertung dieses Faktums - ich nenne nämlich das dauernde Vorhandensein des betreffenden Anschauungskomplexes unter dem sonstigen Bewußtseinsinhalt des M ein Faktum - Reflexionen anzustellen. In der Regel macht M von dieser Freiheit den ausgiebigsten Gebrauch und gewöhnt sich in eine Auffassungsweise hinein, die es ihm z. B. schwer macht, bei meiner Bezeichnung des Goldklumpens als "Faktum" ernsthaft zu bleiben, da er erst dann von einem Faktum zu sprechen gewohnt ist, sobald ihm etwa der Körper aus der Hand fällt. Für seine besonderen Zwecke ist jedoch die angedeutete Einseitigkeit, wie schon oben einmal bemerkt wurde, vollkommen irrelevant, sie ist durchaus kein Hindernis für die wertvollste Bereicherung unserer Naturerkenntnis. Aber auf einen Punkt möchte ich doch noch aufmerksam machen. M beschreibt das Mineral, schildert sein Verhalten unter verschiedenen mechanischen und chemischen Agentien, sein Vorkommen im Erdkörper usw. Dabei bringt er an das in der Wahrnehmung Gegebene eine große Menge fertiger Begriffe heran, subsumiert die unterscheidbaren Elemente der Gesamtanschauung unter sie und prädiziert sie von einem "Objekt", verallgemeinert dann das Subjekt der einzelnen Urteile und spricht von Gold überhaupt. Er umgreift und umspinnt das gegebene Wahrnehmungsganze mit verschiedenen Denkfunktionen. Wie aber, wenn der Gegenstand und Mittelpunkt dieser Denktätigkeit selbst schon unter den (weiteren) Begriff des Erkennens fällt? Hier ist der Punkt, wo die Interessen des Erkenntnistheoretikers beginnen. Findet derselbe, daß die ausgesprochene Vermutung aus guten Gründen zu bejahen ist, so hätten wir hier dasselbe Schauspiel, welches oben den Anlaß zu einem Einwurf gegeben hat: das Erkenntnis nimmt sich selber aufs Korn, es gibt sich einen Inhalt zum Objekt, dessen begrifflich noch unbeartbeitetes Dasein füglich auch schon als eine Art von Erkenntnis bezeichnet werden muß, insofern er seine Stelle unter den ein konkretes Bewußtsein ausmachenden Daten beansprucht. Und wenn dies jemand leugnet, der möge mir sagen, als was er denn sonst zu bezeichnen wäre. Das Denken muß doch - ich folge hier mit Absicht der oben bekämpften vulgären Auffassung, der die Sprache so trefflich sekundiert, - an etwas anknüpfen, was schon auf der Bühne des Bewußtseins gegeben ist, ehe die begriffliche Bearbeitung beginnt. Ich weiß sehr wohl, daß M mir entgegnen würde:
    "Allerdings! Wir knüpfen n die sinnlichen Eindrücke und Wahrnehmungen an, die uns der auf unsere Sinnesorgane wirkende Gegenstand erregt und die uns von ihm Kunde geben. Auch wir nennen dieses Material, an das wir mit unserem Denken herantreten, schon Erkenntnis, allein es selbst steht auch schon im Dienst des Naturkörpers, zu dem es ein psychisches Korrelat ist."
So weit wollten wir den Mann bringen: wir können ihn getrost seinem transzendenten Vorurteil überlassen.

Für uns wertvoll ist hier nur das eine Ergebnis, daß sich, wie das Beispiel lehrt, in jedem Fall, auf jedem noch so speziellen Wissensgebiet das Erkennen gegen sich selbst kehrt, daß somit der Sachverhalt bei der erkenntnistheoretischen Forschung nur scheinbar spezifisch verschieden ist vom Sachverhalt in dem herangezogenen Beispiel. In jedem Fall erhebt sich das Erkennen aus einem Stadium in ein anderes: bei kleinen Kind schon kristallisiert sich das Chaos des ursprünglich Gegebenen vermöge der Kategorialfunktionen zu der relativ wohl gegliederten und sinnvollen Dingwelt des natürlichen Bewußtseins; diese Dingwelt wird sodann Gegenstand der mannigfachsten begrifflichen "Bearbeitung" in den Spezialwissenschaften; die hierin zutage tretende Denktätigkeit aber verbliebe in einem naturalistischen Stadium, wenn sie nicht selbst in der Logik und Erkenntnistheorie Objekt der Reflexion würde.

