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JOHANNES VOLKELT
Die Aufgabe und die
Fundamentalschwierigkeit der Erkenntnistheorie
als einer voraussetzungslosen Wissenschaft


"Vor aller Reflexion, Untersuchung und Begründung, steht es keineswegs fest, daß das, was wir für einen Erkenntnisakt halten, mehr sei, als ein ganz individueller Vorgang, der weder auf die Zustimmung der anderen Individuen rechnen, noch für eine gesetzmäßig verknüpfte Wirklichkeit Geltung beanspruchen dürfe."

Wir wollten die Gefahr beseitigen, die allen Wissenschaften vom Einwurf droht, daß vielleicht alles Wissen nicht sei, als eine in sich zusammenstimmende Fiktion, als eine bedeutungslose Seifenblase, ein individuelles Produkt, das, wie Riechen und Schmecken, neben allen etwa vorhandenen ähnlichen individuellen Produkten unvergleichbar und verbindungslos dastehe."

"Allein es fragt sich, ob die Tatsache, daß eine Wahrheit von der bei weitem größten Zahl der denkfähigen, gebildeten Menschen einer Zeit anerkannt wird, das Erkennen zum Rang eines unbezweifelbaren Faktums erheben könne."

"Es bleibt also dabei: Die Wissenschaft hat allen Grund, sich mit der Frage nach der Möglichkeit des Erkennens aufs Ernsteste zu beschäftigen."


I.

Jede Wissenschaft - mit alleiniger Ausnahme derjenigen, die sich eben durch diese Erörterungen als notwendig erweisen soll - macht eine gewisse Voraussetzung über die Möglichkeit des Erkennens. Entweder setzt das wissenschaftliche Denken stillschweigend voraus, daß der Gegenstand  seiner  Wissenschaft, sei es in erschöpfender Weise, sei es bis zu einem gewissen Umfang und Grad, dem Erkennen zugänglich sei, oder es wird doch wenigstens stillschweigend angenommen, daß es  überhaupt  ein objektives, d. h. ein in allgemeingültiger Weise Gesetze feststellenden Erkennen gebe. Zuweilen nämlich sind die Wissenschaften so vorsichtig, bevor sie in die Untersuchung ihres Gegenstandes eintreten, sich die Frage nach den Grenzen, die sich auf ihrem Gebiet vielleicht dem menschlichen Erkennen entgegenstellen, vorzulegen. Allein indem sie an die Beantwortung dieser Frage gehe, kommt es ihnen nicht in den Sinn, die Möglichkeit des Erkennens  überhaupt  zu bezweifeln und zu prüfen. Und es ist dies auch ganz in Ordnung; denn wollte jede Wissenschaft ab ovo [vom Ei an - wp] mit der Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit des Erkennens überhaupt anfangen, so würde sie sich Untersuchungen aufbürden, die sowohl dem Gegenstand, als der Methode nach einen von dem, was sie eigentlich betreiben will, grundverschiedenen Charakter haben. Auch müßte dann jede Wissenschaft mit genau denselben und zudem höchst weitläufigen und verwickelten Erörterungen beginnen. Es wird daher - wenn solche Erörterungen überhaupt nötig sind - das Amt einer besonderen Wissenschaft sein, sie zu führen.

Das Entscheidende in der Beantwortung der Frage, ob und in welchem Sinn eine besondere Wissenschaft vom Erkennen gefordert sei, liegt darin, daß das objektive Erkennen  nicht  absolut selbstverständlich, nicht absolut unbzweifelbar' ist. Diese Einsicht ergibt sich einfach aus der unbestreitbaren Erwägung, daß alle die Akte, die darauf Anspruch erheben, ein Erkennen zu sein, unabtrennbar an das Individuum gebunden sind, sich zunächst und unmittelbar nirgends anderswo, als im Bewußtsein des Individuums vollziehen. Es mag sein, daß diese Akte mehr sind, als bloß individuelle Bewußtseinsphänomene; es mag vielleicht sogar die Ansicht, welche ihnen kein weiteres Sein und Gelten zuschreibt, unglaublich flach und absurd sein; allein  zunächst,  vor aller Reflexion, Untersuchung und Begründung, steht es keineswegs fest, daß das, was wir für einen Erkenntnisakt halten, mehr sei, als ein ganz individueller Vorgang, der weder auf die Zustimmung der anderen Individuen rechnen, noch für eine gesetzmäßig verknüpfte Wirklichkeit Geltung beanspruchen dürfe, fasse man das Wirkliche nun als Ding an sich oder rein phänomenalistisch auf. Wodurch sollte uns in einer Weise, die alle Untersuchung überflüssig machte, verbürgt werden können, daß das Erkennen eine vom Riechen, Schmecken und dgl. qualitativ verschiedene Geltung habe? Das Erkennen ist wie das Riechen ein individueller Bewußtseinsvorgang und hat die Wirklichkeit eines solchen. Soviel ist unbestreitbar. Darüber hinaus aber hört die Unbezweifelbarkeit auf.

Es wäre ein ganz naiver Einwand, daß das Erkennen sich durch die Zusammenstimmung mit der Wirklichkeit, der Erscheinung oder der Erfahrung rechtfertige. Denn Wirklichkeit, Erscheinung, Erfahrung - das alles existiert für mein Erkennen ja selbst nur als ein Erkanntes, gehört zur Erkenntnis selber und unterliegt daher, so lange nicht die Sicherheit des Erkennens anderswie festgestellt ist, gleichfalls dem Zweifel, ob es mehr sei, als mein individuelles Bewußtseinsbild. Es ist ganz unmöglich, den Inhalt meiner auf ein objektives Erkennen Anspruch erhebenden psychischen Akt mit dem Gegenstand selbst, der erkannt werden soll, zu vergleichen. Was das Erkennen in seine Hand bekommt, ist ja zunächst und unmittelbar immer schon wieder in die Form eines individuellen Bewußtseinsaktes eingegangen. Und ebenso naiv wäre es, einzuwenden, daß es ja doch so viele heute allgemein oder fast allgemein anerkannte wissenschaftliche Sätze gebe; warum solle die Theorie des Erkennens sich nicht auf diese stützen dürfen? Ich will hier zugeben, daß unsere Zeit eine große Anzahl von nahezu allgemein anerkannten Wahrheiten aufzuweisen habe; ja, ich will dem Einwurf sogar mit der weiteren Annahme entgegenkommen, daß sich diese Wahrheiten für die so eigentümlichen erkenntnistheoretischen Fragen mit großem Erfolg verwerten lassen. Allein es fragt sich, ob die Tatsache, daß eine Wahrheit von der bei weitem größten Zahl der denkfähigen, gebildeten Menschen einer Zeit anerkannt wird, das Erkennen zum Rang eines unbezweifelbaren Faktums erheben könne. Und da kann die Antwort nicht zweifelhaft sein, wenn man erwägt, daß die Tatsache der allgemeinen Anerkennung doch selbst zunächst nur als eine Vorstellung meines individuellen Bewußtseins existiert und daß die allgemeine Verbreitung einer täuschenden Einbildung, die man sich vielleicht aus einem gewissen allgemeinen psychischen Zwang entsprungen denken könnte, keineswegs zu den Unmöglichkeiten gehört. - Es bleibt also dabei: Die Wissenschaft hat allen Grund, sich mit der Frage nach der Möglichkeit des Erkennens aufs Ernsteste zu beschäftigen.

Es läßt sich die Aufgabe der Philosophie geradezu dahin bestimmen, die Selbstverständlichkeit möglichst einzuschränken. Überhaupt würde es ja niemals zu Fortschritten im Erkennen gekommen sein, wenn nicht dasjenige, was sich bisher dem Menschen als problemlos, als frei von allen Schwierigkeiten und Unerklärlichkeiten darstellte, in immer steigenden Maße für ihn diesen Charakter des Selbstverständlichen verloren hätte und so immer mehr an die Stelle eines einfachen, ruhigen Hinnehmens die scharfe Unruhe des Fragens getreten wäre. So lag auch für die Philosophie eine Hauptbedingung ihres Fortschreitens darin, daß diejenigen allgemeinen Weltverhältnisse, bei denen sich der Geist bisher als bei einem einfachen So- und Nichtanderssein beruhigt hatte, immer mehr Anstöße zu Fragen, Alternativen und verschiedenen Lösungsmöglichkeiten darboten. Da nun über die Philosophie hinaus keine Wissenschaft mehr liegt, welche die von ihr nicht gestellten Probleme übernähme, so darf von ihr erwartet werden, daß sie nur vom den  absolut Selbstverständlichen  mit ihrem Fragen Halt mache und namentlich scharf darauf Acht habe, daß sie nicht manches unwillkürlich und ohne es ausdrücklich für etwas absolut Selbstverständliches zu erklären, doch so behandle, als verstände es sich ohne weiteres von selbst. Die ganze Erkenntnistheorie im modernen Sinn des Wortes ist aus einer solchen Verschärfung des philosophischen Bewußtseins entsprungen. Man sah immer deutlicher ein, daß das Erkennen keineswegs in den Bereich des absolut Selbstverständlichen gehöre und daß sich daher die Philosophie seine Möglichkeit zum Problem machen müsse. Nur besaß man in den bei weitem meisten Fällen nicht genug Mut und Konsequenz des Denkens, um das Erkennen  in seinem vollen Umfang,  d. h. soweit es irgend auf Allgemeingültigkeit und auf ein Feststellen von Regeln, Gesetzen, kausalen Beziehungen und dgl. Anspruch erhebt, als etwas Fragliches hinzustellen.

