ra-1ra-3 W. StarkMHvon MohlH.-J. LieberH. Marcuse    
 
WERNER POST
Kritische Theorie und
metaphysischer Pessimismus

[Zum Spätwerk Max Horkheimers]
[3/3]

"Die Imperative der Vernunft: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Glück, scheinen sich nicht vereinen zu lassen; ihre pragmatische Realisierung führt zu einem faulen Kompromiß, der keinem der Imperative mehr gerecht wird; die diristische Monopolisierung der Vernunft in den Händen von Einheitsparteien und Staatsmacht ist so unsinnig wie die Quadratur des Kreises. Herrschaft und autonome Freiheit gehen nicht zusammen, vielmehr fällt eine solche Gesellschaft in totalitäre Strukturen zurück."

"Wenngleich die materialistische Metaphysik in die Nähe theologischer Gedanken kommt, gibt sie kein Jota von der Kritik am Christentum auf. Diese beruth auf philosophiegeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Einsichten. Die Offenbarung und ihre amtlichen Interpreten haben sehr wohl zwei Herren zu dienen vermocht. Mit dem Konzil von Nicäa begann der Siegeszug des Christentums und seine Anpassung an Weltschlauheit; in Fanatismus und Inquisition zeigte sich, wie sehr diese Anpassung sich gegen den Stifter des Christentums selbst wandte. Die Theologie diente häufig als Instrument, Macht und Evangelium zu arrangieren."

16. Schon im Schlußabschnitt der "Minima Moralia" entwirft ADORNO eine "Philosophie im Optativ", das denkbare Wunschbild von Erkennen, ohne seine Voraussetzungen zu verdrängen:
    "Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, die Dinge so zu betrachten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus darstellen. Erkenntnis hat kein Licht als das, welches von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik." (70)
Das Optative dieser Vision, die im Vergleich zum Spätwerk HORKHEIMERs noch relativ optimistisch aussieht, zeigt sich schon in der Sprache, wenn sie sich nicht scheut, der religiösen Tradition entnommene Begriffe wie  Verzweiflung  und  Erlösung  heranzuziehen. Die Ambivalenz eines solchen Rückgriffs besteht in der Gleichzeitigkeit von Evidenz und Unmöglichkeit. Der Zustand vollendeter Negativität "ruft nach solcher Erkenntnis" und "schießt zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammen"; diesem Allereinfachsten steht gegenüber, daß jede mögliche Erkenntnis "einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein winziges, entrückt ist"; was aber wiederum unvollziehbar ist, weil sich die im Gegenwärtigen befangene Erkenntnis ebenso wie dessen Widerspruch vom Makel jener Deformation, auf die sie sich beziehen, nicht befreien können.
    "Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet, um des Unbedingten willen, umso bewußtloser und damit verhängnisvoller fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen." (71)
Abdichtung gegen die Welt hat die klassische Metaphysik betrieben; darin liegt, dialektisch betrachtet, ihre Gemeinsamkeit mit dem Szientismus: beide befestigen das Bestehende, weil sie geschichtslos denken und gerade dadurch dem Bedingten verfallen. Nicht zufällig haben sich so, wie in der Kritischen Theorie konstatiert wird, Wissenschaft und Metaphysik in einer unfreiwilligen Arbeitsteilung gegenseitig in die Hände gearbeitet, ohne dabei eine Gelegenheit zu versäumen, sich abwechselnd die Existenzberechtigung zu bestreiten. Vor allem unter dem Gesichtspunkt dieser unheiligen Allianz setzt sich die frühe Kritische Theorie mit der Metaphysik auseinander (72). Dabei stimmt sie mit der positivistischen Kritik in den dreißiger Jahren darin überein, daß der metaphysische Goldgrund verblaßt ist, weil der Versuch, Offenbarung und Religion unter Rückgriff auf griechisches Denken durch Vernunftwissen zu ersetzen, grundsätzlich schon seit Beginn der Neuzeit überholt ist, wenn es auch gleichwohl noch viele Restaurationsversuche der Metaphysik gegeben hat, ja der Beginn der Wissenschaft noch durch metaphysische Theorien abgesichert wurde. Die Verabsolutierung des Szientismus heute nimmt aber ebenfalls den Charakter von Metaphysik an. Wenn es im 17. Jahrhundert fortschrittlich war, mit Hilfe des wissenschaftlichen Denkens gegen Theologie und Metaphysik zu argumentieren und die Philosophie sich zur Verteidigung der Wissenschaft gegen Religion, Kirche und Herrschaft berufen mußte, so muß sie heute nicht unbedingt noch immer denselben Auftrag haben; die positivistische Kritik der theologischen Metaphysik rennt heute nicht nur offene Türen ein, sondern verdeckt zugleich mit der Unterteilung des Erkennens in Wissenschaft und Metaphysik - wobei diese als ausgemachter Irrationalismus gilt - die entscheidende Verschiebung der Fronten: daß die Kritik der sich nicht selbst reflektierenden Wissenschaft keineswegs mit einem metaphysischen Dogmatismus gleichzusetzen ist. Sosehr etwa empirische Methoden schon durch ihre rationale Strenge der menschlichen Entwicklung zugute kommen können, "so gibt es andererseits metaphysische Schriften, in denen mehr Einsicht in die Realität enthalten ist, als in den Werken der den Bedürfnissen der Gegenwart angepaßten Fachwissenschaft". (73) Der Materialismus, selbst wie ihn der frühe HORKHEIMER versteht, hat ein ambivalentes Verhältnis zur Metaphysik. Er besteht auf der Verbindung von Wissenschaft und Philosophie, was nicht Hörigkeit bedeutet, und teilt somit die modernen erkenntnistheoretischen Einwände gegen die Metaphysik; aus diesem Grund auch wehrt er sich gegen jeden Versuch, den Materialismus selbst zu einer solchen Metaphysik zu machen, wie historisch in bestimmten Formen des Sensualismus oder des Physikalismus und gegenwärtig im Diamat [dialektischer Materialismus - wp] beispielsweise. Dennoch verdankt auch die materialistische Dialektik viele ihrer Einsichten idealistischen und metaphysischen Systemen, die aber ihre Bedeutung mit ihrer Modell- und Hypothesen-Funktion erschöpfen. Der grundsätzliche Unterschied gegenüber dem metaphysischen Denken besteht darin, daß der Materialismus dessen Anspruch auf das Totalitätswissen nicht anerkennen kann. In der Erkenntnis a priori kann nichts anderes an den Objekten erkannt werden als das, was die subjektive Vernunft konstituiert hat; nach dieser Kritik KANTs kann die traditionelle Metaphysik nur naiv bleiben. Die Behauptung, Unendliches erkennen zu können, müßte die Unendlichkeit des Wissens voraussetzen; da aber, gerade im materialistischen Verstand, Wissen stets unabgeschlossen ist, bleibt die These von absoluter Wahrheit, Ordnung und moralischer Norm unhaltbar; sie wird Ideologie, wenn sie eine Identität von Subjekt und Objekt behauptet, die aus der Verabsolutierung der subjektiven Vernunft herrührt; die materialistische Konzeption der unaufhebbaren Spannung von Begriff und Wirklichkeit berücksichtigt den Anteil und die Bedingungen des Subjekts bei der Begriffsbildung. Die Notwendigkeit, für die Begründung des sozialen und politischen Handelns auf oft sehr divergierende Formen der Metaphysik zurückzugreifen, wird mit dem Materialismus hinfällig, weil die Begründung für das bessere Leben durch die unglaubwürdig gewordene Metaphysik weder mehr möglich noch nötig ist. Die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft werden statt dessen von jenen, denen sie vorenthalten geblieben sind, mit den realen Verhältnissen konfrontiert; die vermeintlichen ewigen Wahrheiten offenbaren dadurch ihre gesellschaftlichen Klasseninteressen; der Kampf umd die bessere Ordnung löst sich von der metaphysischen Begründung. Umgekehrt aber zeigt die Auflockerung des strengen Klassenantagonismus, an dem im orthodoxen Marxismus festgehalten wird, daß die spezifischen Merkmale der Klasse selbst nicht mehr allein der sozialen Stellung vindiziert werden können, sondern der Klassenbegriff sich durch so negativ metaphysische Begriffe wie Gewalt, Leiden, Unglück, Unfreiheit, sinnloses Leben konstituiert. Im gleichen Maß, wie der Materialismus die alte Metaphysik überholt, übernimmt er im materialistischen Begriff des Klasseninteresses ihre wesentlichen Momente. Metaphysik wird nicht liquidiert, sondern soll aufgehoben werden.

Das schließt eine qualitative Differenz ein: Reales Elend und die politisch-soziale Ohnmacht vieler Menschen machen den Wunsch verständlich, die zum Widerstand drängenden Triebkräfte mit absoluten Ordnungen zu legitimieren; aber die Hoffnung, daß diese Welt nicht das Ende aller Möglichkeiten sein soll, berechtigt noch nicht zu dem Schluß, daß eine andere Welt wirklich existiert. KANT hat den Zusammenhang gesehen, der zwischen dieser menschlichen Hoffnung und der Annahme einer transzendenten Ordnung besteht - aber er ist nicht frei davon, diese Hoffnung zur Rationalisierung von Triebverzicht zu benutzen, und er droht so in die eben erst für überwunden erklärte dogmatische Metaphysik zurückzufallen.
    "Wenn aus dem Glücksverlangen, das vom wirklichen Leben bis zum Tod enttäuscht wurde, zuletzt bloß die Hoffnung hervorgeht, so konnte die Veränderung der das Unglück bedingenden Verhältnisse zum Ziel des materialistischen Denkens werden." (74)
Ein metaphysisches Erbteil behält der Materialismus weiterhin in Gestalt der Trauer. Das vergangene Unrecht ist nicht wiedergutzumachen. Die Leiden der verflossenen Geschlechter finden keinen Ausgleich. Damit wehrt er sich gegen einen falschen, ontologisch, metaphysisch oder religiös motivierten Trost in Bezug auf Verhältnisse, die irreparabel bleiben müssen; materialistischer Optimismus trotz solcher Einschränkungen bezieht sich einzig auf Bereiche, die einer Veränderung noch offenstehen, und auf ein Glück, das sich seiner Vergänglichkeit bewußt bleibt. Metaphysisch-idealistische Positionen zeichnen sich durch gegenteilige Thesen aus: sie vermindern das Entsetzen über vergangenen Schrecken durch den Hinweis auf höhere oder wesentlichere Wirklichkeiten, sie verabsolutieren schließlich Erfahrungen und verhalten sich hinsichtlich künftiger Veränderungsmöglichkeiten pessimistisch.