Übrigens hätte es noch viel näher gelegen, zwecks Beleuchtung der Lage der erkenntnistheoretischen und logischen Selbstbesinnung auf das analoge Verfahren des Grammatikers hinzuweisen. Dieser kann sein Geschäft, die syntaktischen Formen des Sprechens zu klassifizieren und zu zergliedern und ihre Regelmäßigkeiten herauszuheben, nicht anders vollziehen als durch das Mittel der in bestimmten syntaktischen Formen sich bewegenden Sprache. Während er z. B. das Objektverhältnis nach seiner formellen und logischen Mannigfaltigkeit bespricht, kann er es nicht umgehen, in seiner Darstellung von demselben unausgesetzt Gebrauch zu machen. Hat nun aber irgendjemand diese Unvermeidlichkeit jemals zum Anlaß genommen, den Wert und die Gültigkeit der auf diesem Weg gewonnenen Einsichten in Frage zu stellen?


5. Das eigene und
das fremde Bewußtsein

Unter den Dingen der sogenannten äußeren Erfahrung, welche durch die ursprünglichste, kategoriale Denktätigkeit aus dem ursprünglich Gegebenen herausgearbeitet worden sind, nimmt der Leib des Subjektes (A) dieser Denktätigkeit aus bekannten Gründen eine hervorragende Stellung ein. Hinter der Genitivfunkion "des Subjektes" soll sich durchaus keine metaphysische Aufklärung verbergen; ich will damit lediglich an die Tatsache appellieren, daß jene Denktätigkeit nicht stattfindet, ohne die Denktätigkeit eines Ichbewußtseins zu sein, das in bekannter Weise an einem der wahrnehmbaren Menschenleiber seine empirische Anlehnung findet. Das Ich erklärt aus den unten zu erwähnenden Gründen einen jener Leiber wegen seiner hervorstechenden Ausnahmsstellung für seinen Leib, aber die Bedeutung der Zugehörigkeit, die das pronomen possessivum ausspricht, erschöpft sich vollkommen in dieser jederzeit konstatierbaren Ausnahmestellung.

Das durch den eigenen Leib erfüllte Raumstück (K) ist trotz seiner Beweglichkeit stets der zentrale Teil der Raumvorstellung, die - durchaus nicht identisch mit der sekundären Vorstellung des Weltraums - unter den Gegebenheiten, welche der Begriff "das Bewußtsein des A" zusammenfaßt, niemals fehlt; demgemäß ist er die Basis aller Orientierung, seine Ortsveränderung hat ganz andere Folgen für die Konstellation der übrigen, ihn umgebenden Dinge als die Ortsveränderung eines einzelnen der letzteren. Innerhalb des Raumstücks K, dessen Erfüllung und Begrenzung in wechselnder Reichhaltigkeit meist durch die Sinnesdata dreier Kategorien, des Gesichts, Getasts und Muskelsinns erfolgt, sind jene Data lokalisiert, die den Umfang der sogenannten inneren Erfahrung ausmachen, d. h. all das, was nach der gemeinen erkenntnistheoretischen Ansicht das bloß subjektiv und individuell gilt. Dahin gehören die Körperempfindungen (Gemeingefühle), die Gefühle, Willensregungen, Affekte, Leidenschaften, aber nicht minder die Gebiete der "Reproduktion" und des Denkens. Die Data der letzteren Gebiete überhaupt zu lokalisieren, dazu haben wir wohl eine gewisse Veranlassung nötig. Ist aber eine solche vorhanden, so kann die Lokalisation innerhalb K nicht zweifelhaft sein. Endlich ist die gleiche Lokalisierung für Empfindungs- bzw. Wahrnehmungsinhalte notwendig, sobald man sich jener erkenntnistheoretischen Ansicht anschließt, die dieselben als psychische Korrelate des "wahrhaft objektiven" Geschehens gelten läßt, wobei natürlich ein empfängliches Ens, ein Urquelle alles psychischen Geschehens angenommen werden muß, auf den jenes Geschehen einwirkt und der auf diese Einwirkung durch ein Hervortreten des psychischen Geschehens reagiert. Ist man auch so besonnen, auf eine Charakteristik dieses postulierten Springquells psychischen Geschehens zu verzichten, oder ist man auch logisch so gewissenhaft, daß man der Setzung eines solchen überhaupt entraten zu können glaubt, wobei freilich die Wirksamkeit des "wahrhaft objektiven" Geschehens übel wegkommt, weil "ins Blaue" gewirkt werden muß: in jedem Fall erfordert es die Kenntnis der physiologischen Rolle, welche die Zentralorgane des Nervensystems spielen, daß man jenem Geschehen, welches ohne deren Dasein und Funktion nicht stattfindet, innerhalb der Leibesgrenzen seine Stelle anweist. Mögen wir auch noch so klar einsehen, daß für psychisches Geschehen als solches Raum zu fordern widersinnig ist, wir werden dennoch stets auf diese Vorstellung der räumlichen Gebundenheit des psychischen Geschehens an sein physiologisches Substrat zurückkommen müssen, indem sich dem erkannten Kausalzusammenhang zwischen beiden nach falscher Analogie räumliche Nachbarschaft unterschiebt. Wir können und nämlich bei der tiefgreifenden Wichtigkeit jenes am Mitmenschen erkannten Kausalzusammenhangs mit dem logischen Schema nicht begnügen und bedürfen eines Anschauungsbehelfes, den uns die Vorstellung von der räumlichen Kontiguität [Angrenzung - wp] des psychischen und physiologischen Geschehens bietet.

