tb-1SchopenhauerTetensvon Kirchmann    
 
ADOLF FICK
Die Welt als Vorstellung

"Es kann gar keinen möglichen Sinn haben, von einer anderen Wahrheit unserer Vorstellungen zu sprechen, als von einer  praktischen.  Unsere Vorstellungen von den Dingen können gar nichts anderes sein als Symbole, natürlich gegebene Zeichen für die Dinge, welche wir zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen. Wenn wir jene Symbole richtig lesen gelernt haben, so sind wir imstande mit ihrer Hilfe unsere Handlungen so einzurichten, daß dieselben den gewünschten Erfolg haben, d. h. daß die erwarteten neuen Sinnesempfindungen eintreten. Eine andere Vergleichung zwischen den Vorstellungen und den Dingen gibt es nicht nur in Wirklichkeit nicht - darüber sind sich alle Schulen einig - sondern eine andere Art der Vergleichung ist gar nicht denkbar und hat gar keinen Sinn."

Meine Herren!
Sie haben bei der diesjährigen Stiftungsfeier unserer Hochschule gehört, wie in seiner Festrede der  Rektor,  Herr EDEL, geklagt hat über den Verfall der allgemeinwissenschaftlichen und namentlich der philosophischen Studien.

    "In früheren Zeiten,", sagt er, "die zum Teil meinem Gedächtnis nicht entschwunden sind, war es vielfach anders."

    "Da waren die philosophischen Vorlesungen nicht verödet, die Auditorien der großen deutschen Philosophen waren auch hier fast immer wohlgefüllt nicht bloß von Studierenden im ersten Studienjahre, sondern auchvon zahlreichen Zuhörern aus allen Fakultäten und von gebildeten Männern im reiferen Alter."

    "Darum hege ich den lebhaften Wunsch für Wiederbelebung der philosophischen Studien nicht bloß im Interesse besserer allgemeiner Bildung, sondern auch zur geistigen Durchbringung und Verbindung des so weit ausgedehnten und fast mit Zersplitterung bedrohten Kreises der Spezialwissenschaften."
Ich möchte gern zur Erfüllung dieses gewiß sehr berechtigten Wunsches an meinem Platz mein Mögliches tun und werde es deshalb versuchen, durch einige kurze einleitende Betrachtungen des physiologischen Lehrstoff mit philosophischen Gesichtspunkten zu verknüpfen.

Die Klage über Vernachlässigung der philosophischen Studien ist auch von anderen Seiten vielfach laut geworden. Man hat geradezu der studierenden Jugend den Vorwurf gemacht, sie ergebe sich, angesteckt von dem angeblich auf die materiellen Güter ausschließlich gerichteten Sinne der Gegenwart, banausischen Brotstudieren unbekümmert um höhere rein ideale Interessen. Ich glaube wir dürfen uns von diesem Vorwurf freisprechen und die Schuld der Mißachtung in welche überall, besonders aber in den naturwissenschaftlichen Kreisen die Philosophie gefallen ist, lediglich dem Entwicklungsgang beimessen, welchen diese Wissenschaft selbst in Deutschland genommen.

Nachdem nämlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die erstaunlichen Werke KANTs aller Augen auf die Philosophie gerichtet hatten, wandten sich begreiflicherweise auch viele Talente niederer Ordnung zur literarischen Produktion auf diesem Gebiet. Jeder suchte seinen Vorgänger durch Kühnheit und scheinbare Tiefe der Spekulation zu überbieten, bis zuletzt in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts die eigentliche Scharlatanerie und Windbeutelei in der philosophischen Literatur herrschend wurde. Das mußte denn doch allmälich das gebildete Publikum ernüchtern. Man höre beispielsweise folgende Sätze, worin sich ein seiner Zeit im höchsten Ansehen stehender Philosoph über einen Gegenstand ausspricht, der uns demnächst beschäftigen soll:
    "Die Sinne und die theoretischen Prozesse sind daher
      1) der Sinn der mechanischen Sphäre, der Schwere, der Kohäsion und ihrer Veränderung, der Wärme, das  Gefühl  als solches;

      2) die Sinne des Gegensatzes, der besonderen Luftigkeit, und der gleichfalls realisierten Neutralität des konkreten Wassers und der Gegensätze der Auflösung der konkreten Neutralität -  Geruch  und  Geschmack; 

