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OLE CHRISTIAN HALLESBY
Johannes Volkelts Erkenntnistheorie
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"Descartes fragte: Was ist das Ideale, was ist das Reale in meiner Vorstellung von den Dingen? Kants Antwort lautet: Alles ist ideal. Wir erkennen nur unsere eigenen Erkenntnisgesetze. Die Dinge sind für immer von uns getrennt. Diese Konsequenz hat den im tiefsten rationalistisch denkenden Kant erschreckt."

"Im Positivismus wird gesagt: Der Erfahrung allein haben wir zu glauben. Wenn nur die subjektiven Zutaten unseres Vorstellens abgesondert werden, so gibt uns die Empfindung den Inhalt des Seins. - Der Bewußtseinsmonismus dagegen nimmt mit Entschiedenheit das alte Problem auf: gibt es überhaupt eine objektive Wirklichkeit außerhalb meiner subjektiven Vorstellung? Dies ist insofern ein großer Fortschritt, da weder Kant noch der Neukantianismus dieses Problem zum Ausgangspunkt einer Untersuchung gemacht hat."

"Will man wie die Positivisten ausschließlich das Erkenntnisprinzip der reinen Erfahrung gelten lassen, dann ist jede Wissenschaft unmöglich. Ja, das Bewußtsein selbst würde eine sinnlose Reihe von unzusammenhängenden Einzelzuständen bilden, die uns in kurzer Zeit wahnsinnig machen müßten."


Geschichtliche Orientierungspunkte

Man hat gesagt, für die griechische Philosophie habe das erkenntnistheoretische Problem noch nicht existiert. Dies ist insofern richtig, als die Griechen niemals grundsätzlich unser Erkenntnisvermögen bezweifelt haben. Sie gehen unbefangen davon aus, daß unser Erkennen uns in den Hauptzügen das wirkliche Weltbild gibt. Daß die in unserem Erkennen vorgefundene Außenwelt wirklich existiert, haben sie keinen Augenblick bezweifelt. Sie haben nur bezweifelt, daß wir mit unseren unvollkommenen Erkenntnisfunktionen ein in den Einzelheiten wahres, sich selbst widersprechendes Bild dieser wirklich existierenden Welt bekommen können.

Es war der neueren Philosophie vorbehalten, das erkenntnistheoretische Problem zu stellen. Ein ziemlich langer Kampf mußte jedoch vorangehen, bis der aristotelische Bann gebrochen war, bis die Naturwissenschaft nachgewiesen hatte, daß die Formen unserer Wahrnehmung nicht ohne weiteres als Eigenschaften auf die Dinge übertragen werden dürfen.

DESCARTES formuliert nun das erkenntnistheoretische Problem zum erstenmal so: Was ich erkenne, ist zunächst auf mein eigenes Bewußtsein beschränkt, die Welt ist mir allein als Vorstellung gegeben. Die Frage lautet nun: ist sie mehr als meine Vorstellung? Wird sie bejaht, so fragt sich weiter: was an der Vorstellung gehört meiner Subjektivität an und was ist unabhängig von ihr vorhanden, was ist in meiner Vorstellung das Ideale, was ist das Reale? DESCARTES antwortet: Meine Idee von Gott beweist mir die Existenz anderer Subjekte. Die Existenz einer Außenwelt bewährt sich durch die Sinnesempfindungen, die ich nicht beliebig bald so, bald anders zu empfinden vermag. Das Verhältnis zwischen dem Idealen und dem Realen bestimmt DESCARTES so: Die Sinneswahrnehmung ist subjektiv und täuscht. Das eingeborene, begrifflice Denken dagegen gibt uns die wahre Wirklichkeit: die Substanz.

Hat DESCARTES nun damit unser Erkenntnisvermögen als solches zum Problem gemacht? Kaum. Er beginnt mit dem Zweifel am Wissen. Aber sobald er ein absolut unbezweifelbares Wissen gefunden hat, steht es ihm als selbstverständlich fest, daß das Denken von sich aus die Wirklichkeit konstruieren kann. Am deutlichsten tritt dies hervor, wo er von einem subjektiven Gottesbewußtsein auf die Existenz Gottes schließt.

Insofern hat DESCARTES noch nicht die volle Schwierigkeit des erkenntnistheoretischen Problems gefühlt. Aber mit seinem grundlegenden Zweifel als Ausgangspunkt der philosophischen Forschung hat er den späteren Forschern die Richtung angegeben, nach welcher dieses Problem in seiner ganzen Tiefe gestellt und seine Lösung gesucht werden muß.

