W. StarkMHvon MohlH.-J. LieberH. Marcuse | |||
Kritische Theorie und metaphysischer Pessimismus [Zum Spätwerk Max Horkheimers] [3/3]
16. Schon im Schlußabschnitt der "Minima Moralia" entwirft ADORNO eine "Philosophie im Optativ", das denkbare Wunschbild von Erkennen, ohne seine Voraussetzungen zu verdrängen:
Das schließt eine qualitative Differenz ein: Reales Elend und die politisch-soziale Ohnmacht vieler Menschen machen den Wunsch verständlich, die zum Widerstand drängenden Triebkräfte mit absoluten Ordnungen zu legitimieren; aber die Hoffnung, daß diese Welt nicht das Ende aller Möglichkeiten sein soll, berechtigt noch nicht zu dem Schluß, daß eine andere Welt wirklich existiert. KANT hat den Zusammenhang gesehen, der zwischen dieser menschlichen Hoffnung und der Annahme einer transzendenten Ordnung besteht - aber er ist nicht frei davon, diese Hoffnung zur Rationalisierung von Triebverzicht zu benutzen, und er droht so in die eben erst für überwunden erklärte dogmatische Metaphysik zurückzufallen.
Metaphysik wird hier, neben dem Rekurs auf KANT, ähnlich wie die Religion bei MARX kritisiert. Die weitgehende Ineinssetzung von Religion, Theologie und Metaphysik ist nicht unproblematisch; so groß die formale und oft auch inhaltliche Verwandtschaft von Metaphysik und Theologie auch ist und war, so unterschiedlich, ja gegensätzlich, muß oft ihre historische Rolle eingeschätzt werden. Metaphysik war auch der Versuch, die Theologie philosophisch zu kritisieren und ihre objektiven Zwänge abzustreifen, ohne doch gänzlich das von ihr Gemeinte zu perhorreszieren [abzulehnen - wp]. Wenn der Materialismus dieser Zeit auch zugibt, daß er von der Erbschaft der religiösen und metaphysischen Tradition zehrt, so hat sich damit die Frage noch nicht erledigt, die besonders NIETZSCHE formuliert hat: noch im Anspruch auf Wahrheit, wie ihn die Wissenschaft enthält, steckt Moral, insofern man nicht Täuschung will.
17. Ihre frühe Hoffnung - der Aufsatz "Materialismus und Metaphysik" datiert von 1933 - hat sich der Kritischen Theorie schon bald, wie vorher dargelegt wurde, als problematisch erwiesen und schlug schließlich um in eine weitgehende Enttäuschung. Diese Änderung hat auch das Urteil über Religion und Metaphysik beeinflußt, nicht erst in den späten Schriften, der "Negativen Dialektik" und der "Kritik der instrumentellen Vernunft".FRIEDRICH NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, Werke in 3 Bänden, hg. von KARL SCHLECHTA, München 1955, Bd. II, Seite 208. Bereits der 1935 als "Nachbemerkung" in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichte "Gedanke zur Religion" sowie die 1936 erschienene Auseinandersetzung mit THEODOR HAECKERs "Der Christ und seine Geschichte" urteilen vorsichtiger. Es bleibt zunächst dabei: der Glaube, daß absolute Gerechtigkeit allem Elend, das es je gab und geben wird, seinen Ausgleich verschafft, ist illusorisch; das Streben nach einer Erneuerung der Religion, am frühen Christentum orientiert, kann sich nicht erfüllen, weil das religiöse Gewand der Anstrengungen für eine bessere Welt abgestreift wurde und diese Arbeit andere Formen und Ziele entwickelt hat. Aber das Bild vollendeter Gerechtigkeit läßt sich nicht einfach verscheuchen.
Wie der Positivität traditioneller Metaphysik widersprochen wird, so auch der Positivität heilsgeschichtlicher Theologie; wo immer im Christentum das Walten Gottes und der Glaube an ihn als Schöpfer so eine dogmatische Gestalt annehmen, daß die faktische Geschichte mit einem übernatürlichen Sinn ausgestattet wird, machen sie sich zum komplizen der stärkeren Bataillone und gleichen sich ihnen an. Theologie wird damit zur "Aftertheologie". Dieser Vorwurf trifft auch die damaligen Versuche THEODOR HAECKERs, neuerlich eine Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp] zu konstruieren. Bei aller Achtung vor den in der christlichen Tradition, wie sie HAECKER auslegt, enthaltenen Vorstellungen finden die Bedenken gegen die Restauration von Theologie eher eine Bestätigung: die vielfältige Auslegungsmöglichkeit der Offenbarung hat, trotz des neueren Bekenntnisses zum Humanismus, Recht und Gewalt gleichermaßen gerechtfertigt (78). Sosehr HAECKER selbst die idealistische Philosophie verwirft, so viel Ähnlichkeit mit ihr besitzt die von ihm genannte Theologie, indem aus ihren Thesen "jedes beliebige Verhältnis zur Gesellschaft" abgeleitet werden kann; bei aller Vernunft der theologischen Summen und allem Respekt vor den kulturellen und sozialen Leistungen der Kirche bleibt diese dem Evangelium insofern äußerlich, als sie etwa in Inquisition, in Verbindung mit Adel und Grundbesitz durchaus die Rationalität theologischen Denkens suspendierte [aufgehoben hat - wp]. Die christliche Kritik am Materialismus verkennt, wie sehr die materialistische Theorie die christlichen Motive aufgehoben statt vergessen hat. (79) Die Ablehnung der dogmatischen Formalstruktur der Theologie negiert die positiven Setzungen, um den Antagonismus von menschlichen Sehnsüchten und schlechter Wirklichkeit in eine dialektische Bewegung zu bringen. (80) Ebenso, wie der Wunsch nach ewigem Glück unerfüllbar ist, bleibt der Gedanke ungeheuerlich, daß die Gebete der Verfolgten und ihr verzweifeltes Vertrauen auf göttliche Gerechtigkeit unerfüllbar sind; die ewige Wahrheit ohne Gott ist sowenig denkbar wie unendliche Liebe; aus dem Entsetzen über diese Wahrheit folgt nicht schon die Berechtigung zum Glauben (81). Mit Recht kann dem Materialisten damit ein pessimistischer Zug nachgewiesen werden; aber trotz des Gefühls der endlosen Verlassenheit braucht er nicht in Wahnsinn zu verfallen; dieses Urteil ist psychologisch, es wird von HAECKER aus dem Seligkeitsegoismus der Religionen abgeleitet. (82) Im Gegensatz zu marxistischen Versionen, denen gemäß mit der Errichtung der humanen Gesellschaft auch aller Grund zur Schwermut hinfällig wird - was dem späten MARX selbst nicht mehr glaubhaft erscheint -, beschränkt sich die Hoffnung der materialistischen Philosophie auf eine grenzenlose Steigerung der "Solidarität alles Lebendigen", die auch Angesicht des Todes verändern würde, ohne jedoch deswegen den natürlichen Grund der verbleibenden Melancholie restlos