Metaphysik wird hier, neben dem Rekurs auf KANT, ähnlich wie die Religion bei MARX kritisiert. Die weitgehende Ineinssetzung von Religion, Theologie und Metaphysik ist nicht unproblematisch; so groß die formale und oft auch inhaltliche Verwandtschaft von Metaphysik und Theologie auch ist und war, so unterschiedlich, ja gegensätzlich, muß oft ihre historische Rolle eingeschätzt werden. Metaphysik war auch der Versuch, die Theologie philosophisch zu kritisieren und ihre objektiven Zwänge abzustreifen, ohne doch gänzlich das von ihr Gemeinte zu perhorreszieren [abzulehnen - wp]. Wenn der Materialismus dieser Zeit auch zugibt, daß er von der Erbschaft der religiösen und metaphysischen Tradition zehrt, so hat sich damit die Frage noch nicht erledigt, die besonders NIETZSCHE formuliert hat: noch im Anspruch auf Wahrheit, wie ihn die Wissenschaft enthält, steckt Moral, insofern man nicht Täuschung will.
    "Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinauswill, nämlich daß es immer noch ein  metaphysischer  Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht - daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch  unser  Feuer noch von dem Brand nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christenglaube, der auch der Glaube  Platos  war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist ... Aber wie, wenn gerade dies immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge - wenn Gott selbst sich als unsere längste Lüge erweist?" (75)
Ähnlichen Überlegungen hat sich die Kritische Theorie in ihrer weiteren Entwicklung nicht entziehen können. Wer die Metaphysik unter Berufung auf Wissenschaft kritisieren will, destruiert damit noch seine eigene Rechtfertigung.

17. Ihre frühe Hoffnung - der Aufsatz "Materialismus und Metaphysik" datiert von 1933 - hat sich der Kritischen Theorie schon bald, wie vorher dargelegt wurde, als problematisch erwiesen und schlug schließlich um in eine weitgehende Enttäuschung. Diese Änderung hat auch das Urteil über Religion und Metaphysik beeinflußt, nicht erst in den späten Schriften, der "Negativen Dialektik" und der "Kritik der instrumentellen Vernunft".FRIEDRICH NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, Werke in 3 Bänden, hg. von KARL SCHLECHTA, München 1955, Bd. II, Seite 208.

Bereits der 1935 als "Nachbemerkung" in der  Zeitschrift für Sozialforschung  veröffentlichte "Gedanke zur Religion" sowie die 1936 erschienene Auseinandersetzung mit THEODOR HAECKERs "Der Christ und seine Geschichte" urteilen vorsichtiger. Es bleibt zunächst dabei: der Glaube, daß absolute Gerechtigkeit allem Elend, das es je gab und geben wird, seinen Ausgleich verschafft, ist illusorisch; das Streben nach einer Erneuerung der Religion, am frühen Christentum orientiert, kann sich nicht erfüllen, weil das religiöse Gewand der Anstrengungen für eine bessere Welt abgestreift wurde und diese Arbeit andere Formen und Ziele entwickelt hat. Aber das Bild vollendeter Gerechtigkeit läßt sich nicht einfach verscheuchen.
    "Die Menschheit verliert auf ihrem Weg die Religion, aber dieser Verlust geht nicht spurlos an ihr vorüber. ... In einer wirklich freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewußtsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit der Menschen erhalten und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus." (76)
Das Maßlose der überholten Jllusioni hat seine dialektische Wahrheit im Bewußtsein der radikalen Endlichkeit. Umgekehrt müßte es dann heißen: Je ernster das Denken die Vergänglichkeit möglichen Glücks nimmt, desto eher kann, via negationis, der Gedanke an jenes Unendliche, dessen illusionäre Repräsentanz in Metaphysik und Religion besteht, in Erinnerung bleiben. In der Tat formuliert HORKHEIMER später eine solche Umkehrung, wenn er SCHOPENHAUERs Philosophie als Versuch, den christlichen Glauben durch diesem widersprechende Theoreme zu retten, beschreibt. (77)

Wie der Positivität traditioneller Metaphysik widersprochen wird, so auch der Positivität heilsgeschichtlicher Theologie; wo immer im Christentum das Walten Gottes und der Glaube an ihn als Schöpfer so eine dogmatische Gestalt annehmen, daß die faktische Geschichte mit einem übernatürlichen Sinn ausgestattet wird, machen sie sich zum komplizen der stärkeren Bataillone und gleichen sich ihnen an. Theologie wird damit zur "Aftertheologie". Dieser Vorwurf trifft auch die damaligen Versuche THEODOR HAECKERs, neuerlich eine Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp] zu konstruieren. Bei aller Achtung vor den in der christlichen Tradition, wie sie HAECKER auslegt, enthaltenen Vorstellungen finden die Bedenken gegen die Restauration von Theologie eher eine Bestätigung: die vielfältige Auslegungsmöglichkeit der Offenbarung hat, trotz des neueren Bekenntnisses zum Humanismus, Recht und Gewalt gleichermaßen gerechtfertigt (78). Sosehr HAECKER selbst die idealistische Philosophie verwirft, so viel Ähnlichkeit mit ihr besitzt die von ihm genannte Theologie, indem aus ihren Thesen "jedes beliebige Verhältnis zur Gesellschaft" abgeleitet werden kann; bei aller Vernunft der theologischen Summen und allem Respekt vor den kulturellen und sozialen Leistungen der Kirche bleibt diese dem Evangelium insofern äußerlich, als sie etwa in Inquisition, in Verbindung mit Adel und Grundbesitz durchaus die Rationalität theologischen Denkens suspendierte [aufgehoben hat - wp].

Die christliche Kritik am Materialismus verkennt, wie sehr die materialistische Theorie die christlichen Motive aufgehoben statt vergessen hat. (79) Die Ablehnung der dogmatischen Formalstruktur der Theologie negiert die positiven Setzungen, um den Antagonismus von menschlichen Sehnsüchten und schlechter Wirklichkeit in eine dialektische Bewegung zu bringen. (80) Ebenso, wie der Wunsch nach ewigem Glück unerfüllbar ist, bleibt der Gedanke ungeheuerlich, daß die Gebete der Verfolgten und ihr verzweifeltes Vertrauen auf göttliche Gerechtigkeit unerfüllbar sind; die ewige Wahrheit ohne Gott ist sowenig denkbar wie unendliche Liebe; aus dem Entsetzen über diese Wahrheit folgt nicht schon die Berechtigung zum Glauben (81). Mit Recht kann dem Materialisten damit ein pessimistischer Zug nachgewiesen werden; aber trotz des Gefühls der endlosen Verlassenheit braucht er nicht in Wahnsinn zu verfallen; dieses Urteil ist psychologisch, es wird von HAECKER aus dem Seligkeitsegoismus der Religionen abgeleitet. (82) Im Gegensatz zu marxistischen Versionen, denen gemäß mit der Errichtung der humanen Gesellschaft auch aller Grund zur Schwermut hinfällig wird - was dem späten MARX selbst nicht mehr glaubhaft erscheint -, beschränkt sich die Hoffnung der materialistischen Philosophie auf eine grenzenlose Steigerung der "Solidarität alles Lebendigen", die auch Angesicht des Todes verändern würde, ohne jedoch deswegen den natürlichen Grund der verbleibenden Melancholie restlos beseitigen können (83). Eine weitergehende Hoffnung wäre Betrug am Menschen.

Daß HAECKERs zwar einflußreiches, aber nicht unbedingt epochemachendes Buch die Aufmerksamkeit der Kritischen Theorie, deren Repräsentanten sich zu dieser Zeit (1937) bereits in der Emigration befanden, erregte, dürfte mit zwei Aspekten zusammenhängen: mit dem Anspruch auf Humanismus, den es zweifellos - wenngleich nicht ohne deutliche Widersprüche - enthält, und der damals in Deutschland selten öffentlich formulierten Verachtung der "zeitgemäßen Weltanschauung", die freilich den Materialismus miteinschließt; sodann hebt HAECKER, im Widerspruch zur anpassungsfreudigen Spiritualisierung der Theologie, deren objektiven Anspruch hervor; damit widerspricht er jedwedem Relativismus, dem die Menschen zu Objekten, die Politik zum Geschäft oder zum Gewaltkult und die Wahrheit zum Spiel augenzwinkender Doppelbödigkeit geworden sind.

