cr-2HerbartV. NorströmSigwartDiltheyR. EislerDescartesV. Kraft    
 
JOHN LOCKE
(1632-1704)

Unser Wissen vom Dasein anderer Dinge
[Versuch über den menschlichen Verstand - Viertes Buch, Kapitel 11]

    2. Buch / Kap. 25 - Von den Beziehungen
2. Buch / Kap. 26 - Über Ursache und Wirkung
2. Buch / Kap. 27 - Über Identität und Verschiedenheit
3. Buch / Kap. 1   - Über die Wörter im allgemeinen
3. Buch / Kap. 3   - Über allgemeine Ausdrücke
4. Buch / Kap. 11   - Unser Wissen vom Dasein anderer Dinge

1. (Es ist nur durch Sinneswahrnehmung zu erlangen.) Das Wissen von unserem eigenen Dasein hat man durch Anschauung; das Dasein Gottes mach uns die Vernunft klar, wie ich gezeigt habe; das Wissen vom Dasein jedes anderen Dings kann man bloß durch die Sinneswahrnehmung haben, da keine notwendige Verbindung des wirklichen Daseins mit einer im Gedächtnis enthaltenen Vorstellung oder mit dem Dasein des einzelnen Menschen besteht, das Dasein Gottes ausgenommen. Deshalb kann das Dasein anderer Dinge nur gewußt werden, wenn sie durch ihr tatsächliches Wirken auf den Menschen von demselben wahrgenommen werden; denn das bloße Dasein der Vorstellung in der Seele beweist das Dasein der Sache so wenig, wie das Bild eines Menschen sein Dasein in der Welt beweist, und wie die Gesichter im Traum daraus eine wahre Geschichte machen.

2. (Ein Beispiel an der Weiße dieses Papiers.) Dieses tatsächliche Empfangen der Vorstellungen von außerhalb gibt uns diese Kenntnis vom Dasein anderer Dinge, und läßt uns bemerken, daß dann Etwas außer uns besteht, welches diese Vorstellung bewirkt, obgleich man vielleicht nicht weiß, noch bedenkt, wie dies geschieht; denn die Gewißheit unserer Sinne und der von ihnen empfangenen Vorstellungen leidet nicht darunter, daß man die Art ihrer Hervorbringung nicht kennt. Während ich z. B. das hier schreibe, wird durch das meine Augen erregende Papier in mir die Vorstellung hervorgebracht, die ich  Weiß  nenne, was auch der Gegenstand sein mag, der sie verursacht. Ich weiß dadurch, daß diese Eigenschaft oder dieses  Akzidenz  [Zufälligkeit, Nebensache - wp] (dessen Auftreten vor meinen Augen diese Vorstellung allemal bewirkt) wirklich besteht und ein Sein außerhalb von mir hat. Davon erhalte ich die größte Gewißheit, deren ich fähig bin, durch das Zeugnis meiner Augen, die allein die rechten Richter hierüber sind, und ich kann mich mit Recht auf dieses Zeugnis sicher verlassen und brauche, während ich das hier schreibe, nicht zu zweifeln, ob ich etwas Weißes oder Schwarzes sehe, und ob wirklich Etwas besteht, was diese Empfindung in mir, während ich schreibe, oder meine Hand bewege, bewirkt. Diese Gewißheit ist so groß, wie die menschliche Natur in Bezug auf das Dasein der Dinge, das eigene Selbst und Gott ausgenommen, fähig ist.