beseitigen können (83). Eine weitergehende Hoffnung wäre Betrug am Menschen. Daß HAECKERs zwar einflußreiches, aber nicht unbedingt epochemachendes Buch die Aufmerksamkeit der Kritischen Theorie, deren Repräsentanten sich zu dieser Zeit (1937) bereits in der Emigration befanden, erregte, dürfte mit zwei Aspekten zusammenhängen: mit dem Anspruch auf Humanismus, den es zweifellos - wenngleich nicht ohne deutliche Widersprüche - enthält, und der damals in Deutschland selten öffentlich formulierten Verachtung der "zeitgemäßen Weltanschauung", die freilich den Materialismus miteinschließt; sodann hebt HAECKER, im Widerspruch zur anpassungsfreudigen Spiritualisierung der Theologie, deren objektiven Anspruch hervor; damit widerspricht er jedwedem Relativismus, dem die Menschen zu Objekten, die Politik zum Geschäft oder zum Gewaltkult und die Wahrheit zum Spiel augenzwinkender Doppelbödigkeit geworden sind. Dieses Interesse an Objektivität teilt die Kritische Theorie, ohne das Trügerische an HAECKERs Konzeption akzeptieren zu wollen. Die Zuspitzung der Schwierigkeit, dieses Interesse anderen und auch sich selbst plausibel zu machen - keineswegs nur in pädagogischer Absicht -, tritt in der "Dialektik der Aufklärung" immer mehr zutage. Nicht einmal - oder schon gerade nicht - die Skepsis zeigt einen Ausweg; ihr gilt Wahres und Falsches gleich wichtig, sie hat sich in der Resignation festgelegt und diese dogmatisiert. Die Kritische Theorie wendet sich immer mehr NIETZSCHE zu, den das Vexierbild von Wahrheit und Trug schier zur Selbstzerstörung getrieben hat.
Dennoch gibt es Affinitäten [verwandte Ähnlichkeiten - wp] zur negativen Theologie. Wie das Judentum den Namen Gottes und Hoffnung auf ihn einzig dadurch retten will, daß es ihn nicht beim Namen nennt und sich stets weigert, mit Zauberei und Götzen vorliebzunehmen, so erhält sich die Hoffnung auf Wahrheit und Erkenntnis
Nicht anders ergeht es der bestimmten Negation, wenn man ihrer utopischen Hoffnung zynisch zugesteht, daß sie gut für die Menschen ist - weil damit ihr Wahrheitsgehalt gleichgültig wird. Noch mit der Verzweiflung darüber aber lassen sich religiöse Geschäfte betreiben. Dazu gehört der Gestus des Besserwissens, die Rechthaberei, das "Freudengeheul", wie ADORNO empfindet, in welche Religion und Theologie nur allzugern verfallen wollen, wenn sie Verzweiflung bei den Nichtgläubigen erkennen, in der irrigen Annahme, solche Aporien bei anderen kämen einer Apologie des eigenen Dogmas gleich. "Nachgerade stimmen sie bei jeder Gottesleugnung ihr Te Deum [Großer Gott wir loben Dich! - wp] an, weil sie wenigstens Gottes Namen gebraucht." (89) Um der Versuchung zu widerstehen, dem Absoluten, wenn auch nur unfreiwillig, eine konkrete Gestalt zu geben, errichtet die Kritische Theorie einen cordon sanitaire [Seuchendamm - wp], ihr Bilderverbot. Scheu wie die jüdische Orthodoxie spricht sie vom "Anderen" zur Wirklichkeit, eine absolute Negation, die gleichwohl weder den positiven Glauben der dialektischen Theologie noch ihre Geringschätzung der Vernunft teilt; gerade geringgeschätzte Vernunft verselbständigt sich zum Instrument der Herrschaft des Nicht-Anderen. Die sprachliche Abriegelung gegen Vergegenständlichung stößt aber auf dasselbe Dilemma, aus dem sie ihre Notwendigkeit herleitet: noch im einfachen Streben nach Richtigkeit einer Aussage offenbart sich eine transzendentale Absicht auf Wahrheit. Das Bilderverbot trägt also kein Mehr an Erkenntnis ein, sondern verhindert lediglich deren Depravierung [Verschlechterung - wp]. Das macht freilich die Sprache zu mehr als einem Zeichensystem für Tatsachen. Soweit sie nicht instrumentalisiert wird, kann sie aufgrund der ihr innewohnenden Selbsttranszendenz ein Refugium [Zufluchtsort - wp] der Hoffnung bleiben, die sich über Wunsch und Sehnsucht freilich kaum hinauswagt. In diese Formen hat sich jene Wahrheit geflüchtet, die in Metaphysik und Theologie nur verdinglicht ausgesprochen wurde, die auch in Kunst, Liebe und nahezu anarchistischem Widerstand gegen psychische und soziale Repressionen zu Worte kommen. 18. Der Schwindel, der das selbstreflexive Denken in seiner nachaufklärerischen Epoche erfaßt, zwingt die Kritische Theorie zu dem Versuch, Metaphysik ohne Absolutes, Theologie ohne Dogma zu betreiben. Daß dies keine Rehabilitierung traditioneller Denkformen bedeutet, ergibt sich aus der beibehaltenen, ja gesteigerten früheren Kritik an Identität und Positivität. Rehabilitiert werden aber Gefühle wie Sehnsucht, Wunsch und Hoffnung. "Ca doit avoir un lendemain" [es muß morgen sein - wp], zitiert HORKHEIMER VICTOR HUGO (90), und postuliert wird auch, was anders als im Postulat nicht existiert: Sinn, Absolutes, Gott. Die Stelle des in Aufklärung und Wissenschaft abgesetzten Gottes ist leer geblieben, nichts Neues an seine Stelle getreten. Auch der im kollektiven Vatermord getötete Gott hat weder Autonomie noch Befreiung, noch ewiges Glück beschert. Die Menschheit ist nicht, wie FEUERBACH zumindest in seinen früheren Schriften glaubte, selbst zum Gott geworden; sie täuscht sich mit selbstgeschaffenen Ersatzgöttern über die Melancholie der Langeweile hinweg. Die Kritische Theorie will die geleerten Altäre nicht mit neuen Gottheiten füllen, sondern die Stelle freihalten, die mit der Vorstellung Gottes einst besetzt wurde; denn das sich anbahnende Reich der Zukunft wird, nach Meinung der Kritischen Theorie, weder messianische noch sozialistische Züge tragen, sondern sich als Reich der Notwendigkeit konstituieren, in dem der Gedanke an Freiheit durch allgegenwärtige, administrative, organisatorische und technische Sachzwänge seine einstige Berechtigung verliert. Die mühsam erreichte Balance der gesellschaftlichen Mängel und Kräfte, die nicht totalitär im traditionellen Sinne sein muß, wird durch Reklamation des alten, autonomen Freiheitsanspruchs gefährdet. Unter diesen Umständen kann die Funktion von Religion, Theologie und Metaphysik sich ändern, wie sich die Funktion anderer bürgerlicher Ideen wie Freiheit, Eigentum und Familie, ehemals primär Thema der Kritik, gewandelt hat, ohne daß deswegen die Einwände gegen ihre bürgerliche, ideologische und verdinglichte Gestalt hinfällig würden.