      3) der Sinn der Idealität ist ebenfalls ein gedoppelter, insofern in ihr als abstrakter Beziehung auf sich die Besonderen, die ihr nicht fehlen kann, in zwei gleichgültige Bestimmungen auseinanderfällt

        α) der Sinn der Idealität als Manifestation des Äußerlichen für Äußerliches, - des Lichtes überhaupt und näher des in der konkreten Äußerlicheit bestimmt werdenden Lichtes, der  Farbe  und

        β) der Sinn der Manifestation der Innerlichkeit, die sich als solche in ihrer Äußerung kund gibt, - des  Tones,  -  Gesicht  und  Gehör." 
"Es ist hier die Art angegeben, wie die Dreiheit der Begriffsmomente in eine Fünfheit der Zahl nach übergeht; der allgemeinere Grund, daß dieser Übergang hier stattfindet, ist, daß der tierische Organismus die Reduktion der auseinandergefallenen unorganischen Natur in die unendliche Einheit der Subjektivität, aber in dieser zugleich ihre entwickelte Totalität ist, deren Momente, weil sie noch  natürliche  Subjektivität ist, besonders existieren." (1)

Wenn derartiger höherer Blödsinn in den philosophischen Hörsälen vorgetragen wurde, dann findet man begreiflich, daß sie sich allmählich leerten und daß sich namentlich alle diejenigen daraus zurückzogen, welche durch die Beschäftigung mit den Naturwissenschaft an ein folgerichtiges Denken gewöhnt sind.

Es konnte nicht fehlen, daß dadurch ein großer Teil der Gebildeten von allem Philosophieren zurückgeschreckt und dem rohen Materialismus in die Arme getrieben wurde. Bei dieser naiven Weltanschauung, die eben im einfachen Mangel philosophischen Besinnens besteht, kann sich aber ein Denkender nicht lange beruhigen. So sehen wir also gegenwärtig das philosophische Bedürfnis allgemein wieder erwachen, und mit Recht wird überall wieder zurückgegangen auf unseren großen Geistesheroen KANT. In der Tat, seine Kritik der reinen Vernunft, die ich unbedenklich für die größte Leistung des denkenden Menschengeistes erkläre, gewährt noch heute dem philosophischen Bedürfnis mehr Befriedigung als irgendein später geschaffenes Werk.

Die Grundlagen des  kantischen  philosophischen Standpunktes sollen dann auch den Gegenstand dieser einleitenden Betrachtungen bilden. Die Beziehung dieses Gegenstandes zur Wissenschaft, welche wir hier zu behandeln haben, und namentlich zu dem Teil derselben, mit welchem ich diesmal unseren Kurs zu beginnen gedenke, ist die allerunmittelbarste und engste. Man könnte geradezu sagen der  kantische  Standpunkt in der Philosophie ist ein physiologischer. Sehen wir nunmehr, wie wir zu demselben gelangen.

Für den unbefangenen Menschen steht die materielle Welt da draußen vollkommen fest. Die Existenz einer hellleuchtenden, heißen Sonne, einer starren Erde, eines kühlen Wassers, außerhalb und unabhängig von seinem Bewußtsein hat für ihn die unumstößlichste Gewißheit. Es braucht aber nur wenig Besinnung, um zu bemerken, daß es doch noch etwas Gewisseres gibt, nämlich die Existenz meines eigenen Bewußtseins; denn wäre dieses nicht, so würde ich ja von der Existenz der Körperwelt auch gar nichts wissen. Dieser Satz braucht nur ausgesprochen zu werden, um einzuleuchten und man sieht auch sofort, daß das eigene Bewußtsein der einzig richtige und einzig mögliche Ausgangspunkt des Philosophierens ist. Wie wunderbar, daß es Jahrtausende gedauert hat, bis man zu dieser Einsicht kam! Erst CARTESIUS nämlich hat mit seinem berühmten  "Cogito ergo sum"  das Bewußtsein des denkenden Subjekts zum Ausgangspunkt der Philosophie gemacht.

Suchen wir unser eigenes Bewußtsein uns zu vergegenwärtigen in dem Zustand, in welchem es sich bei seinem ersten Erwachen befunden haben mag. Der erste Inhalt desselben kann offenbar nichts anderes gewesen sein als  Empfindung  und zwar Empfindung verschiedener Art: Lichtempfindung, Gefühlsempfindung, Schallempfindung, Schmerz, Lust usw.