Ein weiteres Merkmal, das dem eigenen Leib seine hervorragende Stellung unter den übrigen Sinnendingen gewährt, ist bekanntlich die Doppelseitigkeit der Tastempfindung, wenn eine Gliedmaßk eine Leibesstelle berührt. Zu der Tast- und Widerstandsempfindung, die der berührende Finger vermittelt, tritt die Tast- und Druckempfindung, die an der berührten Stelle lokalisiert ist.

Ferner gehören jene Erfahrungen hierher, welche gewisse Organe des Körpers zu gewissen Kategorien der Wahrnehmungsinhalte in jene Beziehung bringen, die jene Organe als spezielle Sinnesorgane auffassen läßt, indem für das normale Auftreten von Wahrnehmungsinhalten einer bestimmten Kategorie eine bestimmte Beschaffenheit und Funktion eines bestimmten körperlichen Apparates die conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] ist. Selbstverständlich fällt dieser Apparat, auch wenn er nicht aktuell zum Wahrgenommenen gehört, prinzipiell unter den Existenzbegriff des Wahrnehmbaren, unter den Begriff gesetzlicher Wahrnehmbarkeit, kann demnach nicht benützt werden, die Bewirkung des Wahrnehmens aus dem Transzendenten her plausibel zu machen.

Endlich sind hier die Erfahrungen anzuführen - und diese erlangen für unser Problem eine besondere Wichtigkeit - welche uns den eigenen Körper in vielfacher Abhängigkeit von den Ereignissen zeigen, welche, die sogenannte innere Erfahrung ausmachend, im engeren Sinn psychische zu nennen sind. Es kommen hier nicht nur die unwillkürlichen somatischen Begleiterscheinungen des Schmerzes, der Lust und anderer Gemütsbewegungen in Betracht, sondern noch mehr die willkürlichen Bewegungen einzelner Gliedmaßen und die Ortsveränderungen des ganzen Körpers. Wir haben hierin jene Sequenz, die als der Urquell aller Kausalvorstellung zu betrachten ist. Daß der Wunsch und ein Wille die Bewegung der Gliedmaßen bewirkt, d. h. zur notwendigen Folge hat, ist uns infolge der überwältigenden Sprache tausendfacher Erfahrung und der inhaltlichen Beziehung der beiden Glieder das unmittelbar Bekannteste, Vertrauteste und Überzeugendste und von da aus wird die eigentümliche Färbung des Ursachbegriffes auf die antecentia [Vorläufer - wp] anderer ständiger Sequenzen übertragen. Es ist nicht meine Absicht, hier eine erkenntnistheoretische Untersuchung der Vorstellungen von einer Einwirkung des Willens oder des Psychischen auf das Physische anzustellen. Es genügt jetzt an die dem gemeinen Bewußtsein innewohnende Überzeugung zu erinnern, daß zu den zureichenden Gründen für gewisse körperliche Veränderungen gewisse psychische Zustände als nie fehlende antecedentia [Vorhergehendes - wp] gehören. Ich hebe hervor, daß die gemeinten Zusammenhänge von mit nur an mir selbst direkt erfahren werden können und daß jegliche vermeintliche Bestätigung derselben durch fremde Erfahrung die prinzipielle Anerkennung derselben schon einschließt, dieselbe notwendig voraussetzt und zumal bei der Lösung des vorliegenden Problems noch gänzlich aus dem Spiel bleiben muß.

