W. OstermannM. LadenA. WalsemannL. P. BoggsL. NelsonHerbart | ||||
Einige Gedanken über das Interessierende
Erster Teil Alle die Gegenstände, oder die Arten sie vorzustellen, welche, ohne unsere freiwillige Anstrengung, vermöge des Wohlgefallens, das sie in uns erregen, sich unserer Aufmerksamkeit bemächtigen und dieselbe stetig machen, diese, glauben wir, soll das Wort interessant von anderen Arten der Gegenstände unterscheiden; - es soll die Dinge ausdrücken, welche auf eben die Weise und vermöge eben der Triebfedern uns nach ihren Vorstellungen begierig machen, wie das uns aufmerksam macht, was zur Befriedigung unseres Eigennutzes etwas beitragen kann. Dieser Unterschied zwischen der Aufmerksamkeit, deren Urheber wir selbst sind, und zwischen der, die das Werk der Gegenstände ist, fällt bei den gemeinsten Verrichtungen des Lebens in die Augen. Gesetzt, man lese ein Werk der Genealogie oder Diplomatik. Es kann sein, daß wir mit unserer ganzen Aufmerksamkeit lesen: aber wir sind uns auch dabei der Mühe bewußt, die es uns kostet, der Zerstreuungen, die wir alle Augenblicke abwehren, des Widerstandes, den wir anderen mehr reizenden Ideen, die sich eindringen wollen, leisten müssen. Nicht die Sachen, die wir lesen, erhalten die Seele in ihrer Richtung auf dieselben, sondern unsere Begierde zu lernen, unsere Pflicht, oder die Absicht, wozu wir die Nachrichten brauchen; wir werden nicht angezogen, wir selbst stellen uns zu einer Sache hin und zwingen uns dabei zu bleiben. In diesem Fall werden wir nimmermehr sagen, daß das Buch interessant ist; wir werden nur sagen, daß wir fleißig arbeiten. Gesetzt aber, ein anderes Werk, das wir ebenfalls aus Pflicht oder Zwang zu lesen anfingen, enthalte Geschichte, Schilderungen, Reden, die uns, indem wir fortfahren, unserer ursprünglichen Absicht, warum wir lasen, nach und nach uneingedenk machen, und uns bloß mit den Sachen selbst beschäftigen, die wir in jedem Augenblick erfahren; gesetzt, die Begierde, die anfangs nur auf einen entfernten Endzweck, und auf das Lesen als auf ein Mittel gerichtet war, gehe nun auf den Inhalt des Buchs selbst, wir lesen nunmehr bloß, um zu wissen, was gesagt und was folgen wird, ohne weiter an einen Gebrauch zu denken: so werden wir alsdann zwar auch noch höchst aufmerksam sein, vielleicht aufmerksamer als zuvor, aber wir werden uns keiner Bemühung mehr bewußt sein, unsere Aufmerksamkeit zu erhalten; die Kraft, die der natürlichen Beweglichkeit der Seele Einhalt tut, wird nicht mehr unser Entschluß, sondern der Eindruck der Gegenstände sein. Das Buch, sagen wir alsdann, fängt an uns zu interessieren . - Noch ein anderer Umstand unterscheidet diese beiden Arten der Aufmerksamkeit; und gerade ist der eine Umstand das, was man sich beim Wort Interesse denkt. Nämlich, wenn ich bloß durch meinen Vorsatz in einer bestimmten Reihe der Dinge mit meinen Gedanken bleibe: so stehe ich in jedem Augenblick nur bei dem Glied der Reihe still, das jetzt gegenwärtig ist, und bekümmere mich um die künftigen nicht; ich schließe die Reihe, sobald mein Vorsatz erreicht oder die Zeit der Arbeit beendet ist, ohne mich im geringsten wegen dessen, was folgen wird, zu beunruhigen. Wenn ich hingegen, durch die anziehende Kraft der Gegenstände selbst, diese Reihe durchlaufe: so bin ich mit meiner Aufmerksamkeit immer schon ein wenig der gegenwärtigen Idee voraus; ich verlange nach den folgenden Gliedern, indem ich die gegenwärtigen betrachte: und ehe die Reihe nicht bis ans Ende oder bis an einen Unterbrechungspunkt kommt, werde ich nicht ruhig aufhören können. - Ein Schauspiel oder ein Roman interessiert mich und ich bin nach dem Erfolg begierig sind gleichbedeutende Redensarten; und es ist das sicherste Zeichen, daß ein dramatischer Dichter seinen Endzweck zu interessieren erreicht hat, wenn er den Zuschauer in ein Verlangen und eine unruhige Erwartung der Zukunft setzt. Der Grund dieser Verschiedenheit ist, dünkt uns, dieser: Die Begierde der Seele geht eigentlich immer auf etwas Künftiges. Geht sie nun nicht auf die Sache selbst, mit der man sich beschäftigt, sondern auf eine Absicht, die außerhalb derselben liegt, und bloß durch sie erreicht werden soll: so ist außer dem gegenwärtigen Teil der Sache nichts, als diese Absicht, uns in den Augen. - Hingegen, wo die Begierde auf die Dinge selbst geht, mit denen wir unsere Aufmerksamkeit beschäftigen, da sind es eigentlich die folgenden Teile der Dinge, auf die sie gerichtet ist, denn die gegenwärtigen werden schon genossen; und eben diese Befriedigung, die das Gegenwärtige der Seele gewährt, richtet ihren Blick gegen das Zukünftige, um neue Befriedigungen zu suchen. Also all das interessiert uns, was uns durch den Eindruck des Wohlgefallens, den es auf uns macht, ohne unseren Vorsatz aufmerksam und nach der Fortsetzung und der Folge begierig erhält. Alles Wohlgefallen entspringt entweder aus dem, was unsere Kraft zu denken beschäftigt, oder aus dem, was unsere Empfindungen erweckt. Alles, was mit uns auf gewisse Weise zusammenhängen und uns mit sich vereinigen soll, muß entweder Gedanken oder es muß Neigungen erregen, so wie sie zu unserer Natur und zu unserem Zustand passen. Wer uns interessieren will, muß uns viel zu denken geben oder uns in einen Affekt versetzen. Zuerst also vom Interesse, das die Dinge und ihre Schilderungen haben können, insofern sie Vorstellungen erregen. Das Wohlgefallen, das wir an gewissen Gedanken finden, beruth auf unserer Wißbegierde, oder auf dem Trieb, unsere Kräfte zu äußern. Unserer Wißbegierde gefallen all die Reihen von Gedanken, die entweder überhaupt der Seele Wahrheit und Kenntnis oder die ihr besonders solche Kenntnisse, solche Begriffe geben, welche eine besondere Beziehung auf ihren ehemaligen oder gegenwärtigen Zustand haben; und dieser letzte Reiz ist stärker und bekommt oft allein den Namen des Interessierenden. Unserem Trieb zur Geschäftigkeit gefallen all die Vorstellungen, die reich und doch leicht zu fassen, neu und doch klar sind, stark und schnell und doch mit Ordnung abwechseln. Wir wollen diese Triebfedern des Interessierenden stückweise durchgehen. Wir haben gesagt, die Wißbegierde werde durch Wahrheit und Kenntnis gereizt. - Einige dieser Wahrheiten und dieser Kenntnisse wirken vermöge ihrer inneren Kraft, bloß als Teile von Wissenschaft, entweder der allgemeinen, welche alle Menschen suchen, oder der besonderen, auf welche sich gewisse Menschen legen. Andere wirken vermöge gewisser Beziehungen, die sie auf den Menschen durch seine besonderen Umstände bekommen haben. Jene wenden sich bloß an den Verstand, diese ziehen auch schon gewisse kleine Leidenschaften mit ins Spiel, die sie befriedigen, oder denen sie Nahrung verschaffen. In der Beschreibung einer Reise, die nach dem Nordpol unternommen wurde, die Gestalt der Erde zu untersuchen, wird durch die Figuren und Rechnungen nur die Wißbegierde