Wenn man sich auf solche Weise das Erkennen in seinem vollen Umfang und aus dem Grund, weil ihm die Selbstverständlichkeit oder Unbezweifelbarkeit mangelt, zum Problem macht, so kann es nicht zweifelhaft sein, welche Stelle der Erkenntnistheorie als der sich mit diesem Problem befassenden Wissenschaft im Organismus der Wissenschaften gebühre. Die Erkenntnistheorie hat  allen  anderen Wissenschaften voranzugehen; sie darf sich in keiner Weise Sätze aus anderen Wissenschaften zur Grundlage geben; sie hat in ihren grundlegenden Erörterungen alle anderen Wissenschaften als nicht vorhanden anzusehen; sie ist die im strengsten Sinn  voraussetzungslose  Wissenschaft. Wer das Erkennen dieses oder jenes Gebietes,  ohne zuerst unser Problem erledigt zu haben,  ohne weiteres versucht und ausübt, der kann sicher an irgendeiner Stelle seiner Erkenntnisunternehmungen, etwa irgendwo in der Psychologie oder Logik oder Metaphysik, auch den Fragen, inwieweit ein Erkennen möglich sei, worin es seine Bedingungen und Schranken habe und dgl., eine eingehende Beantwortung widmen. Und es wird die ohne Frage für den lückenlosen Ausbau und die Befestigung seines Standpunkte nützlich sein; ja es kann sich aus einer solchen, auf Grundlage mannigfacher Erkenntnisresultate aufgebauten, also dogmatischen Erkenntnistheorie als weiterer Gewinn die wertvolle Einsicht ergeben, daß in einer Welt, die so eingerichtet ist, wie es die vorangegangenen Wissenssätze ausdrücklich oder implizit festgesetzt haben, ein Erkennen von gewissem Charakter in der Tat möglich oder gar notwendig sei. Allein ganz unausgemacht bleibt es, ob ein solches Erkennen  überhaupt  möglich sei. Denn worauf beruth für eine solche dogmatische Erkenntnisheorie die Erkenntnis, daß die Wirklichkeit jene vorausgesetzte Beschaffenheit habe, aus der sich ein gewisses Erkennen als möglich oder notwendig ergibt? Offenbar doch selbst schon auf der Voraussetzung, daß diesem in bestimmter Weise gearteten Erkennen Gültigkeit zukomme. Wie will ich aber ein Objekt rechtfertigen, wenn sämtliche oder auch nur einige Sätze, aufgrund deren diese Rechtfertigung geschieht, selbst schon ihre Gültigkeit nur der Voraussetzung, daß dieses Objekt bereits gerechtfertigt dastehe, verdanken? Eine Erkenntnistheorie also, die logische, psychologische, metaphysische Annahmen voraussetzt, würde gerade das Bedürfnis unbefriedigt lassen, das uns zur Forderung einer Erkenntnistheorie unwiderstehlich hintrieb. Wir wollten, weil dem Erkennen die absolute Unbezweifelbarkeit mangelt, uns darüber Rechenschaft geben, ob und inwieweit ein Erkennen überhaupt möglich sei; wir wollten verhindern, daß das Erkennen auf gut Glück gewagt werde und ihm das prinzipielle Bewußtsein über seine letzten Kriterien, über seinen Umfang und seine Grenzen und Grade fehle; wir wollten die Gefahr beseitigen, die allen Wissenschaften vom Einwurf droht, daß vielleicht alles Wissen nicht sei, als eine in sich zusammenstimmende Fiktion, als eine bedeutungslose Seifenblase, ein individuelles Produkt, das, wie Riechen und Schmecken, neben allen etwa vorhandenen ähnlichen individuellen Produkten unvergleichbar und verbindungslos dastehe. Gerade zu einem solchen Ziel kann aber jene dogmatische Erkenntnistheorie nimmermehr führen. Mache ich mir das Erkennen nicht  vor  allem wirklichen Erkennen, sondern erst im weiteren Verlauf desselben zum Problem, so schweben nach wie vor alle Wissenschaften in der Luft, indem ihr Bestand an einer Voraussetzung hängt, die wie etwas Selbstverständliches angenommen wird, allein dies nimmermehr ist.

Ich will hier die Aufgabe der Erkenntnistheorie nicht zergliedern, sondern nur den allerwichtigsten Teil derselben hervorheben. Wer sich über die Möglichkeit des Erkennens, über seine allgemeinsten Leistungsweisen und ihre Schranken und Grade klar werden will, wird sich vor allem darüber Rechenschaft zu geben haben, worin die letzten, primitivsten Prinzipien des Erkennens bestehen, worin diejenigen Prinzipien, die nicht selbst schon auf der Voraussetzung des Erkennens beruhen und sich daher nicht weiter zerlegen, zurückführen und begründen lassen. Wenn irgendwo in der Philosophie, so herrscht in dieser Frage die allergrößte Verwirrung. So begnügt man sich sehr häufig und sogar in erkenntnistheoretischen Untersuchungen mit dem Ausdruck, daß in der Übereinstimmung mit der  Erfahrung  das Kriterim des Erkennens liege. Worauf es vor allem ankäme, das wäre eine scharfe Abgrenzung dessen, was wirklich erfahren werden kann, gegen alles dasjenige, was,  wiewohl an sich absolut unerfahrbar,  doch als Ergänzung, Zusammenfügung und Weiterfürhung der durch die Erfahrung gegebenen Bruchstücke der Erscheinungswelt unwillkürlich zur Erfahrung selbst hinzugeschlagen zu werden pflegt. Und doch wird diese Aufgabe meistenteils kaum gestellt, geschweige denn gelöst, sondern es wird mit dem unkontrollierten, tausendfache Unerfahrbarkeiten stillschweigend in sich bergenden Ausdruck "Erfahrung" sorglos und unter dem Anspruch auf große Exaktheit weiter operiert. Damit hängt zusammen, daß man sich mit dem dunklen Gefühl begnügt, es werde wohl, wenn man sich nicht allzuweit über die unmittelbare Erfahrung hinauswage, diese Erfahrung selbst eine sichere Kontrolle für solche Überschreitungen ihrer selbst abgeben. Als ob es nicht ein ganz unkritisches, vermischendes Verfahren wäre, in den puren  Tatsachen  der Erfahrung  Gründe  dafür zu sehen, daß es sich jenseits der Erfahrungsgrenze, wenn auch in der nächsten Nähe derselben, ebenso verhalten werde!

Einen ganz ähnlichen Mangel an scharfen Untersuchungen und Begrenzungen findet ein kritisches Auge fast überall da, wo die unbzweifelbare  Selbstgewißheit des Vorstellens  als Kriterium des Erkennens in den Vordergrund gestellt wird. Kaum ist dieses Kriterium ausgesprochen, so hat es sich auch schon in etwas ganz anderes verwandelt: das Sichselbstgegenwärtigsein der Vorstellungen erhebt sich unwillkürlich allenthalben zum Anspruch, daß die Vorstellungen über ihre unmittelbare Gegenwart im Bewußtsein hinaus irgendwie Geltung haben sollen. Und nicht geringer ist meistenteils die Unklarheit dort, wo der gesunde Verstand, das klare und deutliche Vorstellen, die reine Vernunft, die Bearbeitung der Begriffe, die innere Übereinstimmung der Erkenntnisresultate oder etwa ein gewisses unmittelbares Gefühl für das Abgeschmackte und Verkehrte und dgl. als Erkenntnisprinzipien entweder stillschweigend vorausgesetzt oder ausdrücklich genannt werden. Alle diese Maßstäbe der Erkenntnis sind sowohl eng miteinander verwandt, als auch wieder vielfach voneinander verschieden und doch wird bald der eine, bald der andere - und zwar oft bei demselben Denker - als wahrhaftes Erkenntnisprinzip proklamiert oder noch öfters stillschweigen und beiläufig vorausgesetzt. Außerdem sind die genannten Mittel der Erkenntnis nicht letzte, einfache, jede weitere Begründung und Zurückführung verbietende Erkenntnisprinzipien, wiewohl sie zu solchen in engerer oder fernerer Beziehung stehen. Auf die Frage, woher ihnen denn das Ansehen von Quellen und Prüfsteinen der objektiven Erkenntnis komme, weisen sie uns sämtlich nach rückwärts auf einfachere Prinzipien hin.

