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Die Anfänge des französischen Positivismus [2/2]
2. Finanzminister Turgot ANNE-ROBERT-JACQUES TURGOT wurde am 10. Mai 1727 in Paris geboren. Er entstammte einer der ältesten Familien der Normandie. CONDORCET meinte, der Name TURGOT bedeutet: "Gott Thor"; andere wollen in einem dänischen Fürsten Togut, der 1000 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung gelebt haben soll, den Ahnherrn seines Geschlechts erblicken. Doch TURGOTs Größe ist zum Glück nicht von diesen etymologischen Spielereien abhängig, sein Ruhm ruht auf besseren Grundlagen. Als jüngster Sohn für den geistlichen Stand bestimmt, hatte er trotz sicherer Aussichten auf eine glänzende Laufbahn und trotz seiner Neigung zu einem zurückgezogenen Leben die Charakterfestigkeit, um sich seine Freiheit zu bewahren, seinen Vater vor dem Empfang der Weihen um die Erlaubnis zu ersuchen, den geistlichen Beruf aufgeben zu dürfen. Dieser Entschluß ist umso bemerkenswerter, als TURGOT durchaus nicht religions- oder christentumsfeindlichen Ansichten huldigte. Gerade ein Jahr vor diesem Schritt, 1750, hatte er als Prior der Sorbonne, d. h. als vornehmster Bakkalaureus [Gelehrter des niedrigsten akademischen Grades - wp] mit 23 Jahren zwei Reden gehalten, die durch eine Objektivität des Urteils über die Bedeutung des Christentums, durch historischen Sinn und philosophischen Geist weit über alles hervorragen, was jene Zeit, zumal in Frankreich, gewöhnlich über diese Dinge gedacht hat. TURGOT besaß für die Wissenschaften eine eigentliche Leidenschaft. Er hatte sich die Elemente sämtlicher Wissenschaften angeeignet, in einigen sich Verdienste um ihre Förderung erworben. Trotz dieser Vorliebe für die Gelehrsamkeit und obschon er allen Ehrgeizes ermangelte, widmete er sich dem Staatsdienst. Er glaubte, daß es seine Pflicht sei, diejenige Tätigkeit auszuüben, in der er am meisten Nutzen stiften kann. Er wurde erst Berichterstatter über die Bittschriften, 1761 Intendant von Limoges. Als solcher trat er den Physiokraten nahe und entfaltete eine segensreiche Tätigkeit durch eine Aufhebung des Wegefrons und anderer Mißbräuche. So wurde er 1774 beim Tod LUDWIG XV. von der Nation als der Mann bezeichnet, der allein fähig ist, in die zerrütteten Finanzen des Staates Ordnung zu bringen. Bei seiner Berufung zum Finanzminister stellte er LUDWIG XVI. drei Bedingungen: kein Bankrott, keine Vermehrung der Steuern, keine Anleihen. Um Handel und Industrie zu heben und den Wohlstand zu vermehren, war er bestrebt, den Getreidehandel von alle Beschränkungen zu befreien, die Fron [Dienstleistung für den Lehnsherrn - wp] und das Zunftwesen zu beseitigen und dem Handel und Gewerbe völlige Freiheit zu verschaffen. Bei einer Verteuerung des Brotes infolge einer schlechten Ernte entstand 1770 ein Aufruhr, la guerre des farines [Mehlkrieg - wp]. Solche Unruhen waren früher bei der verkehrten Wirtschaftspolitik der Regierung nicht ohne eine gewisse Berechtigung gewesen, und die Regierung hatte zudem die Schwäche gehabt, die Getreidehändler der Plünderung preiszugeben. Diesmal hatte die Erhebung ihre Ursache in der maßlosen Verhetzung, die gegen TURGOT und seine Freunde von denen in Szene gesetzt wurde, denen die Tugendhaftigkeit des Ministers Furcht einflößte. TURGOT wurde des Aufstandes dadurch Herr, daß er den König bereden konnte, von aller schwächlichen Nachgiebigkeit gegen die Rebellen abzustehen. Schon damals waren Versuche gemacht worden, den König zu bewegen, TURGOT der Furcht vor den Aufständischen zu opfern. Als LUDWIG jedoch einen Monat später das Gebiet der Unruhen bereiste, fand er die Bevölkerung seinem Minister und dessen Regierungsweise äußerst gewogen, was ihn zu dem Ausspruch veranlaßte: "Turgot und ich sind die einzigen, die das Volk lieben." TURGOT trug sich mit dem Plan, um die Alleinherrschaft des Königs zu beschränken und das Volk zu den Staatsgeschäften heranzuziehen, lokale Versammlungen einzuführen, die, aus freier Wahl der grundbesitzenden Bürger hervorgegangen, sich mit der örtlichen Verwaltung zu