des Mathematikers gereizt; dies ist das Interesse einer besonderen Wissenschaft. Aber das Resultat dieser Figuren und Rechnungen, ob die Erde oval oder eingedrückt ist, dies erregt die Neugierde aller; dies ist das Interesse der Wissenschaft überhaupt. Die Schilderung der Sitten und der Lebensart der Einwohner des Nordens, die in dieser Reisebeschreibung vorkommen könnte, würde von noch mehreren mit Teilnahme und Begierde gelesen werden; nicht bloß, weil sie dadurch neue Einsichten bekämen, sondern noch mehr, weil sie dabei viele Vergleichungen mit ihren eigenen Umständen anstellen könnten, durch die schon vorher gefaßte Begriffe und schon daseiende Neigungen wieder erweckt und beschäftigt werden würden. Dies ist das Interesse, welches aus allgemeinen Beziehungen der Dinge auf uns entsteht. Vielleicht liest diese Reise ein Mann, der sich vom Nordlicht eine Theorie gemacht und ein Buch darüber geschrieben hat, und dem würde nichts wichtiger sein, als was von besonderen Beobachtungen dieses Phänomens, oder von neuen Erklärungen desselben gesagt würde, weil dies durch die Begierde, seine Meinung bestätigt zu sehen oder die Furcht, sich widerlegt zu finden, von wichtigen Folgen für ihn wäre. Dies ist das Interesse, das aus besonderen Beziehungen der Dinge entsteht. Schließlich der Teil, der die Gefahren beschriebe, welche die Reisenden ausgestanden, die Mühseligkeiten, welche sie erduldet haben, würde ohne Zweifel die meisten und die aufmerksamsten, begierigsten Leser finden. Dies ist das Interesse der Empfindung. Von einem besonderen Reiz, den jede Wissenschaft für den hat, der sie treibt, vom allgemeinen Interesse, das jede wichtige und verständliche Wahrheit für den Menschen überhaupt hat, wollen wir weiter nichts sagen. Das Erste gehört gar nicht zu unserer Absicht, und das Letzte ist durch sich selbst verständlich. Nur von dem Interesse wollen wir reden, das sich auf gewisse Beziehungen der Dinge, auf einen gewissen Einfluß ihrer Ideen auf unseren Zustand gründet und welches das eigentliche Interesse ist, das Dichter und Künstler, zu denen wir hier reden, ihren Werken geben sollen. Aber eine allgemeine Anmerkung müssen wir vorausschicken. - Man kann es unseren Dichtern nicht oft genug wiederholen, daß es nicht bloß durch Leidenschaften möglich ist zu interessieren; daß sie durch diese nur selten und immer nur Augenblicke lang interessieren; daß es nur allein der Reichtum der Vorstellung, die Wichtigkeit und die Menge dessen, was sie uns zu denken geben, sein kann, was uns bei einem größeren Werk von Anfang bis Ende geschäftig, aufmerksam und befriedigt erhält. Das rührendste Drame erregt beim empfindlichsten Zuschauer immer nur Blitze der Empfindung. Auf einen Augenblick, wo man getäuscht wird, folgt eine weit längere Zeit, wo man sich und die Schauspieler wieder als das erkennt, was sie sind. Für einen Vorfall, für eine Rede, die unmittelbar Leidenschaft erregt, gibt es hundert, die nur Vorstellungen erwecken. - Das Vergnügen, Mitleid und Schrecken zu empfinden, genießt man also nur in einzelnen und kurzen Stellen eines Trauerspiels. Aber das Vergnügen, Menschen von einem unterscheidenden Charakter, einem gebildeten Geist, feinen Sitten, einer edlen Sprache, über wichtige Vorfälle des Lebens reden zu hören, das können wir in allen Auftritten und ohne Unterbrechung genießen. Elend und Glückseligkeit sehe ich nur am Ende des Stücks, aber denkende und handelnde Menschen sehe ich durch das Ganze. Ist nun der Dichter um weiter nichts bekümmert gewesen, als bloß diesen Fall seines Helden recht schrecklich zu machen, so wird auf viele Langeweile endlich ein ergötzender Augenblick folgen, der noch dazu durch den vorhergehenden Verdruß die Hälfte seiner Kraft schon verloren hat. Hat aber der Dichter durch das ganze Stück Nahrung für meinen Geist ausgestreut, läßt er seine Personen so reden, daß sie mich mannigfaltige und wichtige Sachen lehren, mich an vieles erinnern, viele dunkle Bemerkungen deutlich, viele Wahrheiten, die ich abstrakt erkannte, anschauend machen: dann wird er mich bei den unerheblichen wie bei den wichtigen Vorfällen, am Anfang wie bei der Katastrophe seines Stückes, ergötzen; die erwartende Begierde nach dem Zukünftigen wird durch das süße Gefühl des Gegenwärtigen gemäßigt werden; und mein Herz wird für die letzteren starken Eindrücke, die er für dasselbe bestimmt, nur deste mehr geöffnet sein. Wir kehren von dieser kleinen Ausschweifung wieder zurück. - Wir müssen also erst erklären, wie gewisse Ideen eine nähere Beziehung auf die Umstände des Menschen bekommen, und dann, auf wie vielerlei Art solche Beziehungen formiert werden können. Man erfährt dies schon im Vortrag der abstrakten Wissenschaften. Wenn jemand einen Lehrer oder Schriftsteller über Materien hört oder liest, über welche er selbst noch niemals nachzudenken veranlaßt wurde: so muß es bloß die Deutlichkeit und Evidenz der Sachen, die ihm vorgetragen werden, und seine eigene Lust zur Wissenschaft sein, die ihn für das, was er hört, einnehmen und eine gewisse Teilnahme an den Untersuchungen, welche angestellt werden; bewirken kann. Und auch alsdann ist es doch beinahe gewiß, daß er vieles vorbeilassen wird, was ihm gleichgültig scheint, obgleich es unmittelbar zur Absicht des Redners und Schriftstellers gehört; vieles als einen Gewinn auffassen wird, was ohne Bedeutung ist, und bloß zu Nebenbegriffen oder zu Ausfüllungen gehört. Denselben Weg, den die Natur bei der Erfindung der Wahrheit nimmt, den will sie auch bei der Erlernung derselben genommen wissen, wenn die Wahrheit ihren Eindruck machen soll. - So wie man nun nicht eher Erklärungen der Phänomene sucht, als bis man durch dieselben befremdet wird, und so wie beinahe alle unsere Untersuchungen bloß zur Auflösung von Schwierigkeiten angestellt werden, durch die man zuvor beunruhigt worden ist; so muß man auch, damit man an diesen Erklärungen und Auflösungen, wenn sie von andern erfunden wurden und uns nun vorgetragen werden, ein Interesse findet, eben diese Erfahrungen wenigstens im Vorbeigehen gemacht, eben diese Schwierigkeiten wenigstens dunkel wahrgenommen haben. - Jeder Gedanke in den Reden und Schriften anderer, dessen Wahrheit wir zwar einsehen, dessen Brauchbarkeit wir aber nicht empfinden, und dessen Abzielung wir nicht gewahr werden, rührt uns wenig. - Diese Brauchbarkeit aber, diese Abzielung kann in nichts anderem liegen, als entweder im Licht und der Gewißheit, die dieser Gedanke über andere schon vorher gehabte, uns wichtig scheinende Gedanken ausbreitet, in welchen wir noch Dunkelheit oder Zweifel fanden; oder in den Regeln und Hilfsmitteln, die uns derselbe zu solchen Verrichtungen gibt, an deren Ausführung uns gelegen ist und in denen wir nicht fortkommen konnten. - Diese anderen Ideen muß man also notwendig erst gehabt und ihre Lücken oder ihre Undeutlichkeit empfunden haben; zu diesen