Das alles muß dringend dazu auffordern, der Frage scharf ins Gesicht zu sehen, auf welche einfachste, nicht weiter zerlegbare und zurückführbare Prinzipien wir unser Vertrauen auf die Erreichbarkeit einer wenigstens relativen Wahrheit gründen. Der entscheidende Grund jedoch, die Beantwortung dieser Frage als eine höchst wichtige Angelegenheit in der Philosophie zu behandeln, liegt darin, daß es sich nur durch die Beantwortung derselben erreichen läßt, das Problem der Möglichkeit der Erkenntnis, diese Kardinalfrage der Erkenntnistheorie, einer gründlichen Lösung entgegenzuführen. Wie soll darüber entschieden werden, ob und inwieweit das Erkennen zu den berechtigten Ansprüchen des menschlichen Geistes gehöre, wenn die Frage vernachlässigt wird, wie die einfachsten Prinzipien heißen, auf deren Grundlage wir das Erkennen aufbauen? Ich muß wissen, welchen Charakter die letzten einfachen Potenzen besitzen, durch welche, ohne daß sie selbst schon ein Erkennen voraussetzen, unsere Vorstellungen sich zum Wert des Erkennens erheben; ich muß wissen, welche Leistungsfähigkeit den letzten Wurzeln und Quellen zukommt, aus denen ich überhaupt das Bewußtsein schöpfe, ein Erkennen zu besitzen und dazu berechtigt zu sein. Und es muß möglich sein, diese letzten Prinzipien anzugeben. Denn es handelt sich dabei um etwas, was durchaus im Licht des Bewußtseins vorgeht. Ich soll nicht etwa die metaphysischen oder psychologischen Faktoren angeben, aus denen das Erkennen entspringt. Das hat in der Metaphysik und Psychologie zu geschehen, wo, wie so viele andere Tatsachen, so auch das Erkennen unter Voraussetzung der mannigfachen vorangegangenen Erkenntnisresultate in seinen Bedingungen und Ursachen zu untersuchen sein wird. Hier dagegen richtet sich die Frage auf die Prinzipien, die ich, indem mein Bewußtsein Erkenntnis hervorzubringen sich anschickt, in bewußter Weise zum Kriterium alles Erkennens mache, als auf etwas, was sich vor dem nach innen gewendeten Blick in keiner Weise verbergen kann.

Wir fanden vorhin den prinzipiellen sachlichen Grund für die Aufstellung einer sich mit der Möglichkeit des Erkennens beschäftigenden Wissenschaft im Umstand, daß dem Erkennen die absolute Selbstverständlichkeit mangelt. Allein selbst wenn man sich diesem prinzipiellen Gund als einer bloßen Spitzfindigkeit verschließen wollte, so liegen doch so viele und so dringende historische, der geschichtlichen Entwicklung des Wissens zu entnehmende Gründe für die Notwendigkeit einer Erkenntnistheorie in unserem Sinne vor, daß nur eingewurzeltes Vorurteil sich gegen diese Notwendigkeit sträuben kann. Ich habe ganz allgemein bekannte und auf der Oberfläche liegende Tatsachen vor Augen, die man jedoch viel zu wenig beherzigt: die trotz des gründlichsten, angestrengtesten und gewissenhaftesten Denkens unvermeidlichen, zahlreichen prinzipiellen Meinungsunterschiede auf allen Gebieten des Wissens, den rastlosen Wechsel in dem, was mit fortschreitender Zeit selbst den strengsten, freiesten Denkern für ausgemacht und bleibend gilt, die Unmöglichkeit, sich selbst beim besten, entgegenkommendsten Willen von so vielem, wenn nicht vom meisten, was wir bei ernsten, fähigen Forschern als bewiesen hingestellt finden, zu überzeugen. Sieht man vom Konstatieren des Tatsächlichen ab, wiewohl auch hierin Unsicherheit und Wechsel der Ansichten in Menge anzutreffen ist, so gibt es sicherlich unter dem, was jeder von seinem Standpunkt als ausgemacht ansieht, nur äußerst weniges, was nicht allen Ernstes und von ganz vernünftigen Denkern bezweifelt worden wäre; wie sich andererseits - mit einiger Übertreibung ausgedrückt - kaum etwas so absurd Scheinendes findet, daß es nicht von Denkern, denen man sonst Urteil, Schärfe und Tiefe nicht absprechen kann, ernstlich als höchste Weisheit gepriesen worden wäre. Angesichts eines solchen Widerstreits der Resultate des Erkennens, angesichts dieser Unsicherheit und Vergänglichkeit derselben muß man sich doch wohl fragen, wie sich einst LOCKE, als er seine disputierenden Freunde der Lösung der Zweifel nicht näher kommen sah, gefragt hat: ob das Erkennen nicht am Ende gar überhaupt auf einem eingebildeten Anspruch beruhe und ob es daher nicht geboten sei, sich vor alle faktischen Erkennen die Frage nach der Möglichkeit desselben vorzulegen. Und noch dringender erscheint diese Frage, wenn man bedenkt, daß in der Sophistik und Skepsis des griechischen Altertums in der Tat die radikale Verneinung der Möglichkeit jedweder Erkenntnis eine gewichtvolle, imponierende historische Wirklichkeit erhalten hat.

Stände mir mehr Raum zur Verfügung, so würde ich hier auf eine nähere Vergleichung der beiden Erkenntnistheorien, welche LOCKE, der Begründer dieser Wissenschaft in England, und KANT, ihr Begründer in Deutschland, geschaffen haben, mit Beziehung auf die Fassung der Hauptfrage eingehen. Hier will ich nur erwähnen, daß LOCKE in dieser Beziehung einen gewissen Vorzug vor KANT hat. Er fordert mit derselben Schärfe wie KANT, daß man vor allen anderen Untersuchungen die Fähigkeiten des Verstandes prüfen, die Grenzen des Erkennens ermitteln, den Maßstab für die Gewißheit unseres Erkennens finden und das Erkennbare vom Nichterkennbaren scheiden solle. Dabei jedoch schränkt er diese Frage nach der Möglichkeit des Erkennens nicht, wie KANT, auf das aus der reinen Vernunft entspringende, d. h. im strengsten Sinne notwendige und allgemeine Erkennen ein, sondern sie gilt ihm, wie seine späteren Ausführungen dartun, ebenso sehr für das wahrscheinliche, zu bloß "komparativer Allgemeinheit" führende empirische Wissen. und ferner geht er nicht, wie KANT, von der ausdrücklichen Voraussetzung aus, daß es tatsächlich ein allgemeines und notwendiges Wissen gebe. (1) Diese von KANT nie ausdrücklich in Prüfung gezogene Voraussetzung ist mit dem, was wir von jeder wahren Erkenntnistheorie fordern müssen, derart in Widerspruch, daß man sich ernstlich die Frage vorlegen muß, ob seine "Kritik der reinen Vernunft" als kritische Erkenntnistheorie in unserem Sinn gelten dürfe. Ist nun auch diese Frage aus Gründen, die ich hier nicht auseinandersetzen kann, mit Ja zu beantworten, so ist doch durch jene dogmatische Voraussetzung die kritische Haltung der Kantischen Erkenntnistheorie in durchgreifender Weise gestört. Mögen nun auch bei LOCKE im Laufe der Darstellung sich alle möglichen ungeprüften Voraussetzungen einschleichen und zum großen Teil psychologische Untersuchungen an die Stelle der erkenntnistheoretischen treten, so lastet doch auf seinen Entwicklungen nicht das eingehende, starre Dogma, daß an der tatsächlichen Existenz und Geltung eines allgemeinen und notwendigen (und noch dazu als recht umfassend gedachten) Wissens ein für alle Mal nicht gezweifelt werden dürfe. Er will überhaupt die Gewißheit des menschlichen Wissens untersuchen, einen Maßstab für sie auffinden und so sehen, "ob es überhaupt so etwas in Wahrheit gebe und ob die Menschheit die genügenden Mittel zur Erlangung einer sicheren Kenntnis derselben besitze" (An essay concerning human understanding I, 1, § 2).

Diese freiere, weitere Fassung der Aufgabe erleichtert es dann auch LOCKE, auf die Frage nach den letzten, nicht weiter ableitbaren Prinzipien und Quellen des Wissens einzugehen, den Erkenntniswert derselben genau zu bestimmen und demgemäß den Bereich des Erkennens zu ordnen und den verschiedenen Weisen und Zweigen des Erkennens ihre berechtigten Ansprüche und eigentümlichen Schranken zuzuweisen. Ohne Frage ist das vierte Buch seines Essay, wiewohl man es gegen die beiden ersten Bücher meist in den Hintergrund zu stellen pflegt, in erkenntnistheoretischer Beziehung das unvergleichlich wichtigste. In diesem Buch nun eben findet man in eigehendster Weise diese echt erkenntnistheoretischen Untersuchungen über die Prinzipien, Grade und Grenzen der Gewißheit geführt, wenn auch Einteilung und Fortschritt derselben sich nicht unmittelbar aus diesen prinzipiellen Gesichtspunkten ergeben und das vierte Buch dem ersten Blick ein ziemlich zerstreutes Vielerlei darbietet. Auch in dieser Beziehung ist der klare, wiewohl oft ziemlich oberflächliche Engländer dem weit tiefer dringenden, aber im Auseinandernehmen der Fragen weniger beweglichen Deutschen voraus. Nirgends bei KANT richtet sich die Erörterung ausdrücklich darauf, die letzten Prinzipien der Gewißheit zu ordnen, gegeneinander abzugrenzen, ihre Leistungsfähigkeit zu bestimmen und dgl. Überall wirken in seinem Denken die letzten Erkenntnisprinzipien in Form von mehr oder weniger dunkel bewußten Triebfedern. Man denke z. B. nur daran, daß er sich die Frage, welches berechtigte Erkenntnisprinzip ihm ermögliche, zu den zahlreichen Bestimmungen des Dings an sich zu kommen, nirgends auch nur vorlegt, trotzdem es sich hier doch um Behauptungen handelt, die in ein Gebiet hinübergreifen, das in Folge gewisser von ihm in den Vordergrund gestellter Prinzipien dem Erkennen absolut verschlossen bleiben müßte und die daher ganz besonders der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung bedürften.