Die Empfindungen kommen, gehen, wechseln ohne unser Zutun. Aber sie sind auch der  einzige  Inhalt unseres Bewußtseins, welcher sich so verhält und sich demgemäß ankündigt als etwas nicht durch das Bewußtsein selbst Geschaffenes, sondern ihm Aufgedrungenes. Das Bewußtsein setzt daher ein äußeres  Objekt  oder einen äußeren  Gegenstand,  dessen Gegenwart oder besser Einwirkung auf das Subjekt die Empfindungen bedingt. Wenn auch diese Tätigkeit gewöhnlich ohne eine eigentliche  Überlegung  vollzogen wird, so kann man sie doch als ein logisches Schließen bezeichnen, und wir nennen die Fähigkeit des Subjekts, diese Tätigkeit zu vollziehen  "Verstand".  Ohne ihn würden wir offenbar gar nie zur Annahme einer äußeren Welt der Objekte kommen. Die Empfindungen würden eben nur als Zustände des Subjekts selbst im Bewußtsein auftreten.

Diese einfache Überlegung entscheidet auf das allerunwiderleglichste eine Frage, die von bedeutenden Denkern in verschiedenem Sinne beantwortet wird, die Frage nämlich, ob die Überzeugung von einer ursächlichen Verknüpfung der Veränderungen in der Natur des Verstandes selbst begründet ist, ob, wie man sich in philosophischer Redeweise auszudrücken pflegt, die Kenntnis vom ursächlichen Zusammenhang eine Erkenntnis  a priori  ist.

Die großen englischen Denker LOCKE und HUME waren der Meinung, die Überzeugung von einem überall notwendigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung werde erst allmählich durch eine Beobachtung des Ablaufs der äußeren Erscheinungen gewonnen und dieser Meinung schließt sich auch der noch jetzt lebende berühmte englische Philosoph JOHN STUART MILL an. Dahingegen hat KANT die Apriorität des Kausalgesetzes verfochten. Merkwürdigerweise ist ihm das einfachste und schlagendste Argument entgangen, das in der soeben angedeuteten Überlegung besteht. Erst SCHOPENHAUER und nach ihm aber unabhängig von ihm, HELMHOLTZ, haben es hervorgehoben.
    "Es ist klar" sind die Worte des letzteren, "daß wir aus der Welt unserer Empfindungen zu der Vorstellung von einer Außenwelt niemals anders kommen können, als durch einen Schluß von der wechselnden Empfindung auf äußere Objekte als die Ursachen dieses Wechsels, wenn wir auch, nachdem die Vorstellung der äußeren Objekte einmal gebildet ist, nicht mehr beachten, wie wir zu dieser Vorstellung gekommen sind, besonders darum, weil der Schluß so selbstverständlich erscheint, daß wir uns seiner als eines neuen Resultates gar nicht bewußt werden. Demgemäß müssen wir das Gesetz der Kausalität, vermöge dessen wir von der Wirkung auf die Ursache schließen, auch als ein aller Erfahrung vorausgehendes Gesetz unseres Denkens anerkennen."
Der vorhin angeführten Ansicht englischer Philosophen gegenüber bemerkt HELMHOLTZ ferner, "daß es mit dem emprischen Beweis des Gesetzes vom zureichenden Grund äußerst mißlich aussieht. Denn die Zahl der Fälle, wo wir den kausalen Zusammenhang von Naturprozessen vollständig glauben nachweisen zu können, ist verhältnismäßig gering gegen die Zahl derjenigen, wo wir dazu durchaus noch nicht imstande sind."
    "Endlich" - heißt es im weiteren Verlauf der zitierten Stelle - "trägt das Kausalgesetz den Charakter eines rein logischen Gesetzes auch wesentlich darin an sich, daß die aus ihm gezogenen Folgerungen nicht die wirkliche Erfahrung betreffen, sondern deren Verständnis, und daß es deshalb durch keine mögliche Erfahrung je widerlegt werden kann. Denn wenn wir irgendwo in der Anwendung des Kausalgesetzes scheitern, so schließen wir daraus nicht, daß es falsch ist, sondern nur, daß wir den Komplex, der bei der betreffenden Erscheinung mitwirkenden Ursachen noch nicht vollständig kennen."
Den äußeren Objekten nun, welche der Verstand vermöge des Kausalgesetzes als Ursachen der Empfindung setzt, legt er zunächst ganz naiv die Qualitäten der Empfindungen selbst bei. Er nennt ein Objekt, das eine Licht- oder Helligkeitsempfindung veranlaßt, ein  "helles",  ein Objekt, das eine bestimmte Geschmacksempfindung verursacht, z. B. ein süßes. Wenn ein besonderer Komplex von Gefühlsempfindungen in der Haut entsteht, sprechen wir von der Gegenwart eines harten Gegenstandes usw. Indem unter gewissen Umständen auf den verschiedenen Sinnesgebieten gleichzeitig oder in einer gewissen gesetzlichen Reihenfolge Empfindungen entstehen, legen wir ihre Natur ein und demselben Objekt als seine verschiedenen Eigenschaften bei. So würde z. B. einer, der einen gewissen Komplex von Licht-, Geschmacks- und Gefühlsempfindungen hat, sagen: ich habe einen roten, süßen, kalten Apfel in der Hand.