Zwischen DESCARTES und KANT ist die Philosophie erkenntnistheoretische mit der Frage nach dem Ursprung der Ideen beschäftigt. Der Rationalismus geht hier hauptsächlich in den Fußstapfen DESCARTES' und sieht das Kennzeichen der Wahrheit in der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen. Der englische Empirismus bezweifelt das Erkenntnisvermögen ebensowenig wie der Rationalismus. Nur bestimmt er anders die Abkunft der Erkenntnis und die Grenze des Wissens.

So behauptet LOCKE z. B. ausdrücklich, daß die durch Sinneseindrücke entstandenen Vorstellungen mit der Wirklichkeit selbst übereinstimmen, selbst wenn sie keine direkten Abbildungen der Dinge sind. - Selbst ein BERKELEY bezweifelt nicht die objektive Gültigkeit der Erkenntnis. Seine ideale Welt ist ebenso objektiv gültig wie die Substanz für die Rationalisten. Ja, der große Skeptiker HUME hält auch eine Erkenntnis der Dinge fest; er schränkt nur das Gebiet des sicheren Wissens ein.

DESCARTES hatte zuerst die Subjektivität unserer Anschauungsformen als Problem formuliert und erkenntnistheoretische Konsequenzen daraus gezogen. GEULINCX stellt zuerst die Denkformen unter denselben Gesichtspunkt: welche Gewähr bietet der klare und deutliche Begriff für die Realität des Inhaltes? DESCARTES hat gezeigt, daß wir Farbe und Ton als sekundäre Eigenschaften von Bewegung und Ausdehnung als den primären unterscheiden müssen. Aber die Verstandesbegriffe Bewegung und Ausdehnung sind ebenso subjektiv wie die Anschauungsformen.

Was GEULINCX nicht vermochte, das tat KANT: er zog die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser epochemachenden Entdeckung und stellte damit das Problem, das die Nachwelt bis heute beschäftigt hat: wenn sowohl die Anschauungsformen wie die Denkformen nur subjektive Forderungen sind, wie können sie dann objektive Gültigkeit haben? - KANTs Antwort lautet: weil wir nur die Grundsätze unseres Verstandes erkennen. Unser Verstand ist selbst der Gesetzgeber der Natur. Er macht aus der Sinnenwelt eine "Natur".

KANT behauptet, daß er zuerst eine wirkliche Kritik der Vernunft unternommen hat. Mit Recht. Ich frage nur: wie tief ging seine Kritik und damit seine Problemstellung? Seine Fragen lauten: wie kommt Erkenntns zustande? Aus welchen Faktoren setzt sie sich zusammen? Wie weit reicht sie? - Stellen wir auch hier dieselbe Frage wie oben: Hat KANT das Erkenntnisvermögen bezweifelt? dann dürfen wir vielleicht antworten: dies ist ihm kein Problem gewesen. Wie DESCARTES behandelt auch KANT die Frage, ob es Dinge außerhalb unserer Vorstellung gibt, nur vorübergehend. Und wie DESCARTES findet auch er, daß die Sinnesempfindungen eine Außenwelt bezeugen. Hier sehen wir, wie viel Dogmatismus sich noch in die kantische Kritik einmischte. Daß wir unseren subjektiven Wahrnehmungsfunktionen zu glauben haben, steht ihm selbstverständlich fest. Er beweist eine transsubjektive Existenz durch eine intrasubjektive Bewußtseinsforderung.

Dementsprechend darf ich vielleicht sagen: KANT hat ebenso wie DESCARTES, LOCKE, BERKELEY und HUME die Grenzen der Erkenntnis bezweifelt und kritisiert. Das Erkenntnisvermögen dagegen hat er weder bezweifelt noch kritisiert. Charakteristisch genug lautet auch KANTs grundlegende Frage: wie (nicht ob) synthetische Urteile a priori möglich sind.

DESCARTES fragte: Was ist das Ideale, was ist das Reale in meiner Vorstellung von den Dingen? KANTs Antwort lautet: Alles ist ideal. Wir erkennen nur unsere eigenen Erkenntnisgesetze. Die Dinge sind für immer von uns getrennt. Diese Konsequenz hat den im tiefsten rationalistisch denkenden KANT erschreckt. Und da er niemals das Problem: Subjektiv-Transsubjektiv zu einer kritischen Behandlung aufgenommen hatte, so läßt er die Erkenntnis auf verschiedenen Wegen sich aus dem Bann der Anschauungs- und Denkformen in das Gebiet der Dinge hinausschleichen.

Diese von KANTs Standpunkt aus inkonsequenten Unternehmungen haben für die folgende erkenntnistheoretische Forschung eine schicksalsschwere Bedeutung gehabt. Die erste philosophische Generation nach KANT (FICHTE, SCHELLING und HEGEL) hat nicht KANTs erkenntnistheoretisches Problem gefühlt, geschweige denn weiter bearbeitet. Sie ergriffen alle mit der Notwendigkeit der Reaktion die positive Seite des großen Kritikers: Das Ich bestimmt über die Natur, gibt ihr Form und Gesetze.