Verrichtungen muß man erst veranlaßt, und durch Mangel dieser Kenntnisse gehindert worden sein, wenn man das Interesse am Unterricht finden soll, das sich auf die Aufklärung dieser Dunkelheiten und die Ersetzung dieses Mangels gründet. Nicht das Gute, sagt LOCKE, erregt an und für sich Begierde, sondern nur das Gute, welches eben jetzt zur Vollständigkeit unseres Zustandes fehlt, nur dasjenige, dessen Mangel in unserer jetzigen Verfassung eine Lücke macht, über die wir unruhig sind. Eben die Beziehung, die das Gute auf die Begierden hat, eben dieselbe hat das Interessierende auf den Verstand. Nicht jede wahre große schöne Idee macht uns aufmerksam, sondern nur diejenige, die in die Reihe der in uns schon vorhandenen und von uns bemerkten Ideen noch hineinfehlt, die, welche eine von uns wahrgenommene Lücke unserer Kenntnisse ausfüllt, eine gewisse Unruhe stillt, die wir über unsere Unwissenheit in diesem Stück empfanden. Wir sehen also, wie der vorhergehende Zustand des Menschen, die Summe dessen, was er bisher erfahren, empfunden und gedacht hat, einen Einfluß darauf haben kann, an welchen von den neuankommenden Ideen er den meisten Geschmack finden, welche er sich am geschwindesten zueignen, bei welchen er mit seiner Aufmerksamkeit stehen bleiben soll. Wenn die Natur zuerst das Auge und das Ohr des neugeborenen Menschen öffnet, so überläßt sie denselben eine Zeitlang ganz der Herrschaft äußerer Gegenstände: seine innere Wirksamkeit hat noch gar keine Richtung; alle Dinge, die sich sehen, hören oder fühlen lassen, befriedigen denselben auf gleiche Weise. Nur das hellere Licht oder der stärkere Schall ist das einzige, was einem Ding vor dem andern in seiner Aufmerksamkeit und in seiner Zuneigung einen Vorzug gibt. Er verlangt an keine andere Sache zu denken, als die sich ihm darstellt; er erwartet keine andere Vorstellung, als die er wirklich hat. Die Form jedes Gegenstandes ist der Seele gleichgültig, weil der Gegenstand selbst erst der Seele ihre Gestalt geben soll. - Der erste Unterschied, der sich zwischen Dingen feststellt, ist der zwischen Lust und Schmerz; und die erste Triebfeder, die Aufmerksamkeit und Erwartung erregt, ist die Leidenschaft. Aber indem diese Begierden sich entwickeln, ihre Gegenstände öfter und in neuen Verbindungen vorkommen, breiten sich die Ideen aus und erzeugen aus sich neue; viele derselben fügen sich in gewisse Reihen zusammen, wovon jedes Glied die Voraussehung und das Verlangen nach den übrigen erregt; viele vereinigen sich zu gewissen Ganzen, die sich der Seele auf einmal darstellen, und in welchen sie das Mangelnde aus dem, was vorhanden ist, fühlen lernt. Der jedoch immer fortgehende Fluß äußerer und innerer Gegenstände und Vorfälle führt neue Begriffe dazu, verstärkt oder modifiziert die alten; bis schließlich der Körper reif, die Organisation völlig befestigt, die Ideen der meisten und wichtigsten Dinge erlangt, die vornehmsten Freuden und Schmerzen des Lebens empfunden und der Mensch und die Dinge, die ihn umgeben, durch ihre gegenseitige Operation gegeneinander gleichsam abgeformt sind. Alsdann können die neuankommenden Gegenstände nicht mehr die Seele auf ganz neue Weisen erschüttern, sie müssen gewissermaßen in die Fußstapfen der alten treten, wenn sie Eindruck machen sollen. Die Seele nimmt nicht mehr alles auf, was sich ihr anbietet; sie sucht das, was sich an die Reihen anschließt oder in die Ganzen hineinpaßt, die sich in ihr formiert haben, und nach welchen sie alles ordnen muß, was ihr denkbar und empfindbar sein soll. Die Aufmerksamkeit hat schon ihre gewissen Objekte und an jdem Dinge ihre gewissen Teile, nach welchen sie sich allemal mit Vorbeigehung der übrigen hinkehrt; und wer also diese Aufmerksamkeit gewinnen will, der muß der Seele gerade diese Objekte oder diese Teile jedes Objekts vorhalten. Überdies legt jede Begebenheit, die dem Menschen aufstößt, jeder Zustand, in den er gerät, einen gewissen Stoff in sein Gedächtnis nieder, der bearbeitet werden soll; jede Idee, die er bekommt, bereitet ihn zu einer neuen vor, oder enthält den Samen zu derselben. - Was nun also aus diesen in ihm schon vorhandenen Materialien erbaut wird, was aus diesem in ihm liegenden Samen aufschießt und reift, ist ihm weit wichtiger, gehört weit mehr zu ihm, bringt seinen Kopf in weit größere Tätigkeit und seine Einbildungskraft in weit größere Wärme, als was aus ganz fremdem Stoff zusammengesetzt und auf ausländischem Boden gezeugt ist. Es wird also leicht sein zu finden, auf wie vielfache Weise Ideen und Schilderungen eine genauere Beziehung auf unseren Zustand bekommen. Einmal, wenn sie das, was wir schon halb wissen, ergänzen, was wir dunkel empfunden haben, uns deutlich denken, oder was wir in abstrakten Worten erlernt haben, in einem einzelnen Fall anschauen lehren. Zweitens, wenn sie uns an irgendetwas von dem, was wir selbst mit größerer oder geringerer Rührung erfahren haben, lebhaft wieder erinnern und uns in unser eigenes voriges Leben einen Blick tun lassen, der uns Aufschlüsse von dem gibt, was wir damals nicht verstanden oder uns bemerken läßt, was wir damals übersehen haben. Drittens, wenn sie uns für gewisse Geschäfte, an denen uns gelegen ist oder zu einem Betragen, nach welchem wir streben, Muster und Anweisung geben. Viertens, wenn sie uns zu irgendeiner eigenen Übung unserer denkenden Kraft veranlassen, indem wir sie mit den uns bekannte Grundsätzen zusammenhängen und durch die uns widerfahrenen Begebenheiten erläutern oder indem wir irgendeine Art von Verwandtschaft, es sei der Ähnlichkeit, es sei der Abhängigkeit zwischen ihnen und unseren alten Erfahrungen aufsuchen. Man wird vielleicht noch mehr Arten eines solchen Zusammenhangs der Vorstellungen mit uns finden, oder diese noch in mehr Unterarten zergliedern können. Aber die, welche wir angeführt haben, sind hinlänglich, den Begriff selbst zu erläutern und die Folgerungen verständlich zu machen, die wir aus ihm in Absicht auf die Werke der Dichter ziehen wollen. Dies nämlich fragt sich jetzt: was für Gegenstände muß denn also der Dichter wählen, wie muß er sie bearbeiten, wenn er die meisten, wenigstens die aufgeklärten, die gesitteten Menschen durch die Vorstellungen, die er in ihnen erweckt interessieren will? Er muß, werden wir überhaupt antworten, diejenigen Gegenstände wählen, von welchen er erwarten kann, daß sie in all dieser Menschen Seelen korrespondierende Begriffe finden, und daß sie mit den alten Empfindungen derselben zusammenhängen; er muß diese Gegenstände so bearbeiten, daß sie die Züge dieser Bilder, die Spuren dieser Empfindungen getreu wiedergeben, aber in denselben mehr und dieses deutlicher oder anschauender zeigen, als die Seele selbst in ihnen entdeckte. Nach dem ersten Grundsatz werden also 1)die Dinge, welche ein wahres Interesse haben sollen, natürliche Gegenstände und deren ihre natürliche Veränderung sein