Es braucht nicht viel Kopfzerbrechen, um einzugestehen, daß die in Rede stehenden Prädikate als Süßigkeit, Härte, Röte usw. nicht Prädikate von realen Existenzen sein können, daß sie vielmehr nur den Vorstellungsbildern innerhalb eines wahrnehmenden Subjekts zukommen. Wem dies nicht selbstverständlich erscheint, der erinnere sich nur daran, daß der selbe Apfel, welcher jetzt vorwiegend süß schmeckt, ein anderesmal, wenn man unmittelbar vorher Zucker gegessen hat, mehr säuerlich erscheint. Ein sonst rot genannter Körper kann auch, wenn das Auge durch lebhafteres Purpurrot ermüdet ist, blaß-gelblich erscheinen. Derselbe Körper erscheint oft, mit der einen Hand angefühlt, warm, mit der anderen kalt. Es ist wohl nicht nötig, noch weitere Beispiele anzuführen. Man bemerkt im Allgemeinen leicht, daß die den Objekten zugeschriebenen Qualitäten wesentlich bedingt sind durch den Zustand des wahrnehmenden Subjekts, so daß es durchaus nichts Widersinniges hätte anzunehmen, daß dieselben Objekte einem anderen Subjekt ganz anders erscheinen. Sollte in der Tat die Qualität der Sinnesempfindung andererseits auch durch die Beschaffenheit einer außerhalb seienden Realität bedingt sein, so wäre diese doch jedenfalls unserer Erkenntnis unzugänglich, da uns bloß die Wechselwirkung des anderen und unseres Sinnes, eben die Empfindung gegeben ist.

Es ist - wie gesagt, -  leicht  einzusehen, daß die Eigenschaften, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, als Farbe, Geschmack und dergleichen unmöglich Eigenschaften der Dinge-ansich sein können. Schwierig aber ist es, sich vollständig klar zu machen, daß auch die räumlichen und zeitlichen Beziehungen und alles was damit zusammenhängt, wie Bewegung, Starrheit usw. nicht den Dingen, unabhängig von unserem Denken ansich zukommen, daß vielmehr Raum und Zeit nur die durch die Beschaffenheit unseres Intellekts bedingten notwendigen allgemeinsten Formen des Vorstellens sind. Dies ist zwar schon vom tiefsinnigen BERKELEY geahnt worden, aber es ist eine von den geistigen Großtaten KANTs mit einer der mathematischen nichts nachgebenden Evidenz den Beweis geliefert zu haben.

Der erste Beweisgrund ist eigenlich schon in der Betrachtung enthalten, welche wir an die Spitze gestellt haben. Wir sahen, daß unser Intellekt, getrieben durch das ihm innewohnende Kausalgesetz, für jede Empfindung ein Objekt als Ursache setzt. Diesem Objekt wird nun in diesem Akt selbst sogleich auch eine Stelle in Raum und Zeit gegeben; ebenso wie die Idee vom Kausalgesetz müssen also in unserem Intellekt die Ideen von Raum und Zeit schon vor der Erfahrung da sein, denn sonst könnte man eben die Objekte nicht hineinsetzen. Am deutlichsten wird dies einleuchten, wenn man daran denkt, daß schon bei der allerersten Empfindung, welche im Bewußtsein des neugeborenen oder vielmehr des ungeborenen Kindes auftaucht, ohne Zweifel ein Objekt im  Raum  gesetzt wird, daß also da schon die Idee des Raumes gewissermaßen als ein Bestandteil in der Idee der Kausalität vorhanden sein muß. In der Tat sagt ja das Gesetz der Kausalität, daß in dem einen Ding keine Veränderung stattfinden kann, ohne daß ein zweites, von jenem getrenntes, vorhanden ist, welches eben darauf wirkt. Somit liegt in der Idee der Kausalität schon die Vorstellung des  Außereinander,  d. h. des Raumes und da jene, wie schon gezeigt wurde, a priori ist, so muß es auch diese sein. Die Behauptung, daß die Anschauung des Raumes a priori gegeben ist, muß man aber nicht dahin mißverstehen, als ob das eben erwachende Bewußtsein in diesem Raum schon orientiert und imstande wäre, jeder Vorstellung ihren richtigen Ort darin genau anzuweisen. Nur die Idee des Raumes überhaupt ist schon da, insofern das Objekt eben als ein  äußeres  vorgestellt wird.