Dieses Interesse an Objektivität teilt die Kritische Theorie, ohne das Trügerische an HAECKERs Konzeption akzeptieren zu wollen. Die Zuspitzung der Schwierigkeit, dieses Interesse anderen und auch sich selbst plausibel zu machen - keineswegs nur in pädagogischer Absicht -, tritt in der "Dialektik der Aufklärung" immer mehr zutage. Nicht einmal - oder schon gerade nicht - die Skepsis zeigt einen Ausweg; ihr gilt Wahres und Falsches gleich wichtig, sie hat sich in der Resignation festgelegt und diese dogmatisiert. Die Kritische Theorie wendet sich immer mehr NIETZSCHE zu, den das Vexierbild von Wahrheit und Trug schier zur Selbstzerstörung getrieben hat.
    "Er will Gott durch den Übermenschen ersetzen, weil der Monotheismus, vollends seine gebrochene, christliche Form, als Mythologie durchschaubar geworden ist. Wie aber im Dienste dieses höheren Selbst die alten asketischen Ideale als die Selbstüberwindung  zur Ausbildung der herrschenden Kraft von  Nietzsche gepriesen werden, so erweist sich das höhere Selbst als verzweifelter Versuch zur Rettung Gottes, der gestorben ist; als die Erneuerung von  Kants Unternehmen, das göttliche Gesetz in Autonomie zu transformieren, um die europäische Zivilisation zu retten." (84)
Mündigkeit und Wille des Übermenschen beanspruchen jeweils Autonomie, unbedingte Freiheit von äußeren Mächten; nur dies verdient den Namen  Aufklärung  nach beider Auffassung. Aber die Selbstgesetzgebung ist nicht nur kaum weniger despotisch als das alte göttliche Gesetz oder das metaphysisch fundierte, natürliche - im Streben nach totaler Wahrheit, in der Furcht vor der Lüge reklamiert das mündige Denken wieder jenen Anspruch auf Absolutheit, der selbst auf vortheoretische Bedingungen zurückgeht und die Macht der religiös-metaphysischen Tradition noch in ihrer Negation offenbart. In dem Augenblick, da der Vernunft durch Aufklärung die Welt so transparent wie nie zuvor erscheint, hebt sich diese  clarté [Klarheit - wp] selbst auf. "Noch die Wissenschaft also verfällt der Kritik an Metaphysik. Die Leugnung Gottes enthält in sich den unaufhebbaren Widerspruch, sie negiert das Wissen selbst." (85) Die Aporien [Widersprüche - wp] der Vernunft angesichts der Aufgabe, auch nur die einfachsten Formen von Moral zu begründen, wiewohl sie sich auch diesen selbst verdankt, vervollständigen die Notwendigkeit und Aussichtslosigkeit zugleich, objektive Vernunft positiv zu formulieren. Gegen Macht- und Tatsachenfetischismus verrät die metaphysische Apologie [Rechtfertigung - wp] "die Unterechtigkeit des Bestehenden wenigstens durch Inkongruenz [Nichtübereinstimmung - wp] von Begriff und Wirklichkeit". (86) Sie partizipiert auch insofern an der bestimmten Negation, welche eine verklärende Kongruenz von Idee und Realität unterbindet. Eine solche Verklärung kann affirmativ ebenso vor sich gehen wie durch eine Aufspreizung des Negativen zur Erlösung [hypno] durch Verzweiflung.

Dennoch gibt es Affinitäten [verwandte Ähnlichkeiten - wp] zur negativen Theologie. Wie das Judentum den Namen Gottes und Hoffnung auf ihn einzig dadurch retten will, daß es ihn nicht beim Namen nennt und sich stets weigert, mit Zauberei und Götzen vorliebzunehmen, so erhält sich die Hoffnung auf Wahrheit und Erkenntnis
    "in der Denunziation des Wahns ... Eine solche Durchführung,  bestimmte Negation ... verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Götzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhält, der sie nicht genügen können. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet." (87)
Jedweder Möglichkeit positiver Setzung für den Bereich der Erscheinungen beraubt, nicht minder entschlossen, keine jenseitige, theologische, idealistische, metaphysische Positivität in endlicher Form zu kanonisieren, droht die Kritische Theorie zum bloßen negativen Reflex der jeweiligen Gegenwart zu werden; in der Tat, das RIMBAUD'sche  il faut être absolument moderne [Du mußt absolut modern sein - wp] ist kein ästhetisches Programm und keines für Ästheten, sondern ein kategorischer Imperativ der Philosophie" (88). Aber in aller Geschmeidigkeit, mit der sie sich der Wirklichkeit annähert, bleibt ein kritischer Überschuß, der nicht nur die volle Identität verhindert, sondern zur bestimmten Negation befähigt. Es wird die Absolutheit intendiert, deren Konturen nur aus dem Kontrast zum Wirklichen bestehen, einem gleichsam immateriellen Relief, dessen Gestalt somit unsichtbar, nicht fixierbar bleibt. Diese Negation gleicht dem Zustand eines Menschen, dessen Gedächtnis eine Wahrheit nicht hergeben will, an deren Existenz er sich jedoch fragmentarisch erinnert; in der ruhelosen Suche nach einer konkreten, erfüllten Gestalt seiner Erinnerung kann er nur ständig deren Abwesenheit erkennen; er wird sich der Zudringlichkeit, seine Erinnerung schließlich irgendwie doch zu fixieren, ebenso erwehren müssen wie des Urteils, sie sei bloß ein Tagtraum gewesen: ohne Sicherheitskriterien, die seinen Anspruch einklagbar machen. Die vielleicht größte Gefährdung dadurch, daß auch noch als nützlich toleriert wird - also akzeptiert, ohne anerkannt zu werden.

Nicht anders ergeht es der bestimmten Negation, wenn man ihrer utopischen Hoffnung zynisch zugesteht, daß sie gut für die Menschen ist - weil damit ihr Wahrheitsgehalt gleichgültig wird. Noch mit der Verzweiflung darüber aber lassen sich religiöse Geschäfte betreiben.

Dazu gehört der Gestus des Besserwissens, die Rechthaberei, das "Freudengeheul", wie ADORNO empfindet, in welche Religion und Theologie nur allzugern verfallen wollen, wenn sie Verzweiflung bei den Nichtgläubigen erkennen, in der irrigen Annahme, solche Aporien bei anderen kämen einer Apologie des eigenen Dogmas gleich. "Nachgerade stimmen sie bei jeder Gottesleugnung ihr Te Deum [Großer Gott wir loben Dich! - wp] an, weil sie wenigstens Gottes Namen gebraucht." (89)

Um der Versuchung zu widerstehen, dem Absoluten, wenn auch nur unfreiwillig, eine konkrete Gestalt zu geben, errichtet die Kritische Theorie einen  cordon sanitaire  [Seuchendamm - wp], ihr Bilderverbot. Scheu wie die jüdische Orthodoxie spricht sie vom "Anderen" zur Wirklichkeit, eine absolute Negation, die gleichwohl weder den positiven Glauben der dialektischen Theologie noch ihre Geringschätzung der Vernunft teilt; gerade geringgeschätzte Vernunft verselbständigt sich zum Instrument der Herrschaft des Nicht-Anderen.

Die sprachliche Abriegelung gegen Vergegenständlichung stößt aber auf dasselbe Dilemma, aus dem sie ihre Notwendigkeit herleitet: noch im einfachen Streben nach Richtigkeit einer Aussage offenbart sich eine transzendentale Absicht auf Wahrheit. Das Bilderverbot trägt also kein Mehr an Erkenntnis ein, sondern verhindert lediglich deren Depravierung [Verschlechterung - wp]. Das macht freilich die Sprache zu mehr als einem Zeichensystem für Tatsachen.

Soweit sie nicht instrumentalisiert wird, kann sie aufgrund der ihr innewohnenden Selbsttranszendenz ein Refugium [Zufluchtsort - wp] der Hoffnung bleiben, die sich über Wunsch und Sehnsucht freilich kaum hinauswagt. In diese Formen hat sich jene Wahrheit geflüchtet, die in Metaphysik und Theologie nur verdinglicht ausgesprochen wurde, die auch in Kunst, Liebe und nahezu anarchistischem Widerstand gegen psychische und soziale Repressionen zu Worte kommen.

18. Der Schwindel, der das selbstreflexive Denken in seiner nachaufklärerischen Epoche erfaßt, zwingt die Kritische Theorie zu dem Versuch, Metaphysik ohne Absolutes, Theologie ohne Dogma zu betreiben. Daß dies keine Rehabilitierung traditioneller Denkformen bedeutet, ergibt sich aus der beibehaltenen, ja gesteigerten früheren Kritik an Identität und Positivität. Rehabilitiert werden aber Gefühle wie Sehnsucht, Wunsch und Hoffnung. "Ca doit avoir un lendemain" [es muß morgen sein - wp], zitiert HORKHEIMER VICTOR HUGO (90), und postuliert wird auch, was anders als im Postulat nicht existiert: Sinn, Absolutes, Gott.

Die Stelle des in Aufklärung und Wissenschaft abgesetzten Gottes ist leer geblieben, nichts Neues an seine Stelle getreten. Auch der im kollektiven Vatermord getötete Gott hat weder Autonomie noch Befreiung, noch ewiges Glück beschert. Die Menschheit ist nicht, wie FEUERBACH zumindest in seinen früheren Schriften glaubte, selbst zum Gott geworden; sie täuscht sich mit selbstgeschaffenen Ersatzgöttern über die Melancholie der Langeweile hinweg. Die Kritische Theorie will die geleerten Altäre nicht mit neuen Gottheiten füllen, sondern die Stelle freihalten, die mit der Vorstellung Gottes einst besetzt wurde; denn das sich anbahnende Reich der Zukunft wird, nach Meinung der Kritischen Theorie, weder messianische noch sozialistische Züge tragen, sondern sich als Reich der Notwendigkeit konstituieren, in dem der Gedanke an Freiheit durch allgegenwärtige, administrative, organisatorische und technische Sachzwänge seine einstige Berechtigung verliert. Die mühsam erreichte Balance der gesellschaftlichen Mängel und Kräfte, die nicht totalitär im traditionellen Sinne sein muß, wird durch Reklamation des alten, autonomen Freiheitsanspruchs gefährdet.