müssen, Dinge, deren Gattung wir durch unsere eigene Erfahrung kennen. Die wirkliche vor uns liegende Welt ist es, aus der alle unsere Ideen geschöpft, auf die alle unsere Neigungen gerichtet sind. Sie ist der Inbegriff all dessen, was uns verständlich oder wichtig oder angenehm sein kann. Ihr Reichtum füllt den ganzen Umfang unserer denkenden Kraft und erschöpft das ganze Maß unserer Empfindsamkeit. Wer uns ungesehene Gestalten und unerhörte Veränderungen vorstellt, der führt uns in fremde Welten, wo wir andere Organe nötig hätten, um zu sehen, und ein anderes Herz, um zu fühlen, was uns gezeigt wird. Das Schlimmste ist, daß derjenige selbst diese Organe und dieses Herz nicht hat, der uns diese Dinge zeigen will. Diese neuen Welten sind bloß aus einigen Trümmern der gegenwärtigen erbaut, die größtenteils übel zusammengefügt und dadurch weit unkenntlicher, weit unkräftiger geworden sind, als sie in ihrer alten Anordnung waren. Einige Kunstrichter, die, wie uns dünkt, mehr nach alten Mustern und alten Regeln, als nach der Natur und nach ihrer eigenen Empfindung philosophieren, haben der sogenannten Imagination in der Dichtkunst, ich meine der Imagination, welche ganz neue in der Natur nicht vorhandene Wesen und Begebenheiten erfindet, einen viel zu hohen Rang unter den dichterischen Fähigkeiten und ihren Werken einen viel zu großen Wert beigelegt. Vom heiligen LONGINUS an bis herunter zum Engländer DUFFT (1) wollen uns diese Herren durchaus überreden, daß den HOMER nichts größer macht, als sein Jupiter, wenn er mit seinem Haupt den Olymp erschüttert, und die Pferde des Mars, wenn sie mit einem Schritt so weit ausgreifen, wie man von einem hohen Berg sehen kann; daß SHAKESPEAREs Genie nirgends mehr hervorleuchtet, als da wo er seine Herzen und Ungeheuer reden läßt; und daß POPE bloß ein feiner Versifikateur sein würde, wenn er nicht zum Glück den Gabalis gelesen und in seinen Lockenraub Sylven und Gnomen gebracht hätte. Wenn diese Kunstrichter noch ihrem wirklichen Gefühl reden, so ist es freilich ein sicherer Beweis, daß das unsrige kein allgemeines Gefühl ist. Denn dies geht ganz darauf, daß es ein größeres Genie erfordert, das Wirkliche und das Natürliche, als das Erdichtete und das Übernatürliche zu schildern, (wir reden hier bloß von den redenden Künsten) oder daß, wenn auch das letzte mehr Bewunderung erregen sollte, doch das erste nur interessieren kann. - Die wirkliche Natur ist weit reicher in dem Stoff, aus dem sie jedes Ding zusammengesetzt, weit mannigfaltiger in den Arten, durch welche sie dasselbe abgeändert hat. Jedes Ding in der Natur ist ein Gewebe von unzähligen Teilen; eine Mischung von unendlich viel Beschaffenheiten und diese alle wieder auf alle mögliche Weise bestimmt: jedes Ding der bloßen Imagination hingegen ist fast immer nur eine Zusammensetzung aus zwei, drei allgemeinen Eigenschaften, die man in einem Übermaß nimmt, in welchem sie keine besonderen Bestimmungen, keine Einschränkungen leiden. Alle diese Geschöpfe der mythologischen und Feen-Welt sind im Grunde wirklich nur abstrakte Begriffe. Es ist Macht oder Größe, oder Geschwindigkeit, oder irgendeine andere solche Eigenschaft allein, im höchsten Grad gedacht, die den namen Jupiter oder Oberon bekommt. Ferner sind die Verschiedenheiten der natürlichen Gegenstände in derselben Gattung unzählig. Unter der Menge von Beschaffenheiten, die ihre Individualität ausmachen, darf nur eine einzige abgeändert werden, so stimmt sich das ganze System um, und das Gemeinschaftliche der Gattung bleibt doch. Überdies gibt es in dem, was seine bestimmten Grenzen hat, unzählige Grade des Mehr und des Weniger. Hingegen eine solche fremde Gestalt, deren ganze Existenz an zwei bis drei einmal ausgemachte Züge gebunden ist, würde gar nicht wieder erkannt werden, wenn man nicht gerade eben dieselben Züge vorbrächte: und weil man zugleich die ganze Gattung dieser Dinge selbst aus lauter Eigenschaften im höchsten Grad genommen zusammengesetzt hat, so kann es zwischen den Individuen keine merkliche Verschiedenheit mehr geben, wenn sie noch zur Gattung gehören sollen. - Man hat es tausendmal wiederholt, daß die Natur eingeschränkt, aber das Feld der Imagination unendlich ist. Uns dünkt, die imaginative Welt ist gegen die wirkliche ein enges armseliges Gehege, wo immer man dasselbe Wild unter neuen Namen hascht, und weil man sich lange im Kreis herumbewegt hat, glaubt, daß man sehr weit fortgekommen sein muß. Aber gesetzt, wir wären so gute Schöpfer, daß wir wirklich neue individuelle Naturen hervorbringen, und sie hinlänglich abwechseln könnten: was können uns alle diese Wesen angehen, die wir niemals um uns herum gesehen, mit denen wir niemals in irgendeinem Verhältnis gestanden haben und von denen wir wissen, daß wir nichts weder zu hoffen noch zu fürchten haben? - Wenn uns diese Götter-Zauberer-Feen- und Ritterwelt jetzt noch gefallen soll: so muß es entweder dadurch geschehn, daß unter diese fremden Namen wirkliche Menschen aufgeführt werden, oder daß sie doch zuweilen wie die uns bekannten Dinge wirken und leiden; oder es müssen Anspielungen, es muß Scherz, Satire, mit einem Wort eine Art von verborgenem Sinn sein, der unter diesen Bildern hervorleuchtet. Diese Dinge und ihre Begebenheiten müssen nur als das Mittel gebraucht werden, durch welches andere, die uns eigentlich interessieren, ins Auge fallen sollen. Aus dieser Regel folgt, 2) daß uns nichts mehr interessieren kann, als Schilderungen des Menschen, seiner Sitten und seiner Vorfälle. - Denn mit dem Menschen haben wir doch vom ersten Augenblick unseres Bewußtseins an am meisten zu tun, mit ihm verbinden uns unsere Bedürfnisse am genauesten, auf ihn macht uns unsere Natur am öftersten aufmerksam. Geschäfte und Vergnügungen, alles, wodurch wir Begriffe bekommen oder gewisse Neigungen annehmen, beziehen sich nur auf Menschen, oder werden mit ihnen gemeinschaftlich unternommen und genossen. Also müssen von keiner Sache in der Natur so viele Elemente von Ideen bei uns vorhanden, auf keine muß unsere Neugierde so sehr gerichtet sein, zu keiner Erkenntnis muß so viel Anlage und so viel Bedürfnis in uns liegen, wie zur Kenntnis des Menschen. - Man weise uns den Menschen, den geringen wie den hohen, in außerordentlichen oder in alltäglichen Vorfällen; aber man weise ihn uns so, wie wir ihn eigentlich kennen wollen, als einen denkenden, empfindenden Menschen; man finde die wahren Worte, die ihm seine Situation eingeben, die eigentlichen Handlungen, zu denen ihn sein Charakter treiben muß; und unsere ganze Seele wird bei diesem Anblick in eine Geschäftigkeit kommen, die sie an nichts weiter denken läßt; der ganze Vorrat ihrer Ideen wird sich, sozusagen, in Bewegung setzen und das ganze System ihrer Empfindungen wird erschüttert werden. Mit dieser Saite ist unsere ganze Seele harmonisch gestimmt. Alles, was wir wissen, alles, was wir wollen, hat