Der zweite Beweisgrund, den KANT besonders ausführt, liegt darin, daß wir die  Eigenschaften  des Raumes und der Zeit a priori, d. h. unabhängig von aller Erfahrung, erkennen, was doch unmöglich wäre, wenn Raum und Zeit etwas außer unserem Anschauungsvermögen vorhandenes wären. Daß es noch heutzutage ernste Denker gibt, welche die Wissenschaft von Raum und Zeit, d. h. die Mathematik für eine Erfahrungswissenschaft erklären, zeigt, wie schwer es ist, von dem Vorurteil loszukommen, daß Raum und Zeit Attribute der Dinge ansich wären.

Es ist wiederum JOHN STUART MILL, welcher in seinem mit Recht so berühmt gewordenen System der deduktiven und induktiven Logik zu beweisen sucht, daß die Axiome der Geometrie Erfahrungssätze seien. Sieht man sich aber seine Beweisgründe genauer an, so wird man in ihnen selbst das Zugeständnis versteckt finden, daß die Raumanschauung doch a priori ist. Im 5. Paragrahen des 5. Kapitels heißt es:
    "Das Fundament der Geometrie würde daher auch dann auf der direkten Erfahrung beruhen, wenn die Experimente (welche in diesem Fall bloß in einem aufmerksamen Anschauuen bestehen) bloß mit dem statt fänden, was wir unsere Ideen nennen, d. h. mit den Figuren in unserem geist nicht und mit äußeren Gegenständen. In allen Systemen des Experimentierens nehmen wir einige Gegenstände, um sie als Repräsentanten all derjenigen dienen zu lassen, welche ihnen gleichen; und  im vorliegenden Fall sind die Bedingungen, welche einen realen Gegenstand zum Repräsentanten seiner Klasse befähigen, durch einen Gegenstand, der nur in unserer Phantasie existiert, völlständig (!) erfüllt.  Ohne daher die Möglichkeit zu leugnen, daß wir durch bloßes Denken zweier gerader Linien und ohne sie zu sehen, glauben können, daß sie keinen Raum einschließen können, behaupte ich, daß wir diese Wahrheit nicht bloß aufgrund unserer imaginären Anschauung hin glauben, sondern weil wir wissen,  daß die eingebildeten Linien den wirklichen genau gleich sehen und daß wir von ihnen auf wirkliche Linien mit ganz derselben Sicherheit schließen können als von eienr wirklichen Linie auf eine andere wirkliche." 
Ist nicht mit diesen Worten alles zugestanden? In der Tat, der krasseste Materialist, der in aller Einfalt unsere Vorstellungen für getreue Abbilder der Dinge ansich nimmt, wird doch niemals von einer eigentlich empirischen Vorstellung behaupten, daß sie ihren objektiven Gegenstand ganz  vollständig  deckt, so daß man ohne den Gegenstand ferner auf die Sinne wirken zu lassen aus dern bloßen Vorstellung, welche irgendwie einen eigentlich empirischen, d. h. durch  Empfindungen  gegebenen Inhalt hat, kann  gar nie  fertig sein und wäre es die Vorstellung des einfachsten Wassertropfens. Die genauere Untersuchung mittels der Sinne wird uns daran immer Neues und wieder Neues kennen lehren, was wir aus der vorher gewonnenen Vorstellung niemals hätten folgern können. Ganz anders ist es - wie MILL in den angeführten Sätzen zugibt - mit den Vorstellungen von räumlichen Gebilden als solchen. Sie stehen fix und fertig in unserem Bewußtsein und das Betasten, Besehen oder Behorchen eines entsprechenden materiellen Gegenstandes kann uns von den  räumlichen  Beziehungen nichts lehren, was wir nicht ohnehin aus der Vorstellung hätten folgern können.