3. (Wenngleich dieses Wissen nicht so gewiß ist, wie das bewiesene, so kann es doch Wissen heißen und beweist das Dasein der Dinge außerhalb von uns.) Die Kenntnis, welche wir durch die Sinne vom Dasein der äußeren Dinge erhalten, ist zwar nicht ganz so gewiß wie das anschauliche Wissen oder die Beweise, welche die Vernunft aus klaren allgemeinen Vorstellungen der Seele ableitet, aber sie bleibt doch eine Gewißheit, welche den Namen eines Wissens verdient. Die Überzeugung, daß unsere Vermögen über das Dasein der sie erregenden äußeren Dinge recht berichten, ist wohlbegründet; denn niemand wird im Ernst so zweifelsüchtig sein, daß er das Sein der Dinge, die er sieht und fühlt, bezweifelt; zumindest kann ein solcher (was er auch bei sich denken mag) mit mir nicht streiten, da er nie sicher sein kann, ob ich etwas gegen seine Meinung sage. Was mich anlangt, so meine ich, Gott hat mir genügend Gewißheit vom Dasein der Dinge außerhalb von mir gegeben, da ich ja nach ihrem Gebrauch mir Lust oder Schmerz bereiten kann, ein Punkt, der für meinen gegenwärtigen Zustand sehr erheblich ist. Wenigstens ist die Überzeugung sicher, daß unsere Vermögen uns hierin nicht täuschen in Bezug auf körperliche Dinge, die höchste Gewißheit, deren wir fähig sind. Denn wir können ohne unsere Vermögen nichts tun und sogar von diesem Wissen selbst nur mittels dieser Vermögen sprechen, die sogar das, was Wissen ist, aufzufassen geeignet sind. Diese Überzeugung, die die Sinne selbst dafür gewähren, daß sie in ihrer Kunde von äußeren Dingen nicht irren, wenn sie von ihnen erregt werden, wird jedoch noch weiter durch andere Gründe bestätigt.

4. (Denn man kann von ihnen nur durch den Einlaß der Sinne wissen.) Erstens ist klar, daß diese Wahrnehmungen durch äußere, unsere Sinne erregende Ursachen bewirkt werden; denn die, welchen die Organe dazu abgehen, können nie die dadurch hervorgebrachten Vorstellungen in ihrer Seele haben. Das ist so klar, daß man nicht daran zweifeln kann, und man kann deshalb sicher sein, daß diese Vorstellungen nur durch diese Sinnesorgane und auf keinem anderen Weg in die Seele eintreten. Nun werden sie selbstverständlich nicht durch die Organe selbst erzeugt, denn sonst könnten die Augen des Menschen auch im Dunkeln Farben erzeugen, und seine Nase könnte die Rosen auch im Winter riechen; jedoch erlangt niemand den Geschmack der Ananas, wenn er nicht nach Indien geht, wo sie wachsen, und er sie dort kostet.

5. (Sind die Wahrnehmungsvorstellungen und die bloßen Vorstellungen des Gedächtnisses sehr verschieden.) Zweitens habe ich öfters bemerkt, daß man diese in der Seele hervorgebrachten Vorstellungen nicht von sich abhalten kann. Denn wenn ich die Augen oder Fenster fast verschließe, kann ich mir zwar beliebig die Vorstellung des Lichts oder der Sonne aus früheren Wahrnehmungen zurückrufen, allein ich kann diese Vorstellungen auch wieder beliebig beiseite legen und mir dafür den Geruch einer Rose oder den Geschmack des Zuckers vorstellen. Wenn ich aber jetzt am Mittag meine Augen nach der Sonne wende, so kann ich die Vorstellungen, die das Licht und die Sonne in mir erwecken, nicht abweisen. Deshalb besteht ein offenbarer Unterschied zwischen den bloßen, in meinem Gedächtnis enthaltenen Vorstellungen (über welche, wenn es weiter keine gäbe, ich immer die Macht haben würde, und welche ich beliebig beiseite legen könnte) und denen, welche sich mir aufzwingen, und die ich nicht abhalten kann. Deshalb muß entschieden eine äußere Ursache und das Wirken eines äußeren Gegenstandes bestehen, deren Wirksamkeit ich nicht widerstehen kann, und die diese Vorstellungen in mir, ich mag wollen oder nicht, hervorrufen. Darüber hinaus bemerkt Jedermann den Unterschied zwischen der wirklichen Anschauung der Sonne und der davon nur in seinem Gedächtnis befindlichen Vorstellung; beide sind so verschieden, wie es kaum bei anderen Vorstellungen angetroffen wird; deshalb weiß man gewiß, daß nicht beide Erinnerungen oder bloße Tätigkeiten der Seele und Geschöpfe der Einbildungskraft sind, sondern daß das wirkliche Sehen eine äußere Ursache hat.