Weder diese spekulative noch die danach folgende materialistische Philosophie hat besonders wichtige Beiträge zur erkenntnistheoretischen Forschung gegeben. Erst mit der erneuerten KANT-Forschung in den letzten vier Jahrzehnten ist das erkenntnistheoretische Problem aufs Neue in den Vordergrund getreten. Der Neukantianismus stellt und löst dieses Problem gewöhnlich im Sinne KANTs, doch mit der Beseitigung des kantischen "Undings", des Dings-ansich. Der Positivismus und der Empiriokritizismus behandelt diese Frage in einer geradezu unbegreiflichen Oberflächlichkeit, man könnte sagen, als ob die philosophische Behandlung der Anschauungsformen seit den Tagen des DESCARTES ihnen ganz unbekannt wäre. Es wird gesagt: Der Erfahrung allein haben wir zu glauben. Wenn nur die subjektiven Zutaten unseres Vorstellens abgesondert werden, so gibt uns die Empfindung den Inhalt des Seins. - Der Bewußtseinsmonismus dagegen nimmt mit Entschiedenheit das alte Problem auf: gibt es überhaupt eine objektive Wirklichkeit außerhalb meiner subjektiven Vorstellung? Dies ist insofern ein großer Fortschritt, da weder KANT noch der Neukantianismus dieses Problem zum Ausgangspunkt einer Untersuchung gemacht hat. Der Bewußtseinsmonismus nimmt einen ganz richtigen Ausgangspunkt ein: mit unmittelbarer Gewißheit wissen wir nur von unseren eigenen Bewußtseinstatsachen. Aber indem er die Existenz anderer Subjekte anerkennt, bricht sein ganzes erkenntnistheoretisches System zusammen.

Hiermit haben wir in den Hauptzügen die Geschichte des Problems kurz gezeichnet, das das treibende Motiv der erkenntnistheoretischen Forschung VOLKELTs von Anfang an gewesen ist: Gibt es eine objektive Erkenntnis?

Diese Frage, von DESCARTES schon gestellt, durch die Forschung KANTs erst dringend notwendig geworden, von den späteren Forschern mit mangelnder Konsequenz aufgenommen, beschäftigt VOLKELT schon in seinem ersten Werk: "Immanuel Kants Erkenntnistheorie" (1879). Hier gibt er nicht bloß eine tiefgehende Untersuchung der verschiedenen Denkprinzipien KANTs, sondern auch eine positive Lösung der vielen erkenntnistheoretischen Widersprüche, die er mit unwiderlegbarer Konsequenz bei diesem großen Kritiker entdeckt. Er gibt deshalb diesem historischen Werk auch den Nebentitel: "Ein Beitrag zur Grundlegung der Erkenntnistheorie". Dasselbe Problem nur auf ein besonderes Gebiet beschränkt beschäftigt ihn auch in der Antrittsrede "Über die Möglichkeit der Metaphysik" (1883). 1886 erschien sein erkenntnistheoretisches Hauptwerk: "Erfahrung und Denken - Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie". Hier gibt er die Grundlagen seines Systems mit einer Selbständigkeit und einer kritischen Unbefangenheit, die in unserer Zeit ganz besonders wohltuend wirkt. Endlich hat er 1906 in den "Quellen der menschlichen Gewißheit" die Resultate seines Systems kurz und scharf pointiert dargestellt.


Ausgangspunkt und Methode

VOLKELT, wie schon DESCARTES, nimmt seinen Ausgangspunkt in unserem absolut unbezweifelbaren Wissen von unseren eigenen Bewußtseinsvorgängen. Die Gewißheit von diesem Wissen läßt sich nicht beweisen, aber auch nicht bezweifeln. Sie ist selbstverständlicher Art. Was dagegen außerhalb meines Bewußtseins liegt, kann ich ebenso selbstverständlich nicht "wissen", d. h. ich kann seiner nicht unmittelbar innewerden. Des Transsubjektiven können wir bestenfalls nur als unserer Vorstellung davon innewerden.