Unter diesen Umständen kann die Funktion von Religion, Theologie und Metaphysik sich ändern, wie sich die Funktion anderer bürgerlicher Ideen wie Freiheit, Eigentum und Familie, ehemals primär Thema der Kritik, gewandelt hat, ohne daß deswegen die Einwände gegen ihre bürgerliche, ideologische und verdinglichte Gestalt hinfällig würden.
    "Der Gegensatz von Atheismus und Theismus ist nicht mehr aktuell. Einmal war Atheismus Zeugnis innerer Unabhängigkeit und unbeschreiblichen Mutes. In den autoritären und halbautoritären Staaten, wo er als Symptom des verhaßten liberalen Geistes gilt, ist er es noch. Unter totalitärer Herrschaft, welchen Vorzeichens auch immer, die heute die universale Bedrohung bildet, pflegt ehrlicher Theismus seine Stelle einzunehmen." (91)
Sehnsucht nach einem Anderen beruft sich, einem Wort HORKHEIMERs zufolge, nicht auf Postulate Gottes, sondern betrachtet ihn selbst als Postulat. Sie eignet sich nicht zur Gründung einer neuen Religion, weil sie deren Konfessionalität und Dogmatik nicht anerkennen kann. Sie zieht vielmehr die Konsequenz aus dem Widerspruch, daß der Atheismus ebenso unabweisbar wie unvollziehbar ist. Sie hält die Möglichkeit offen, daß dieses Andere nicht mehr nur unter dem Bilderverbot stehen bleibt, wenn die Welt sich in einem Zustand befindet, der den Anspruch dessen, was im Anderen aufgehoben ist, verwirklicht. Die Erwartungen für die künftige Gesellschaft rechnen mit dieser Möglichkeit nicht gerade als wahrscheinlich; eher scheint noch der metaphysische Pessimismus berechtigt, der sich dann nicht mehr auf die natürlichen Gründe zur Trauer allein, sondern auf die gesellschaftliche Praxis ebenfalls bezieht. Im Unterschied zu anderen Verteidigern des metaphysischen Pessimismus drängt jener der Kritischen Theorie weder auf eine bedingungslose Apologie des Bestehenden noch auf Abstinenz von jeder politischen und gesellschaftlichen Aktivität. Er ist selbst radikal pessimistisch um dieser eigenen Auflösung willen: Sie geschähe durch eine Verwirklichung jener Vernunft, deren historische Defizienz gerade zur Verzweiflung treibt. Einen völligen Verfall in Geschichtslosigkeit, in der alle Epochen nur auf Neue die Wiederkehr des Gleichen - der Gewalt und der durch sie erzeugten Leiden - lediglich variieren, gibt es deshalb nicht, auch wenn die gegenwärtige Phase der Geschichte die Vergeblichkeit der vernünftigen Anstrengungen offenbart hat. Die Vernunft emigriert nicht, um zu sterben - obwohl ihr mitunter ein Moment von Todessehnsucht anzuhaften scheint -, sondern um zu überwintern. An sich selbst hat sie nichts, das ihr diese Hoffnung, es sei nur ein Überwintern, als mehr denn Sehnsucht und Wunsch sichert.

Daß sich diese Terminologie von Emigration und Flucht, um überleben zu können, auf die Verfinsterung des Denkens übertragen läßt, ist kein Zufall. HORKHEIMER, der von sich selbst sagt, das Dritte Reich sei ihm zu jeder wachen Stunde seines dem Faschismus entkommenen Lebens gegenwärtig, lebt mit dem Bewußtsein davon, daß die Gaskammern der Konzentrationslager eigentlich sein Schicksal gewesen wären. Diese, vom Gang der Geschichte gesehehen, illegitime Flucht, in der aber gegen alle Einsicht zugleich der Wille zum Überleben kräftig blieb, hat ihre allgemeinere Form in der Kritik der Depravierung von Vernunft und Aufklärung gefunden. Sowenig wie der Faschismus war dieser Prozeß ein bloßer Unfall, wenngleich er zumindest der frühen Kritischen Theorie nicht unabwendbar erschien. THEODOR W. ADORNO hat darüber hinaus in einem eher biographisch gehaltenen Bericht über zwiespältige Erfahrungen während der Emigration in den USA berichtet (92). Sowenig darin die deprimierenden Züge oder gar die unter Emigranten nicht seltene xenophobe Geringschätzung der "Neuen Welt" überwiegen, so deutlich bleibt doch, daß auch dieses Land trotz seiner vielen Möglichkeiten nicht jene realisiert, deren Liquidierung der Nationalsozialismus in Deutschland konsequent betrieb. Es gab offensichtlich kein Irgendwo, in welchem Geschichte und Fortschritt die in ihnen liegenden Vernunftpotenzen zu sich befreit hätten; das von Europa Verschiedene enthält durchaus konkrete Alternativen, die freilich in sich deutlich Tendenzen dessen aufweisen, was HORKHEIMER heute als neuen Totalitarismus der Verwaltung bezeichnet.

19. Es gibt einen Terror, der so grausam ist, daß nicht einmal die Negation des Negativen zur vernünftigen Positivität gerät. ADORNOs Bannfluch, daß nach Auschwitz kein Gedicht mehr geschrieben werden kann, wirkt - mag er auch inzwischen von ADORNO selbst ein wenig gemildert worden sein - nicht minder auf Philosophie und gilt schon gar analog für Metaphysik. Daß Kultur und Geist sich dennoch immer noch als Hypostase [Vergegenständlichung - wp] aufspreizen möchten, sagt mehr über ihre Blindheit, als Kritik es könnte.
    "Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik darin, ist Müll. Indem sie sich restaurierte nach dem, was in ihrer Landschaft ohne Widerstand sich zutrug, ist sie gänzlich zu der Ideologie geworden, die sie potentiell war ..." (93)
Wie bedeutungslos Geist, Kultur und Religion angesichts der physischen Qualen im Konzentrationslager und bei Folterungen durch die Gestapo wurden, wird von einigen Entkommenen beschrieben (94). Geist und nichts als Geist verfällt der Brutalität jener Wirklichkeit, die er sich selbst überlassen hatte. Metaphysik als Vehikel dieses Geistes und dieser Kultur erweist sich entweder als bloße Begriffsdichtung und verfällt dann zu Recht dem Sinnlosigkeitsverdikt - oder aber sie nähert sich dem Materialismus, den sie verabscheuen zu müssen meinte.

Die Faschisten tobten nicht primär gegen "Geist" und "Kultur"; deren Heiligenschein konnten sie vergleichsweise schnell selbst zulegen; die Wut dieser instrumentellen Vernunft richtete sich vielmehr - in der kalten Leidenschaft präziser Organisation eher noch als im Sadismus der KZ-Aufseher - gegen das Leben selbst. In der Qual der Gefolterten sieht die Kritische Theorie die vollendete Konsequenz des gewalttätigen Denkens. Auschwitz hat den Widerspruch in der Aufklärung offenbart und das Mißlingen jener Kultur, die sich auf Identitätszwang, Instrumentalität des Denkens und das Tauschgesetz stützte, dokumentiert.

Wenn danach noch von Metaphysik die Rede sein soll, dann deshalb, weil ihr Fiasko zugleich auf jene materiellen Implikationen verweist, denen sich Metaphysik verdankt. Daß Auschwitz sich nicht wiederholen darf, nennt ADORNO einen neuen kategorischen Imperativ, der ebensowenig diskursiv zu begründen ist wie der Imperativ KANTs. Er darf es auch nicht, weil analytisches Erkennen oder Logik dort keine Bedeutung mehr haben, wo sich die Unvernunft inkarniert hat und so leibhaftig wurde, daß sprachloses Entsetzen und Abscheu zur unabweisbaren Evidenz werden. Die Spiritualisierung der Metaphysik erfährt in dieser Kulmination ihre Aufhebung. Die unmittelbare, körperliche Gestalt des Leidens deckt die materialistische Intention als Dominante der Metaphysik auf: Die Unerträglichkeit von Gewalt, Unrecht, Qual und Tod.
    "Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral. Der Gang der Geschichte nötigt das zum Materialismus, was traditionell sein unvermittelter Gegensatz war, die Metaphysik." (95)
Diese Metaphysik dient nicht dazu, in verwegenen Konstruktionen gerade doch einen übergreifenden Sinn herauszuschinden. Ein derart vermessener Versuch hätte nicht begriffen, daß die klassischen Fragen der Metaphysik: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, im herkömmlichen Sinne nicht mehr gestellt werden können. Die Reduktion des Individuums auf ein Gattungsexemplar und die genaue Organisation seiner Vernichtung im KZ nahmen vorweg, daß nicht einmal der Tod mehr das Minimum an individueller Einmaligkeit retten kann; die Gleichschaltung des Besonderen beseitigt alles Einzigartige. Das Selbst ist gleichgültig, Persönlichkeit seine Karikatur. Das Weiterleben, zumal für jene, die selbst nur durch glückliche Umstände den Lagern entkommen sind, scheint nicht anders als durch eine distanzierte Perspektive möglich zu sein, in deren Kälte und Schwäche der Schrecken darüber weiterlebt, daß im Geschehenen doch wohl nicht das letzte Wort über die Geschichte gesprochen ist. Je wahrscheinlicher dies dennoch wird, desto unversöhnlicher wird Philosophie dem Faktischen gegenüber. Je unversöhnlicher jedoch sie sich geriert, desto destruktiver arbeitet sie gegen sich selbst. Metaphysik, wie sie der Kritischen Theorie allein als möglich erscheint, konstituiert sich durch diesen Widerspruch.

Sosehr der Tod nicht einmal mehr als Erfahrungsbasis Metaphysik provoziert, so unerträglich bleibt gleichwohl die Konsequenz: die umfassende Totalität des Verschwindens ließe sich nicht einmal sprachlich fassen, wenn nicht der Wahrheit ein intangibles Moment anhaften würde. Das gilt auch oder gerade dann, wenn mit NIETZSCHE das Moment der Zeit in die Wahrheit, nicht umgekehrt wie im Historismus, einbezogen wird: die Vergänglichkeit der Wahrheit macht ihren absoluten Charakter aus.

Der Widerspruch, daß Metaphysik zugleich überlebt ist und dennoch auf sie nicht verzichtet werden kann, wenn man nicht das Denken selbst abschaffen will, ist aber nicht selbst noch einmal ein metaphysisches Schicksal - denn so wäre er nur Teil einer Gesamtheit, in der die Verzweiflung dem Sünder als Reue zugute gehalten wird, um ihn dann der Versöhnung teilhaftig werden zu lassen.