6. (Lust und Schmerz, welche die Wahrnehmung begleiten, tun dies nicht, wenn diese Vorstellungen ohne die äußeren Gegenstände wiederkehren.) Drittens nehme man hinzu, daß viele dieser Wahrnehmungsvorstellungen mit Schmerz in uns auftreten, während man sich später derselben ohne Schmerz erinnert. Deshalb macht uns die Hitze und Kälte, wenn man sich ihrer erinnert, keinen Schmerz, obgleich er damals sehr peinlich war, und wenn jene sich wirklich wiederholen, es wieder so wird. Dies kommt von der Störung, welche der äußere Gegenstand bei seiner Beziehung auf den Körper veranlaßt. Ebenso entsinnt man sich des Schmerzes von Hunger, Durst, Kopfweh, ohne daß man dabei Schmerzen empfindet; gäbe es nun nichts weiter als Vorstellungen, die in der Seele auftauchen, und Erscheinungen, die die Einbildungskraft unterhalten, ohne daß wirkliche Dinge von außen uns erregen, so müßten diese Schmerzen entweder uns niemals stören, oder sie müßten es in allen Fällen tun. Dasselbe gilt für das, viele Wahrnehmungen begleitende Vergnügen. So sind zwar mathematische Beweise nicht von den Sinnen abhängig, aber ihre Prüfung mittels gezeichneter Figuren verstärkt die Glaubwürdigkeit unseres Sehens und gibt ihm eine Gewißheit, die sich der der Beweise selbst nähert. So würde es sehr sonderbar sein, wenn man es zwar als eine unbestreitbare Wahrheit anerkennen wollte, daß von zwei Winkeln einer Figur, die man mittels eingezeichneter Linien und Winkel gemessen hat, der eine größer als der andere ist und doch am Dasein dieser Linien und Winkel selbst zweifeln wollte, obgleich man nur im Hinblick auf sie die Messung hat ausführen können.

7. (Unsere Sinne unterstützen einander in einem Zeugnis vom Dasein äußerer Dinge.) Viertens bezeugen bei unseren Sinnen in vielen Fällen der eine die Wahrheit dessen, was der andere über das Dasein äußerer Dinge berichtet. Wer ein Feuer sieht, kann, wenn er zweifelt, ob es mehr als ein Bild seiner Phantasie ist, es auch fühlen und sich darüber durch das Hineinstrecken der Hand überzeugen. Sicherlich würde eine bloße Vorstellung oder Phantasie keinen so heftigen Schmerz verursachen; es müßte dann auch dieser Schmerz nur Einbildung sein; obgleich er ihn durch eine Wiedererweckung der Vorstellung sich nicht wieder auflegen kann, wenn die Wunde geheilt ist. So sehe ich, während ich dies schreibe, daß ich die Farbe des Papiers verändern und durch die Zeichnung der Buchstaben voraussagen kann, welche neue Vorstellung es den nächsten Augenblick zeigen soll, und zwar bloß dadurch, daß ich meine Feder darüber führe. Dies zeigt sich nicht (ich mag es mir einbilden, soviel ich will), wenn meine Hand still hält, oder wenn ich meine Feder mit geschlossenen Augen bewege; ebenso muß ich, wenn diese Schriftzeichen einmal gemacht sind, sie so sehen, wie sie sind, d. h. ich muß die Vorstellungen solcher Buchstaben haben, wie ich sie gemacht habe. Daraus erhellt sich, daß sie nicht bloß ein Spiel meiner Einbildungskraft sind; denn die nach dem Belieben meiner Gedanken ausgeführten Schriftzeichen wollen ihnen nicht gehorchen, und verschwinden nicht, wenn ich es mir einbilde, sondern erregen den Sinn fortwährend und regelmäßig so, wie die Gestalten gemacht worden sind. Dazu kommt, daß ihr Anblick einen Andern zum Aussprechen solcher Laute bestimmt, wie ich vorher gewollt habe, und so kann man nicht bezweifeln, daß diese Worte, die ich geschrieben habe, wirklich außerhalb von mir bestehen, da sie eine lange Reihe von Lauten veranlassen, die meine Ohren erregen; dies konnte weder von meiner Einbildung kommen, noch konnte mein Gedächtnis sie in dieser Ordnung behalten.