Ist nun von der Person A in den genannten Richtungen ein hinreichender Schatz von Erfahrungen über die Rolle erworben, die ihr eigener Leib und dessen Veränderungen und Bewegungen einmal im Verhältnis zu den übrigen durch Sinnesdata gegebenen Dingen und dann zu den psychischen Daten im engeren Sinn spielen, dann ist A in den Stand gesetzt, aufgrund der Wahrnehmung eines zweiten, dritten Menschenleibes den Begriff des Du und Er, kurz des fremden Bewußtseins zu erwerben. Die sinnenfälligen Beschaffenheiten, die Struktur und die Maße des regungslos fremden Leibes (L) zeigen dem A eine gattungsmäßige Übereinstimmung mit seinem eigenen Leib (K), im Übrigen aber verhält sich L z. B. gegenüber tastender oder drückender Berührung oder hebender Ortsveränderung durchaus nicht anders als die übrigen Sinnendinge, von denen sich K in den oben angeführten Stücken unterscheidet. Nun beobachtet aber A an L in gattungsmäßiger Übereinstimmung auch alle jene Veränderungen und Bewegungen, die A an K nur als consequentia bestimmter psychischer Data kennen gelernt hat; A beobachtet an L ein Lachen, Weinen, Jubeln, Hüpfen, ferner Bewegungen, die mit einer Handlung abschließen, die A selbst oft vorgenommen hat, z. B. mit dem Pflücken einer Frucht, mit der Leerung eines Glases Wasser, mit dem Niedersitzen auf einen Stuhl und dgl. Der Erklärungstrieb, der uns überall zu einer gegebenen Erscheinung die sie bedingenden antecedentia aufsuchen läßt, macht sich nun hier angesichts so bekannten und vertrauten und andererseits für uns so vielfach praktisch wichtigen Materials mit doppelter Gewalt geltend. A frägt sich:
    "Woher das Weinen und Stöhnen? Das ist doch hinsichtlich der Kausation nicht gut zu vergleichen mit dem Atmen, Husten, Nießen des organisierten Körpermechanismus? Ich müßte sämtliche Erfahrungen verleugnen, die ich bezüglich der Verursachung des Weinens an mir selbst zu sammeln in der Lage war, wenn ich nicht für das Weinen des Leibes L das Vorhandensein, bzw. Vorhergehen eines schmerzlichen Gefühls, einer mehr oder weniger heftigen Unlust ansetzen wollte, die in ähnlicher Weise von einem zweiten Ichbewußtsein (B) als seine Unlust gefühlt wird, wie ich die meinige fühle."
Allein die ganze Schwierigkeit dieses Schlußverfahrens muß erst noch aufgedeckt werden. Da wir uns des erlebten Schmerzes zu erinnern vermögen, bilden wir einen Gattungsbegriff des Schmerzes, der als solcher gedacht wird, während der konkrete, individuelle Schmerz gefühlt wird. Demgemäß knüpft sich an die Wahrnehmung der Klagelaute und Gesichtsverzerrung des B der Gedanke "Schmerz", jedoch mit der sehr wesentlichen Nebenbestimmung, daß für die erlebte Wahrnehmung ein konkretes Individuum "Schmerz" als antecedens gedacht wird. Selbstverständlich kann die Individuation nur begrifflich hinzugedacht, nur postuliert werden; aus dem Bereich des Gattungsmäßigen können wir uns bei dieser Kausalinterpretation tatsächlich keinesfalls entfernen. Man ist geneigt, die individuelle Beschaffenheit des fremden Bewußtseins, die konkreten Inhalte, die ein solches ausmachen sollen, zu den bestbewährten Tatsachen des Erfahrungsbereiches zu zählen und doch ist die Tatsache nur die, daß zu der fraglichen Wahrnehmung mit dem Anspruch der Kausalerklärung der Gattungsbegriff eines psychischen Phänomens hinzutritt, begleitet von dem Postulat der Individuation. Das letztere stellt sich umso leichter ein, als die Duplizität des leiblichen Organismus die gleichzeitige Ansetzung des eigenen und des fremden individuellen Schmerzes erleichtert, oder vielleicht auch erst ermöglicht, indem dieses anschauliche Material, als Symbol über die wesentliche Verschiedenheit hinweghelfend, den eigenen konkreten Schmerz und seinen vom Postulat der Individuation begleitenden Gattungsbegriff ontologisch schlechthin koordinieren läßt. Über die Unklarheit dieser Koordination hilft die Klarheit der anschaulichen Unterlage, der in zwei Exemplaren gegebene Leib, hinweg. Die Duplizität des letzteren ist das notwendige Vehikel für die Vorstellung von der strengen Koordination des fremden und des eigenen Bewußtseins. Aus jener schöpft diese Vorstellung ihre Lebensfähigkeit und den Anspruch sinnvoll zu sein, nach dem Muster jener will sie verstanden werden.