irgendeine augenscheinliche oder geheime Beziehung auf eine solche Schilderung. Wenn die Erscheinung nicht so gewöhnlich wäre, so würde es uns wunderbar vorkommen müssen, daß der gemeinste elendeste Kopf unter den Zuschauern einer Minna, der, wenn er einen Wirt, einen Major Tellheim, einen Wachtmeister wie Paul Werner, selbst reden lassen sollte, nicht ein Wort würde zu finden wissen, wodurch sich diese Stände oder diese Charaktere unterscheiden, doch, wenn diese Sprache von einem Mann von Genie gefunden ist, sie sogleicht für die recht eigentliche erkennt, und ihre Richtigkeit gleichsam durch seine eigenen Erinnerungen bestätigt. - Wie ist dies anders möglich, als daß auch der gemeinste Mann Leute von diesen verschiedenen Ständen und Sitten im wirklichen Leben gesehen, daß er die Unterschiede ihrer Sprache und ihres Betragens damals empfunden und seit der Zeit in seinem Gedächtnis aufbehalten hat, aber so verworren unter einem Haufen stärkerer Ideen, die zugleich in die Seele kamen, so verdeckt von der Reihe derer, die darauf folgten, daß seine eigene Kraft nun nicht mehr ausreicht, sie wieder ans Licht zu ziehen? Aber diese Gegenstände dürfen ihm nur wieder vorkommen, besonders so rein, so von heterogenen Dingen abgesondert, so zusammengedrängt, wie sie ihm ein guter Dichter zeigt: dann finden sich die Abdrücke, die davon in seiner Seele vorhanden sind, augenblicklich herbei; er drückt, sozusagen, den alten Stempel wieder darauf, er findet ihn genau passend und eben diese Operation, die seinem eigenen Geist zugehört, ist das, was ihn bei einer solchen Szene tätig und aufmerksam erhält, mit einem Wort, was ihn interessiert. Unter diesen Gemälden von Menschen nun wird uns 3) das Gemälde solcher Menschen am stärksten interessieren, die am meisten unseresgleichen sind, die eine Denkungsart, eine Sprache und Sitten wie die unsrige haben, und deren Begebenheiten und Handlungen denen gleichkommen, aus denen der Lauf unseres eigenen Lebens besteht, mit einem Wort, das Gemälde unserer Zeit und unserer Nation. - Jeder Mensch hat um sich herum ein kleines System. Er selbst ist der Mittelpunkt desselben; die Glieder seiner Familie, die Einwohner seiner Stadt, die Leute, mit denen er alle Tage umgeht, ziehen die nächsten Kreise um diesen Mittelpunkt; Reisen, Geschäfte, die verschiedenen Veränderungen seines Zustandes, erweitern dieselbe. Innerhalb dieses Systems sieht der Mensch alles mit seinen eigenen Augen, jeder Punkt der Peripherie hängt durch irgendeinen Strahl mit dem Mittelpunkt zusammen. Geschichte und Reisebeschreibungen können ihm noch tausend andere Systemte außer dem seinigen bekannt machen; aber diese alle sieht er nur im Profil, berührt sie gleichsam nur durch einige wenige Tangenten. Und so wie auch diese weiter von seinem Standort wegkommen, so wird ihr Anblick immer einseitiger, mangelhafter, dunkler. - In der Tat, wir kennen nur diejenige Lebensart, diejenige Verfassung der Menschen recht, die auch zugleich unsere eigene ist. Alle übrigen Zustände des menschlichen Geschlechts erklären wir uns immer nur durch die Vergleichungen, die wir zwischen denselben und dem gegenwärtigen anstellen. Wo diese Ähnlichkeiten uns verlassen oder betrügen, da sind unsere Vorstellungen von diesen Zuständen dunkel oder falsch. Wo die menschliche Gestalt anfängt sehr von der unsrigen abzugehen, da sehen wir die Menschen als eine Art Ungeheuer an, und schließlich streiten wir wohl gar darüber, ob es Menschen oder Affen sind. Und wo der menschliche Geist, seine Ideen, Gesinnungen, Handlungen, gar keine Gleichförmigkeit mehr mit der unsrigen haben, da verliert sich das Bewußtsein von dem, was ein solcher Geist sein mag, und das sympathetische Gefühl von dem, was in demselben vorgeht. - Überdies, die Nachrichten, die uns alte oder entfernte Menschen bekannt machen sollen, wie weit können diese wohl reichen? Die Griechen und Römer sind gewiß die beiden Nationen, die wir aus dem Altertum am besten kennen. Und doch, wie weit ist der Begriff, den wir von der Verfassung und der Lebensart der Einwohn von Rom und Athen haben, von einem sinnlichen Anschauen unterschieden? Wieviele Lücken sind nicht in den vollständigen Nachrichten, wieviele Umstände, die kaum unsere Vernunft miteinander vereinigen kann, und aus denen noch weniger unsere Einbildungskraft ein Ganzes zu machen weiß? Es sind immer nur einige wenige Bestandteile aus der unendlichen Zusammensetzung der damaligen Natur, nur einige zerrissene Glieder aus der Kette ihrer Veränderungen. Wir zwingen diese Teile zusammen, wir hängen diese Glieder, so gut wir können, aneinander; aber wir fühlen doch, daß wir nicht die wahre Gestalt, nicht den ganzen Körper der Natur wieder herausbringen. - Wie viel unmöglicher also muß es nicht sein, ein richtiges Gemälde vom gesamten Zustand eines Volkes oder eines Zeitalters auf einzelne Stellen von Schriftstellern zu gründen, die davon im Vorbeigehen geredet haben. Es sind seit einiger Zeit unter uns die Barden- und Skaldengesänge augekommen. Wenn man damit nichts weiter zur Absicht hat, als was KLEIST bei seinem Lied eines Lappländers, und GRAY bei seiner Herabkunft des Odin zur Absicht hatte, uns auf eine lebhaftere Art, als durch die bloße Erzählung geschehen kann, das Eigentümliche und Sonderbare der Lebensart, der Sitten und der Dichtkunst eines merkwürdigen Volkes zu zeigen: so ist die Wahl unserer Bardensänger die glücklichste, weil uns dieses Volkes Eigentümlichkeiten am erheblichsten vorkommen müssen, da wir uns für die Nachkommen desselben halten können. Aber wolte man so weit gehen, daß man die wahre deutsche Poesie dadurch erst wieder aufzuwecken glaubte, daß man dies als die einzigen Originalgedichte und alles Übrige als französische oder englische Nachahmungen ansähe: so gestehen wir aufrichtig, daß es uns um unser Jahrhundert leid wäre. So viel Mühe also hätten wir uns um Kultur und Sitten und Wissenschaften gegeben, damit wir uns in denjenigen Werken, die der Nation vor allen übrigen eigen sein sollten, wieder in ein rauhes, barbarisches, unwissendes Jahrhundert zurücksetzten, unsere etwas gebildete Sprache wieder regellos machten, unsere kaum gebändigte Phantasie wieder ihrem wilden Lauf überließen? Und wenn wir uns noch in dieses Jahrhundert zurücksetzen könnten; wenn uns noch der Dichter diese wilde Natur und diese rauhen Menschen so zeigen könnte, wie sie wirklich gewesen sind! - Aber dazu weiß er selbst lange nicht genug von ihnen. Einige wenige, hier und da aufgesammelte, halb wahre und halb falsche Nachrichten, größtenteils aus römischen Schriftstellern, und einige Fragmente aus Gedichten benachbarter barbarischer Nationen, sind die ganzen Quellen, woraus wir unsere Kenntnis von diesen unseren Vorfahren schöpfen. Einige Namen ihrer Gottheiten und Geister, einige Gebräuche ihrer Religion, einige wenige von ihren politischen und häuslichen Einrichtungen, ihre