Wenn nun VOLKELT diesen radikalen Zweifel als Ausgangspunkt seiner erkenntnistheoretischen Untersuchung wählt, so ist dies nichts Originelles. Aber originell ist seine konsequente Durchführung dieses radikalen Zweifels. Das hat vor ihm niemand getan und niemand gewagt. Für DESCARTES war der gleichlautende Satz mehr Ausdruck eines methodischen Bedürfnisses als einer erkenntnistheoretischen Forderung. Er konnte noch von einem Beweisen der Gültigkeit der Erkenntnis sprechen. Und die Kritiker, die heutzutage alles Wissen auf das Bewußtsein beschränken, haben noch nicht gewagt, diesen Standpunkt konsequent durchzuführen. Sie behaupten zwar, daß wir keine Außendinge, sondern immer unsere eigenen Bewußtseinsvorgänge erkennen können. Aber andere Subjekte setzen sie schon bei der Grundlegung der Erkenntnistheorie voraus. Hier hat VOLKELT mit energischer Gedankenkonsequenz die Grenze zwischen dem Subjektiven und dem Transsubjektiven gezogen. Dies ist seine erste selbständige Großtat, die von entscheidender Bedeutung für die ganze weitere Problemstellung wird. Wird dieser konsequente Zweifel als Ausgangspunkt festgehalten, dann ist schon die neue eigentümliche Aufgabe und Methode der Erkenntnistheorie gegeben. Will man von diesem Ausgangspunkt aus eine Theorie des Erkennens erbauen, dann ist zunächst kaum mehr als ein Weg zu gehen: alles bezweifelbare Wissen konsequent fernzuhalten und das Erkenntnisprinzip der reinen Erfahrung als einziges Fundament zu benutzen, um dann weiter zu untersuchen, ob von hier aus eine Brücke zum transsubjektiven Gebiet führt.

Auch dies haben sich mehrere Forscher vor VOLKELT als Aufgabe gestellt. Doch ist das Prinzip der reinen Erfahrung in allen seinen Konsequenzen vorher nicht gefaßt worden. Was früher mehr gelegentlich behandelt worden ist, macht VOLKELT zum ersten Problem der Erkenntnistheorie. Er nimmt das Prinzip zu systematischer Untersuchung auf und zeigt sowohl die Vorteile als auch die Mängel der unmittelbaren Erfahrung. Damit ist - historisch gesehen - das von DESCARTES und KANT dunkel gefühlte Problem in seiner Tiefe gesehen und mit seinen ernsten Schwierigkeiten gestellt. Nun erst wird mit Evidenz nachgewiesen, was es heißt, daß unsere Anschauungs- und Denkformen subjektiver Natur sind. Hier erst wird die Konsequenz aus KANTs Kritik der reinen Vernunft gezogen. Hier wird das zum Problem gemacht, was KANT als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, nämlich die wirkliche Grenze zwischen Erscheinung und Ding-ansich.

Von diesem Fundamentalsatz aus ist weiter gegeben, daß alles was wir von einer Außenwelt zu wissen meinen, uns nie durch ein unmittelbares Innewerden gegeben werden kann, sondern nur in der Form einer Forderung, daß unsere subjektiven Bewußtseinsvorgänge eine transsubjektive Gültigkeit haben. Und die Berechtigung dieser Forderung können wir niemals beweisen, sie wird sich immer nur als Gewißheit verbürgen. Damit ist auch gegeben, daß die Theorie des Erkennens als eine Theorie der Gewißheit gestaltet werden muß.

Auch was VOLKELT mit einem unglücklichen Wort voraussetzungslose Erkenntnistheorie nennt, folgt aus dem Fundamentalsatz. Das objektive Erkennen wird ja in der Erkenntnistheorie in Frage gestellt und zur Prüfung aufgenommen. Deswegen wäre es ganz verkehrt, die Ergebnisse des objektiven Erkennens zu Hilfe zu nehmen. Hier darf man zunächst nur das absolut unbezweifelbare Wissen verwenden. - Was SCHUPPE (1) gegen diese voraussetzungslose Erkenntnistheorie einwendet, trifft nicht VOLKELTs Methode. VOLKELT hat besonders in "Erfahrung und Denken" (2) die Voraussetzungslosigkeit sehr eingehend erörtert. Hier unterscheidet er zwischen psychologischen und logischen Voraussetzungen. Mit psychologischen Voraussetzungen meint er nun die Erkenntnisergebnisse als subjektive Bewußtseinsvorgänge ganz abgesehen davon, ob sie auch eine objektive Gültigkeit besitzen. Als solche gehören sie der reinen Erfahrung und dürfen ohne weiteres verwendet werden. - Doch zeigt sich, daß die Terminologie besser gewählt sein könnte. Ein Wort, das so vieler Erklärungen bedarf, bringt mehr Verwirrung als Licht in die Sache.