Diese Vorstellung verfestigt sich mit der Zeit dermaßen, daß das Begrifflich-Gattungsmäßige des supponierten [unterstellten - wp] Phänomens übersehen und alles Gewicht auf das begleitende Postulat der Individuation gelegt wird. So wird die Existenz eines individuellen psychischen Phänomens, wie deren A selbst erlebt, "jenseits" der Leiblichkeit L das allerunzweifelhafteste und selbstverständlichste Faktum. Da nun aber jedenfalls zugegeben werden dürfte, daß man an die Konkretion (Individualität) des Phänomens nicht heran kann, so wird man folgerichtig zugestehen müssen, daß jene Zweifellosigkeit und Selbstverständlichkeit auf die Natur des Denkens, d. h. auf die logische Notwendigkeit zurückzuführen ist, mit welcher sich an die betreffende Wahrnehmung die erörterte Denkaktion, nämlich das auf die Verursachung jener abzielende Schlußverfahren anschließt. Diese Notwendigkeit ist so zwingend, daß es begreiflich erscheint, wenn so mancher die Aufklärungen des Erkenntnistheoretikers zurückweist, da es ihm als unerfüllbare Zumutung erscheint, der stets angenommenen und geglaubten Existenz des fremden Bewußtseinsinhaltes durch die Anerkennung ihres begrifflichen Charakters etwas von ihrer ontologischen Rangstellung und Koordination mit den konkreten Inhalten des eigenen Bewußtseins abzubrechen.

Ich stehe nicht an, den Zwang, der das Auftreten des Kausationsgedankens im Gefolge der hier gemeinten Wahrnehmungen begleitet, an Unausweichlichkeit jenem Zwang gleichzustellen, mit dem sich die Wahrnehmung selbst geltend macht; zu den Daseinsbedingungen eines Bewußtseins gehört gleichermaßen wie der primäre Zwang, mit dem sich die Wahrnehmungsinhalte aufdrängen, auch die Notwendigkeit, diesen Stoff mit logischer Arbeit zu durchdringen. Bewußt werden können wir wohl dieser Notwendigkeit, abstreifen jedoch können wir sie niemals. Wer demnach unsere Erklärung glaubt zurückweisen zu müssen, scheint sich bei seiner erkenntnistheoretischen Selbstbesinnungsarbeit noch nicht so weit von jener logischen Notwendigkeit emanzipiert zu haben, daß, indem er ihr nachgibt, sie dennoch als solche erkennt.

Es kann gegenüber jener Zurückführung kaum eingewendet werden, daß demjenigen, was sich unserer Erfahrung entzieht, deswegen noch nicht die (nicht erfahrbare) Existenz abgesprochen werden kann. Analysieren wir genau diesen Gedanken von der dem fremden Bewußtseinsinhalt zugeschriebenen Existenz und sehen wir zu, ob wir jemals über den oben geschilderten Sachverhalt hinauskommen. Gesetzt A und B befänden sich in einem Zimmer, welches Rosenduft erfüllt. A hat die Geruchsempfindung R in individueller Bestimmtheit, er riecht den Duft R. Wenn A annimmt, daß B dieselbe Empfindung hat, so kann er hiermit keineswegs - und es ist auch gar nicht seine Absicht - seine eigene Geruchsempfindung doppelt setzen wollen, er verlegt vielmehr nur in das die Person B ausmachende Bewußtsein eine ganz ähnliche Empfindung, wie er selbst sie eben hat, d. h. aber gar nichts anderes, als daß er an die wahrgenommene Leiblichkeit des B den Kausalgedanken und den Begriff R mit postulierter Individuation knüpft. Er kann dies nur tun, wie schon gesagt wurde, weil er das Gattungsmäßige aus dem eigenen Phänomen als Begriff herausheben, weil er demnach auch ohne aktuelle Rosenduftempfindung sich an eine solche erinnern und die Möglichkeit des abermaligen Auftretens einer solchen abwägen kann. Daß aber die gleichzeitige Annahme der ihrem Begriff nach unerfahrbaren Individualität der Geruchsempfindung im Bewußtsein des B keinerlei Bedenken erregt, erklärt sich, wie gleichfalls schon gesagt wurde, aus der gleichzeitigen Gegebenheit der beiden Leiber. Erscheint es einerseits als ein unsinniges Verlangen, seine eigene Geruchsempfindung doppelt zu setzen oder verdoppelt anzunehmen, so scheint es andererseits ganz unverfänglich, im Gedanken der eigenen Empfindung die fremde als gleichwertige Spezies gegenüberzustellen. Dies wird aber nur dadurch ein ausführbarer Gedanke, daß die Anschauung an der sinnlich zugänglichen Duplizität der Leiber eine Stütze erhält.