Daß sich diese Terminologie von Emigration und Flucht, um überleben zu können, auf die Verfinsterung des Denkens übertragen läßt, ist kein Zufall. HORKHEIMER, der von sich selbst sagt, das Dritte Reich sei ihm zu jeder wachen Stunde seines dem Faschismus entkommenen Lebens gegenwärtig, lebt mit dem Bewußtsein davon, daß die Gaskammern der Konzentrationslager eigentlich sein Schicksal gewesen wären. Diese, vom Gang der Geschichte gesehehen, illegitime Flucht, in der aber gegen alle Einsicht zugleich der Wille zum Überleben kräftig blieb, hat ihre allgemeinere Form in der Kritik der Depravierung von Vernunft und Aufklärung gefunden. Sowenig wie der Faschismus war dieser Prozeß ein bloßer Unfall, wenngleich er zumindest der frühen Kritischen Theorie nicht unabwendbar erschien. THEODOR W. ADORNO hat darüber hinaus in einem eher biographisch gehaltenen Bericht über zwiespältige Erfahrungen während der Emigration in den USA berichtet (92). Sowenig darin die deprimierenden Züge oder gar die unter Emigranten nicht seltene xenophobe Geringschätzung der "Neuen Welt" überwiegen, so deutlich bleibt doch, daß auch dieses Land trotz seiner vielen Möglichkeiten nicht jene realisiert, deren Liquidierung der Nationalsozialismus in Deutschland konsequent betrieb. Es gab offensichtlich kein Irgendwo, in welchem Geschichte und Fortschritt die in ihnen liegenden Vernunftpotenzen zu sich befreit hätten; das von Europa Verschiedene enthält durchaus konkrete Alternativen, die freilich in sich deutlich Tendenzen dessen aufweisen, was HORKHEIMER heute als neuen Totalitarismus der Verwaltung bezeichnet. 19. Es gibt einen Terror, der so grausam ist, daß nicht einmal die Negation des Negativen zur vernünftigen Positivität gerät. ADORNOs Bannfluch, daß nach Auschwitz kein Gedicht mehr geschrieben werden kann, wirkt - mag er auch inzwischen von ADORNO selbst ein wenig gemildert worden sein - nicht minder auf Philosophie und gilt schon gar analog für Metaphysik. Daß Kultur und Geist sich dennoch immer noch als Hypostase [Vergegenständlichung - wp] aufspreizen möchten, sagt mehr über ihre Blindheit, als Kritik es könnte.
Die Faschisten tobten nicht primär gegen "Geist" und "Kultur"; deren Heiligenschein konnten sie vergleichsweise schnell selbst zulegen; die Wut dieser instrumentellen Vernunft richtete sich vielmehr - in der kalten Leidenschaft präziser Organisation eher noch als im Sadismus der KZ-Aufseher - gegen das Leben selbst. In der Qual der Gefolterten sieht die Kritische Theorie die vollendete Konsequenz des gewalttätigen Denkens. Auschwitz hat den Widerspruch in der Aufklärung offenbart und das Mißlingen jener Kultur, die sich auf Identitätszwang, Instrumentalität des Denkens und das Tauschgesetz stützte, dokumentiert. Wenn danach noch von Metaphysik die Rede sein soll, dann deshalb, weil ihr Fiasko zugleich auf jene materiellen Implikationen verweist, denen sich Metaphysik verdankt. Daß Auschwitz sich nicht wiederholen darf, nennt ADORNO einen neuen kategorischen Imperativ, der ebensowenig diskursiv zu begründen ist wie der Imperativ KANTs. Er darf es auch nicht, weil analytisches Erkennen oder Logik dort keine Bedeutung mehr haben, wo sich die Unvernunft inkarniert hat und so leibhaftig wurde, daß sprachloses Entsetzen und Abscheu zur unabweisbaren Evidenz werden. Die Spiritualisierung der Metaphysik erfährt in dieser Kulmination ihre Aufhebung. Die unmittelbare, körperliche Gestalt des Leidens deckt die materialistische Intention als Dominante der Metaphysik auf: Die Unerträglichkeit von Gewalt, Unrecht, Qual und Tod.