Ich denke, es ist hieraus klar ersichtlich, daß unsere Kenntnis von den Eigenschaften des Raumes und der Begrenzungen seiner Teile nicht empirisch erworben ist, daß sich dieselbe vielmehr gründet auf die ursprüngliche Natur unseres Intellekts. Selbstverständlich soll hiermit nicht behauptet sein, daß bei der  Entwicklung  der bewußten Erkenntnis von den Eigenschaften des Raumes die Erfahrung keine Rolle spielt. Die Erfahrung, d. h. zunächst die wechselnden Empfindungen geben die Gelegenheit und machen dem Bewußtsein das Bedürfnis fühlbar, sich über das klar zu werden, was gleichsam schlummernd darin vorhanden ist.

Endlich läßt sich ein gewichtiges Argument noch mit wenigen Worten aussprechen. Alle Gegenstände der Welt kann man wegdenken, nur nicht Raum und Zeit. Daraus geht klar hervor, daß sie nicht Dingen außer uns entsprechen, denn was ich absolut nicht wegdenken kann, muß zum denkenden Subjekt selbst gehören.

Sowie man einmal klar eingesehen hat, daß Raum und Zeit nur die notwendigen Formen sind unter welchen für unser Anschauungsvermögen Dinge als Objekte erscheinen können, dann ist auch klar, daß alle übrigen Prädikate, welche wir den Dingen und ihren Beziehungen beilegen, als Entfernung, Kraft, Trägheit, Masse, Bewegung ebenfalls subjektiv durch die Beschaffenheit unseres Verstandes bedingt sind, denn allen diesen Prädikaten liegen die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit zugrunde.

Mir scheint, man kann zu derselben Erkenntnis auch auf einem anderen Weg kommen, der vielleicht noch gangbarer ist, weil er nicht zugleich beim ersten Schritt ein Aufgaben eingewurzelter Täuschungen fordert. In der Tat, stellen wir uns auf den naiven Standpunkt des Materialismus, der die vom Verstand konstruierte Sinnenwelt sozusagen für bare Münze nimmt, rücken wir nun aber dieser Sinnenwelt mit unserem Verstand näher auf den Leib, um sie zu zergliedern, wie es die Naturwissenschaft tut. Da belehrt uns dann bald die Physik, daß es z. B. mit den Farben doch nicht so voller Ernst ist, daß ein Körper so oder so gefärbt erscheint, je nachdem er diese oder jene Art von Schwingungen eines feinen Mediums besser reflektiert. Dieselbe Wissenschaft zeigt uns, daß die Undurchdringlichkeit auf abstoßenden Kräften beruth, die Wärme auf kleinen sehr raschen Bewegungen der kleinsten Teilchen gegeneinander. Die Chemie zeigt uns gar, daß der homogenste Körper aus unzähligen heterogenen Teilen zusammengesetzt ist, die durch Kräfte im Gleichgewicht in bestimmten Lagen erhalten werden. Gehen wir der Naturforschung bis in ihre letzten Konsequenzen nach, so zerstäubt vor unseren Augen die Materie in  Atome,  d. h. in absolut ausdehnungslose wirksame Punkte, die im Raum zerstreut sind, und die durch ihre Bewegungen und gegenseitigen Einwirkungen aufeinander alle Erscheinungen hervorbringen.

Die Einwirkungen der Atome aufeinander oder ihre Kräfte sind durchaus nur Bewegungskräfte, anziehende oder abstoßende, d. h. zwei Atome haben entweder die Tendenz sich einander zu nähern oder sich voneinander zu entfernen. Damit ist auch eigentlich das ganze Wesen des Atoms vollständig erschöpft. Das Atom ist im Grunde genommen weiter nichts als ein System von unendlich vielen Richtungen, die sich, wie die Richtungen eines Strahlenbündels sämtlich in einem Punkt schneiden und die Einwirkung zweier solcher Systeme hat eben auch nur einen geometrischen Sinn, nämlich den, daß der gemeinsame Schnittpunkt des einen Systems sich dem Schnittpunkt des anderen zu nähern oder sich von ihm zu entfernen strebt.

Ist dann aber nicht eben im Schnittpunkt noch etwas besonderes? Er ist ja doch eigentlich der Ort, wo sich nach der gewöhnlichen Auffassung das Atom selbst befindet. Richtiger wäre es freilich, das ganze System von Kraftrichtungen als das Atom aufzufassen und es mithin überall im Raum gegenwärtig zu denken. In der Tat, müssen wir nicht sagen, daß irgendein Atom der Sonne auch hier auf der Erde gegenwärtig ist? übt es doch hier eine gegen die Sonne gerichtete anziehende Wirkung aus.