Ich sagte soeben, daß man ohne aktuelle Empfindung R doch an dieselbe denken, d. h. ihren Gattungsbegriff denken und die Möglichkeit ihres abermaligen Auftretens in Anschlag bringen kann. Selbstverständlich kann diese zweite Empfindung nur für einen künftigen Zeitpunkt erwartet werden und ebenso auch, wenn ich jetzt schon die aktuelle Empfindung habe und den erwähnten Gedanken anknüpfe. Diese Bedingung des Auseinander in der Zeit, ohne welches an Duplizität desselben Empfindungsinhaltes nicht zu denken ist, mit deren Erfüllung aber die frühere Empfindung auch schon wieder aus dem Stadium der Aktualität in das des Gattungsmäßig-Begrifflichen übergeht - diese Bedingung wird bei einem Schluß auf die fremde Empfindung übersehen über der gleichzeitigen Wahrnehmung der zwei benachbarten Leiber und über dem Zwang des Kausalitätsgedankens, der für die gemachte Wahrnehmung gebieterisch hier die Ausfüllung der Rolle der Wirkung, sonst wieder, z. B. im früheren Fall von Schmerzsymtomen, die Ausfüllung der Ursachrolle erfordert.

Bisher sprachen wir nur von einzelnen Bewußtseinsinhalten, die "drüben" und "hüben" angenommen worden sind. Ist aber hier die prinzipielle Schwierigkeit durch eine befriedigende begriffliche Analyse behoben, so ist es weiterhin ein Leichtes, durch eine Ausdehnung der Betrachtung auf alle die im Eingang erwähnten Punkte, nämlich in allseitiger Anknüpfung an die mit der unsrigen konforme Leiblichkeit des Nebenmenschen ein ganzes Bewußtsein zu konstruieren mit all der Fülle und dem Wechsel und den Schicksalen seiner Inhalte, die wir an uns selbst erfahren. Das eigene Bewußtsein ist das Urbild, seine Konstituenten geben die Gattungsbegriffe her, aus denen mit postulierter Individuation das fremde Bewußtsein zusammengesetzt wird; ihr Inbegriff mit seiner eigentümlichen, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umspannende Einheit der Ichbeziehung liefert gleichfalls einen Gattungsbegriff, der in der erörterten Weise zum fremden Ich gestempelt wird.

Aus diesen Erwägungen dürfte wohl hervorgehen, daß es ein Irrtum zu nennen ist, wenn man annimmt, daß, mag auch keinem anderen Erkenntnisinhalt eine transzendente Bedeutung, ein Hinweis auf ein Transzendent-Reales innewohnen, so doch wenigstens das fremde Ich den klarsten Beweis liefert, daß ohne transcensus nicht auszukommen ist, daß dieser möglich und sinnvoll ist. Es ist nun Sache der monistischen Erkenntnistheorie, nachzuweisen, daß hier eine Täuschung vorliegt. Diese wird vielleicht vom Gegner umso leichter anerkannt werden, wenn zugleich der in seiner Ansicht versteckte Wahrheitskern ans Licht gebracht wird.

Welches Sein, das außerhalb des Bewußtseinsrahmens des Subjekts läge, welches die Erkenntnis hat und ausspricht, wird dann durch die Annahme des "du" und "er" erkannt? Man wird sagen, daß das "du" direkt nicht erkannt werden kann, liegt schon in seinem Begriff; jedoch könnten wir es erschließen und müssen es auch. Der letzteren Meinung schließe ich mich vollkommen an, nur gestatte ich mir, das fragliche "Transzendent-Reale" einer genaueren logischen Untersuchung zu unterziehen. Es ist eine allmählich zur verdienten Geltung kommende Einsicht, daß für die Begreiflichkeit der Sinnendinge und zur Verbürgüng ihrer "Solidität" und Dauerhaftigkeit transzendente Korrelate derselben nur illusorische Dienste leisten. Ich glaube übrigens hierfür den eingehenden Beweis - zunächst gegenüber HELMHOLTZ und DÜHRING - in meiner Kritik des "Realismus der modernen Naturwissenschaft" erbracht zu haben und will hier nur noch einen Punkt hervorheben. Wenn das Erkennen nur unter der Bedingung Sinn und Halt, d. h. objektive Gültigkeit finden soll, daß es zu einer absoluten "Wirklichkeit" in Relation steht und diese in den und den Stücken "abbildet", so bleibt es dabei, abgesehen von allen sonstigen logischen Bedenken, sicherlich auffallend, daß der Intellekt gegenüber dieser (allerdings von ihm selbst geschaffenen) "Wirklichkeit" seine Ansprüche auf "Erklärung" suspendiert, da doch nur an die Stelle der Koexistenz oder Sukzession M N R die Koexistenz oder Sukzession μ ν ρ tritt und von Seiten der qualitativen Unterschiede unbegreiflich ist, warum μ ν ρ für den erklärungsbedürftigen Intellekt "beruhigender" sein soll als M N R. Dieses kräftige thelkterion ist wohl im Hinzudenken des Attributs "ungedacht" zu suchen!