II.

Mit so unabweisbarer Notwendigkeit sich uns auch die Forderung einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie aufgedrängt hat, so dürfen wir uns doch nicht verhehlen, daß in dieser Forderung eine prinzipielle Schwierigkeit von größter Tragweite enthalten ist. Es läßt sich diese Schwierigkeit in der Form eines scheinbar unauflöslichen Widerspruchs darstellen, der die ganze Erkenntnistheorie im allerersten Keim zu vernichten droht. Die Erkenntnistheorie soll die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens in einer nicht selbst schon das Faktum des Erkennens voraussetzenden Weise beantworten. Das eben scheint ganz unmöglich zu sein. Der Erkenntnistheoretiker muß schon bei seinem ersten Schritt ein Erkennen ausüben; die Sätze, mit denen er seine Untersuchungen beginnt, hätten keinen Sinn, wenn sie nicht mit dem Anspruch aufträten, als Erkennen zu gelten. Er hat also da, wo er die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens eben erst untersuchen soll, den festen Glauben, daß sich ein solches gewinnen lasse und übt, zumindest bei den ersten Schritten, die er tut, aufgrund dieses völlig ungeprüften Glaubens faktisch ein Erkennen aus. Damit ist aber seinen Untersuchungen eine  dogmatisch Grundlage gegeben und alles, was er über die Erreichbarkeit des Erkennens festsetzt, ist prinzipiell gerade so viel wert, als wenn er das Problem erst irgendwo in der Metaphysik oder Psychologie abhandelte. Seine Bemühungen sollen den Zweck haben, zu verhindern, daß das Erkennen ohne ein sicheres und gegründetes Bewußtsein über die Leistungsfähigkeit der letzten, einfachsten Erkenntnisprinzipien ausgeübt werde. Und nun gibt er selbst seinen Untersuchungen eine Grundlage, welche die Gültigkeit gewisser Denkgesetze über das individuelle Bewußtsein hinaus als etwas Selbstverständliches voraussetzt, also ein Erkenntnisprinzip, das sich durchaus nicht von selbst versteht, ganz ungeprüft aufnimmt. Es scheint sonach nichts anderes übrig zu bleiben, als die Idee einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie als eine widerspruchsvolle Forderung fahren zu lassen und so das Erkennen entweder auf gut Glück auszuüben oder sich bei einer sich im Zirkel bewegenden, gerade in der Hauptsache leistungsunfähigen Erkenntnistheorie zu begnügen oder gar, eben wegen des Mangels an begründeten Erkenntnisprinzipien, zur Partei des absoluten Skeptizismus überzugehen.

Dieser Einwand ist schon oft gegen die kritische Erkenntnistheorie erhoben worden. Am Bekanntesten ist die Art, wie ihn HEGEL vorbringt (Enzyklopädie § 10 und Geschichte der Philosophie, 3. Bd., 2. Auflage, Seite 504). Er erkennt an, daß es ein großer und wichtiger Schritt KANTs gewesen sei, das Erkennen der Betrachtung unterworfen zu haben. Das Verkehrte aber findet er darin, daß KANT verlangt habe, vor dem Erkennen das Erkenntnisvermögen zu untersuchen. Das Erkennen werde dabei vorgestellt wie ein Instrument, wodurch man sich der Wahrheit bemächtigen wolle und das daher, ehe man damit die Arbeit unternehme, nach seiner Fähigkeit, den Gegenstand zu packen, untersucht werden müsse. Sehe dies nicht so aus, als ob man mit Spießen und Stangen auf die Wahrheit losgehen könnte? "Ferner ist dabei die Forderung diese: man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man erkennt. Wie man erkennen will, ist nicht zu sagen. Es ist die Geschichte, die vom Scholastikus erzählt wird, der nicht eher in's Wasser gehen wollte, als bis er schwimmen könne." KANT übe fortwährend das Erkennen aus und meine doch immer, erst zum Erkennen kommen zu müssen. "Es geht ihm wie den Juden: der Geist geht mitten hindurch und sie merken es nicht." - In der Tat, man kann die Fundamentalschwierigkeit der kritischen Erkenntnistheorie nicht treffender und drastischer zum Ausdruck bringen, wenn vielleicht auch KANT hierdurch nicht ganz getroffen wird. Indessen paßt der Einwurf nur darum nicht völlig auf KANT, weil dieser nicht genügen voraussetzungslos, d. h. nicht genügend kritisch in seiner Erkenntnistheorie verfährt. (2) HEGEL ließ sich übrigen durch jene Schwierigkeit nur in seiner Überzeugung bestärken, daß das Denken, indem es sich ohne weiteres mit Zusammenfassung aller seiner Energie und Innerlichkeit in Ausübung bringe, eben an den Resultaten dieses mutigen Fortschreitens seine alldurchdringende Erkenntnismacht beweise. Auch bei den alten Skeptikern begegnen wir jenem Einwand, nur ließen sich diese, da bei ihnen nicht, wie bei HEGEL, die kritische Gewissenhaftigkeit des Verstandes durch das siegesgewisse Pathos eines gewaltigen Denkens überwogen wurde, durch jenen scheinbar unüberwindlichen Widerspruch zu dem vom Standpunkt jenes Widerspruchs unanfechtbaren Konsequenz forttreiben, daß, da es keine begründeten Kriterien des Erkennens gebe, überhaupt alles Erkennen durch und durch relativer und subjektiver Natur sei. (3)

Wir stehen sonach einer eigentümlichen Sachlage gegenüber: einerseits haben wir als eine wissenschaftliche Notwendigkeit erkannt, allem Erkennen eine voraussetzungslose Untersuchung der Möglichkeit des Erkennens voranzuschicken; andererseits steht uns ebenso unwiderleglich fest, daß jede solche Untersuchung schon in ihren ersten Schritten, durch welche die Möglichkeit des Erkennens doch erst geprüft und gesichert werden soll, in nichts anderem, als in der faktischen Ausübung des Erkennens selber bestehen könne. Wie sollen wir uns dieser Antinomie gegenüber helfen? Sollen wir mit den alten Skeptikern auf alles Erkennen verzichten oder wender wir lieber den unwissenschaftlichen Entschluß fassen, das Erkennen in dogmatischem Vertrauen auf unsere Erkenntniskraft auszuüben und uns gegen die Mahnungen des kritischen Gewissens ein für alle Mal taub zu stellen? In der Tat, diese Alternative wäre unvermeidlich, wenn nicht ein gewisser Umstand vorläge, den ich bis jetzt absichtlich übersehen habe.

Wir sagten: die Möglichkeit des Erkennens bedürfe darum einer Untersuchung, weil dasselbe nichts absolut Selbstverständliches sei und wir meinten hiermit das Erkennen im strengen Sinn, das Erkennen mit dem Charakter der objektiven Geltung, der (sei es relativen, sei es absoluten) Allgemeinheit. Allein gibt es nicht auch ein  absolut selbstverständliches Erkennen?  Falls es ein solches gäbe, so könnte mit ihm die Erkenntnistheorie getrost ihren Anfang machen, ohne in jenen verbotenen Zirkel zu geraten. Nun lehrt uns aber der einfachste Blick auf das eigene Bewußtsein, daß wir nicht wenig in solch absolut selbstverständlicher und daher absolut unbezweifelbarer Weise zu erkennen imstande sind. Sobald ich nämlich auf das, was in meinem eigenen Bewußtsein geschieht, meine Aufmerksamkeit lenke, so habe ich eben damit mit vollkommener Selbstverständlichkeit "erkannt", daß gewisse Tatsachen in meinem Bewußtsein einander folgten (oder vielleicht teilweise zugleich stattfanden). Ich bin unzweifelhaft imstande, von dem, was in meinem Bewußtsein von Augenblick zu Augenblick vorgeht, eine unbestimmt große Menge mit Aufmerksamkeit zu betrachten und dies so Betrachtete als ein meinem Bewußtsein Geschehenes auszusprechen. So erstreckt sich also das absolut selbstverständliche Erkennen auf einen sehr großen Teil meiner eigenen Bewußtseinsvorgänge. Nur der Verrückte könnte bezweifeln, ob es, wenn er eben die Empfindung des Süßen oder die Anschauung eines Würfels hat, eine richtige Erkenntnis sei, wenn er den Satz ausspreche, daß in seinem Bewußtsein soeben die Empfindung des Süßen oder die Vorstellung eines Würfels vorhanden sei. Es ist hier nicht meine Aufgabe, festzustellen, unter welchen Bedingungen und Einschränkungen die Fähigkeit des aufmerksamen Betrachtens der eigenen Bewußtseinszustände entspringe und in welcher Weise sie sich entwickle. Überhaupt kommt es hier nicht darauf an, auszumachen inwieweit in meinem Bewußtsein etwas vorgehen könne, was sich meiner Aufmerksamkeit zu entziehen imstande sei. Für uns ist das Eine wichtig, daß,  sobald  ich meine Bewußtseinsvorgänge mit Aufmerksamkeit auffassen und aussprechen kann, eine absolut unbezweifelbare Erkenntnis vorliegt. Die absolute Unbezweifelbarkeit des Erkennens gibt sich in unzweideutiger Weise kund. Dies ist zunächst genug.