Sosehr der Tod nicht einmal mehr als Erfahrungsbasis Metaphysik provoziert, so unerträglich bleibt gleichwohl die Konsequenz: die umfassende Totalität des Verschwindens ließe sich nicht einmal sprachlich fassen, wenn nicht der Wahrheit ein intangibles Moment anhaften würde. Das gilt auch oder gerade dann, wenn mit NIETZSCHE das Moment der Zeit in die Wahrheit, nicht umgekehrt wie im Historismus, einbezogen wird: die Vergänglichkeit der Wahrheit macht ihren absoluten Charakter aus. Der Widerspruch, daß Metaphysik zugleich überlebt ist und dennoch auf sie nicht verzichtet werden kann, wenn man nicht das Denken selbst abschaffen will, ist aber nicht selbst noch einmal ein metaphysisches Schicksal - denn so wäre er nur Teil einer Gesamtheit, in der die Verzweiflung dem Sünder als Reue zugute gehalten wird, um ihn dann der Versöhnung teilhaftig werden zu lassen. Die traditionelle Metaphysik basiert stets - auch wenn sie es selbst leugnet - auf konkreten Erfahrungen; eine solche bestand im Glück; HORKHEIMER wie ADORNO insistieren gemeinsam auf der Möglichkeit von Glückserfahrungen, so sosehr sie auch von Hinfälligkeit umgeben sein mögen.
Unter diesen Vorzeichen qualifiziert HORKHEIMER seinen Pessimismus als metaphysisch. Nicht nur, daß die ideologisch verschleierte Gesellschaft als empirische Welt den mundus intelligiblis totschweigt, indem sie Objektivität nur als ihr eigenes Produkt betrachtet und Wahrheit oder Sinn damit auf Erscheinung und Machen allein reduziert; auch die Aporien, die sich im Transzendentalen selbst auftun, bedrängen die Vernunft, indem das Bewußtsein noch in der Verzweiflung an seinem eigenen Denken nicht im Negativen aufgeht, ohne dessen Negation jedoch positiv fassen zu können. Die von HORKHEIMER konstatierte Unfähigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit gesellschaftlich gleichermaßen zu realisieren, konkretisiert die metaphysischen Aporien; damit wird wahrlich nicht angeraten, sich fatalistisch mit dem Gegenwärtigen oder Absehbaren abzufinden; nur fehlt jede ausweisbare Eindeutigkeit, anzugeben, wie geändert werden muß. Eine solche Eindeutigkeit setzte sich in Selbstbetrug über die Bedingungen hinweg, welche die Erfahrung eines Anderen tendenziell ausschließen. Ein Pessimismus, der sichere Sinnlosigkeit behauptet, wäre abstrakt und setzte selbst das Fehlen von Sinn absolut. Insofern SCHOPENHAUER dazu neigt, den bösen Willen zum Ding ansich zu ernennen, verfällt er in positive Metaphysik, soviel Indizien seiner These auch recht geben mögen; im Anti-Idealismus zeigt sich noch die idealistische Determination des Ganzen durch absoluten Sinn. Das Nirwana gar trägt noch Züge von Versöhnung - so mag selbst SCHOPENHAUER noch als Optimist dastehen. Nicht unähnlich gnostischen Motiven erscheint dem Pessimismus die Welt als so radikal böse, daß noch der entsetzte Schrei darüber der Integration in sie nicht entgeht; Pessimismus ist Stummheit, die in dieser grenzenlosen Verneinung noch und erst die Möglichkeit eines besseren Lebens ausdrücken will. Die totale Andersartigkeit dieser Möglichkeit im Vergleich zum Realen läßt sich nicht mehr in Kategorien fassen, die ganz dieser Wirklichkeit entsprechen; "beweisen" läßt sich hierbei gar nichts. Der Versuch, in Analogie zu den bekannten Gottesbeweise nun einen Beweis von Sinn in der Geschichte anzutreten, ist naiv und verkennt die Erkenntnisbedingungen - übrigens wie der positive Sinnlosigkeitsbeweis. Und doch bleit das Andere gebunden an die Erfahrungswelt: wie denn sollte sonst Vernunft nicht hinter die Aufklärung zurückfallen. Es war GEORG LUKACS, der eine solche Gestalt von Theorie als "Grand Hotel Abgrund" bezeichnete; freilich hat er schlecht spotten: seine Serie von Widerrufen und Aufhebung der Widerrufe läßt eine kaum geringere Ratlosigkeit durchscheinen (99). Selbst der Marxismus der frühen Kritischen Theorie hat sich nie zur Affirmation hinreißen lassen, ihr Kardinalfehler in den Augen marxistischer Orthodoxie. In der späten Theorie haben HORKHEIMER und ADORNO gleichermaßen nicht nur, wie erwähnt, die Desillusionierung der früheren Hoffnungen reflektiert, sondern diese Hoffnung selbst mitunter völlig verworfen. Die Utopie selbst noch, die Idee einer befreiten Menschheit, ist nicht jenes "id, quo maius cogitari non potest" [etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. - wp], für das sie gehalten wird. Selbst MARX hat in einer berühmten Stelle auf den Einbruch des Reichs der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit hingewiesen (100). Das Reich der Freiheit basiert auf bleibenden Notwendigkeiten. Beschränkt sich diese Selbstkritik des späten Marx noch auf die Unvermeidlichkeit eines Minimus an Arbeit und damit einer bleibenden Differenz von Humanismus und Naturalismus, so sieht HORKHEIMER die nivellierte Zukunftsgesellschaft als Antwort von Geschichte und Gesellschaft auf revolutionäre Intentionen an. Die Imperative der Vernunft: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Glück, scheinen sich nicht vereinen zu lassen; ihre pragmatische Realisierung führt zu einem faulen Kompromiß, der keinem der Imperative mehr gerecht wird; die diristische Monopolisierung der Vernunft in den Händen von Einheitsparteien und Staatsmacht ist so unsinnig wie die Quadratur des Kreises. Herrschaft und autonome Freiheit gehen nicht zusammen, vielmehr fällt eine solche Gesellschaft in totalitäre Strukturen zurück. Selbst die Utopie des erfüllten Lebens kann noch, allzu konkret definiert, den Mangel des Realen ins Mögliche verschleppen; Glück, das wie Profit akkumuliert und eine sichere Dauer gewähren soll, wird zur Gier, die den Genuß auch noch verdirbt. ADORNO assoziiert diese triebhafte Hoffnung mit dem Willen, "sich auszuleben", wie es im Jugendstil heißt; darin stehe ein
20. Metaphysik geht auf Theologie zurück, die Kritik an der Quantifizierung der Individuen in der totalen Verwaltung nicht weniger.