Für meine theoretischen sowohl als auch praktischen Bedürfnisse genügt es vollkommen zu wissen, daß z. B. der Mailänder Dom eine Wahrnehmbarkeit ist, die sich mit gesetzlicher Notwendigkeit an eine gleichfalls gesetzlich bestimmte Kette von wechselnden Wahrnehmungen (Ortsveränderungen) anschließt. Ich kann diese Gesetzlichkeit jeden Augenblick erproben, sie wird niemals versagen. Dies muß wohl genügen. Wer dagegen behauptet, dies genügt nicht, der Mailänder dom muß auch jetzt, wo er (d. h. der Gegner) in Prag sitzt, seine volle Existenz haben, der versteht nicht, was er unter "Existenz" meint, sei sie nun voll oder nicht voll, der denkt auch nicht weiter nach über die Kriterien dieser oder jener Existenzart, und doch meint er im Grund und kann er nur genau dasselbe meinen, wie der monistische Erkenntnistheoretiker; allein er imputiert diesem die Meinung, daß die von einem in Prag Weilenden behauptete Existenz des Mailänder Doms um gar nichts mehr bedeutet, als das Dasein eines Erinnerungsbildes von ihm oder seiner Erscheinung im Bewußtsein des Träumenden!

So gut es nun also für das Reich der Wahrnehmbarkeiten keiner Anlehnung an ein "solideres", "realeres" Seinsgebiet bedarf, um es unserem theoretischen Verständnis zu unterwerfen und unseren praktischen Zwecken dienstbar zu machen, ebenso steht es mit dem fremden Ich. Ich will hier gar nicht dem Umstand urgieren, daß der fragliche Schluß durch Data ausgelöst wird, die selbst nicht wenige Gegner als immanent (= nicht-transzendent) anerkennen dürften. Bloß auf das Eine will ich aufmerksam machen, daß das fremde Ich im Gegensatz zum eigenen Ich gestellt wird; alle die Millionen von menschlichen "Ichen" sind dem eigenen Ich koordiniert gedacht. Dieses eigene Ich jedoch ist das empirisch bekannte und bestimmbare, an einen bekannten Leib geknüpfte, mit einem bestimmten Namen versehene, die unmittelbar gegebene "innere" Erfahrung erlebende Ich, das mir kraft der Ding-Kategorie gerade so gegenständlich ist wie das supponierte zweite, dritte Ich. Von diesem empirischen, objekt-seienden Ich muß nun aber streng unterschieden werden das logische Subjekt des Erkenntnisaktes, welches das eigen und die anderen Iche koordiniert. Dieses unentbehrliche Erkenntnissubjekt wird nur allzuleich vergessen. Man stellt sich vor, daß eine ausgesprochene Erkenntnis gewissermaßen in der Luft schweben kann, etwa wie ein herrenloses Gut oder wie ein zwischen mehreren Attraktionszentren oszillierender Meteorit, und daß es ihr äußerlich ist, von einem erkenntnisfähigen Subjekt aufgefunden und konstatiert zu werden. Von einem transcensus des Bereichs der Data jenes logischen Erkenntnissubjekts kann offenbar keine Rede sein, mag dasselbe immerhin zu einem der erkannten empirischen Iche in jener bekannten innigeren, unmittelbaren Beziehung stehen, welche sich darin ausspricht, daß eines der Iche das eigene, die übrigen aber fremde Iche genannt werden.