Nur unter  einer  Bedingung sonach läßt sich die Forderung einer wirklich kritischer Erkenntnistheorie erfüllen: es muß mit dem Aussprechen der sich mit absoluter Selbstverständlichkeit dem Erkennen darbietenden Bewußtseinsvorgänge begonnen werden. Dabei ist klar, daß der so beginnende Erkenntnistheoretiker zunächst immer nur in der ersten Person der Einzahl sprechen darf ("ich finde in meinem eigenen Bewußtsein dies und das" und dgl.). Denn wenn er sagte, daß  allen  oder den  meisten  ihr Bewußtsein gewisse Tatsachen zeige, so würde er damit zumindest voraussetzen, daß es außer der seinigen noch andere Bewußtseinssphären und zwar von mehr oder weniger übereinstimmender Beschaffenheit, gebe; er würde sonach einen objektiven, keineswegs absolut selbstverständlichen Wissenssatz zugrunde legen, während doch erst die Möglichkeit alles objektiven Erkennens geprüft werden soll.

Soll denn also allen Ernstes die Erkenntnistheorie in ihrem Beginnen uns nichts anderes geben, als ein Bild vom bunten, regellosen Gewoge der Bewußtseinstatsachen, die der jeweilige Erkenntnistheoretiker in sich vorfindet? Einem solchen Bezeichnen und Aufzählen des eigenen Bewußtseinskrames würde aber doch, wenn durchaus keine allgemeinen, prinzipiellen Sätze vorausgesetzt werden dürfen, jedwedes richtunggebende, fördernde Ziel fehlen. Es würde also der Erkenntnistheorie zugemutet werden, sich blind und auf gut Glück in den ganz individuellen Bewußtseinsvorgängen herumzutreiben. Wohin soll das aber führen? Welches Interesse kann es haben, zu erfahren, was in diesem oder jenem einzelnen Bewußtsein von Moment zu Moment auftaucht?

In der Tat würde für den Erkenntnistheoretiker mit dem Betreten des absolut selbstverständlichen Bodens nichts gewonnen sein, wenn er sich beim Aussprechen seiner unbezweifelbar vorliegenden Bewußtseinsvorgänge nicht von  Gesichtspunkten  leiten lassen dürfte, die sich aus dem absolut Selbstverständlichen nicht gewinnen lassen. Was uns feststeht, ist dies, daß die Erkenntnistheorie zu Beginn nichts, was sich nicht absolut von selbst verstünde,  behaupten  darf. Damit ist ihr aber keineswegs verboen, sich in der Auswahl des absolut selbstverständlichen Inhalts, den sie aussprechen und behaupten will, von irgendwelchen vielleicht sehr komplizierten, auf verwickelten Voraussetzungen beruhenden Prinzipien leiten zu lassen. Mögen sich auch die leitenden Gesichtspunkte keineswegs von selbst verstehen, so tut dies doch der absoluten Selbstverständlichkeit der unter dieser Leitung zustande gekommenen Behauptungen nicht den mindesten Eintrag, vorausgesetzt natürlich, daß diese Behauptungen nichts enthalten, als das Aufzeigen und Aussprechen eines mit absoluter Unbezweifelbarkeit sich darbietenden Bewußtseinsinhaltes. Für den Charakter der absoluten Selbstverständlichkeit irgendeines Erkenntnisinhaltes ist es ganz gleichgültig, ob ich bei der Wahl und Zusammenstellung desselben einer närrischen Laune oder einem wohlerwogenen Prinzip folge. Wenn ich konstatiere, daß ich eben das Bild des blauen Himmels in meiner Anschauung hatte und zugleich den Druck des zu engen Rockes spürte, so hat dies an absoluter Selbstverständlichkeit nichts voraus vor der Erkenntnis, die ich mir vielleicht infolge eines lange Zeit erwogenen Prinzips zum Bewußtsein gebracht habe: es sei nirgends in meinen Bewußtseinsvorgängen, sobald nicht zu ihnen hinzugedacht werde, auch nur eine Spur von Gesetzmäßigkeit zu entdecken. Jene Erkenntnis ist für die Erkenntnistheorie höchst gleichgültig, diese dagegen von entscheidender Wichtigkeit; beide jedoch sind von derselben Selbstverständlichkeit und Unbezweifelbarkeit; denn beide enthalten nichts als ein Aussprechen des in meinem Bewußtsein unmittelbar Vorliegenden. Stehen einmal die absolut selbstverständlichen Behauptungen da, so ist es für sie  durchaus zufällig,  ob sie aus diesen oder jenen Motiven hingestellt wurden. Die Erkenntnistheorie darf also ganz wohl mit allerhand methodischen Erwägungen beginnen, nur muß sie dieselben ausschließlich zu dem Zweck benutzen, unter dem bereit liegenden absolut selbstverständlichen Inhalte eine gewisse Auswahl zu treffen. Ist diese Auswahl erfolgt, dann ist es ebenso, als ob jene Erwägungen nicht vorangegangen wären.

So wird z. B. der Erkenntnistheoretiker an seine Aufgabe mit dem Bewußtsein herantreten, daß es in erster Linie darauf ankommen werde, die primitivsten, nicht weiter ableitbaren Erkenntnisprinzipien scharf auseinanderzuhalten. Dieser  methodische Gesichtspunkt  wird ihn dahin bringen, den Satz aufzustellen, daß das aufmerksame Auffassen und Aussprechen der eigenen Bewußtseinsvorgänge eo ipso [selbstverständlich - wp] eine absolut unbezweifelbare Erkenntnis sei, daß hierin das allererste Erkenntnisprinzip liege und daß, was sonst auch für Erkenntnisprinzipien dazu kommen mögen, durch keines absolute Unbezweifelbarkeit geleistet werden könne. Der  Inhalt  dieses Satzes ist ohne weiteres selbstverständlich, d. h. er ergibt sich aus dem einfachen Sichbesinnen auf das, was ich in den eigenen Bewußtseinsvorgängen erfahre; doch würde der Erkenntnistheoretiker nicht gerade mit ihm den Anfang machen, wenn er nicht jenen methodischen, auf vielfachen Voraussetzungen beruhenden Gesichtspunkt hinzubrächte.

Ein anderer Gesichtspunkt der beginnenden Erkenntnistheorie wird darin bestehen, daß es überaus wichtig sei, die Frage zu beantworten, ob es durch jenes absolut unbezweifelbare Erkennen zum Aufstellen irgendwelcher Regeln, Gesetze, kausaler Beziehungen und dgl. kommen könne. Diese Frage entspringt nur dann, wenn man weiß, welch eminente Bedeutung diese Begriffe für die Wissenschaft haben. Wiewohl nun dieses jene Frage hervorrufende Wissen natürlich nicht aus meinem selbstverständlichen Bewußtseinsinhalt herfließt, so hat doch die Antwort, die hierauf zu erteilen ist, einen absolut selbstverständlichen  Inhalt.  Sie kann nämlich nicht anders lauten als so, daß sich auch durch die geschärfteste Aufmerksamkeit innerhalb des eigenen Bewußtseins absolut nicht von Regelmäßigkeit, Gesetz, Zusammenhang entdecken läßt und daß, wenn es überhaupt etwas derartiges geben soll, ein über das Bewußtsein hinausliegendes, absolut unerfahrbares Reich, ein Reich der Dinge an sich, angenommen werden muß. Der  Inhalt  dieser Antwort ist für denjenigen, der sich nur die Mühe nimmt, auf seine eigenen Bewußtseinsvorgänge aufmerksam und unbefangen zu achten und sie durch nichts Hinzugedachtes stillschweigend zu ergänzen, gleichfalls von einer Selbstverständlichkeit, die nichts zu wünschen übrig läßt.

Diese beiden Beispiele werden gezeigt haben, wie ich es mir als möglich denke, daß der Erkenntnistheoretiker, unbeschadet der vollen Selbstverständlichkeit des von ihm im Anfang seines Unternehmens behaupteten Inhalts, sich dennoch von wohlwerwogenen, keineswegs sich von selbst verstehenden  methodischen Gesichtspunkten  leiten lasse. Wie ich mir diese Erkenntnistheorie eröffnenden Ausführungen näher denke, kann ich hier nicht erörtern. Andeutungen darüber habe ich in meinem Buch über KANT zu geben versucht.