beschäftigen hätten. Aus diesen sollten provinziale Versammlungen hervorgehen, und wenn sich diese gut eingelebt und bewährt hätten, sollte eine Nationalversammlung gebildet werden, die aber auch nur eine administrative Befugnis gehabt hätte. Ferner beschäftigte sich TURGOT mit dem großartigen Gedanken, sämtliche indirekte Steuern abzuschaffen und durch eine einzige direkte Steuer zu ersetzen. Doch die durchgeführten und noch mehr die beabsichtigten Reformen TURGOTs begegneten beim Adel und allen, die an den bisherigen Zuständen ihren Vorteil fanden, einen heftigen Widerstand. Auch MARIE ANTOINETTE befand sich unter den Gegnern des Ministers, und der König, der Man mit den Maßregeln, der alles versuchte, aber nie etwas durchführte, ließ TURGOT im Mai 1776 fallen. TURGOT schied ungern. Mit Enthusiasmus hatte er das Ministerium angetreten und so weigerte er sich, freiwillig seine Entlassung zu nehmen; der König mußte ihm den Abschied geben. Er sah mit Schmerzen die Hoffnung schwinden, die Leiden seines Volkes heilen und sein Glück auf einem sicheren Grund aufbauen zu können. Besonders peinlich war es ihm, zu sehen, wie seine Erlasse über die Fron und die Zünfte zurückgenommen wurden. Gegen den Vorwurf, seine Reformen überstürzt zu haben, verteidigte er sich selbst mit dem Wort: "Sie kennen die Anliegen des Volkes, und Sie wissen, daß man in meiner Familie mit fünfzig Jahren an der Gicht stirbt." Es war keineswegs eine Phrase, sondern der Ausdruck einer getäuschten Hoffnung einer ganzen, großen Nation, als VOLTAIRE im Jahre 1778 unter dem Jauchzen der Menge zitternd auf TURGOT zueilte und, indem er seine Hand ergriff, mit tränenerstickter Stimme ausrief: "Lassen Sie mich diese Hand küssen, die ihre Unterschrift auf dem Erlaß zum Heil des Volkes gesetzt hat." Die unfreiwillige Muße gab TURGOT zwar den Wissenschaften zurück; aber die Krankheit, die sich während seiner Tätigkeit als Minister bedeutend verschlimmert hatte, setzte seinem Leben, ehe er 55 Jahre zählte, am 20. März 1781 ein Ziel. Der Vornehmheit seines Charakters und der Lauterkeit seines Wesens hat CONDORCET in seiner Biographie ein schönes Denkmal errichtet. TURGOT hat mehrere nationalökonomische Werke hinterlassen. Aus dem Jahr 1766 stammen die Réflexions sur la formation et la distribution des richesses, deutsch von DORN 1903; aus seiner letzten Zeit rührt die Abhandlung Des vrais principes de l'impositon her. 1756 lieferte er in die Enzyklopädie die Artikel: Etymologie, Expansibilité, Existence, Foire und Fondation. Er hatte noch weitere in Vorbereitung; die Verfolgungen, denen dieses Unternehmen ausgesetzt war, hielten ihn jedoch ab, sich weiter daran zu beteiligen. Nicht daß der Ehrgeiz oder die Furcht ihn dazu getrieben hätten, sondern es geschah, weil die Enzyklopädie zum Buch einer Sekte gestempelt worden war. Durch die Verfolgungen waren, so urteilte er, die Beteiligten gezwungen, zum Schaden der Wahrheit sich gegenseitig Rücksichten zu tragen. Ihm schien das Unternehmen deshalb das Gute nicht mehr wirken zu können, das man von ihm sonst hätte erwarten dürfen. Die Anschauungen TURGOTs bilden ein großes und in allen seinen Teilen zusammenhängendes System. Und dieser philosophische Geist ist es, der uns veranlaßt, uns mit ihm zu beschäftigen. Leider ware es ihm nicht möglich, die allgemeinen Prinzipien, auf denen seine Anschauungen ruhten, selbst zur Darstellung zu bringen. Wir sind teils an den Inhalt des Artikels Existence, teils an das gewiesen, was CONDORCET uns über seine Ideen nach persönlichen Mitteilungen überliefert hat. TURGOT war ein Mann von wahrhaft universaler Bildung. Außer den Naturwissenschaften beherrschte er alle Fragen, die in das Gebiet des Ackerbaus, des Handels und der Industrie einschlagen. Seine geschichtlichen und philologischen Kenntnisse waren erstaunlich. Außer von Lateinisch und Griechisch war er auch Kenner des Hebräishen. Der neueren Literatur wandte er die größte Aufmerksamkeit zu. Das Deutsche und das Englische waren ihm vertraut, so daß er GESSNER und KLOPSTOCK, SHAKESPEARE, HUME und TUCKER in der Ursprache las. |