Hier wird nun das Erkenntnisvermögen in Frage gestellt, nicht nur wie so oft früher die Erkenntnisresultate oder der Inhalt des Erkennens. Deswegen kann die alte Methode des Beweisens auch nicht mehr verwendet werden. Ein Beweis setzt andere Subjekte voraus. Und von diesen "wissen" wir auf diesem Standpunkt noch nichts. - Die Methode der Untersuchung ist dementsprechend einfach eine Selbstbeobachtung und ein Aufzeigen der Bewußtseinsvorgänge. Unter diesen sind nun besonders die hervorzuziehen, die mit unmittelbarer Gewißheit, transsubjektive Gültigkeit zu haben, ausgestattet sind. Läßt sich das objektive Erkennen nicht auf diesem rein subjektiven Boden rechtfertigen, dann gibt es überhaupt keine Möglichkeit der Rechtfertigung derselben.

Von hier aus ist nun die methodische Stellung der Erkenntnistheorie den anderen Wissenschaften gegenüber gegeben. Alle anderen Wissenschaften setzen die Möglichkeit des objektiven Erkennens voraus. Deswegen muß die Erkenntnistheorie allen anderen Forschungszweigen vorangehen. Weder psychologische noch logische noch metaphysische Voraussetzungen dürfen der Erkenntnistheorie zugrunde gelegt werden. Besonders scharf tritt er hier auf gegen die üblichen psychologischen Voraussetzungen. Jede Voraussetzung, die auf einem objektiven Erkennen beruth, muß ferngehalten werden. Die logischen Voraussetzungen müssen insofern ferngehalten werden, als sie allgemeingültige Gesetze und Formen des Denkens behaupten. - Das Verhältnis der Erkenntnistheorie zur Logik wird später behandelt werden.


Das unbezweifelbare Wissen

Hat man bei der Grundlegung der Erkenntnistheorie nur das Wissen von den eigenen Bewußtseinsvorgängen zu verwenden, dann ist die nächste wissenschaftliche Aufgabe schon gegeben: das Wissen nach Art, Umfang und Leistungsfähigkeit zu untersuchen.

Zuerst: mit welcher Gewißheit ist dieses Wissen verbunden? Die Selbstbeobachtung sagt mir, daß die Bewußtseinstatsachen mit unbezweifelbarer Gewißheit gewußt werden. Und fragen wir weiter, worauf diese Gewißheit beruth, welche Grundlage sie hat, dann muß geantwortet werden: sie ist von vollkommen selbstverständlicher Natur, d. h. es wäre sinnlos, eine Begründung dafür zu verlangen, daß ich ein völlig sicheres Wissen z. B. von meinem Ermüdungsgefühl behaupten darf. Dieser Satz ist nicht infolge eines Schlusses gewiß, sondern sagt uns, daß das Wissen von meinen eigenen Bewußtseinsvorgängen, so oft es sich vollzieht, in seiner Tatsächlichkeit sein eigenes Erkenntnisprinzip besitzt.

Hinsichtlich des Umfangs dieses Wissens zeigt die Selbstbeobachtung, daß nicht all das, was im Bewußtsein vorgeht, mir unmittelbar gewiß ist. Das einfache Haben von Bewußtseinsvorgängen ist noch nicht das Wissen von ihnen. Wissen ist vielmehr das aufmerksame Haben und Unterscheiden meiner Bewußtseinsvorgänge. Auch von vergangenen Bewußtseinsvorgängen besitze ich ein unbezweifelbares Wissen, weil die Erinnerung diese vergangenen Vorgänge aufs Neue auftauchen läßt. Hier liegt deshalb keine neue Gewißheitsart vor.

VOLKELT führt hier eine neue Benennung ein. Unter Erfahrung versteht man gewöhnlich das, was meinem Bewußtsein gegenwärtig ist. Deshalb läßt sich die bisher erörterte Gewißheit auch als die Gewißheit der reinen Erfahrung bezeichnen. Und das bisherige Ergebnis läßt sich nun so ausdrücken: Das Erkenntnisprinzip der reinen Erfahrung darf bei der Grundlegung der Erkenntnistheorie als ausschließliches Prinzip verwendet werden.

Wir haben bisher das Wesen und den Umfang dieses Prinzips kennengelernt. Nun die Leistungsfähigkeit: Hier geht VOLKELT zunächst negativ vor, zeigt, was wir niemals erfahren haben und niemals erfahren können. Er wendet sich speziell gegen die Positivisten und die Bewußtseinsmonisten, die auch die reine Erfahrung als erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt genommen wissen wollen. Zuerst zeigt er nun, daß wir unmöglich den Wahrnehmungsinhalt als etwas Transsubjektives erfahren können. Es ist wohl möglich, daß eine ähnliche Welt im Transsubjektiven existiert, aber die Erfahrung gibt doch immer nur das Intrasubjektive.