Noch eine Frage drängt sich hier auf. Wie wird es denn dem Erkenntnistheoretiker möglich, nachdem er mit lauter absolut selbstverständlichen Sätzen glücklich den Anfang gemacht hat, aus der Sphäre der absoluten Selbstverständlichkeit, d. h. aus der Sphäre der eigenen Bewußtseinsvorgänge herauszukommen? Dieses Bedürfnis muß sich ihm aufdrängen, da er im Bereich des eigenen Bewußtseins nirgends auch nur eine Spur von Gesetzmäßigkeit zu entdecken vermag, die Wissenschaft aber eben im Erkennen der Gesetzmäßigkeit besteht. Also auch hier wird der Erkenntnistheoretiker durch ein Motiv weitergetrieben, das nicht aus dem Inhalt des absolut selbstverständlich Erkannten folgt. Vielmehr muß er von ganz anderswoher die Begriffe des Gesetzes, der Kausalität usw. kennen und den Wert dieser Begriffe würdigen gelernt haben. Doch wird auch durch dieses Motiv kein unerlaubter Faktor in die Erkenntnistheorie hereingetragen,  vorausgesetzt,  daß die Behauptungen, zu denen dieses Motiv hintreibt, sich vollständig aus den vorangehenden, absolut selbstverständlichen Behauptungen rechtfertigen. Der Erkenntnistheoretiker wird daher auch an diesem Punkt, wo er, von jenem Bedürfnis getrieben, sich umsieht, ob er irgendwie das Eingeschlossensein in seinen individuellen, unzusammenhängenden Bewußtseinsvorgängen durchbrechen und zu einer allgemeingültigen, sich auf kausalen Zusammenhang beziehenden Erkenntnis kommen könne, nichts anderes tun dürfen, als  Umschau halten unter seinen sich ihm it voller Unbezweifelbarkeit darbietenden Bewußtseinserscheinungen.  Es wäre ein verkehrtes Verfahren, von irgendwelchen Gesichtspunkten aus im Voraus zu bestimmen, welche Beschaffenheit denjenigen Bewußtseinsakten zukommen müsse, die imstande sein sollen, uns ein Erkennen vom transsubjektiven Gebiet zu ermöglichen und nun dann  gemäß  dieser vorher entworfenen Bestimmung" zu entscheiden, ob diesen oder jenen Arten von Vorstellungen transsubjektive Geltung zuzusprechen sei. Vielmehr wird man sich mit voller Unbefangenheit dem Lauf der eigenen Vorstellungen einfach hinzugeben und nun zuzusehen haben, ob uns durch das  eigene innere Erfahren und Erleben  in irgendeiner Art von Vorstellungen ein  Mehreres  verbürgt werde, als bloß die individuell-subjektive Existenz dieser Vorstellungen und mit welcher Art von Zwang und mit welchem Grad von Gewißheit sich unserer unmittelbaren Erfahrung dieses Plus, dieses transsubjektive Gelten, kund tut. Meine Überzeugung nach werden sich bei dieser Umschau dem Erkenntnistheoretiker vor allem diejenigen Vorstellungen aufdrängen, die jene eigentümliche sachliche Notwendigkeit mit sich führen, die man als logische Notwendigkeit mit sich führen, die man als logische Notwendigkeit zu bezeichnen pflegt. Der logische Charakter der Vorstellungen wird sich mit unwiderstehlicher, unmittelbarer Gewalt als dasjenige Expediens [Ausweg - wp] erweisen, das uns in erster Linie und mit relativ größter Sicherheit über die individuelle Bewußtseinssphäre hinausgreifen läßt.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, darzutun, welche Leistungsfähigkeit dem logischen, begrifflichen Denken, diesem objektiven Erkenntnisprinzip, zukomme, und welchen Einfluß die individualistisch-subjektive Herkunft dieses Prinzips auf die Ansicht von der Bedeutung desselben haben müsse. Hier kommt es mir nur darauf an, zweierlei hervorzuheben.

Erstlich  ist aus allem Vorangegangenen klar, daß, wenn es überhaupt ein Prinzip objektiver, über das Einzelbewußtsein hinausführender Erkenntnis oder mehrere solcher Prinzipien gibt, dieselben sich in keiner Weise, weder aus Erfahrung noch sonst woher,  beweisen  lassen, sondern daß sie ihren Ursprung einzig und allein in dem haben müssen, was das Einzelbewußtsein mit absoluter Selbstverständlichkeit und Unbezweifelbarkeit unmittelbar in sich erfährt. Es müssen sich also, wenn es ein objektives Erkennen geben soll, unter meinen bewußten und daher mit vollkommener Unbezweifelbarkeit zu erkennenden Vorstellungen auch solche finden, die zu mir sprechen: du mußt uns ansehen als Stimme aus dem Reich des Transsubjektiven, als eine nicht allein für dein Bewußtsein maßgebende, sondern objektiv geltende Macht! Und der Erkenntnistheoretiker kann nichts anderes tun, als einfach aussprechen und verkünden, was er beim Haben dieser Vorstellungen innerlich erfährt und die anderen auffordern, in sich zu gehen und dieselbe Erfahrung nachzuerleben. Verführe er anders, so würde er nicht mehr voraussetzungslos vorgehen, sondern das, was Erkenntnisprinzip, Kriterium der Wahrheit sein soll, auf ein unkontrolliertes, ohne Kriterium zustande gekommenes Erkennen gründen. Es ist nun weiter klar, daß die objektiven Erkenntnisprinzipien, eben weil sie sich mir lediglich in der Form der unmittelbaren Erfahrung des Bewußtseins, d. h. in der Form des absolut Selbstverständlichen kundtun können, keine unbezweifelbare Gewißheit zu gewähren imstande sind. Was ich aufgrund dieser Prinzipien erkenne, beruth sonach allerdings auf einem  objektiven Gelten  gewisser Vorstellungen; allein dieses objektive Gelten wieder findet doch nur darum statt, weil  ich mich entschlossen habe,  dem unwiderstehlichen, sich unmittelbar als sachlich bezeugenden Zwang, der mit gewissen Vorstellungen verknüpft ist,  Glauben  zu schenken. Das objektive Gelten kann sich nie vom subjektivistischen Boden losreißen und daher auch nie völlige Gewißheit, sondern nur besten Falls hohe Wahrscheinlichkeit geben.

Zweitens  will ich hier darauf hinweisen, daß sich die Erkenntnistheorie von dem Augenblick an, wo sie ein objektives Erkenntnisprinzip anzuerkennen sich gedrungen sieht, weit freier bewegen kann. Jetzt hat sie sich nicht mehr ängstlich vor dem Überschreiten des absolut Selbstverständlichen zu hüten, sie ist jetzt nicht mehr an das bloße Aussprechen dessen, was das Einzelbewußtsein unmittelbar in sich erfährt, gebunden, sondern sie darf nun die Prinzipien der objektiven Erkenntnis, soweit sie sich durch ihre eigene, unmittelbar erfahrbare Stimme als unwiderstehlich erwiesen haben, getrost anwenden und sich durch ihre Anwendung auf ihrem Weg weiter bestimmen lassen. Ja, es wird sogar möglich sein, nachdem ein objektives Erkenntnisprinzip im  Allgemeinen  festgestellt und so ein nicht mehr rückgängig zu machendes Mittel der Weiterbeförderung gewonnen ist, die  besonderen  Fragen, die sich an dieses Prinzip knüpfen (also z. B. die Fragen nach seinen Bedingungen, nach der in ihm implizit mitgesetzten objektiven Beschaffenheit des Weltzusammenhanges und dgl.)  mittels  des in seiner Allgemeinheit schon feststehenden Prinzips' zu beantworten. Doch das kann erst an den betreffenden Stellen im Verlauf der erkenntnistheoretischen Darstellung deutlich werden.


III.

Ich verhehle mir nicht, daß den meisten die voranstehenden Erörterungen als zu breit, wenn nicht gar als überflüssig erscheinen werden. Indessen meine ich, daß man es mit der Frage nach den primitiven Grundlagen unseres Erkennens nicht ernst genug nehmen könne. Mit der so oft gehörten Forderung, daß sich die Erkenntnistheorie von allen  metaphysischen  Voraussetzungen befreien und an die Spitze der Philosophie treten müsse, ist es nicht getan; sie muß sich zugleich alle Konsequenzen ihres Anspruches auf die Stellung einer Fundamentaldisziplin klar machen und sich daher von  allen  Voraussetzungen, auch von denen des gesunden Verstandes und des wissenschaftlichen Denkens überhaupt, frei halten. So lange sie dies nicht tut, wird sie über den Umfang des Erkennens, die Grade der Gewißheit usw. im Dunklen tappen und in Bezug auf die Methoden der Erkenntnis in die verschiedensten Über- und Unterschätzungen hineingeraten. Eben darum nun, weil diese hochwichtige Forderung der Voraussetzungslosigkeit der Erkenntnistheorie noch lange nicht genügend scharf und ernst genommen wird, hielt ich es nicht für überflüssig, die Notwendigkeit des Preisgebens aller Voraussetzungen, die damit verknüpfte Fundamentalschwierigkeit und die aus der Überwindung derselben hervorgehende eigentümliche Beschaffenheit der Erkenntnistheorie mit aller Schärfe und unzweideutigen Genauigkeit, deren ich fähig war, zu behandeln. Im Nachdruck aber, mit dem ich meine Ansichten hinstellte, war ich darum eher etwas zu verschwenderisch, als zu sparsam, weil ich gerne den einen oder anderen der Denker, die jetzt auf erkenntnistheoretischem Gebiet arbeiten, veranlassen möchte, den von mir hervorgehobenen Punkten eingehende Aufmerksamkeit zuzuwenden und in ruhig sachliche Diskussion mit mir hierüber zu treten.