Die traditionelle Metaphysik basiert stets - auch wenn sie es selbst leugnet - auf konkreten Erfahrungen;  eine  solche bestand im Glück; HORKHEIMER wie ADORNO insistieren gemeinsam auf der Möglichkeit von Glückserfahrungen, so sosehr sie auch von Hinfälligkeit umgeben sein mögen.
    "Glück, das einzige an metaphysischer Erfahrung, was mehr ist denn ohnmächtiges Verlangen, gewährt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich Entrücktes." (96)
Subjekt und Objekt setzen in dieser Zuwendung einen Überschuß über die Faktizität frei. Das Subjekt könnte nur in Trance glücklich sein, wenn es an das Gegebene in seiner Hinfälligkeit ein Glücksempfinden bände; es muß das Empirische transzendieren und daraus schöpfen; diese Transzendenz gelingt ihm jedoch durch nichts als empirische Gegebenheiten, ansonsten verfiele es der Kritik der autonomen Vernunft. Nicht weniger widersprüchlich verhält es sich mit dem Objekt. Seine endliche Dinglichkeit transzendiert sich in der Glückserfahrung, ohne daß es möglich wäre, ein fest Transzendentes daraus abzuleiten; schon gar bleibt ausgeschlossen, diesen Überschuß in Subjekt und Objekt mit Empirischem zu identifizieren, weil die Hoffnung ihrer Anspannung überdrüssig wird; daß eine solche Hoffnung in unendlichen Variationen immer wieder in der Menschheitsgeschichte erscheint, besagt nicht mehr, als daß es immer Grund zur Hoffnung auf Besseres gab; eine daraus gefolgerte messianische Geschichtsauffassung (97) lehnt die Kritische Theorie ausdrücklich ab; damit auch das  argumentum ontologicum  des ANSELM von CANTERBURY: Was sein könnte, sollte, müßte, ist es nicht deswegen auch schon. Soweit die Desillusionierung, aber: das Intelligible, das nicht real sein kann, kann gleichermaßen nicht vollends nicht sein. Die mystische Dialektik, das Nichts sei privativ und setze noch jenes Etwas frei, das im Nihil [Nichts - wp] negiert wird, ist der Kritischen Theorie nicht fremd. (98)

Unter diesen Vorzeichen qualifiziert HORKHEIMER seinen Pessimismus als metaphysisch. Nicht nur, daß die ideologisch verschleierte Gesellschaft als empirische Welt den  mundus intelligiblis  totschweigt, indem sie Objektivität nur als ihr eigenes Produkt betrachtet und Wahrheit oder Sinn damit auf Erscheinung und Machen allein reduziert; auch die Aporien, die sich im Transzendentalen selbst auftun, bedrängen die Vernunft, indem das Bewußtsein noch in der Verzweiflung an seinem eigenen Denken nicht im Negativen aufgeht, ohne dessen Negation jedoch positiv fassen zu können. Die von HORKHEIMER konstatierte Unfähigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit gesellschaftlich gleichermaßen zu realisieren, konkretisiert die metaphysischen Aporien; damit wird wahrlich nicht angeraten, sich fatalistisch mit dem Gegenwärtigen oder Absehbaren abzufinden; nur fehlt jede ausweisbare Eindeutigkeit, anzugeben, wie geändert werden muß. Eine solche Eindeutigkeit setzte sich in Selbstbetrug über die Bedingungen hinweg, welche die Erfahrung eines Anderen tendenziell ausschließen.

Ein Pessimismus, der sichere Sinnlosigkeit behauptet, wäre abstrakt und setzte selbst das Fehlen von Sinn absolut. Insofern SCHOPENHAUER dazu neigt, den bösen Willen zum Ding ansich zu ernennen, verfällt er in positive Metaphysik, soviel Indizien seiner These auch recht geben mögen; im Anti-Idealismus zeigt sich noch die idealistische Determination des Ganzen durch absoluten Sinn. Das Nirwana gar trägt noch Züge von Versöhnung - so mag selbst SCHOPENHAUER noch als Optimist dastehen.

Nicht unähnlich gnostischen Motiven erscheint dem Pessimismus die Welt als so radikal böse, daß noch der entsetzte Schrei darüber der Integration in sie nicht entgeht; Pessimismus ist Stummheit, die in dieser grenzenlosen Verneinung noch und erst die Möglichkeit eines besseren Lebens ausdrücken will. Die totale Andersartigkeit dieser Möglichkeit im Vergleich zum Realen läßt sich nicht mehr in Kategorien fassen, die ganz dieser Wirklichkeit entsprechen; "beweisen" läßt sich hierbei gar nichts. Der Versuch, in Analogie zu den bekannten Gottesbeweise nun einen Beweis von Sinn in der Geschichte anzutreten, ist naiv und verkennt die Erkenntnisbedingungen - übrigens wie der positive Sinnlosigkeitsbeweis. Und doch bleit das Andere gebunden an die Erfahrungswelt: wie denn sollte sonst Vernunft nicht hinter die Aufklärung zurückfallen.

Es war GEORG LUKACS, der eine solche Gestalt von Theorie als "Grand Hotel Abgrund" bezeichnete; freilich hat er schlecht spotten: seine Serie von Widerrufen und Aufhebung der Widerrufe läßt eine kaum geringere Ratlosigkeit durchscheinen (99). Selbst der Marxismus der frühen Kritischen Theorie hat sich nie zur Affirmation hinreißen lassen, ihr Kardinalfehler in den Augen marxistischer Orthodoxie. In der späten Theorie haben HORKHEIMER und ADORNO gleichermaßen nicht nur, wie erwähnt, die Desillusionierung der früheren Hoffnungen reflektiert, sondern diese Hoffnung selbst mitunter völlig verworfen. Die Utopie selbst noch, die Idee einer befreiten Menschheit, ist nicht jenes "id, quo maius cogitari non potest" [etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. - wp], für das sie gehalten wird. Selbst MARX hat in einer berühmten Stelle auf den Einbruch des Reichs der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit hingewiesen (100). Das Reich der Freiheit basiert auf bleibenden Notwendigkeiten. Beschränkt sich diese Selbstkritik des späten Marx noch auf die Unvermeidlichkeit eines Minimus an Arbeit und damit einer bleibenden Differenz von Humanismus und Naturalismus, so sieht HORKHEIMER die nivellierte Zukunftsgesellschaft als Antwort von Geschichte und Gesellschaft auf revolutionäre Intentionen an. Die Imperative der Vernunft: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Glück, scheinen sich nicht vereinen zu lassen; ihre pragmatische Realisierung führt zu einem faulen Kompromiß, der keinem der Imperative mehr gerecht wird; die diristische Monopolisierung der Vernunft in den Händen von Einheitsparteien und Staatsmacht ist so unsinnig wie die Quadratur des Kreises. Herrschaft und autonome Freiheit gehen nicht zusammen, vielmehr fällt eine solche Gesellschaft in totalitäre Strukturen zurück. Selbst die Utopie des erfüllten Lebens kann noch, allzu konkret definiert, den Mangel des Realen ins Mögliche verschleppen; Glück, das wie Profit akkumuliert und eine sichere Dauer gewähren soll, wird zur Gier, die den Genuß auch noch verdirbt. ADORNO assoziiert diese triebhafte Hoffnung mit dem Willen, "sich auszuleben", wie es im Jugendstil heißt; darin stehe ein
    "Verlangen, das Gewalttat und Unterjochung in sich hat. Ist keine Hoffnung ohne Stillung der Begierde, dann ist diese wiederum eingespannt in den verruchten Zusammenhang des Gleich um Gleich, eben des Hoffnungslosen. Keine Fülle ohne Kraftmeierei." (101)
Überdies vereitelt der Tod selbst die behutsamere Wahrnehmung flüchtigen Glücks. Den Hinfall des Glaubens an Gott und der Anerkennung eines Absoluten kann das Diesseits nicht durch adäquate Verheißungen ersetzen; aber wenn es auch - in Anspielung auf alttestamentliche "vanitas vanitatum" [Eitelkeit der Eitelkeiten - wp] - eitel genannt wird, so legitimiert diese Klage nicht die Restitution der positiven Theologie. Die Hoffnung auf Einlösung ihrer Verheißungen liquidiert sich selbst im Moment, da sie ausgesprochen wird, weil sie darin affirmative Gestalt annimmt. Der Glaube an Gott, die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod: sie können um ihrer selbst willen nicht aufrechterhalten werden. Über diesen Widerspruch geht nichts hinaus - wenn nicht jene Prinzipien und Mechanismen sich ändern sollten, welche diese sich selbst auflösende Dialektik erübrigen können: eine Hoffnung, um derentwillen HORKHEIMER pessimistisch ist.

20. Metaphysik geht auf Theologie zurück, die Kritik an der Quantifizierung der Individuen in der totalen Verwaltung nicht weniger.
    "Die Ideen, die eine solche Erfahrung zu relativieren vermögen, sind letztlich unablösbar von der Theologie, mit ihrem Rückgang wird die Welt der Nummern schlechthin gültig." (102)
Der Appell an das Selbstbewußtsein des Individuums, auf dessen Widerstandskräfte sich die Kritik verlassen muß, verliert an Bedeutung, wenn statt der Solidarität aller Individuen Kollektivreflexe dominieren; daß es mitunter wie eine Unverschämtheit anmutet, wenn Menschen "Ich" sagen, hatte ADORNO schon bitter moniert; HORKHEIMER nimmt an, daß das Selbstbewußtsein gewissermaßen verlernt wird. Selbst wenn das Ende des egoistischen Individualismus nicht sonderlich bedauerlich ist, fehlt doch nach der Integrierung des Subjektiven jede Instanz, an die sich Kritik wenden kann. Die Sehnsucht nach dem Anderen geht aus dieser Tendenz hervor; sie gibt die Welt nicht als bloßes Diesseits auf um kontemplativ einem besseren Jenseits nachzuhängen, sie verteidigt die Welt nicht auf jeden Fall, nur um den Gedanken an Transzendenz zu vermeiden.

Aus den positiven Gehalten der Theologie macht die Metaphysik Möglichkeiten; was in in der Theologie Glaubenadick-glaube.htmlsgewißheit bedeutete, nimmt metaphysisch die Gestalt der Sehnsucht an. Man hat diese Verwandlung selbst noch mit dem Hinweis auf das jüdische Bilderverbot religiös motiviert. Daran ist richtig, daß "äußerste Treue zum Bilderverbot" besteht, "weit über das hinaus, was es einmal an Ort und Stelle meinte" (103). Angesichts der Weigerung, die Vergottung eines Seienden im Faschismus zu respektieren, erwähnt HORKHEIMER ebenfalls das Bilderverbot:
    "Die Juden sind einmal stolz gewesen auf den abstrakten Monotheismus, die Ablehnung des Bilderglaubens, die Weigerung, ein Endliches zum Unendlichen zu machen." (104)
Die Weigerung, sich zum Positiven zu bekennen, wurde zum Todesurteil, Wahrheit zum sicheren Martyrium.