Damit ist nun die gewöhnliche philosophische und naturwissenschaftliche Auffassung, daß die Sinneswahrnehmung uns unmittelbar des Daseins einer Außenwelt versichert, hinfällig. Ebenso die Anschauung, daß wir die Materie und die Kraft erfahren können. Diese Behauptung trägt dazu einen doppelten Widerspruch in sich. Denn Kräfte, Materie, Moleküle, Atome, werden niemals wahrgenommen, sondern immer zu den Wahrnehmungen hinzu vorgestellt. Zum Unerfahrbaren gehört weiterhin das Unbewußte, vo dem wir nur durch Schlüsse von unserem eigenen Leben aus eine Vorstellung bekommen können. Dasselbe gilt auch von den anderen Bewußtseinen, sowohl der Tiere als auch der Menschen. Die Selbstgewißheit des Bewußtseins verbürgt mir lediglich meine eigenen Bewußtseinsvorgänge.

Auch viele Erkenntnistätigkeiten lassen sich nur durch Voraussetzung eines Transsubjektiven vollziehen. Das Beweisen fordert Gelten und setzt also andere gleichdenkende Subjekte voraus. Dasselbe gilt der sachlichen Notwendigkeit, die jeden Akt des Schließens und Beweisens begleitet. Die Erfahrung gibt nur das Einzelne und darf natürlich nichts von dem, was noch nicht erfahren ist, aussprechen. Sie kann nur das Faktische, nie das Notwendige aufzeigen.

Nicht nur die Außenwelt und die in ihr vorausgesetzte Gesetzmäßigkeit ist der Erfahrung unerreichbar. Auch die Kontinuität der eigenen Bewußtseinsvorgänge ist unerfahrbar. Zwar fühle ich mich in allen meinen Vorstellungen als dasselbe Bewußtsein, also mit mir identisch. Aber ich kann mich nie isoliert von meinem jeweiligen Bewußtseinsinhalt wissen, und dieser Inhalt wechselt von Zeit zu Zeit. Kontinuität kommt den Bewußtseinsvorgängen nur insofern zu, als sie sich sämtlich in meinem Bewußtsein abspielen. Dagegen als besonderen voneinander unterschiedenen mangelt ihnen jedwede Kontinuität.

Das gilt auch von der Kausalität. Ich erfahre niemals das Verhältnis des Bestimmens und Wirkens zwischen meinen Vorstellungen. Die Erfahrung zeigt überall nur ein simul [ähnlich, gleich - wp] und post [nachher - wp]. Nicht einmal das Kausieren meines Wollens erfahre ich. Auch hier erfahre ich nur das Nacheinander. Die Kausalität läßt sich also überhaupt nicht erfahren, sie wird immer zu meiner Erfahrung hinzugedacht. Ja, nicht nur dies: sie wird sogar in die Erscheinungen selbst hineingedacht, als ob sie ihnen innewohnt. - Auch nicht die Regelmäßigkeit läßt sich erfahren. Die Erfahrung ist doch immer voll von Lücken und kenne ich nur das Erkenntnisprinzip der Erfahrung an, dann habe ich kein Recht, diese Lücken durch Denken auszufüllen.

Will man wie die Positivisten ausschließlich das Erkenntnisprinzip der reinen Erfahrung gelten lassen, dann ist nach dem oben Dargestellten jede Wissenschaft unmöglich. Ja, das Bewußtsein selbst würde eine sinnlose Reihe von unzusammenhängenden Einzelzuständen bilden, die uns in kurzer Zeit wahnsinnig machen müßten.

Damit ist die erste Aufgabe der Erkenntnistheorie gelöst. Es steht nun fest, was wir wissen, und daß dieses Wissen uns unmöglich zu einem objektiven Erkennen führen kann.

Daß VOLKELT fühlte, daß dieses Ergebnis sein ganzes System bedroht, ist ja nur natürlich. Er hat dann auch in seinem letzten Werk (3) sich selbst folgende Frage gestellt: alles was bisher auf der Grundlage eines Selbstinneseins gesagt wurde, schließt ja Denkakte in sich. Wie kann man aber der Selbstgewißheit des Bewußtseins als solcher, abgesehen vom Denken, den Rang einer Gewißheitsquelle zuschreiben? VOLKELT antwortet:
    1. Die Selbstgewißheit des Bewußtseins erhebt als solche nicht den Anspruh, etwas Allgemeines auszusagen. Sie besteht auch ohne Hinblick auf die Zustimmung anderer. Sie ist als ein Monolog zu betrachten.

    2. Die Form des Urteils benutzt sie zwar und muß sie benutzen, aber die Gewißheit hat in keinem urteilsmäßigen Verknüpfen ihren Grund, sondern ruht völlig auf uns in sich.