Schließlich will ich beispielsweise auf einige der neuesten Ansichten über Stellung und Aufgabe der Erkenntnistheorie hinweisen, um so zu zeigen, wie sehr die neuesten erkenntnistheoretischen Bestrebungen, trotzdem sie in vielen Beziehungen sich nach dem Ziel der Voraussetzungslosigkeit hin bewegen, mir doch noch vielfach auf halbem Weg stehen zu bleiben scheinen.

So verlangt CARL GÖRING, daß die Erkenntnistheorie an die Spitze des philosophischen Systems zu stellen und so zur philosophischen Propädeutik zu erheben sei. Und er stellt diese Forderung, weil er ganz richtig einsieht, daß die Philosophie zuerst die Aufgabe habe, zu entscheiden, welche Vorstellungen und wieviel an ihnen als mit dem Gedanken des Seins verknüpft, d. h. als durch existierende Gegenstände verursacht, angesehen werden müsse. Andererseits jedoch hält er es in jeder Beziehung für unmöglich, die Erkenntnisweise der Philosophie vor dem Eintritt in dieselbe zu rechtfertigen; das einzige Kriterium für die Richtigkeit einer Methode sei, daß durch sie eine Wissenschaft geschaffen worden ist. So könne auch die Philosophie die Weise ihres Erkennens einzig dadurch in ihrer Gültigkeit dartun, daß sie auf ihren eigenen erfolgreichen Bestand, auf die durch sie faktisch zustande gekommenen Erkenntnisse hinweise. Mit den übrigen Wissenschaften verhalte es sich anders. Sie haben "nachweislich viele genügend bewährte Erkenntnisse aufzuweisen"; eben darum müsse ihnen der Philosoph schon beim Eintritt in die Philosophie, also auch da, wo er die Erkenntnistheorie beginne, "ohne nähere Prüfung Glauben schenken" (System der kritischen Philosophie, Bd. I, Seite 12f, 24f, 32f). GÖRING meint, daß die Resultate des Erkennens einfach schon durch ihr faktisches Vorhandensein die Gültigkeit der Prinzipien und Weisen der Erkenntnis, durch welche sie gewonnen wurden, zu bezeugen imstand sind. Allein wodurch garantieren uns denn die Resultate der wissenschaftlichen Erkenntnis, die diese bezeugende Kraft nach rückwärts ausüben sollen, ihre objektive Gültigkeit? Da wir der Wahrheit nicht in's unverschleierte Antlitz blicken können, so sind es selbst wieder nur  gewisse  Prinzipien, Weisen, Methoden der Erkenntnis' z. B. das Prinzip eines gewissen Wertes der induktiven Methode oder des logischen Denkens und dgl.), unter deren stillschweigender Voraussetzung jenen Resultaten objektive Gültigkeit zugesprochen wird. GÖRING muß daher konsequenterweise diese Erkenntnisprinzipien für absolut selbstverständlich halten, was sie aber nach unserer früheren Darlegung durchaus nicht sind. Außerdem fragt es sich dann, wozu er es noch nötig findet, die Prinzipien der Erkenntnis rückwärts durch die Resultate bestätigen zu lassen und wie die Erkenntnistheorie, wenn sie sich doch mit den Prinzipien, Weisen und Methoden der Erkenntnis nicht beschäftigen dürfe, es anfangen solle, die ihr von GÖRING zur Lösung gegebene Grundfrage, inwieweit sich die objektive Gültigkeit der Vorstellungen erstrecke, zu beantworten.

BENNO ERDMANN stellt in seinem beachtenswerten Aufsatz über "die Gliederung der Wissenschaften" (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, II. Jahrgang, 1. Heft, Seite 79f) die Erkenntnistheorie zwar nicht an die Spitze der Wissenschaften, doch aber will er sie von allen metaphysischen Voraussetzungen frei gehalten wissen. Alle übrigen Wissenschaften haben es mit dem Erkenntnisinhalt  unserer Vorstellungen zu tun, nur die Lehre vom Erkennen (Erkenntnistheorie und Logik) mit dem Erkenntniswert  derselben. Die Wissenschaft hat zu ermitteln, welches Recht der psychische Vorgang des Erkennens zum Anspruch auf  Geltung  habe. Im Besonderen hat die Erkenntnistheorie "das Verhältnis des Dings zu unserem eigenen Erkennen", "die Gesetze, welche die Beziehungen des Erkennens zu den Dingen regeln", zu erörtern. Soweit werden wir vollkommen bestimmten dürfen. Andererseits jedoch stellt ERDMANN die Sache so dar, als ob die Erkenntnistheorie, wie jede andere Wissenschaft, gewisse  tatsächliche  Beziehungen vor sich liegen und nun zu untersuchen hätte. Nur bestehe hier das  tatsächlich  Vorliegende in den mit dem Anspruch auf Geltung auftretenden psychischen Vorgängen des Denkens, näher in den unserem Denken zur inhaltlichen Voraussetzung dienenden, in jedem Urteil jeder Wissenschaft enthymematisch [von anerkannten Meinungen ausgehend - wp]enthaltenen Prämissen. Nur dadurch werden die Gesetze des Erkennens  normativ,  daß sie  tatsächlich  sind (vgl. besonders Seite 96f und 102). Ich weiß in der Tat nicht, wie ERDMANNs Erkenntnistheorie über eine Psychologie der Denkfunktionen hinauskommen soll. Wenn ich die "Gruppe tatsächlicher Beziehungen unseres Vorstellens", die man Erkennen nennt, in derselben Weise untersuche, wie das die anderen Wissenschaften mit ihren empirisch vorliegenden Gebieten tun, so werde ich mich eben fortwährend im Element der empirischen Tatsächlichkeit bewegen, nie aber etwas darüber ausmachen können,  mit welchem Recht oder Unrecht  diese tatsächlichen psychologischen Vorgänge den Anspruch auf objektive Geltung erheben. Freilich muß sich die Erkenntnistheorie, wie ich zeigte, an das durch die innere Erfahrung unmittelbar Gegebene halten, allein sie tut dies in der Absicht, um zuzusehen, wie sich uns innerhalb dieser absolut selbstverständlichen Tatsächlichkeit in primitiver, nicht weiter zurückführbarer Weise die Gewißheit des über diese Tatsächlichkeit hinausführenden Erkennens aufdränge. Sie läßt also das Erkennen  vor unseren Augen  entstehen, jedoch nicht in psychologischer Weise, sondern lediglich mit Rücksicht auf seine Geltung oder - was dasselbe ist - mit Rücksicht auf die Formen der Gewißheit, in denen es uns zuteil wird.

RIEHL bestimmt in der Einleitung zum zweiten Band seines Werkes "Der philosophische Kritizismus" die allgemeine Aufgabe der Erkenntnistheorie. Mit vollem Recht dringt er auf die Trennung von Erkenntnistheorie und Psychologie; jene habe sich mit der Frage nach der Entstehung oder individuellen Erwerbung der Erkenntnis nicht zu befassen; ihre Aufgabe beziehe sich vielmehr auf das Problem, wie der Erkenntnis ungeachtet ihrer Subjektivität objektiv-gültige Bedeutung zukommen könne. (4) Doch auch RIEHL verfährt nicht voraussetzungslos genug. Er bezeichnet die Erkenntnistheorie als "Theorie der allgemeinen Erfahrung" und will mit diesem Ausdruck die "apriorischen Erfahrungsbegriffe", die allgemeinen Gesetze oder Bedingungen des Bewußtseins als ihren näheren Gegenstand bestimmt wissen. Er nimmt also von vornherein eine durchgängige Verknüpfung aller Vorstellungen nach allgemeinsten Bewußtseinsgesetzen an. Noch mehr fällt es auf, daß er seine erkenntnistheoretischen Untersuchungen von der "realistischen Hypothese aus" führen will. "Ich nehme an, daß etwas vom Bewußtsein Verschiedenes und Unabhängiges existiere, unter welcher Annahme das eigentliche Problem der Erkenntnistheorie erst seine eigentliche Bedeutung und Tragweite erhält." Sollte es nicht umgekehrt richtig sein, daß die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis viel dringender werden müsse, wenn auch die Existenz realer Dinge zunächst als durchaus bezweifelbar angesehen und sonach verlangt werde, daß auch die Entscheidung über diese Frage erst auf Grundlage der Entscheidungen der Erkenntnistheorie gegeben werden solle? Und ferner: wie will denn RIEHL das Erkenntnisprinzip, auf Grundlage desse er seine "realistische Hypothese" gewinnt, unparteiisch prüfen, wenn es doch schon diese Hypothese selbst ist, von der aus er die objektive Bedeutung der Erkenntnis der Prüfung unterwerfen will?