Tapferkeit, ihr Haß gegen die Römer, machen den ganzen Stoff aus, der zur Schilderung ihrer Sitten und ihres Zustandes verbraucht wir. Daher kommt es dann auch, daß der Grund des Gemäldes modern oder eine bloße Phantasie ist, und daß nur hin und wieder die etlichen wenigen Farben des Altertums reichlich aufgetragen werden, uns zu erinnern, was der Dichter hat vorstellen wollen. - Durch solche Schilderungen aber, die der Dichter bloß nach seinen Einbildungen machen muß, kommt er von seinem eigentlichen Hauptgeschäft, der Beobachtung der wirklichen Welt und der gegenwärtigen Menschen, ab. Die Empfindungen und Leidenschaften, die solche Gedichte ausdrücken, sind doch niemals des Dichters eigene. Es ist eine Maske, die er trägt, bei der er in der Tat einiges Verdienst hat, wenn er die Rolle gut zu spielen weiß, zu der er sich durch seine Maske anheischig macht [anbietet - wp]: aber es ist doch nur eine Maske, und wer auch immer vermummt geht, muß wahrhaftig ein häßliches Gesicht haben. - Wir kennen allerdings einige sehr schätzbare Stücke dieser Art. Wir verlangen auch nicht dem Genie irgendeines Dichters Schranken zu setzen. Aber wir wünschten doch unsere besten Genies mit dem beschäftigt zu sehen, was unserem Zeitalter und unserer Nation am wichtigsten und am vorteilhaftesten sein muß. Aus eben demselben Grund können wir es nicht begreifen, wie auch immer es ein Kunstrichter dem andern hat nachsprechen können, daß Könige und Fürsten zur Tragödie notwendig sind, weil nur deren Schicksale uns recht stark interessieren könnten. Auch HURD, der einsichtsvolle HURD, klagt bitterlich darüber (2), daß die edelste Gattung des Dramas unter den Neueren beinahe verloren ist, weil sie sich auch durch das Unglück von Privatpersonen wollen rühren lassen. Aber wenn nur seine Gründe ebenso stark wären, wie seine Klagen ernsthaft sind! Es sind diese beiden:
2) Die Personen der Fürsten haben in unserer Idee eine größere Würde; also muß uns ihr Unglück mehr in Erstaunen versetzen. Es gibt viele ähnliche Philosophie über das Theater und im Vorbeigehen gesagt, über den Menschen überhaupt, die als eine Reihe von Begriffen ganz richtig ist; nur daß sich die Gegenstände zu diesen Begriffen gar nicht in der Natur finden. - Überdies wieviel sind nicht im Leben der Könige Privathandlungen; Begebenheiten, die in einem Bürgerhaus wie in einem Palast vorgehen können; und sind nicht die meisten Subjekte unserer und der alten heroischen Trauerspiele von der Art? Was soll also hier der Name des Fürsten tun, wenn er nur als Mensch handelt oder leidet? Aber die größte Würde der Könige und ihre Handlungen? - In der Tat, beim aufgeklärten edleren Teil der Zuschauer existiert diese Idee von Würde gar nicht; und diesen Teil wird doch wohl der Dichter am meisten interessieren wollen. - Und gesetzt, wir hätten wirklich einen so eingeschränkten Kopf, oder eine so niedrige Seele, daß uns der Name Fürst, König auch auf der Bühne unsere natürliche Gleichheit vergessen ließe: wozu würde dies anders dienen, als uns gegen das Schicksal dieser höheren Wesen gleichgültiger zu machen? Ja eben dies, daß der Dichter sich verbunden hält, Könige und Fürsten die höchste Sprache der Poesie reden zu lassen, eine Sprache, die sehr einförmig ist und die meisten Verschiedenheiten der Charaktere und der Denkungsarten unter einem immer gleichen Pomp verbirgt; eben dies, daß man den höheren Stand nicht anders als durch ein gewisses Gepränge kenntlich zu machen weiß, welches oft dem natürlichen Ausdruck der Leidenschaft schadet: eben dies ist eine Ursache mehr, warum uns das heroische Trauerspiel weniger interessant sein muß, als das bürgerlicht. Auch die Könige müssen erst wieder Menschen werden, wie wir, wenn sie uns durch ihre Schicksale rühren sollen. Weil also, wenn die Menschen, die uns vorgestellt werden, nur kenntliche, nur in ihrer Art merkwürdige Menschen sind, es nicht der Hoheit des Standes und der politischen Wichtigkeit der Begebenheiten braucht, um uns zu interessieren: so werden wir natürlicherweise darauf geleitet, daß an der Bearbeitung der Charaktere und der Vorfälle am meisten gelegen ist. Diejenige Bearbeitung, haben wir gesagt, macht uns die dichterischen Vorstellungen einer Sache interessant, durch welche unsere eigenen dunklen Ideen von derselben getreu wiedererweck, aber zugleich aufgeklärt oder erweitert werden. Aufgeklärt werden sie 1) indem wir das, was wir bloß in besonderen Fällen zu empfinden wußten, allgemein denken lernen, und die Wahrheit, die in unseren Erfahrungen unter vielem nicht dazugehörigen Stoff verborgen lag, rein und abgesondert unserem Verstand dargestellt sehen; dies macht das Interesse, welches Sentenzen, und was man überhaupt Philosophie in einem Gedicht nennt, am rechten Ort und auf die rechte Weise gebraucht, wirken können; 2) indem das, was wir bloß mit Wörtern und in einem abstrakten Satz gefaßt hatten, in einem einzelnen Fall auf einmal anschauend gemacht wird; dies ist das Interesse der poetischen Schilderung selbst. Erweitert werden unsere Begriffe, indem uns entweder von den Dingen solche Teile und Eigenschaften gezeigt werden, die wir selbst gar nicht bemerkt hatten, die wir aber, sogleich als sie uns bekannt werden, der Sache gemäß und mit allen ihren übrigen Teilen und Eigenschaften übereinstimmend finden; oder indem uns die feineren Züge, die einfacheren Elemente, die inneren Kräfte der Dinge, die in unserem eigenen Begriff zwar lagen, aber von uns nicht unterschieden, nicht auseinander gebracht werden konnten, entdeckt und kenntlich gemacht werden. Wenn wir uns unsere Begriffe von den Dingen von der wirklichen Welt abstrahieren wollen, so müssen wir sehr aufmerksam sein, um die Sache, die wir beobachten, nicht unter der Menge der andern, die mit ihr zugleich da sind, zu verlieren; um uns nicht durch den schnellen Fluß der äußeren Veränderungen und unserer eigenen Begierden von ihr eher wegtreibe zu lassen, ehe wir noch ihre Gestalt gefaßt haben. Überdies sind es immer nur Stücke von Begriffen, die wir auf diese Weise jedesmal erhalten. Die Augenblicke, wo wir aus den Gesprächen oder den Handlungen der Menschen, mit welchen wir umgehen, etwas Erhebliches vom Mensch überhaupt lernen könnten, sind selten. Wir müssen unser bißchen Weisheit darüber mühsam zusammensparen und bekommen doch oft nichts Brauchbares, nichts recht Ganzes. - Vom Dichter erwarten wir aber, daß er diese Beobachtungen besser und vollständiger zu machen Gelegenheit gehabt hat; von ihm fordern wir, daß er sie uns auf einmal und in einem ganzen Haufen überliefern soll; nicht bloß, indem er seinen Personen die Reflexionen selbst in den Mund legt, die er bei dieser, bei jener Gelegenheit mag angestellt haben und woraus seine Kenntnis nach und nach erwachsen ist; sondern vielmehr, indem er seine Personen so handeln, so reden läßt, daß es uns leicht wird, aus ihnen selbst diese