    3. Die sprachlichen Ausdrücke, die ja immer etwas Allgemeines enthalten, werden nur verwendet entweder als Hinweis auf einzelne Bewußtseinsinhalte, deren ich unmittelbar gewiß bin, oder als Zusammenhang vieler ähnlicher Bewußtseinsinhalte.
Diese Antwort VOLKELTs finde ich ganz und gar zutreffend, aber nicht genügend. VOLKELT hat in dieser Antwort gar nicht die eigentliche Schwierigkeit berührt. Machen wir uns einmal VOLKELTs Stellung klar, dann leuchtet die Schwierigkeit von selbst ein: Wie oben gezeigt, hat VOLKELT die Leistungsfähigkeit des Erkenntnisprinzips der reinen Erfahrung nachgewiesen. Dieses Erkenntnisprinzip führt uns - wenn es als ausschließliche Erkenntnisquelle benutzt werden soll - von aller Wissenschaft weg ins Dunkel, ja in den Wahnsinn hinein. Vorher hat VOLKELT behauptet (4), der Erkenntnistheoretiker darf anfangs nur dieses Prinzip benutzen, denn nur dieses gibt uns ein unbezweifelbares Wissen. Diese zwei Sätze VOLKELTs brauchen nur einander gegenübergestellt zu werden, so sieht doch jedermann den schreienden Widerspruch. Ist das Erkenntnisprinzip der reinen Erfahrung so arm, wie VOLKELT es dargestellt hat, dann ist es selbstverständlich unbrauchbar auch als Ausgangspunkt einer erkenntnistheoretischen Untersuchung. Ist wirklich mein Bewußtsein eine so diskontinuierliche, kausalität- und regellose Erscheinungen, wie VOLKELT es mit großer Mühe bewiesen hat, dann ist natürlich selbst ein Monolog undenkbar. Es läßt sich nach VOLKELTs Darstellung gar nicht vorstellen, wie ein solches Bewußtsein - auch ohne Anspruch auf Zustimmung anderer Subjekte - sich selbst beobachten könnte, ja sogar eine schöne Reihe von Verknüpfungen und Schlüssen, die zwar als ganz subjektiv dahingestellt, aber doch logisch korrekt ausgeführt sind, vornehmen könnte. - Hier hat LASSON (5) den Einwand scharf formuliert, indem er sagt: "was er (Volkelt) ausmacht, das macht er durch Denken aus"; "er scheint nur sein eigenes Tun zu verkennen".

Wie ich oben hervorgehoben habe, sind VOLKELTs prinzipielle Erörterungen hinsichtlich der sogenannten Voraussetzungslosigkeit ganz berechtigt. Aber nachdem er das unbezweifelbare Wissen auf einen unzusammenhängenden Wirrwarr von Bewußtseinsvorgängen beschränkt, hat er den Ast, auf dem er selbst Platz genommen hatte, abgesägt.

Ist nun VOLKELTs Bestimmung des Inhalts der reinen Erfahrung korrekt? Ich kann gleich hinzufügen: dann ist sein erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt unbrauchbar, ja dann ist nach seinen eigenen Andeutungen eine Theorie des Erkennens überhaupt eine Unmöglichkeit. - Vielleicht läßt sich aber auch ohne allzugroße Schwierigkeit nachweisen, daß die Sachlage eben umgekehrt zu betrachten ist: VOLKELTs Ausgangspunkt ist korrekt, aber die Bestimmung des Inhalts der reinen Erfahrung beruth auf einer merkwürdigen inkonsequenten Durchführung seiner eigenen Definition der Erfahrung. Die letzte lautet: "alles was meinem Bewußtsein gegenwärtig ist" oder "scheidewandloses Innewerden" (6). Und zu dem, was meinem Bewußtsein gegenwärtig ist, rechnet er nun alles, wsa in meinem Bewußtsein wahrgenommen wird. Aber wie wir sahen, die Außenwelt, die anderen Subjekte, die Allgemeingültigkeit, die Notwendigkeit, die Kausalität, ja selbst die Regelmäßigkeit rechnet er als unerfahrbar, weil diese alle hinzugedacht werden. Mit anderen Worten: VOLKELT rechnet die Forderungen des Denkens nicht als meinem Bewußtsein gegenwärtig, wie er es auch geradezu ausspricht:
    "Das Denken ... ist eo ipso ein Postulieren von Unerfahrbarem. Nur die Akte dieses Postulierens lassen sich erfahren." (7)
Hier bemerke ich eine ganz merkwürdige Inkonsequenz. Die Akte der Denktätigkeit lassen sich erfahren, nicht die Forderungen, und doch will VOLKELT wohl kaum verneinen, daß die Forderungen meinem Bewußtsein gegenwärtig sind, sonst könnte er ja gar nicht von ihnen sprechen. Alles was als ein Bild in meinem Bewußtsein auftritt, gehört meiner Selbstgewißheit des Bewußtseins an, gleichgültig woher es kommt: durch die Sinne, die innere Wahrnehmung oder durch Denken. Tritt es in mir auf, so ist es mir unmittelbar gewiß, wenn auch nur als Bewußtseinsvorgang und ohne Anspruch auf objektive Gültigkeit. Dies scheint VOLKELT ganz verkannt zu haben und sieht alles Gedachte oder wie er es nennt, Hinzugedachte als Unerfahrbares an. Und einer besonderen Untersuchung wert ist die Frage: wie hat VOLKELT diese Inkonsequenz begehen können und wie ist sie seinem scharfen Auge so ganz entgangen.