Schließlich will ich noch WUNDTs gedenken (vgl. besonders seine "Logik", Bd. I, Seite 2f). Er hat durchaus Recht, wenn er Logik und Erkenntnistheorie nicht voneinander trennen, sondern die logischen Normen des Denkens im Zusammenhang mit der Frage nach den Grundlagen und Grenzen des Wissens behandeln will. So widmet er denn in der Logik vor allem auch der Frage nach den Kriterien der Gewißheit eine höchst beachtenswerte prinzipielle Erörterung. Nach meiner Überzeugung allerdings muß die Erkenntnistheorie nicht in die Logik hereingezogen, sondern umgekehrt die Logik zu einem Teil der Erkenntnistheorie herabgesetzt werden. Die Erkenntnistheorie ist die allgemeinere, die übergreifende Wissenschaft. Sie stößt im Verlauf ihrer Erörterungen unvermeidlich auf das logische Denken und hat dasselbe nach seinem objektiven Wert zu prüfen. Diese Aufgabe läßt sich nicht vollziehen, ohne ein Eingehen auf die allgemeinsten Formen und Gesetze des Denkens, welche in der Logik dargestellt zu werden pflegen. Sollen diese Formen und Gesetze nach ihrer Leistungsfähigkeit für das obige Erkennen untersucht werden, so muß notwendigerweise eine einfache Darstellung derselben vorangehen. So wird also die Erkenntnistheorie durch den eigenen Gang ihrer Aufgaben zur Untersuchung und Erledigung der spezifisch logischen Fragen geführt. Die Logik hat sich sonach vollständig in die Erkenntnistheorie aufzulösen. Doch die Bestimmung des Verhältnisses beider Wissenschaften ist es nicht, was mich hier zu beschäftigen hat. Ich habe hier  erstlich  darauf hinzweisen, daß WUNDT seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen die Lehre von den Begriffen, Urteilen und Schlüssen voranschickt. So tritt er also in die Erkenntnistheorie mit der Voraussetzung ein, daß es allgemeingültige Formen des Denkens gebe, - eine Voraussetzung, die sich keineswegs völlig von selbst versteht und die, da auf ihrer Grundlage die Erkenntnistheorie erst an die Prüfung des objektiven Wertes der Erkenntnisvorgänge geht, auch für allen weiteren Verlauf der Wissenschaft ein ungeprüfter, dogmatischer Bestandteil derselben bleiben muß. WUNDT sagt geradezu, daß die Logik - diese Grundlage der Erkenntnistheorie - unter der Voraussetzung steht, "daß das Denken ein zur Erkenntnis geeignetes Werkzeug und hierdurch befähigt sei, schließlich eine Übereinstimmung unserer Begriffe mit den Erkenntnisobjekten zu erreichen."  Zweitens  läßt er den logischen und den erkenntnistheoretischen Untersuchungen eine "psychologische Entwicklungsgeschichte des Denkens" vorangehen. So wird bei WUNDT die Erkenntnistheorie auch von der Psychologie abhängig. Dazu kommt dann noch, daß er, ähnlich wie BENNO ERDMANN, behauptet, die Logik müsse "aus den  tatsächlich geübten  Verfahrungsweisen des Denkens und der Forschung ihre allgemeinen Resultet abstrahieren."

Durch diese den neuesten erkenntnistheoretischen Bestrebungen entnommenen Beispiele wird es sich, hoffe ich, gerechtfertigt haben, wenn ich in der Ausführlichkeit, womit ich meine Ansichten über Erkenntnistheorie begründete, lieber zu viel, als zu wenig tat.
LITERATUR - Johannes Volkelt, Die Aufgabe und die Fundamentalschwierigkeit der Erkenntnistheorie als einer voraussetzungslosen Wissenschaft, Philosophische Monatshefte 17, Leipzig 1881
    Anmerkungen
    1) In meinem Buch über KANTs Erkenntnistheorie (Leipzig 1879, Seite 193f) findet man ausführlich nachgewiesen, daß KANT in der Tat diese Voraussetzung überall an die Spitze stellt.
    2) Mit HEGELs Auseinandersetzung hat man sich vielfach beschäftigt: z. B. KUNO FISCHER, Geschichte der neueren Philosophie III, Bd. 2, zweite Auflage, Seite 24. KARL GÖRING, System der kritischen Philosophie Bd. I, Seite 16ff und andere. Beide indessen werden HEGEL nicht gerecht, weil sie übersehen, daß dieser seinen Einwand gegen die  voraussetzungslose  Erkenntnistheorie erhebt, gegen eine Art Erkenntnistheorie also, wie die Kantische zwar faktisch nicht ist, wie sie aber  sein sollte,  wenn sie ihre Aufgabe vollständig erkannt hätte.
    3) So führte schon KARNEADES unter den Gründen, warum es kein sicheres Wissen gebe, auch den Gedanken an, daß dann die Möglichkeit der Beweisführung erst selbst bewiesen werden müsse, dies aber eben unmöglich sei (vgl. ZELLER, Philosophie der Griechen III, Bd. 1, Teil 3, dritte Auflage, Seite 504) Besonders aber kam der Scharfsinn der späteren Skeptiker darauf, der stolzen Erkenntnissicherheit des menschlichen Geistes jenen Zirkel entgegenzuhalten, wie das Erkennen, wenn es, wie es doch unabweislich gefordert sei, die Prüfung und Begründung seiner selbst vornehmen wolle, doch schon immer sich selbst voraussetzen müsse. Es geschah dies bei AENESIDEMUS, AGRIPPA und ihren Nachfolgern besonders in der Form, daß das Kriterium des Erkennens selbst wieder fraglich sei und daher eines neuen Kriteriums bedürfe, von dem aber wiederum genau dasselbe gelte; und so gehe es in's Unendliche weiter (vgl. Zeller a. a. O. dritter Band, 2. Teil, zweite Auflage, Seiten 18, 27, 30 und 32). Auch als man, von der Zeit MONTAIGNEs angefangen, sich wieder, vor allem in Frankreich, der Argumente der alten Skeptiker zu erinnern begann, tauchte jener prinzipiellste Einwurf gegen die Möglichkeit des Erkennens wieder auf, wenn er auch immer auf gleichem Fuß mit vielen anderen, weit weniger wichtigen Einwänden behandelt wurde. Besonders HUET in seinem "Traité philosophique de la faiblesse de lesprit humain" kommt hierauf zu sprechen. Vor allen philosophischen Untersuchungen müsse man die unbekannte und zweifelhafte Natur des menschlichen Verstandes feststellen; dies aber könnte wiederum nur durch den menschlichen Verstand geschehen; wie aber solle eine zweifelhafte Sache durch diese zweifelhafte Sache selbst entschieden werden (a. a. O. Amsterdam, 1723, Seite 51)? Wahres und Falsches sei überall vermischt, man bedürfe daher eines Kriteriums der Wahrheit; die Feststellung dieses Kriteriums aber, das Fernhalten falscher Merkmale von demselben, setze selbst schon den Besitz der Wahrheit voraus (Seite 69f).
    4) Der Unterschied zwischen Erkenntnistheorie und Psychologie kann nicht genug eingeschärft werden. Die erkenntnistheoretische Literatur ist voll von der Vermischung beider Gebiete. Ein besonders auffallendes Beispiel bietet HORWICZ dar ("Analyse des Denkens -Grundlinien der Erkenntnistheorie, Halle, 1875. Zweiter Teil der "Psychologischen Analysen auf physiologischer Grundlage"). Er macht es sich zur Aufgabe, das theoretische Erkennen aus der praktischen Gefühlsreaktion, aus der einheitlichen Zusammenfassung subjektiver Gefühlszustände im Wege der Entwicklung hervorgehen zu lassen; er will zeigen, wie das objektive Erkennen aus den elementarsten psychischen Prozessen schrittweise entspringe. Sicherlich ist das eine wichtige Aufgabe der Philosophie und HORWICZs Art, sie zu lösen, enthält viel Verdienstvolles. Nur ist das eben eine psychologische, nicht eine erkenntnistheoretische Untersuchung. Diesen Unterschied hat sich nun aber HORWICZ nicht klar gemacht. Er stellt sich ausdrücklich die Aufgabe, eine "wirkliche Erkenntnistheorie" zu liefern und setzt die seinige der Kantischen gegenüber, die auf den Namen "Erkenntnistheorie" eigentlich keinen Anspruch habe. Durchweg führt er seine Untersuchungen in dem Sinne, daß durch sie die Frage, wie das Erkennen, dieser subjektive Geisteszustand, den Anspruch auf objektive Bedeutung erheben könne, beantwortet und so "die Kluft zwischen Denken und Wirklichkeit" überbrückt werden soll. Hierdurch kommt es, daß weder die psychologische, noch die erkenntnistheoretische Art bei ihm rein durchgeführt erscheint. Er meint es mit der Rechtfertigung der objektiven Geltung des zunächst subjektiven Erkennens zu tun zu haben und kommt doch nirgends auf die springenden Punkte dieser Aufgabe zu sprechen; denn überall setzt er bei seinen Untersuchungen, bald unter dieser, bald unter jener Verhüllung, die Tatsächlichkeit eines die Dinge selbst abspiegelnden Erkennens wie etwas Selbstverständliches voraus und weiß die ungeheure Schwierigkeit nicht zu würdigen, die für das Erkennen durch den Gegensatz von Bewußtsein und Ding an sich entsteht. Das gilt auch insbesondere von seiner "Theorie der Koinzidenz" (Seite 128f) -- Nach meinen obigen Auseinandersetzungen über die Aufgabe der Erkenntnistheorie wird HORWICZ vielleicht einsehen, daß ich von den polemischen Bemerkungen, die ich vor mehreren Jahren in der "Jenaer Literatur-Zeitung" (1876, Nr.3) gegen seine Erkenntnistheorie machte und die er als "vollständig unbegreiflich" zurückweisen zu müssen glaubte (Philosophische Monatshefte, Bd. XII, 2. Heft, Seite 79f), nichts wesentliches zurücknehmen kann.