Dies allein freilich war weder der einzige Grund für die Judenverfolgung, noch beschränken sich die Pogrome gegen Befolger des Bilderverbots auf Juden. Mag dies immerhin ein der Religion entnommenes Motiv der Kritischen Theorie darstellen, so gibt es doch Unterschiede, die eine glatte Übereinstimmung mit der jüdischen Orthodoxie und Tradition verbieten. Daß  Jahwe  in der Geschichte seines Volkes sich zu erkennen gibt, trifft in nicht geahntem Ausmaß für die Konzentrationslager zu, indem er im Erbärmlichsten, in der Vernichtung des Schwächsten Wahrheit offenbart. Aber es kann dies keine Strafe mehr für Untaten seines auserwählten Volkes selber sein, Schuld und Strafe sind darin vielmehr universal geworden. Die Hoffnung auf den Messias, im Judentum konstitutiv für alle Deutung der Geschichte, ähnelt HORKHEIMER zu sehr dem philosophisch alles versöhnenden Absoluten, als daß er sie teilen könnte.

Näher schon erscheint ihm das vor allem in den alttestamentlichen Weisheitsbüchern vorhandene Bewußtsein von der Eitelkeit des Lebens.
    "Es ist eine Eitelkeit, die auf Erden geschieht. Es sind Gerechte, denen gehet es, als hätten sie Werke der Gottlosen, und sind Gottlose, denen gehet es, als hätten sie Werke der Gerechten. Ich sprach: Das ist auch eitel.

    Darum lobte ich die Freude, daß der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne, denn essen und trinken, und fröhlich sein; und solches werde ihm von der Arbeit sein Leben lang, das ihm Gott gibt unter der Sonne.

    Ich gab mein Herz, zu wissen die Weisheit, und zu schauen die Mühe, die auf Erden geschieht, daß auch Einer weder Tag noch Nacht den Schlaf siehet mit seinen Augen.

    Und ich sah alle Werke Gottes. Denn ein Mensch kann das Werk nicht finden, das unter der Sonne geschieht; und je mehr der Mensch arbeitet zu suchen, je weniger er findet. Wenn er gleich spricht: Ich bin weise, und weiß es; so kann er es doch nicht finden." (105)
Doch weder ist diese Erfahrung nur der alttestamentlichen Weisheit eigen, noch kennzeichnet sie das Originäre des jüdischen Glaubens. Schon gar gestattet diese Verwandtschaft nicht, einen positiven Offenbarungsglauben aus der Kritischen Theorie herauszulesen.

Wenngleich die materialistische Metaphysik in die Nähe theologischer Gedanken kommt, gibt sie kein Jota von der Kritik am Christentum auf. Diese beruth auf philosophiegeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Einsichten. Die Offenbarung und ihre amtlichen Interpreten haben sehr wohl zwei Herren zu dienen vermocht. Mit Nicäa begann der Siegeszug des Christentums und seine Anpassung an Weltschlauheit; in Fanatismus und Inquisition zeigte sich, wie sehr diese Anpassung sich gegen den Stifter des Christentums selbst wandte. Die Theologie diente häufig als Instrument, Macht und Evangelium zu arrangieren. Doch dieser ebenso kompromittierenden wie kompromißlerischen Tätigkeit verdankt sich die christliche Zivilisation bis weit in die Neuzeit hinein: auch in der Dialektik von "Christentum und Christenheit" wiederholt sich der Widerspruch im Guten selbst. (106)

Dem frühen Christentum war die Sehnsucht nach dem Himmel stärker als die Angst vor einem qualvollen Tod; demgegenüber blieb "das scheinbar unbedingt Bestehende ein Augenblick der falschen Niederlagen und Triumphe" (107). Der Mann am Galgen, das Zuchthaus und die Gaskammern stehen dem Christentum näher als das "Hauptquartier" - und dennoch waren auch die tyrannischen Feinde noch in die Liebe miteingschlossen.

Die Ära der großen mittelalterlichen Kultur, deren theoretisches Substrat in der Einheit von Glauben und Vernunft oder zumindest in deren spannungsvollen Beziehungen bestand, umfaßte das ganze Universum. Noch das Unscheinbarste, "das Leben eines jeden, nicht bloß der Prominenten" (108), gewann einen Sinn, bis in untere Stufen der Natur. Freiheit und Gnade sollten sich nicht ausschließen; trotz göttlicher Allmacht war die Tätigkeit des Menschen nicht wertlos. Das Mittelalter ist durchaus nicht bloß finster. HORKHEIMER zögert nicht, das Moment an Einheit von Theorie und Praxis in der Hochscholastik mit dem Marxismus zu vergleichen, wenngleich die erstere auf die Erhaltung des Bestehenden, die andere auf seine Veränderung abzielt.

Dennoch wurde die Harmonie dieser Ära mit einer Sublimierung ihrer Widersprüche erkauft. Madonnenkult und Minnedienst stehen nicht einfach nur im Gegensatz zum Hexenwahn. Die prätendierte, auch praktisch wirksame Einheit einer kulturellen Epoche betört durch den Anschein von Geschlossenheit: ein Indiz für Wahrheit liegt darin nicht schon begründet. In der Problematik des Gewissens, dem THOMAS von AQUIN als subjektive Instanz ausdrücklich eine letzte Verbindlichkeit zusprach, zeigt sich die latente Widersprüchlichkeit der mittelalterlichen Harmonie. Allzugern wurde, gegen THOMAS, das Gewissen dann als irrig bezeichnet, wenn es dem Konsens widersprach, auf den sich die mittelalterliche Welt verließ. Je öfter auf diesen Rechtstitel des Gewissens als letzter Instanz gegen die offiziellen Bindungen abgehoben wurde, desto hinfälliger mußte die Einheit werden: die Würde des Einzelnen und seine gottgegebene Freiheit divergierten zum gottwohlgefälligen  ordo terrestris [weltlichen Ordnung - wp].

Die vielfachen historischen Veränderungen, durch die das Ende des Mittelalters herbeigeführt und seine Harmonie aufgelöst wurde, erreichten nicht mehr die frühere Kohärenz [Zusammenhang - wp] in und von Theorie und Praxis. Skepsis, Humanismus und Reformation schaffen kein neues universales System, wollen es auch nicht, wenn sie die Vernunft wie LUTHER als Weltklugheit, wie verschieden auch immer, perhorreszieren [ablehnen - wp]. Ihr Recht hat diese These in der Unmöglichkeit, Welt und Gott zu identifizieren; die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Wirren mit ihren katastrophalen Folgen entmutigen das heilsgeschichtliche Denken. Der Versuch, zwischen der Metaphysik und der Hure Vernunft die Hingabe an die Offenbarung als transzendentale Instanz einzuführen, befreite das weltliche Denken tendenzielle von seinen Pflichten gegenüber dem Absoluten; dessen Rolle nahmen Fürst, König, Nation und schließlich Gewinn und Handel ein. Gottes Wege werden immer unerforschlicher, gerade auch dann, wenn sich im irdischen Wohlergehen oder Unglück die göttliche Prädestination äußert. Die Entpflichtung des Glaubens von allgemeinen Vernunftkritierien versetzt das Subjekt in die Rolle, jeweils von Fall zu Fall den Willen Gottes zu definieren; er zeigte sich in wahrlich divergierenden Formen: Hexenverbrennung, Judenverfolgung und die Segnung von Waffen haben sich nicht minder auf das Gebot der totalen Nächstenliebe berufen können als Toleranz, Caritas und Friedensstiftung.
    "Einen Leitfaden, wenn auch keinen untrüglichen, bildet das Interesse des Vaterlandes, von dem im Evangelium wenig zu lesen steht. In den letzten Jahrhunderten haben viel mehr Gläubige ihr Leben fürs Vaterland eingesetzt als für die verbotene Liebe zu dessen Feind." (109)
In Ländern, in denen die Reformation sich nicht durchsetzte, hat sich, so HORKHEIMER (in zwar an HEGEL erinnernder, doch ihn nicht einfach kopierender Geschichtsschreibung, die freilich nirgendwo eine historische Vollständigkeit erstrebt), auch leichter eine Lebensform herausgebildet, in der bürgerliches Denken und Christentum sich gesellschaftlich eher vereinbar zeigen - und schließlich objektive politische Gestalt annehmen - als in den deutschen Gebieten, in denen Subjektivität, Innerlichkeit und Romantik sich in Kunst und Philosophie jenen Ausdruck verschafften, der gesellschaftlich versagt blieb. In dieser Form überlebte die Religion noch in wachsender Säkularisierung durch Wissenschaft selbst Technik und neue gesellschaftliche Formen. Paradoxerweise verhalf der militante Atheismus, der selbst nicht von seiner theistischen Fixierung loskam, der Religion wesentlich zum Überleben; dies gilt nahezu für alle Arten des Atheismus, den materialistischen eingeschlossen, der schließlich auch in Natur, Materie, Sein, Leben immer "die große Einheit" sprechen ließ, dem Pantheismus und der Ontologie nicht unähnlich. Auf diese trifft das MARXsche Verdikt [Bannfluch - wp] ebenso zu wie auf die Religion selbst, insofern sie Wunsch und Wirklichkeit identifiziert.

Das Identitätsprinzip, einmal zur Bändigung chaotischer Vielfalt eine zweckmäßige Hypothese, realisiert auch in der Religion seinen Zwangscharakter. Ihr Opfer ist der historische  Jesus  zuerst. Aus einem Leidensmann am Marterpfahl wird die Entäußerung des  ipsum esse [sich selbst Gründendes - wp], worin eine Versöhnung über das Grab hinaus garantiert bleibt. Das leere Grab kann dann nur heißen: das Entsetzen trügt, die Leiden zählen nichts, gemessen an der Absolutheit des ewigen Lebens. Seine Wahrheit kann es aber für die Kritische Theorie nur haben, wenn es leer bleibt. Wie immer auch diese Unterträglichkeit in eine positive Auferstehung umgemünzt wurde - je später die Tradenten lebten, desto genauer wußten sie bezeichnenderweise über Einzelheiten zu berichten (110) -, es bliebt stets noch die Tendenz erkennbar, Programm und Leben des Gekreuzigten zu divinisieren und damit die Sterblichkeit und Schwäche des hingerichteten  Jesus von Nazareth  glorifizieren zu können. Das Hinfällige gerade als das Exemplarische zu begreifen schien unmöglich. Nicht von ungefähr aber befähigte die Divinisierung des historischen  Jesus  zu Dogmatismus, Gesetzlichkeit, Absolutheitsanspruch und schließlich zur Allianz von Kirche und Staat bzw. Macht.