8. (Diese Gewißheit ist so groß, wie unser Zustand es verlangt.) Will trotzdem jemand so zweifelsüchtig sein, seinen Augen nicht trauen und behaupten, daß Alles, was wir während unseres ganzen Lebens sehen und hören, fühlen und schmecken, denken und tun, nur eine Reihe täuschender Erscheinungen eines Traumes ohne Wirklichkeit seien, und so das Dasein aller Dinge und unser ganzes Wissen in Zweifel ziehen, so möchte ich ihm vorhalten, daß, wenn alles ein Traum ist, er auch dann träumt, wenn er diese Zweifel erhebt, und daß deshalb ein wachender Mensch nicht nötig hat, ihm darauf zu antworten. Indessen mag er, wenn es ihm beliebt, träumen; ich antwortete ihm folgendermaßen: Die Gewißheit, daß die Dinge wirklich bestehen, wenn das Zeugnis der Sinne dafür spricht, ist nicht allein so groß, wie unser Zustand erreichen kann, sondern auch so groß, als es unsere Lage erfordert. Denn unsere Vermögen sind nicht für die ganze Ausdehnung des Seins eingerichtet, und auch nicht für ein vollkommenes, klares, umfassendes Wissen der Dinge, was allen Zweifels und aller Bedenken ledig ist, sondern sie dienen der Erhaltung von uns, in denen sie sind; sie sind den Bedürfnissen des Lebens angepaßt, und sie erfüllen diesen Zweck gut genug, wenn sie uns nur von den Dingen sichere Kenntnis geben, die uns angemessen oder unangemessen sind. Denn wer eine brennende Kerze sieht, und die Kraft der Flamme, als der den Finger hineingehalten, erprobt hat, wird am Dasein von Etwas außer ihm nicht zweifeln, was ihn beschädigt und großen Schmerz verursacht hat. Diese Gewißheit genügt, wenn man keine größere Gewißheit für die Regelung seines Handelns verlangt, als die, welche so groß ist wie die vom eigenen Handeln selbst. Und wenn es unserem Träumenden gefällt, die Probe zu machen, ob die glühende Hitze eines Glasschmelzofens nicht die bloße Einbildung eines schläfrigen Menschen sei, so wird er, wenn er die Hand hineinsteckt, vielleicht zu einer größeren Gewißheit, als er vielleicht wünschen mag, aufgeweckt werden, daß es noch etwas über die bloße Einbildung hinaus gibt. Deshalb ist diese Gewißheit so groß, wie man verlangen kann; denn sie ist so gewiß wie unser Schmerz und unsere Lust, d. h. wie unser Elend und unser Glück, über das hinaus uns weder Sein noch Wissen etwas angeht. Diese Gewißheit vom Dasein der äußeren Dinge genügt für die Erlangung des von ihnen kommenden Guten und die Vermeidung des Übels, und das ist die Hauptsache, weshalb man sich mit ihnen bekannt macht.

9. (Sie reicht aber nicht weiter als die wirkliche Wahrnehmung.) Kurz: wenn die Sinne wirklich dem Verstand eine Vorstellung zuführen, so kann man sicher sein, daß dann Etwas wirklich außerhalb von uns besteht, was die Sinne erregt, was sich durch sie dem Auffassungsvermögen kund gibt und die Vorstellung, die man hat, wirklich hervorbringt. Deshalb kann man diesem Zeugnis nicht mißtrauen und darf nicht zweifeln, ob eine solche Ansammlung von einfachen Bestimmungen, wie man sie durch die Sinne vereint bemerkt hat, wirklich zusammen besteht. Dieses Wissen erstreckt sich jedoch nicht über das gegenwärtige Zeugnis der Sinne hinaus, so weit sie sich auf die einzelnen Dinge richten, welche die Sinne erregen. Wenn ich z. B. eine solche Sammlung einzelner Bestimmungen, wie man sie "Mensch" zu nennen gewohnt ist, vor einer Minute zusammen bestehend gesehen hat, so kann ich nicht sicher sein, daß dieser Mensch auch jetzt noch besteht, da zwischen seinem Sein die Minute vorher und jetzt keine notwendige Verbindung vorhanden ist; auf tausenderlei Weise kann er aufgehört haben zu sein, seit meine Sinne mir sein Dasein bezeugten. Und wenn dies für den gestern gesehenen Menschen heute gilt, so gilt es noch mehr für den vor längerer Zeit gesehenen Menschen, den ich vielleicht das letzte Jahr nicht gesehen habe; noch weniger kann ich des Daseins eines Menschen sicher sein, den ich noch niemals gesehen habe. Es mag daher sehr wahrscheinlich sein, daß Millionen Menschen jetzt bestehen, während ich allein bin und dies schreibe; allein ich habe darüber nicht die Gewißheit, die man eigentlich Wissen nennt, obgleich die große Wahrscheinlichkeit mich über allen Zweifel erhebt, und ich vernünftigerweise vielerlei tun kann im Vertrauen, daß es jetzt Menschen (und auch Menschen meiner Bekanntschaft, mit denen ich es zu tun habe) gibt; allein es ist dennoch nur Wahrscheinlichkeit und keine Gewißheit.