Die Frage nun, ob im gemeinsamen Durchschnittspunkt der Kraftrichtungen des Atoms, im Anziehungs- oder Abstoßungszentrum nicht doch noch etwas von anderer als bloß geometrischer Natur zu finden ist, wird wohl von manchen dahin beantwortet, daß hier die Masse des Atoms ihren Sitz hat. Sehen wir uns aber den Begriff der Masse etwas näher an, so löst auch er sich sofort auf in rein geometrische Relationen. Wir schreiben dem einen von zwei Kraftzentren soviel mal mehr Masse als dem andern zu, um wievielmal weniger Geschwindigkeit an ihm durch die gegenseitige Einwirkung erzeugt wird, als am andern. Wir schreiben beispielsweise der Sonne 319 000 mal mehr Masse zu, als der Erde, weil durch die gegenseitige Anziehung dieser beiden Wirkungszentren der Sonne in einer Sekunde 319 000 mal weniger Geschwindigkeit mitgeteilt wird, als der Erde. Was von der Gesamtmasse der größten Atomkomplexe gilt, das gilt selbstverständlich auch von der Masse des einzelnen Atoms.

So sehen wir also, wenn wir vom materialistischen Standpunkt ausgehend den Weg der Naturforschung bis in seine letzte Konsequenz verfolgen, wie sich die auf den ersten Anblick so massive materielle Welt verflüchtigt in ein System von absolut rein geometrischen Linien die im Laufe der Zeit nach unverbrüchlichen Gesetzen ihre gegenseitige Lage ändern. Von einer qualitativen Bestimmtheit, die für sich selbst irgendeine Bedeutung hätte, bleicbt gar nichts übrig. Jedes hat nur Sinn in einer Beziehung auf ein anderes, in letzter Linie auf das wahrnehmende Subjekt. In der Tat sind ja alle übrig bleibenden Bestimmungen nur gegenseitige Entfernungen von Punkten, die sich gesetzmäßig ändern, denn auch die Bestimmung von Kraft und Masse läuft auf die Bestimmung der Geschwindigkeit hinaus, mit welcher sich eben jene Entfernungen ändern.

Das ist wohl einleuchtend, daß die  so  erkannte materielle Welt nicht mehr für das genommen werden kann, wofür man sie anfänglich nimmt, nämlich für das  getreue  Abbild vom Zusammensein wirklicher Existenzen, die  gerade so  weiter existieren, auch wenn das Bewußtsein aufhört, worin das Bild angeschaut wird. So bis auf den Grund durchschaut verrät sich die materielle Welt als das was sie wirklich ist, als das Gespinst unseres eigenen Intellekts, gesponnen in den ihm eigentümlichen Formen Kausalität, Raum und Zeit.

Das schließliche Ergebnis unserer von zwei Seiten zusammentreffenden Betrachtungen, daß nämlich die ganze materielle Welt nichts ist als unsere Vorstellung, ist nie klarer und anschaulicher ausgesprochen worden, als von HELMHOLTZ in der Einleitung zum dritten Abschnitt seiner physiologischen Optik. Er sagt:
    "Unsere Anschauungen und Vorstellungen sind  Wirkungen  welchen die angeschauten und vorgestellten Objekte auf unser Nervensystem und unser Bewußtsein hervorgebracht haben. Jede Wirkung hängt ihrer Natur nach ganz notwendig ab sowohl von der Natur des Wirkenden als von der desjenigen, auf welches gewirkt wird. Eine Vorstellung verlangen, welche unverändert die Natur des Vorgestellten wiedergäbe, also im absoluten Sinn wahr wäre, würde heißen eine Wirkung verlangen, welche vollkommen unabhängig wäre von der Natur desjenigen Objekts auf welches eingewirkt wird, was ein handgreiflicher Widerspruch wäre. So sind also unsere menschlichen Vorstellungen, und so werden alle Vorstellungen eines intelligenten Wesens, welches wir uns denken können, Bilder der Objekte sein, deren Art wesentlich mit abhängt von der Natur des vorstellenden Bewußtseins und von deren Eigentümlichkeit mitbedingt ist.