Im 19. Jahrhundert waren Neuthomismus und Positivismus "gegensätzliche Allheilmittel", die im Dogmatismus des Identitätsprinzips übereinkommen - ohne damit etwas ändern zu können; was geändert werden müßte, geht gerade auf diese Größe zurük. Positivismus und neuthomistische Theologie halten sich gegenseitig vor, was sie an sich selbst zu kurieren hätten (111). Wie die Wissenschaft sich auf ihre Funktion als Produktivkraft beschränkt, so wird Theologie und Metaphysik zur  ancilla [Magd - wp] einer technokratischen Selbstrechtfertigung.

Keine systematische Religionskritik der Aufklärung war so giftig wie die stillschweigende Aushöhlung jener Fundamente, auf die das Christentum setzte. Sie hat sich in der reformatorischen Befreiung der Weltvernunft vom absoluten Fluchtpunkt und im Beharren auf heilgeschichtlicher Positivität in der adaequatio rationis fidei et historiae [Einheit von Verstand, Glaube und Geschichte - wp] selbst um ihre Basis gebracht. Die Theologie und Religionsphilosophie, die in hechelnder Aktualitätshascherei den heutigen Veränderungen jeweils bloß nachzulaufen sucht, gibt die Option auf jenes Objektive preis, das sie, in welcher mythologischen Vermummung auch immer, in ihren Begriffen, Analogien und Parabeln retten könnte. Sowohl in den Liberalisierungsbestrebungen wie im Dogmatismus akzeptiert sie die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung, indem sie die unauflösbare Spannung von Glauben und Wissenschaft, Endlichem und Absolutem in einen Offenbarungspositivismus zerreißt, oder aber in einer Akkomodation [Anpassung - wp] an das Bestehende ein nützlicher Gehilfe wird, die Freizeit gestalten hilft, über Höheres erbaulich plaudert oder mit tiefsinniger Attitüde dem Leben einen Sinn beschert. Als großzügig toleriertes Denkmal einer ehrwürdigen, aber doch versteinerten Vergangenheit wird sie Teil der Kulturindustrie und partizipiert an deren Massenbetrug.

Die Konsequenz, die PAUL TILLICH, auf den HORKHEIMER ausdrücklich und freundschaftlich verweist (112), zog, das Wort "Gott" durch den weniger fixierten Titel "Das, was uns unbedingt angeht" zu ersetzen und die erstarrten Lehraussagen der tradierten Theologie nicht mehr  sensu proprio [im eigentlichen Sinn - wp], sondern symbolisch zu verstehen, ma so neu nicht sein; die Allegorese als hermeutisches Prinzip der Theologie hat eine ehrwürdige Geschichte; im Reich der Erscheinung läßt sich vom Absoluten nicht, es sei denn als von einem Anderen sprechen, und dieses nicht in den endlichen Kategorien einer präzisen Definition, sondern in Bildern, Vorstellungen, Sehnsucht und Hoffnung. Irrationalismus, in der Aufklärung das meist inkriminierte [zur Last gelegte - wp] Element der theologisch fundierten Wahrheit, behält sein Recht gegen die absolutistische Totalität des Rationalismus: Vernunft ohne Hoffnung ist Geist von jenem Geiste, der sich selbstgefällig nicht einmal von Auschwitz irritieren läßt. VOLTAIRE verschwendete nach dem vergleichsweise harmlosen Erdbeben von Lissabon (1755) keinen Gedanken mehr auf die LEIBNIZsche Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp]; die Konzentrationslager waren keine Naturkatastrophe mehr, sondern ein konsequent bis ans Ende vollzogener Instrumentalismus.

Die von NIETZSCHE so gescholtene demütige Weltverachtung erscheint HORKHEIMER - und damit nimmt er Thesen SCHOPENHAUERs auf - wahrer als alle eifrige Mühe von Theologie und Moral, dem Zeitgeist gemäß zu formulieren. Aus diesem Anspruch folgt nahezu die Unmöglichkeit von Theologie und Metaphysik: sie können sich nicht mehr auf traditionelle Dogmen und Sicherheiten stützen, doch geben sie ihren Überschuß über die Rationalität bloßer Selbsterhaltung preis, wenn sie die objektiven Intentionen der traditionellen Lehre der Gegenwart opfern. Liberale Tendenzen, die gleichsam eine Horizontalisierung des Glaubens vornehmen, indem sie allein die intersubjektive Liebe als Anspruch des Evangeliums bezeichnen, verzichten zu schnell auf den Transzendenzanspruch; symbolische Interpretationen des Glaubens, konsequent betrieben, minimalisieren den objektiven Gehalt bis zum Verschwinden.
    "Symbolisiert jedes Symbol nur ein anderes, abermals Begriffliches, so bleibt sein Kern leer und damit die Religion. Das ist die Antinomie [Widerspruch - wp] des theologischen Bewußtseins heute." (113)
Dagegen gewinnt der provozierende Gedanke von fleischlicher Auferstehung, von Himmel und Hölle eine Leibhaftigkeit, die gegen die spirituale Tendenz symbolischer Interpretation den materialistischen Interessen in der Metaphysik noch eher Rechnung trägt. Erlösung und Ewigkeit, die mit dem endlichen Dasein nichts mehr zu tun haben außer seiner bloßen Verleugnung, sind geisterhaft und setzen die Tradition der Trennung von Leib und Seele - materialistisch aus der Arbeitsteilung hergeleitet - fort.

Die Seele als rein geistige und deswegen ewige Substanz läßt die materialistische Metaphysik unzufrieden, weil sie die konkreten Lebenshoffnungen, auf denen Metaphysik basiert, nicht aufnimmt. Das hat höchstens die Weigerung zur Folge, auf eine solche Ewigkeit des Lebens überhaupt einen Gedanken zu verschwenden; dann aber kann sich das endliche Subjekt nur selbst jenen göttlichen Charakter zusprechen, sofern es gleichwohl vom Gedanken an eine Transzendenz nicht lassen kann.

Die Antinomie, in welche Theologie und Metaphysik somit geraten, besteht in der gleichzeitigen Notwendigkeit, daß Transzendentes vom Endlichen nicht völlig separiert werden kann, daß zugleich aber die Transzendenz durch Einbeziehung in Endliches selbst verendlicht wird. Der Widerspruch ist unerträglich und löst sich dennoch nicht in einem radikalien Nihilismus, dem die Welt nur als böse Nichtigkeit erscheint, auf; auch die nihilistische Verneinung sucht noch Transparenz, indem sie die Sinnlosigkeit als Sinnprinzip fixiert.

Auf solchen Aporien läßt sich keine neue Religion errichten. Der Versuch, das Urchristentum zu restituieren, hat seine Dignität, weil er mit späteren Deformationenn bricht und die gegenwärtige metaphysische Auswegslosigkeit begriffen hat oder überschreiten will. Allein, nicht nur der archaisierende Charakter solcher Rückwendungen enthält Unwahrheit, sondern es treten auch die gegenwärtigen Ungereimtheiten erneut auf; beschränkt sich der Rekurs auf Spiritualität, dann verleugnet er die realen Momente der Verheißungen des Evangeliums, die Hoffnung auf ein gutes Leben, und löst sich selber in Ideologie auf; bezieht sich der Rekurs auf die weltimmanente Bedeutung der christlichen Religion, so gerät er in denselben Widerspruch: die Feindes- und Nächstenliebe entspringt keiner immanenten Vernunft, sie muß auf jene Transzendenz abheben, deren Positivität sie bei immanenter Selbstrechtfertigung aufgegeben hat. Beide Momente zusammenbringen heißt, aufs Neue in die metaphysischen Aporien zu geraten.

Daß in beiden dennoch ein Objektives enthalten sein muß, weil anders nicht einmal die Kritik ihren Rechtsanspruch anmelden könnte, macht einen Überschuß aus. Dieser aber läßt sich nicht positiv fassen. Inwieweit er an Religion geknüpft ist, wenn Entmythologisierung und Säkularisierung sie auf die Probe gestellt haben, läßt sich gegenwärtig nicht sagen. Religion kann somit weder in dogmatischer Form bestehenbleiben noch schlechthin für sinnlos ausgegeben werden. Ihre moralischen Imperative haben zwar vielfache säkularisierte Formen angenommen.
    "In der Idee des richtigen sozialen Ganzen ist die der Nächstenliebe, Achtung vor den Rechten eines jeden, aufgehoben. Politik, die, sei es höchst unreflektiert, nicht Theologie in sich bewahrt, bleibt, wie geschickt sie auch sein mag, letztenendes Geschäft." (114)
Das gilt, von HORKHEIMER im Anschluß an PAUL TILLICH formuliert, selbst noch für die MARXsche Theorie. In jenem Maß, wie es gelingt, politische und soziale Tätigkeit durch Selbstreflexion auf ihre moralischen Implikationen zu verweisen, wird vielleicht der in der Theologie enthaltene Überschuß transparent.

Eine Prognose, daß dies in positive benennbarer Form möglich wird, läßt sich nicht stellen. Hoffnung selbst erscheint angesichts der metaphysischen Aporien noch verwegen, ja verboten. Das Bilderverbot enthält - nach ADORNOs pointierter Zuspitzung - noch in der Negation zu viel Positives. Blasphemie ist Frömmigkeit und Atheismus die wahre Form des Glaubens an Gott, solange Wahrheit nur dort noch ganze Wahrheit sein kann, wo sie sich selbst widerspricht.