Wahrheiten zu abstrahieren. Er hält uns, so wie die Natur, nur den Stoff zu unseren Kenntnissen vor; aber die Natur einen rohen, er nun einen bearbeiteten Stoff; bei ihm kommt das Individuelle schon dem Allgemeinen etwas näher; der Verstand findet nicht mehr so viel wegzulassen, so viel zusammenzusuchen. Im Bildnis lassen sich die Umrisse, die die Gestalt bestimmen, leichter als im Gesicht der Person selbst unterscheiden. Was die Sentenzen betrifft, so sind dieselben in der neueren Kritik ausnehmend verschrien und man hat Recht gehabt sie zu verschreien, wenn man darunter entweder alltägliche und sozusagen schon in gewisse Formulare gebrachte Wahrheiten versteht; oder wenn überhaupt da allgemeine abstrakte Urteile sind, wo lauter partikuläre Ideen solche, die sich bloß auf die Umstände und das Geschäft des Redenden beziehen, erfordert wurden. Aber, wie es in der Kritik und in der Moral oft gegangen ist, man hat diesen Fehler eben mit desto mehr Hitze verfolgt, je länger man ihn für schön gehalten hatte. Nichts ist in der Tat unerträglicher, als wenn in einem Gedicht, besonders in einem dramatischen Gedicht, (denn aus dieser Gattung, als der interessantesten unter allen, lassen sich die Regeln und Fehler in dieser Art am leichtesten abstrahieren) der Dichter lehrt, anstatt daß die Personen sprechen sollen. Nichts stört die Täuschung mehr, als wenn wir anstatt solcher Gedanken, die bloß aus der Situation und dem Charakter des Redenden erwachsen konnten, diejenigen Betrachtungen hören, die einem wohlbelesenen Menschen bei Gelegenheit dieser Situation und dieses Charakters einfallen können. - Aber nichts ist ergötzender und anziehender, als einen denkenden Mann in wichtigen Umständen seines Lebens seine Begriffe sowohl als seine Empfindungen entwickeln zu sehen; nichts ist interessanter, als diesen Streit der Vernunft mit den Leidenschaften zu sehen, ich meine zu sehen, wie durch die allgemeinen Begriffe, Grundsätze, Maximen, die eine Person in ihre gegenwärtige Lage mitbringt, die besonderen Eindrücke, welche dieselbe von den Vorfällen erhält, eingeschränkt werden, und wie wiederum die neuen Erfahrungen, die sie jetzt macht, auf diese alten Ideen zurückwirken, sie bestätigen, zweifelhaft machen oder abändern; nichts ist lehrreicher, als mitten im Lauf der Begebenheit und der Leidenschaft, die ununterbrochen fortgeht, doch zugleich diejenige stille unmerkliche Arbeit des Verstandes zu sehen, durch welche jeder etwas vollkommenere Mensch auch aus den unruhigsten Szenen seines Lebens Nahrung von Wahrheit und Kenntnis herauszieht. Man sieht wohl, daß, was man eigentlich heißt, nur ein Teil der Sache ist, wovon ich rede. Diese eigentlichen Sentenzen mußten freilich zu der Zeit ein größeres Interesse haben, als die Zahl allgemein gedachter, allgemein ausgedrückter Wahrheiten noch geringer, als die Sprache noch nicht an den Ausdruck solcher Wahrheiten gewöhnt und das Gedächtnis der Menschen weniger mit solchen Grundsätzen und Maximen angefüllt war. Man weiß, daß am Anfang der Philosophie einige solche Sentenzen dem Erfinder den Namen eines Weisen erwerben konnten. In den Trauerspielen der Griechen, besonders des EURIPIDES, finden wir sie häufiger, als wir sie in unseren neueren Stücken würden vertragen können. An ihre Stelle ist eine gewisse Metaphysik, eine Zergliederung der Empfindungen und Leidenschaften getreten. Unsere Dichter lassen ihre Personen über ihr eigenes Gefühl weit mehr räsonnieren, als es die Alten getan haben. - Unstreitig ist es für unsere Wißbegierde eines der empfindlichsten Vergnügen, wenn man uns unsere Erfahrungen generalisieren lehrt, wenn man unserem Gefühl Worte verschafft und der Idee sozusagen aus ihrer Hülse heraushilft. Es wird also fast niemals fehlen, daß bei Leuten, deren Kopf nicht schon sehr bereichert und deren Geschmack nicht sehr fein ist, eine jede Sentenz, wenn sie auch noch so sehr am unrechten Ort steht, nicht eine Art von Bewunderung erregen sollte. Ein Stück, das wohl verifiziert und mit solchen Sentenzen angefüllt ist, wird, bei aller kunstrichterlichen Einsicht des französischen Parterre, doch gemeiniglich bei der ersten Aufführung von ihm beklatscht. Nur den Mann wird ein solches Stück beleidigen, bei dem auf der einen Seite das Vergnügen neuerworbener Kenntnisse wegfällt, weil ihm die meisten solcher Wahrheiten schon etwas Bekanntes und Geläufiges sind, und der auf der andern Seite das Mißvergnügen gestörter Empfindungen fühlt, weil er die Unschicklichkeit dieser Lehrsprüche, bei den Umständen dessen, der sie sagt, bemerkt. Wenn also der Dichter dieses Interesse mit dem wesentlicheren richtig geschilderter Charaktere und Handlungen vereinigen will: so muß er solche Charaktere, solche Situationen suchen, deren Entwicklung es mit sich bringt, daß die Personen mehr als andere über ihre Begebenheiten nachdenken und diese Gedanken freier als andere ausdrücken. Dies ist eben der Vorteil der wahren launigen Charaktere. Das Wort Laune soll teils diejenige Anlage des Kopfes anzeigen, durch die ein Mensch alle Sachen von einer etwas sonderbaren Seite ansieht, von allen auf eine etwas ungewöhnliche Art gerührt wird; teils diejenige Gemütsart, in der er das, was er denkt, oder wozu er Lust hat, und was andere weder sagen noch tun würden, weil sie von der Meinung der übrigen oder von der Gewohnheit einschränken lassen, ohne Zurückhaltung sagt und tut. - Andere Charaktere verschließen ihre Betrachtungen in sich, oder richten sie bloß nach den Absichten ein, die sie bei ihrer Rede haben, oder nach den Gesinnungen der Personen, mit denen sie reden. Der launige Charakter öffnet sozuagen die Seele; er treibt jeden Keim von Gedanken gleich so weit heraus, daß er gesagt werden muß; und läßt uns also mehr von der geheimen Philosophie des Menschen erfahren, als irgendein anderer. Wenn diese Laune bei Leuten von gemeiner Seele vorkommt, die eben nichts als etwas Alltägliches, Niedriges, Abgeschmacktes bei den Sachen denken, so ist sie unerträglich. Für solche Menschen ist die Politesse und der Zwang der Gewohnheit ganz durchaus notwendig, wenn wir sie nicht verachten oder hassen sollen, so wie häßliche Körper notwendig bekleidet sein müssen. - Aber ist es ein fähiger Kopf und ein edles empfindendes Her, das sich so ganz seinen eigenen Eingebungen überläßt: so ist uns in der Tat sein Umgang lehrreicher und interessanter, als wenn ein eben solcher Kopf und ein solches Herz die Maske des gemeinen Wohlstandes trägt und, um anderen Menschen ähnlicher zu scheinen, den freien Ausbruch seiner Gedanken und Gesinnungen hindert. Von derjenigen Aufklärung, welche geschieht, wenn allgemeine Begriffe anschauend gemacht werden, dürfen wir nichts mehr hinzusetzen, da dies eigentlich das Hauptgeschäft des Dichters ist. - Das Individuelle, das Besondere, ist an und für sich, wenn das Übrige gleich ist, allemal interessanter als das