Aus den positiven Gehalten der Theologie macht die Metaphysik Möglichkeiten; was in in der Theologie Glaubenadick-glaube.htmlsgewißheit bedeutete, nimmt metaphysisch die Gestalt der Sehnsucht an. Man hat diese Verwandlung selbst noch mit dem Hinweis auf das jüdische Bilderverbot religiös motiviert. Daran ist richtig, daß "äußerste Treue zum Bilderverbot" besteht, "weit über das hinaus, was es einmal an Ort und Stelle meinte" (103). Angesichts der Weigerung, die Vergottung eines Seienden im Faschismus zu respektieren, erwähnt HORKHEIMER ebenfalls das Bilderverbot:
Dies allein freilich war weder der einzige Grund für die Judenverfolgung, noch beschränken sich die Pogrome gegen Befolger des Bilderverbots auf Juden. Mag dies immerhin ein der Religion entnommenes Motiv der Kritischen Theorie darstellen, so gibt es doch Unterschiede, die eine glatte Übereinstimmung mit der jüdischen Orthodoxie und Tradition verbieten. Daß Jahwe in der Geschichte seines Volkes sich zu erkennen gibt, trifft in nicht geahntem Ausmaß für die Konzentrationslager zu, indem er im Erbärmlichsten, in der Vernichtung des Schwächsten Wahrheit offenbart. Aber es kann dies keine Strafe mehr für Untaten seines auserwählten Volkes selber sein, Schuld und Strafe sind darin vielmehr universal geworden. Die Hoffnung auf den Messias, im Judentum konstitutiv für alle Deutung der Geschichte, ähnelt HORKHEIMER zu sehr dem philosophisch alles versöhnenden Absoluten, als daß er sie teilen könnte. Näher schon erscheint ihm das vor allem in den alttestamentlichen Weisheitsbüchern vorhandene Bewußtsein von der Eitelkeit des Lebens.
Darum lobte ich die Freude, daß der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne, denn essen und trinken, und fröhlich sein; und solches werde ihm von der Arbeit sein Leben lang, das ihm Gott gibt unter der Sonne. Ich gab mein Herz, zu wissen die Weisheit, und zu schauen die Mühe, die auf Erden geschieht, daß auch Einer weder Tag noch Nacht den Schlaf siehet mit seinen Augen. Und ich sah alle Werke Gottes. Denn ein Mensch kann das Werk nicht finden, das unter der Sonne geschieht; und je mehr der Mensch arbeitet zu suchen, je weniger er findet. Wenn er gleich spricht: Ich bin weise, und weiß es; so kann er es doch nicht finden." (105) Wenngleich die materialistische Metaphysik in die Nähe theologischer Gedanken kommt, gibt sie kein Jota von der Kritik am Christentum auf. Diese beruth auf philosophiegeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Einsichten. Die Offenbarung und ihre amtlichen Interpreten haben sehr wohl zwei Herren zu dienen vermocht. Mit Nicäa begann der Siegeszug des Christentums und seine Anpassung an Weltschlauheit; in Fanatismus und Inquisition zeigte sich, wie sehr diese Anpassung sich gegen den Stifter des Christentums selbst wandte. Die Theologie diente häufig als Instrument, Macht und Evangelium zu arrangieren. Doch dieser ebenso kompromittierenden wie kompromißlerischen Tätigkeit verdankt sich die christliche Zivilisation bis weit in die Neuzeit hinein: auch in der Dialektik von "Christentum und Christenheit" wiederholt sich der Widerspruch im Guten selbst. (106) Dem frühen Christentum war die Sehnsucht nach dem Himmel stärker als die Angst vor einem qualvollen Tod; demgegenüber blieb "das scheinbar unbedingt Bestehende ein Augenblick der falschen Niederlagen und Triumphe" (107). Der Mann am Galgen, das Zuchthaus und die Gaskammern stehen dem Christentum näher als das "Hauptquartier" - und dennoch waren auch die tyrannischen Feinde noch in die Liebe miteingschlossen. Die Ära der großen mittelalterlichen Kultur, deren theoretisches Substrat in der Einheit von Glauben und Vernunft oder zumindest in deren spannungsvollen Beziehungen bestand, umfaßte das ganze Universum. Noch das Unscheinbarste, "das Leben eines jeden, nicht bloß der Prominenten" (108), gewann einen Sinn, bis in untere Stufen der Natur. Freiheit und Gnade sollten sich nicht ausschließen; trotz göttlicher Allmacht war die Tätigkeit des Menschen nicht wertlos. Das Mittelalter ist durchaus nicht bloß finster. HORKHEIMER zögert nicht, das Moment an Einheit von Theorie und Praxis in der Hochscholastik mit dem Marxismus zu vergleichen, wenngleich die erstere auf die Erhaltung des Bestehenden, die andere auf seine Veränderung abzielt. Dennoch wurde die Harmonie dieser Ära mit einer Sublimierung ihrer Widersprüche erkauft. Madonnenkult und Minnedienst stehen nicht einfach nur im Gegensatz zum Hexenwahn. Die prätendierte, auch praktisch wirksame Einheit einer kulturellen Epoche betört durch den Anschein von Geschlossenheit: ein Indiz für Wahrheit liegt darin nicht schon begründet. In der Problematik des Gewissens, dem THOMAS von AQUIN als subjektive Instanz ausdrücklich eine letzte Verbindlichkeit zusprach, zeigt sich die latente Widersprüchlichkeit der mittelalterlichen Harmonie. Allzugern wurde, gegen THOMAS, das Gewissen dann als irrig bezeichnet, wenn es dem Konsens widersprach, auf den sich die mittelalterliche Welt verließ. Je öfter auf diesen Rechtstitel des Gewissens als letzter Instanz gegen die offiziellen Bindungen abgehoben wurde, desto hinfälliger mußte die Einheit werden: die Würde des Einzelnen und seine gottgegebene Freiheit divergierten zum gottwohlgefälligen ordo terrestris [weltlichen Ordnung - wp]. Die vielfachen historischen Veränderungen, durch die das Ende des Mittelalters herbeigeführt und seine Harmonie aufgelöst wurde, erreichten nicht mehr die frühere Kohärenz [Zusammenhang - wp] in und von Theorie und Praxis. Skepsis, Humanismus und Reformation schaffen kein neues universales System, wollen es auch nicht, wenn sie die Vernunft wie LUTHER als Weltklugheit, wie verschieden auch immer, perhorreszieren [ablehnen - wp]. Ihr Recht hat diese These in der Unmöglichkeit, Welt und Gott zu identifizieren; die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Wirren mit ihren katastrophalen Folgen entmutigen das heilsgeschichtliche Denken. Der Versuch, zwischen der Metaphysik und der Hure Vernunft die Hingabe an die Offenbarung als transzendentale Instanz einzuführen, befreite das weltliche Denken tendenzielle von seinen Pflichten gegenüber dem Absoluten; dessen Rolle nahmen Fürst, König, Nation und schließlich Gewinn und Handel ein. Gottes Wege werden immer unerforschlicher, gerade auch dann, wenn sich im irdischen Wohlergehen oder Unglück die göttliche Prädestination äußert. Die Entpflichtung des Glaubens von allgemeinen Vernunftkritierien versetzt das Subjekt in die Rolle, jeweils von Fall zu Fall den Willen Gottes zu definieren; er zeigte sich in wahrlich divergierenden Formen: Hexenverbrennung, Judenverfolgung und die Segnung von Waffen haben sich nicht minder auf das Gebot der totalen Nächstenliebe berufen können als Toleranz, Caritas und Friedensstiftung.