Wenn dies metaphysischer Pessimismus ist, dann kann er diese sich selbst verzehrende Wahrheit (115) nur in der völligen Hingabe ans Endliche, in einer Identifizierung mit dem Hinfälligen und Vergänglichen einlösen. Die Destruktion dessen, was ist, ist wahrer als dessen Fortdauern. Nicht anders legitimiert sich die Solidarität mit dem Kleinsten, Schwächsten und Verachtetsten, dem gänzlich Nichtidentischen. Mikrologie "ist der Ort der Metaphysik als Zuflucht vor der Totale." (116)

Religion findet darin eher noch ihre Rechtfertigung als Verwerfung. Die Verstrickung in den gemeinsamen Unheilszusammenhang, als welcher sich die Erscheinungswelt darbietet, verweist, in theologischer Diktion, die Sünder auf ihre Solidarität dem Vergänglichen gegenüber, das sie selber auch sind: Gott und ewiges Leben bleiben einzig im Negativen lebendig. In dem Widerspruch, der in dieser Versagung liegt, kann, nach Auffassung der Kritischen Theorie, Religion unendlich aktuell sein. Wenn das Bilderverbot noch zuviel Positivität enthält, wenn nur in der Hinfälligkeit noch Wahrheit steht, muß die Kritische Theorie dies auch gegen sich selbst richten.  La philosophie faut être absolument moderne. [Die Philosophie muß absolut modern sein. - wp] Sie kann keine abschließenden Aussagen über Geschichte und Wahrheit machen. "Nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossenheit." (118) HORKHEIMERs Wort von der "Sehnsucht nach dem Anderen" hält den Widerspruch aufrecht und ermöglicht doch, in der Unwahrheit des Ganzen und in den Brüchen der Erfahrungswelt, auf die sein Pessimismus sich bezieht, den Widerspruch nicht als letztes Wort dogmatisieren zu müssen (119). Religion, die in Gestalt vollendet negativer Theologie auf Dogmen, Institutionen und Affirmationen verzichtet, sich vielmehr nur in Kult und Ritus ihre Erinnerung tradiert (120), ohne Zwang und Solidarität mit allen Verachteten, kann Widerspruch und Widerspruch des Widerspruchs in sich aufbewahren. Aufklärung wird erst befriedigt (121), wenn es gelingt, Wissenschaft und Theologie, Immanenz und Transzendenz ohne Zwang zu versöhnen. Vergeht der Identitätszwang, so wird das unversöhnte Nichtidentische frei. In einer solchen Welt wäre der Pessimismus erlöst, weil das Absolute in Positives umschlägt. Die Dialektik der Kritischen Theorie verlöre ihre totale Negativität. Der Widerspruch, daß dieses Andere ebenso undenkbar ist, drückt sich in der Kategorie der "Sehnsucht" aus. Sie hält noch mit äußerster Anstrengung ihre Auflösung für wünschenswert, damit offenbar bleibt, daß, was ist, nicht alles ist.
LITERATUR: Werner Post, Kritische Theorie und metaphysischer Pessimismus, München 1971
    Anmerkungen
    70) ADORNO, Minima Moralia, a. a. O., Seite 333
    71) Minima Moralia, Seite 334
    72) Vgl. HORKHEIMER, Materialismus und Metaphysik, in "Kritische Theorie", Bd. I, a. a. O., Seite 31-66; Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, in KTh I, Seite 118-174; Zu Bergsons Metaphysik der Zeit, in KTh I, Seite 175-199; Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in KTh II, Seite 82-136.
    73) HORKHEIMER, Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in KTh II, Seite 135
    74) HORKHEIMER, Materialismus und Metaphysik, in KTh I, Seite 44f.
    75) FRIEDRICH NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, Werke in 3 Bänden, hg. von KARL SCHLECHTA, München 1955, Bd. II, Seite 208.
    76) HORKHEIMER, Gedanke zur Religion, in KTh I, Seite 376
    77) Vgl. Religion und Philosophie, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 233f
    78) Zu THEODOR HAECKERs "Der Christ und die Geschichte", a. a. O., Seite 367
    79) a. a. O., Seite 371
    80) a. a. O., Seite 371f
    81) a. a. O., Seite 372
    82) a. a. O., Seite 373
    83) a. a. O.
    84) Dialektik der Aufklärung, Seite 122
    85) ebd. Seite 123
    86) Dialektik der Aufklärung, Seite 29
    87) a. a. O., Seite 30
    88) ADORNO, Wozu noch Philosophie, in: "Eingriffe", Ffm 1963, Seite 28
    89) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 363
    90) HORKHEIMER, Kants Philosophie und die Aufklärung, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 212
    91) HORKHEIMER, Theismus - Atheismus, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 228
    92) ADORNO, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in "Stichworte. Kritische Modelle", Bd. 2, Ffm 1969, Seite 113-146
    93) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 357
    94) Vgl. JEAN AMERY, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1966. Es sei aber nicht verschwiegen, daß es dennoch Einzelne gab, denen der Schrecken des KZ nur die Wahrheit der eigenen Weltanschauung bestätigte.
    95) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 356
    96) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 365
    97) In diesem Punkt bestehen entscheidende Differenzen zwischen der Kritischen Theorie und Ernst Blochs Philosophie; lediglich in früh aufgegebenen Versuchen BENJAMINs, auf solchen Negationen eine systematische Philosophie zu errichten, dürfte es hierin Übereinstimmungen gegeben haben.
    98) Negative Dialektik, Seite 370
    99) Siehe jetzt GEORG LUKACS, Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied 1970; im vierzigseitigen Vorwort zur Neuauflage läßt sich der Widerruf eines Widerrufs verfolgen. Ungeachtet auch scharfer Kritik an LUKACs (vgl. ADORNO, Erpreßte Versöhnung, in "Noten zur Literatur", Bd. II, Ffm 1961, Seite 152-186; - LUKACS heißt hier u. a. "approbierter Dialektiker" -) hat sich auch die Kritische Theorie dem Einfluß von "Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) nicht völlig entziehen können.
    100) KARL MARX, Das Kapital, Bd. III, Berlin 1953, Seite 873f.
    101) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 369
    102) HORKHEIMER, Bedrohungen der Freiheit, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 352
    103) ADORNO, Vernunft und Ordnung, a. a. O., Seite 28
    104) HORKHEIMER, Die Juden und Europa, in Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VIII, 1939, Heft 1/2, Seite 136.
    105) Buch Kohelet (Prediger), Kapitel 8, 14-17, zitiert nach der LUTHER-Übersetzung, Ausgabe Ffm 1864. Vgl. zum Thema z. B. MARTIN HENGEL, Judentum und Hellenismus, Tübingen 1969.
    106) Vgl. HORKHEIMER, Theismus - Atheismus, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 218.
    107) a. a. O., Seite 217
    108) a. a. O., Seite 219
    109) a. a. O., Seite 220
    110) Die gegenwärtige Diskussion der Auferstehungsproblematik in Exegese und Hermeneutik ist unüberschaubar geworden. Gerade, wenn wenigstens die Einheit von Kreuz und Auferstehung gerettet werden soll, wäre von der Kritischen Theorie zu fragen, ob nicht das Kreuz so lange selbst die Auferstehung in sich verbirgt, bis die Menschheit selbst auferstanden ist.
    111) Vgl. HORKHEIMER, Gegensätzliche Allheilmittel, in "Kritik der instrumentellen Vernunft", Seite 15-62.
    112) vgl. HORKHEIMER, Religion und Philosophie, a. a. O., Seite 229f.
    113) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 390
    114) HORKHEIMER, Religion und Philosophie, a. a. O., Seite 229
    115) Vgl. ADORNO, Negative Dialektik, Seite 392. ADORNO treibt hier vielleicht die negative Dialektik auf ihre Spitze: "(Forschreitende Entmythologisierung) frißt sich auf wie die mythischen Götter mit Vorliebe ihre Kinder ...".
    116) a. a. O. Seite 397
    117) HORKHEIMER, Religion und Philosophie, a. a. O., Seite 235
    118) ADORNO, Negative Dialektik, Seite 394
    119) Nur als Hinweis sei angemerkt, daß ALBERT CAMUS aus der Erfahrung der Absurdität ebenfalls keineswegs zu einem bloß resignativen Ergebnis für die Praxis kommt. Hierin bestehen gewisse Ähnlichkeiten mit der späten Kritischen Theorie, wenngleich beide sehr verschiedene Voraussetzungen haben. CAMUS verteidigt beispielsweise den Pessimismus gegen den pauschalen Vorwurf, er sei mutloses Denken (CAMUS, Fragen der Zeit, Hamburg 1960, Seite 62f). "Wahrheiten in einer Dimension, die metaphysisch genannt zu werden pflegt, kann der Mensch nicht erkennen, und eben darin besteht die Absurdität" (H. R. SCHLETTE, Camus heute, in: Aporie und Glaube, München 1970, Seite 85f). In einer solchen Einsicht wie im Entsetzen über Böses und Leiden, das sich gegen Harmonisierung (mit Ausnahme vielleicht in der Natur, für die CAMUS eine Sensibilität entwickelt, die der deutschen romantischen Tradition jedoch keineswegs verwandt ist) sträubt, gibt es Querverbindungen zur Kritischen Theorie, die noch genauer untersucht werden müßte.
    120) In der Kategorie "memoria" erkennt J. B. METZ für die Theologie eine Potenz, die innertheologisch wie politisch-sozial gleichermaßen Kritik ermöglicht. Vgl. dazu neuerlich: Kirchliche Autorität im Anspruch der Freiheitsgeschichte, in: METZ/MOLTMANN/OELMÜLLER, Kirche im Prozeß der Aufklärung, München 1970, Seite 53-90. METZ warnt zugleich vor "Sektenmentalität"; die Möglichkeit, durch bloße Tradition von Riten und Kult religiöse Tradition zu erhalten, scheint nicht sehr aussichtsreich. Auch der Rat, den PAUL CLAUDEL ANDRÉ GIDE erteilt, sich einfach der Praxis des kirchlichen Lebens anzuvertrauen, der Glaube käme quasi von selbst hinzu, kann nicht hinreichend überzeugen.
    121) Vgl. W. OELMÜLLER, Die unbefriedigte Aufklärung, Ffm 1969.