    "Ich meine daher, daß es gar keinen möglichen Sinn haben kann, von einer anderen Wahrheit unserer Vorstellungen zu sprechen, als von einer  praktischen.  Unsere Vorstellungen von den Dingen können gar nichts anderes sein als Symbole, natürlich gegebene Zeichen für die Dinge, welche wir zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen. Wenn wir jene Symbole richtig lesen gelernt haben, so sind wir imstande mit ihrer Hilfe unsere Handlungen so einzurichten, daß dieselben den gewünschten Erfolg haben, d. h. daß die erwarteten neuen Sinnesempfindungen eintreten. Eine andere Vergleichung zwischen den Vorstellungen und den Dingen gibt es nicht nur in Wirklichkeit nicht - darüber sind sich alle Schulen einig - sondern eine andere Art der Vergleichung ist gar nicht denkbar und hat gar keinen Sinn. Das letztere ist der Punkt, auf den es ankommt, und den man einsehen muß, um aus dem Labyrinth widerstreitender Meinungen herauszukommen. Zu fragen, ob die Vorstellung, welche ich von einem Tisch, seiner Gestalt, Festigkeit, Farbe, Schwere usw. habe, an und für sich, abgesehen vom praktischen Gebrauch, den ich von dieser Vorstellung machen kann, wahr sei und mit dem wirklichen Ding übereinstimme, oder ob sie falsch sei und auf einer Täuschung beruht, hat gerade soviel Sinn als zu fragen, ob ein gewisser Ton rot, gelb oder blau ist. Vorstellung und Vorgestelltes sind offenbar zwei ganz verschiedenen Welten angehörig, welche ebensowenig eine Vergleichung untereinander zulassen als Farben und Töne oder als die Buchstaben eines Buches mit dem Klang des Wortes, welches sie bezeichnen."
Von dieser anderen Welt, welche der materiellen oder der Welt der sinnlichen Anschaung als eine transzendente oder metaphysische, nicht in den Formen von Raum, Zeit und Kausalität begriffene, gegenübersteht, können wir absolut nie etwas durch unseren Verstand erfahren, aber von ihrer Existenz können wir überzeugt sein, denn sie liegt ja eben der am Faden der Kausalität sich abwickelnden Welt der Vorstellung zugrunde.

Da die Dinge ansich vollkommen unzugänglich sind, so können wir auch nicht einmal ihren Einfluß auf das anschauende Subjekt welcher eben die Empfindungen zur Folge hat,  in seinem wahren Wesen  erkennen. Wohl aber können wir eine andere hierauf bezügliche Untersuchung in Angriff nehmen. In der anschaulichen Welt der Körper finden wir nämlich solche, welche für die Erscheinungsformen bewußter Subjekte zu nehmen wir allen Grund haben. Vor allen anderen gilt dies vom eigenen Leib sofern er ein räumlich angeschautes Objekt ist, sodann auch von den übrigen Organismen, welche mit dem eigenen Leib eine eine durchgreifende Ähnlichkeit zeigen. An diesen angeschauten Objekten können wir nun füglich nach denjenigen Vorgängen forschen, von denen wir berechtigt sind anzunehmen, daß ihnen im zugehörigen Subjekt das Entstehen von Empfindungen und Vorstellungen entspricht.

Mit dieser Untersuchung befinden wir uns ganz auf dem Boden, auf welchem die Hilfsmittel unseres Verstandes, Raum, Zeit, Kausalität anwendbar sind, denn hier ist nicht die Rede von dem zugrunde liegenden übersinnlichen Ding ansich, sondern lediglich von Erscheinungen und ihren gesetzlichen Beziehungen aufeinander - von einem organischen Leib nämlich und von den Körpern, welche darauf wirken.

Wir befinden uns, genauer gesprochen, mit der in Rede stehenden Untersuchung auf dem Boden der Wissenschaft, welche wir in diesen Stunden miteinander zu behandeln haben - auf dem Boden der  Physiologie

In der Tat, die Erforschung derjenigen materiellen Vorgänge, welchen vom subjektiven Standpunkt betrachtet das Entstehen der Empfindungen und Vorstellungen entspricht, ist die Aufgabe der Physiologie der Sinne, mit welcher ich diesmal unseren Kursus zu beginnen gedenke.
LITERATUR - Adolf Fick, Die Welt als Vorstellung [Vortrag gehalten zur Eröffnung des physiologischen Lehrkurses der Würzburger Hochschule im Sommersemester 1870] Würzburg 1870