Das Identitätsprinzip, einmal zur Bändigung chaotischer Vielfalt eine zweckmäßige Hypothese, realisiert auch in der Religion seinen Zwangscharakter. Ihr Opfer ist der historische Jesus zuerst. Aus einem Leidensmann am Marterpfahl wird die Entäußerung des ipsum esse [sich selbst Gründendes - wp], worin eine Versöhnung über das Grab hinaus garantiert bleibt. Das leere Grab kann dann nur heißen: das Entsetzen trügt, die Leiden zählen nichts, gemessen an der Absolutheit des ewigen Lebens. Seine Wahrheit kann es aber für die Kritische Theorie nur haben, wenn es leer bleibt. Wie immer auch diese Unterträglichkeit in eine positive Auferstehung umgemünzt wurde - je später die Tradenten lebten, desto genauer wußten sie bezeichnenderweise über Einzelheiten zu berichten (110) -, es bliebt stets noch die Tendenz erkennbar, Programm und Leben des Gekreuzigten zu divinisieren und damit die Sterblichkeit und Schwäche des hingerichteten Jesus von Nazareth glorifizieren zu können. Das Hinfällige gerade als das Exemplarische zu begreifen schien unmöglich. Nicht von ungefähr aber befähigte die Divinisierung des historischen Jesus zu Dogmatismus, Gesetzlichkeit, Absolutheitsanspruch und schließlich zur Allianz von Kirche und Staat bzw. Macht. Im 19. Jahrhundert waren Neuthomismus und Positivismus "gegensätzliche Allheilmittel", die im Dogmatismus des Identitätsprinzips übereinkommen - ohne damit etwas ändern zu können; was geändert werden müßte, geht gerade auf diese Größe zurük. Positivismus und neuthomistische Theologie halten sich gegenseitig vor, was sie an sich selbst zu kurieren hätten (111). Wie die Wissenschaft sich auf ihre Funktion als Produktivkraft beschränkt, so wird Theologie und Metaphysik zur ancilla [Magd - wp] einer technokratischen Selbstrechtfertigung. Keine systematische Religionskritik der Aufklärung war so giftig wie die stillschweigende Aushöhlung jener Fundamente, auf die das Christentum setzte. Sie hat sich in der reformatorischen Befreiung der Weltvernunft vom absoluten Fluchtpunkt und im Beharren auf heilgeschichtlicher Positivität in der adaequatio rationis fidei et historiae [Einheit von Verstand, Glaube und Geschichte - wp] selbst um ihre Basis gebracht. Die Theologie und Religionsphilosophie, die in hechelnder Aktualitätshascherei den heutigen Veränderungen jeweils bloß nachzulaufen sucht, gibt die Option auf jenes Objektive preis, das sie, in welcher mythologischen Vermummung auch immer, in ihren Begriffen, Analogien und Parabeln retten könnte. Sowohl in den Liberalisierungsbestrebungen wie im Dogmatismus akzeptiert sie die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung, indem sie die unauflösbare Spannung von Glauben und Wissenschaft, Endlichem und Absolutem in einen Offenbarungspositivismus zerreißt, oder aber in einer Akkomodation [Anpassung - wp] an das Bestehende ein nützlicher Gehilfe wird, die Freizeit gestalten hilft, über Höheres erbaulich plaudert oder mit tiefsinniger Attitüde dem Leben einen Sinn beschert. Als großzügig toleriertes Denkmal einer ehrwürdigen, aber doch versteinerten Vergangenheit wird sie Teil der Kulturindustrie und partizipiert an deren Massenbetrug. Die Konsequenz, die PAUL TILLICH, auf den HORKHEIMER ausdrücklich und freundschaftlich verweist (112), zog, das Wort "Gott" durch den weniger fixierten Titel "Das, was uns unbedingt angeht" zu ersetzen und die erstarrten Lehraussagen der tradierten Theologie nicht mehr sensu proprio [im eigentlichen Sinn - wp], sondern symbolisch zu verstehen, ma so neu nicht sein; die Allegorese als hermeutisches Prinzip der Theologie hat eine ehrwürdige Geschichte; im Reich der Erscheinung läßt sich vom Absoluten nicht, es sei denn als von einem Anderen sprechen, und dieses nicht in den endlichen Kategorien einer präzisen Definition, sondern in Bildern, Vorstellungen, Sehnsucht und Hoffnung. Irrationalismus, in der Aufklärung das meist inkriminierte [zur Last gelegte - wp] Element der theologisch fundierten Wahrheit, behält sein Recht gegen die absolutistische Totalität des Rationalismus: Vernunft ohne Hoffnung ist Geist von jenem Geiste, der sich selbstgefällig nicht einmal von Auschwitz irritieren läßt. VOLTAIRE verschwendete nach dem vergleichsweise harmlosen Erdbeben von Lissabon (1755) keinen Gedanken mehr auf die LEIBNIZsche Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp]; die Konzentrationslager waren keine Naturkatastrophe mehr, sondern ein konsequent bis ans Ende vollzogener Instrumentalismus. Die von NIETZSCHE so gescholtene demütige Weltverachtung erscheint HORKHEIMER - und damit nimmt er Thesen SCHOPENHAUERs auf - wahrer als alle eifrige Mühe von Theologie und Moral, dem Zeitgeist gemäß zu formulieren. Aus diesem Anspruch folgt nahezu die Unmöglichkeit von Theologie und Metaphysik: sie können sich nicht mehr auf traditionelle Dogmen und Sicherheiten stützen, doch geben sie ihren Überschuß über die Rationalität bloßer Selbsterhaltung preis, wenn sie die objektiven Intentionen der traditionellen Lehre der Gegenwart opfern. Liberale Tendenzen, die gleichsam eine Horizontalisierung des Glaubens vornehmen, indem sie allein die intersubjektive Liebe als Anspruch des Evangeliums bezeichnen, verzichten zu schnell auf den Transzendenzanspruch; symbolische Interpretationen des Glaubens, konsequent betrieben, minimalisieren den objektiven Gehalt bis zum Verschwinden.