10. (Es ist verkehrt, für jede Sache einen Beweis zu verlangen.) Deshalb ist es sehr närrisch und nutzlos für einen Menschen von beschränktem Wissen, der gelehrt worden ist, über die verschiedene Gewißheit und Wahrscheinlichkeit der Dinge zu urteilen und danach sich zu bestimmen, wenn er Beweise und Gewißheit in Dingen verlangt, die deren nicht fähig sind, und wenn er umgekehrt seine Zustimmung zu ganz vernünftigen Sätzen verweigert und gegen klare und offenbare Wahrheiten handelt, weil sie nicht so klar erwiesen werden können, um selbst den leisesten (will nicht sagen Grund, sondern) Vorwand für einen Zweifel zu beseitigen. Wer im gewöhnlichen Leben nichts anerkennen will, als was voll bewiesen ist, hätte in dieser Welt nur die einzige Gewißheit, daß er schnell umkommen würde. Die Heilsamkeit des Essens und Trinkens genügte ihm nicht, um es zu wagen, und ich möchte wohl wissen, was er tun könnte, wenn es nur aus Gründen geschehen sollte, die keinen Zweifel und Einwand gestatten.

11. (Das vergangene Sein kennt man durch das Gedächtnis.) So wie dann, wenn unsere Sinne wirklich mit einem Gegenstand beschäftigt sind, wir wissen, daß er wirklich da ist, so sind wir durch unser Gedächtnis sicher, daß Dinge, die sicher unsere Sinne erregt haben, bestanden haben. So hat man das Wissen von einem gewesenen Sein der Dinge, wovon die Sinne früher Kunde gegeben haben und wovon das Gedächtnis noch die Vorstellungen bewahrt. Solange dies gut geschieht, hat man keinen Zweifel hierüber; allein auch dieses Wissen reicht nicht über die von unseren Sinnen empfangene Kunde hinaus. So sehe ich jetzt Wasser, und ich zweifle deshalb nicht, daß es Wasser ist, und das bleibt wahr, auch wenn ich mich entsinne, daß ich es gestern gesehen habe und es bleibt ein unzweifelhafter Satz für mich, daß ich es am 10. Juli 1688 gesehen habe, solange mein Gedächtnis denselben bewahrt, und ebenso bleibt wahr, daß eine Anzahl zierlicher Farben damals bestanden hat, welche ich zur selben Zeit an einer Wasserblase erblickt habe. Allein wenn jetzt das Wasser samt der Blase meinem Gesichtskreis weit entrückt ist, so ist es mir so wenig gewiß bekannt, daß das Wasser jetzt besteht, wie daß die Blasen mit ihren Farben noch bestehen; denn es ist so wenig notwendig, daß das Wasser heute ist, weil es gestern war, wie daß die Farben und Wasserblasen heute sind, weil sie gestern waren; obgleich allerdings das Erstere viel wahrscheinlicher ist, da Wasser in seiner Dauer als sehr beständig beobachtet worden ist, während die Wasserblasen mit ihren Farben schnell vergehen.

12. (Das Dasein des Geistes ist nicht zu erkennen.) Ich habe bereits dargelegt, wie unsere Vorstellungen über Geister beschaffen sind, und woher sie kommen. Allein trotzdem, daß wir diese Vorstellungen in der Seele haben, und wir dies wissen, so läßt sich daraus doch nicht erkennen, daß solche Wesen außerhalb von uns bestehen, und daß es endliche Geister gibt, und überhaupt daß Geister außer Gott bestehen. Auf Grund der Offenbarung und anderer Umstände kann man mit Sicherheit an solche Wesen glauben; allein unsere Sinne können sie nicht wahrnehmen, und deshalb fehlen uns die Mittel, ihr Dasein im Einzelnen zu erkennen. Denn aus der bloßen Vorstellung von endlichen Geistern kann man nicht entnehmen, daß sie wirklich bestehen; so wenig, wie jemand aus seinen Vorstellungen von Feen und Zentauren entnehmen kann, daß dergleichen Wesen bestehen. - Deshalb muß man sich für das Dasein endlicher Geister wie für manches anderes mit der Gewißheit des Glaubens begnügen; sichere allgemeine Sätze über diese Dinge gehen über den Bereich unseres Wissens hinaus. Es mag wahr sein, daß alle von Gott erschaffenen Geister noch jetzt bestehen, allein man kann dies nicht sicher wissen; man kann solchen Sätzen als höchst wahrscheinlich zustimmen, aber ein Wissen kann man, fürchte ich, davon nicht gewinnen. Man kann daher Anderen keine Beweise dafür geben, noch für sich selbst nach einer allgemeinen Gewißheit in Dingen suchen, wo der Mensch keines anderen Wissens fähig ist, als das, was die Sinne über Einzelnes bieten.