Sehe ich recht, so ist seine ganze Fragestellung etwas zu viel von seinem Kampf mit den Positivisten beeinflußt. Dies hat ihn augenscheinlich zu der unglücklichen Terminologie veranlaßt "reine Erfahrung" statt "Selbstgewißheit des Bewußtseins" einzuführen. Damit scheint die schiefe Fragestellung sich schon eingeschlichen zu haben. Denn wenn die Positivisten "reine Erfahrung" benutzen, so ist es im Gegensatz zum Denken. Nun sieht man auch aus den ansich sehr interessanten Erörterungen (Erfahrung und Denken, Seite 64-113), daß VOLKELTs Widerlegung des positivistischen Standpunkts ganz von diesem Gegensatz bestimmt ist. Er stellt immer das Erfahrene und das Gedachte oder Hinzugedachte einander gegenüber. Und von hier aus zeigt sich leicht das Schicksalsschwere dieser Terminologie. VOLKELT führt die "reine Erfahrung" ein statt der "Selbstgewißheit des Bewußtseins". Also ist hier der Gegensatz: reine Erfahrung - Transsubjektives. Aber diesen Gegensatz hat er sogleich vergessen und verlassen, sobald er die positivistische Terminologie eingeführt hat. - Hiermit mag es nun sein, wie es will. Doch scheint diese Lösung des sonst ganz unbegreiflichen Widerspruchs die natürlichste zu sein.

Gehört nun, wie ich es nachzuweisen versucht habe, das Denken als subjektiver Vorgang der Selbstgewißheit des Bewußtseins an, dann läßt sich VOLKELTs erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt halten. Dann ist erstens die Denktätigkeit des Erkenntnistheoretikers möglich ohne ein neues Erkenntnisprinzip vorauszusetzen, zweitens lassen sich dann die unmittelbar gewußten Bewußtseinsvorgänge beobachten, verknüpfen und ordnen. Und dies alles ist voräufig als ein Monolog zu betrachten, dessen Inhalt vielleicht später zu einer Allgemeingültigkeit erhöht werden kann.

Zuletzt ein paar Worte über VOLKELTs Widerlegung der positivistischen Anschauung. Was VOLKELT den Positivisten gegenüber ausführt, hat seine völlige Gültigkeit. Denn sobald die Frage gilt: Erfahrung - Denken, so wie die Positivisten behaupten, dann trifft VOLKELTs Widerlegung ganz und gar zu. Was er hier vom Wirrwarr der Bewußtseinsvorgänge nachgewiesen hat, das ist die unerbittliche Konsequenz des positivistischen Standpunktes. Will man wie die Positivisten die Erfahrung rein vom Denken haben, dann behält man wie VOLKELT zeigt, nur den Wirrwarr zurück. - Dagegen scheint er den subjektiven Idealisten ein wenig Unrecht zu tun. Sie verneinen doch gar nicht die Denktätigkeit als Bewußtseinsvorgang. Deshalb kann man ihnen keinen Vorwurf machen, daß sie von Kausalität usw. sprechen. Sehe ich recht, so haben sie nur einen angreifbaren Punkt, nur eine Inkonsequenz, nämlich die Annahme der Existenz anderer Subjekte. Und hier gibt ihnen VOLKELT ein Problem zu lösen, indem er zeigt, daß sie, um konsequent ihren Standpunkt festzuhalten, notwendig im Solipsismus enden müssen.

Was VOLKELT durch seine scharfsinnige Widerlegung des Ausgangspunktes der heutzutage mächtigsten Denkrichtung für die philosophische Forschung geleistet hat, läßt sich nach dem Gehör, das seine Gedanken bisher gewonnen haben, gar nicht messen. Die Zukunft wird vielleicht zeigen, daß dadurch eine veränderte Fragestellung notwendig gemacht wurde.
LITERATUR: Ole Christian Hallesby, Johannes Volkelts Erkenntnistheorie, Inaugural-Dissertation, Erlangen 1909