Nehmen wir an, es würde ein physikalischer Lehrsatz S ausgesprochen. Das Interesse ist hier ganz und gar durch den Inhalt desselben gefangen genommen; die selbstverständliche Existenzbedingung dieser Erkenntnis, daß sie nämlich gedacht werden muß, wird übersehen, und zwar keinesweg immer nur infolge eines unberechtigten Realismus, der die Zuversicht hegt, daß doch wohl die Dinge und ihre Verhaltensweisen, von denen S handelt, in jedem Fall existieren, mag nun S gedacht werden oder nicht. Sowie nun aber jene Bedingung geltend gemacht wird, stellt sich die Notwendigkeit ein zuzugeben, der Satz S ist der Gedanke des Peter XY, für dessen Persönlichkeit die Mitwelt an seinem Leib und Namen die maßgebenden Anhaltspunkte besitzt. Mag nun der Gedanke S zum eigenen Ich oder zum fremden Ich in das Angehörigkeits- oder Ursprungsverhältnis gesetzt werden, in jedem Fall ist auch diese Erklärung eine Erkenntnis, die ihr Subjekt beansprucht. Nun ist leicht zu übersehen, wie die Gegner der hier vertretenen Denkweise verfahren. Sie bestehen darauf, daß erklärt wird, wessen Erkenntnis diese oder jene ist. Erfolgt nun, wie es nicht anders möglich ist, die Antwort - durch einen abermaligen Erkenntnisakt - in Anknüpfung an ein empirisches Ich J, dann wird, falls es sich etwa um die Auffassung des "Du" und "Er" handelt, mit Genugtuung proklamiert, daß somit nur J mit seinen Bewußtseinsdaten existiert, und der Solipsismus ist in seiner ganzen Lächerlichkeit entlarvt! Nur bemerkt man dabei das eine nicht, daß sich das Subjekt des Erkennens, nach em man sich so angelegentlich erkundigt hat, aus der einen Position, wo es nur durch eine empirische Persönlichkeit ersetzt worden ist, in eine zweite Position zurückgezogen hat, der es im Falle einer weiteren Nachforschung am Rückhalt einer dritten, vierten usw. Positition nicht fehlt.

Es ist nich einzusehen, warum der Satz des Gegners, daß die vielen Iche ontologisch koordiniert sind und ihre Existenz etwa monadenartig jenseits allen Erkennens liegt, von der Forderung nicht getroffen werden sollte, daß er gedacht wird und zwar von einem denkfähigen Subjekt gedacht wird. Oder will er vielleicht gar keine Erkenntnis ausdrücken? Will er es, dann ist er wohl der Gedanke der empirisch bestimmten Person K oder L oder M, die in Anbetracht der Unerweislichkeit jenes "jenseits" gegenüber den erschlossenen Ichen R, S, T usw. wohl oder übel eine "solipsistische" Diktatur sich anzumaßen Miene macht. Der Vorwurf des Solipsismus läßt sich demnach mit dem gleichen Recht oder Unrecht jeder beliebigen erkenntnistheoretischen Ansicht gegenüber geltend machen. Daß aber der Solipsismus eine puerile [kindische - wp] Absurdität, eine platte Gedankenlosigkeit ist, kann mit demselben Erfolg wie jede andere Theorie auch jene Anschauungsweise erweisen, die in dem Satz gipfelt, daß Erkennen nicht dazu da ist, die erkenntnisfähigen Subjekte über ein Sein aufzuklären, das "jenseits" allen Erkennens liegt und gänzlich unabhängig von ihm "istet".

Das Verhältnis des erschlossenen fremden Ich zum eigenen, seine Bedeutung für die Entwicklung des letzteren, die sich im Verkehr der Menschen untereinander geltend macht, ferner seine Bedeutung für die Beobachtung des psychologischen Forschers darzulegen, wäre der Gegenstand einer weiteren, ziemlich ausgedehnten Untersuchung, die für jetzt nicht beabsichtigt war und einer späteren Gelegenheit vorbehalten bleibt.
LITERATUR - Anton von Leclair, Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie, Breslau 1882
    Anmerkungen
    9) Vgl. Adolf Fick, Handbuch der Physiologie der Sinnesorgane, erster Teil, Leipzig 1879, Seite 166 und 168f.
    10) Wer meine diesbezüglichen Anschauungen aus dem bereits zitierten Buch "Der Realismus der modernen Naturwissenschaft" kennt, wird merken, daß ich mich hier der Sprache jener Auffassungsweise bediene, welche in jenem Buch bekämpft wird. Diese Usurpation [Vereinnahmung - wp] soll jedoch nur zur leichteren Verständigung dienen.
    11) vgl. Abschnitt 5.
    12) Rehmke, Anzeige von Wundts "Logik", Göttingische Gelehrte Anzeigen, März 1881, Stück 9 und 10.