13. (Einzelsätze über das Dasein kann man wissen.) Hiernach gibt es zweierlei Sätze:
    1) Eine Art von Sätzen betrifft einen, der Vorstellung entsprechenden seienden Gegenstand. Wenn ich z. B. die Vorstellung eines Elefanten oder des Phönix oder der Bewegung eines Engels habe, so ist die erste und natürlichste Frage: Ob etwas der Art besteht? Dieses Wissen betrifft nur Einzelnes, und von keinem Dinge außer Gott kann das Dasein eher gewußt werden, als die Sinne Kunde geben.

    2) In der  zweiten  Art von Sätzen wird die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer allgemeinen Vorstellungen oder deren Abhängigkeit voneinander ausgedrückt.
Solche Sätze können allgemein oder gewiß sein. Wenn ich z. B. die Vorstellung von Gott und von mir selbst habe, so bin ich gewiß, daß ich Gott zu fürchten und ihm zu gehorchen habe; auch ist dieser Satz für alle Menschen gewiß, wenn ich aus der Vorstellung von mir die allgemeine der menschlichen Gattung gemacht habe. Allein so gewiß dieser Satz ist, daß die Menschen Gott zu fürchten und ihm zu gehorchen haben, so beweist er doch nicht, daß wirklich Menschen in der Welt vorhanden sind, sondern er ist nur wahr für den Fall, daß es Menschen gibt. Diese Gewißheit solcher allgemeinen Sätze ist von der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung abhängig, die man an diesen allgemeinen Vorstellungen entdeckt.

14. (Ebenso kann man allgemeine Sätze in Bezug auf allgemeine Vorstellungen wissen.) Im ersten Fall ist unser Wissen die Folge, daß Dinge bestehen, welche durch die Sinne in der Seele Vorstellungen hervorbringen; im zweiten Fall ist das Wissen die Folge der Vorstellungen (gleichviel welche), die in der Seele diese allgemeinen und gewissen Sätze hervorbringen. Viele davon heißen "ewige Wahrheiten", und diese sind auch wirklich der Art; "nicht, weil sie der Seele" aller Menschen eingeschroben sind oder weil sie schon als Sätze in des Menschen Seele bestehen, ehe er noch die allgemeinen Vorstellungen gewonnen und sie durch Bejahung und Verneinung verbunden oder getrennt hat; vielmehr muß überall, wo Wesen, wie die Menschen, mit deren Fähigkeiten bestehen und die deshalb mit Vorstellungen, wie wir sie haben, versehen sind, man schließen, daß, wenn sie ihr Denken auf diese Vorstellungen richten, sie die Wahrheit gewisser Sätze erkennen, die aus der erkannten Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der eigenen Vorstellung hervorgehen. Solche Sätze heißen deshalb  ewige Wahrheiten,  nicht weil sie von Ewigkeit gebildete Sätze sind, die dem Verstand vorausgehen, der sie vielmehr erst bildet; auch nicht, weil sie der Seele durch ein Muster eingeprägt sind, das außerhalb der Seele und vor ihr bestehen würde, sondern weil sie, wenn sie einmal aus allgemeinen Vorstellungen gebildet und wahr sind, immer wahr sein werden, wenn sie in vergangenen oder kommenden Zeiten von einer Seele, die diese Vorstellung hat, wieder gebildet werden. Denn da die Worte immer dieselben Vorstellungen bezeichnen, und dieselben Vorstellungen immer dieselben Beziehungen zueinander behalten, so müssen Sätze über allgemeine Vorstellungen, die einmal wahr sind, Wahrheiten in Ewigkeit bleiben.
LITERATUR - John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Jena 1795