Die Seele als rein geistige und deswegen ewige Substanz läßt die materialistische Metaphysik unzufrieden, weil sie die konkreten Lebenshoffnungen, auf denen Metaphysik basiert, nicht aufnimmt. Das hat höchstens die Weigerung zur Folge, auf eine solche Ewigkeit des Lebens überhaupt einen Gedanken zu verschwenden; dann aber kann sich das endliche Subjekt nur selbst jenen göttlichen Charakter zusprechen, sofern es gleichwohl vom Gedanken an eine Transzendenz nicht lassen kann. Die Antinomie, in welche Theologie und Metaphysik somit geraten, besteht in der gleichzeitigen Notwendigkeit, daß Transzendentes vom Endlichen nicht völlig separiert werden kann, daß zugleich aber die Transzendenz durch Einbeziehung in Endliches selbst verendlicht wird. Der Widerspruch ist unerträglich und löst sich dennoch nicht in einem radikalien Nihilismus, dem die Welt nur als böse Nichtigkeit erscheint, auf; auch die nihilistische Verneinung sucht noch Transparenz, indem sie die Sinnlosigkeit als Sinnprinzip fixiert. Auf solchen Aporien läßt sich keine neue Religion errichten. Der Versuch, das Urchristentum zu restituieren, hat seine Dignität, weil er mit späteren Deformationenn bricht und die gegenwärtige metaphysische Auswegslosigkeit begriffen hat oder überschreiten will. Allein, nicht nur der archaisierende Charakter solcher Rückwendungen enthält Unwahrheit, sondern es treten auch die gegenwärtigen Ungereimtheiten erneut auf; beschränkt sich der Rekurs auf Spiritualität, dann verleugnet er die realen Momente der Verheißungen des Evangeliums, die Hoffnung auf ein gutes Leben, und löst sich selber in Ideologie auf; bezieht sich der Rekurs auf die weltimmanente Bedeutung der christlichen Religion, so gerät er in denselben Widerspruch: die Feindes- und Nächstenliebe entspringt keiner immanenten Vernunft, sie muß auf jene Transzendenz abheben, deren Positivität sie bei immanenter Selbstrechtfertigung aufgegeben hat. Beide Momente zusammenbringen heißt, aufs Neue in die metaphysischen Aporien zu geraten. Daß in beiden dennoch ein Objektives enthalten sein muß, weil anders nicht einmal die Kritik ihren Rechtsanspruch anmelden könnte, macht einen Überschuß aus. Dieser aber läßt sich nicht positiv fassen. Inwieweit er an Religion geknüpft ist, wenn Entmythologisierung und Säkularisierung sie auf die Probe gestellt haben, läßt sich gegenwärtig nicht sagen. Religion kann somit weder in dogmatischer Form bestehenbleiben noch schlechthin für sinnlos ausgegeben werden. Ihre moralischen Imperative haben zwar vielfache säkularisierte Formen angenommen.
Eine Prognose, daß dies in positive benennbarer Form möglich wird, läßt sich nicht stellen. Hoffnung selbst erscheint angesichts der metaphysischen Aporien noch verwegen, ja verboten. Das Bilderverbot enthält - nach ADORNOs pointierter Zuspitzung - noch in der Negation zu viel Positives. Blasphemie ist Frömmigkeit und Atheismus die wahre Form des Glaubens an Gott, solange Wahrheit nur dort noch ganze Wahrheit sein kann, wo sie sich selbst widerspricht. Wenn dies metaphysischer Pessimismus ist, dann kann er diese sich selbst verzehrende Wahrheit (115) nur in der völligen Hingabe ans Endliche, in einer Identifizierung mit dem Hinfälligen und Vergänglichen einlösen. Die Destruktion dessen, was ist, ist wahrer als dessen Fortdauern. Nicht anders legitimiert sich die Solidarität mit dem Kleinsten, Schwächsten und Verachtetsten, dem gänzlich Nichtidentischen. Mikrologie "ist der Ort der Metaphysik als Zuflucht vor der Totale." (116) Religion findet darin eher noch ihre Rechtfertigung als Verwerfung. Die Verstrickung in den gemeinsamen Unheilszusammenhang, als welcher sich die Erscheinungswelt darbietet, verweist, in theologischer Diktion, die Sünder auf ihre Solidarität dem Vergänglichen gegenüber, das sie selber auch sind:
70) ADORNO, Minima Moralia, a. a. O., Seite 333 71) Minima Moralia, Seite 334 72) Vgl. HORKHEIMER, Materialismus und Metaphysik, in "Kritische Theorie", Bd. I, a. a. O., Seite 31-66; Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, in KTh I, Seite 118-174; Zu Bergsons Metaphysik der Zeit, in KTh I, Seite 175-199; Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in KTh II, Seite 82-136. 73) HORKHEIMER, Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in KTh II, Seite 135 74) HORKHEIMER, Materialismus und Metaphysik, in KTh I, Seite 44f. 75) FRIEDRICH NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, Werke in 3 Bänden, hg. von KARL SCHLECHTA, München 1955, Bd. II, Seite 208. 76) HORKHEIMER, Gedanke zur Religion, in KTh I, Seite 376 77) Vgl. Religion und Philosophie, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 233f 78) Zu THEODOR HAECKERs "Der Christ und die Geschichte", a. a. O., Seite 367 79) a. a. O., Seite 371 80) a. a. O., Seite 371f 81) a. a. O., Seite 372 82) a. a. O., Seite 373 83) a. a. O. 84) Dialektik der Aufklärung, Seite 122 85) ebd. Seite 123 86) Dialektik der Aufklärung, Seite 29 87) a. a. O., Seite 30 88) ADORNO, Wozu noch Philosophie, in: "Eingriffe", Ffm 1963, Seite 28 89) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 363 90) HORKHEIMER, Kants Philosophie und die Aufklärung, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 212 91) HORKHEIMER, Theismus - Atheismus, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 228 92) ADORNO, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in "Stichworte. Kritische Modelle", Bd. 2, Ffm 1969, Seite 113-146 93) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 357 94) Vgl. JEAN AMERY, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1966. Es sei aber nicht verschwiegen, daß es dennoch Einzelne gab, denen der Schrecken des KZ nur die Wahrheit der eigenen Weltanschauung bestätigte. 95) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 356 96) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 365 97) In diesem Punkt bestehen entscheidende Differenzen zwischen der Kritischen Theorie und Ernst Blochs Philosophie; lediglich in früh aufgegebenen Versuchen BENJAMINs, auf solchen Negationen eine systematische Philosophie zu errichten, dürfte es hierin Übereinstimmungen gegeben haben. 98) Negative Dialektik, Seite 370 99) Siehe jetzt GEORG LUKACS, Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied 1970; im vierzigseitigen Vorwort zur Neuauflage läßt sich der Widerruf eines Widerrufs verfolgen. Ungeachtet auch scharfer Kritik an LUKACs (vgl. ADORNO, Erpreßte Versöhnung, in "Noten zur Literatur", Bd. II, Ffm 1961, Seite 152-186; - LUKACS heißt hier u. a. "approbierter Dialektiker" -) hat sich auch die Kritische Theorie dem Einfluß von "Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) nicht völlig entziehen können. 100) KARL MARX, Das Kapital, Bd. III, Berlin 1953, Seite 873f. 101) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 369 102) HORKHEIMER, Bedrohungen der Freiheit, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 352 103) ADORNO, Vernunft und Ordnung, a. a. O., Seite 28 104) HORKHEIMER, Die Juden und Europa, in Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VIII, 1939, Heft 1/2, Seite 136. 105) Buch Kohelet (Prediger), Kapitel 8, 14-17, zitiert nach der LUTHER-Übersetzung, Ausgabe Ffm 1864. Vgl. zum Thema z. B. MARTIN HENGEL, Judentum und Hellenismus, Tübingen 1969. 106) Vgl. HORKHEIMER, Theismus - Atheismus, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 218. 107) a. a. O., Seite 217 108) a. a. O., Seite 219 109) a. a. O., Seite 220 110) Die gegenwärtige Diskussion der Auferstehungsproblematik in Exegese und Hermeneutik ist unüberschaubar geworden. Gerade, wenn wenigstens die Einheit von Kreuz und Auferstehung gerettet werden soll, wäre von der Kritischen Theorie zu fragen, ob nicht das Kreuz so lange selbst die Auferstehung in sich verbirgt, bis die Menschheit selbst auferstanden ist. 111) Vgl. HORKHEIMER, Gegensätzliche Allheilmittel, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 15-62. 112) vgl. HORKHEIMER, Religion und Philosophie, a. a. O., Seite 229f. 113) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 390 114) HORKHEIMER, Religion und Philosophie, a. a. O., Seite 229 115) Vgl. ADORNO, Negative Dialektik, Seite 392. ADORNO treibt hier vielleicht die negative Dialektik auf ihre Spitze: "(Forschreitende Entmythologisierung) frißt sich auf wie die mythischen Götter mit Vorliebe ihre Kinder ...". 116) a. a. O. Seite 397 117) HORKHEIMER, Religion und Philosophie, a. a. O., Seite 235 118) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 394 119) Nur als Hinweis sei angemerkt, daß ALBERT CAMUS aus der Erfahrung der Absurdität ebenfalls keineswegs zu einem bloß resignativen Ergebnis für die Praxis kommt. Hierin bestehen gewisse Ähnlichkeiten mit der späten Kritischen Theorie, wenngleich beide sehr verschiedene Voraussetzungen haben. CAMUS verteidigt beispielsweise den Pessimismus gegen den pauschalen Vorwurf, er sei mutloses Denken (CAMUS, Fragen der Zeit, Hamburg 1960, Seite 62f). "Wahrheiten in einer Dimension, die metaphysisch genannt zu werden pflegt, kann der Mensch nicht erkennen, und eben darin besteht die Absurdität" (H. R. SCHLETTE, Camus heute, in: Aporie und Glaube, München 1970, Seite 85f). In einer solchen Einsicht wie im Entsetzen über Böses und Leiden, das sich gegen Harmonisierung (mit Ausnahme vielleicht in der Natur, für die CAMUS eine Sensibilität entwickelt, die der deutschen romantischen Tradition jedoch keineswegs verwandt ist) sträubt, gibt es Querverbindungen zur Kritischen Theorie, die noch genauer untersucht werden müßte. 120) In der Kategorie "memoria" erkennt J. B. METZ für die Theologie eine Potenz, die innertheologisch wie politisch-sozial gleichermaßen Kritik ermöglicht. Vgl. dazu neuerlich: Kirchliche Autorität im Anspruch der Freiheitsgeschichte, in: METZ/MOLTMANN/OELMÜLLER, Kirche im Prozeß der Aufklärung, München 1970, Seite 53-90. METZ warnt zugleich vor "Sektenmentalität"; die Möglichkeit, durch bloße Tradition von Riten und Kult religiöse Tradition zu erhalten, scheint nicht sehr aussichtsreich. Auch der Rat, den PAUL CLAUDEL ANDRÉ GIDE erteilt, sich einfach der Praxis des kirchlichen Lebens anzuvertrauen, der Glaube käme quasi von selbst hinzu, kann nicht hinreichend überzeugen. 121) Vgl. W. OELMÜLLER, Die unbefriedigte Aufklärung, Ffm 1969. |