Allgemeine. Denn eben weil jenes durch die Sinne und die Einbildungskraft, bei denen wir uns leidend verhalten, dieses durch den Verstand erkannt wird, bei welchem wir selbst tätig sein müssen: so ist die Aufmerksamkeit bei jenem immer weniger vorsätzlich und weniger mühsam als bei diesem, und dies war eben das Kennzeichen des Interessierenden. Man weil, was wohlgewählte Beispiele auch tiefsinnigen Untersuchungen für ein Interesse geben können: weil sie sozusagen all die von einander gerissenen Teile der Sache, die uns das Räsonnement einzeln und nach und nach gewiesen hatte, wieder zusammensetzen, und uns den ganzen Körper auf einmal übersehen lassen. Solche Beispiele nun, für die meisten, für die brauchbarsten unserer allgemeinen Begriffe, soll uns der Dichter durch seine Nachahmungen geben; und eben dadurch werden dieselben einer moralischen Absicht fähig, weil sie alle die Grundsätze der Tugend und all die Regeln der Klugheit, die in unserem Gedächtnis tot liegen, uns gerade auf diejenige Art eingedenk machen können, auf welche allein sie einen Einfluß auf unser Verhalten haben. Eine Poesie, die diesen Endzweck nicht hat, die keiner wichtigen Lehre, keinem nützlichen Begriff Leben und anschauliche Klarheit verschafft, ist nicht nur ein bloßes Spiel, und ein sehr kostbares zeitverderbendes Spiel, sondern es ist auch größtenteils ein mattes langweiliges Vergnügen. Nur davon müssen wir noch einige Worte sagen, daß die Schilderungen des Dichters unsere Begriffe von den Dingen auch erweitern müssen, wenn sie interessieren sollen. Nicht was jeder, auch bei einem flüchtigen zerstreuten Anschauen der Sache, an ihr findet, sondern was nur der tiefsehende Beobachter bei einer langen aufmerksamen Betrachtung derselben entdecken konnte, das wollen wir im Gemälde des Dichters finden. Jeder Charakter hat gewisse Züge, die so auf der Oberfläche liegen, daß sie jedermann und bei ersten Anblick in die Augen fallen. Dem ersten Dichter konnten diese Züge genug sein; und er hatte immer Ruhm davon, nicht eben daß er sie entdeckte, aber daß er sie auszudrücken wußte. Aber nun, nachdem der Geizige, der Eifersüchtige, der Verliebte, von Dichtern und Rednern vielleicht einige hundertmal geschildert und jene Züge von den meisten mit den dazu einmal gewidmeten Ausdrücken wiederholt worden; nachdem fast jedem nicht ganz unwissenden Menschen eine Menge solcher Züge aus seiner Lektüre von Romanen und Komödien in Gedanken schwebt: so kann es wohl kein großes Verdienst mehr für den Dichter, kein großes Vergnügen für den Leser sein, wenn nur diese alten Bilder und Redensarten auf eine neue Art wieder zusammengesetzt werden. Und doch ist in der Tat manches unserer neuen Gedichte von dieser Art. Wir wollen freilich die Dinge, die Menschen sehen, die wir sehen können, aber wir wollen nicht das Gemeine, das Alltägliche an ihnen sehen. Dieses Gemeine in den Charakteren und Leidenschaften zu vermeiden, hat man zwei Wege: entweder sie stark oder sie fein zu schildern. Entweder den höchsten Grad der Leidenschaft, die gewaltsamsten Ausbrüche eines Charakters, die heftigsten Auswirkungen einer Situation zu zeigen und zwar die bekannten gewöhnlichen Züge der Sache, aber in einem ungewöhnliche Grad vorzustellen; dies ist am meisten das Werk des Trauerspiels, besonders des Trauerspiels in Versen bisher gewesen: oder die Sache durch gemäßigte, aber unbemerktere geheimere Züge zu schildern; die unmerklichen Spiele und Übergänge der Leidenschaft aus dem Grund der Seele hervorzuheben: die feineren Mischungen zu zeigen, durch welche derselbe Hauptcharakter in verschiedenen Menschen mannigfaltig abwechseln kann; die Situation nach ihren kleinsten Wirkungen auf die Person, die sich darin befindet, vorzustellen; dies sollte das Werk des bürgerlichen Trauerspiels, der hohen Komödie und all der dramatischen Stücke sein, wo die Prosa dem Dichter mehr Freiheit und eine genauere Ähnlichkeit mit dem natürlichen Ausdruck erlaubt. - Obgleich beide Arten, die dichterische Vorstellung der Sache über die gemeinen Vorstellungen zu erheben, ihren Wert haben; obgleich zu jeder vorzügliche Fähigkeiten des Geistes nötig sind: so gestehen wir doch, daß wir die letztere Art für die schwerere und für die interessantere halten; daß es nach unserer Meinung mehr Kunst kostet, alle Schattierungen einer ruhigen Zuneigung, als einige wenige starke Farben einer rasenden Liebe zu treffen; daß es mehr Vergnügen macht, den ganzen Zustand der Seele bei einem Hausvater zu sehen, der von einer übereilten Liebe seines Sohns, der Herrschsucht seines Bruders und der Zurückhaltung seiner Tochter beunruhigt wird, als die etlichen gewaltsamen Erschütterungen in der Seele eines Königs, der seinen Vater ermordet und seine Mutter geheiratet hat. Durch die bloßen Ideen, haben wir gesagt, kann uns ein Werk interessieren, entweder insofern es unsere Wißbegierde befriedigt; und zum Ende wird es uns begreifliche, für uns wichtige, von uns schon gewünschte Kenntnisse verschaffen müssen; davon haben wir bisher geredet: oder insofern es unsere denkende Kraft in Tätigkeit setzt; und am Ende wird es eine Reihe schnell fortgehender, richtig zusammenhängender, hell und kräftig ausgedrückter Ideen enthalten müssen. Auch ein Gespräch von ganz unerheblichem Inhalt, aber ein feuriges munteres Gespräch, wo das an Lebhaftigkeit ersetzt wird, was am inneren Wert des Gesagten abgeht, kann doch immer noch sehr unterhaltend für die sein, welche es führen, und sogar angenehm für die, welche es anhören. Um gerade soviel macht das Streiten allemal das Gespräch interessanter; und durch Zänkereien ist man immer sicher, die Aufmerksamkeit der Umstehenden zu erregen. Bei jedem Streit entwickeln sich,durch Hilfe der Leidenschaft, welche sich darein mischt, die Begriffe schneller, die Worte rollen leichter fort, Gedanken und Ausdrücke sind ungesuchter und kräfter. Überdies wird der Zuhörer durch den schnellen und wiederholten Übergang von der einen Partei zur entgegengesetzten, durch den Kontrast der beiderseitigen Meinungen und Gesinnungen, durch die immer von Neuem erregte und immer befriedigte Erwartung der Antworten und Gegenantworten, noch mehr beschäftigt. Diese Gattung des Interesses ist in vielen Arten der kleineren Gedichte die einzige, deren sie fähig sind und sie ist allen Arten notwendig. - Der Lehrdichter mag noch so große und noch so neue Wahrheiten, der dramatische Schriftsteller mag noch so rührende Situationen und noch so einnehmende Charaktere gefunden haben; wenn nicht beide das, was sie uns zu sagen haben, mit einer gewissen Geschwindigkeit und in einer ununterbrochenen Reihe in unsere Seele bringen, wenn sie nicht Stoß auf Stoß folgen lassen, und die meisten Ideen in der kürzesten Zeit erwecken können, so werden sie uns doch nicht interessieren. Man sieht, daß es hierbei vornehmlich auf den Stil ankommt, obgleich Gedanke und Ausdruck miteinander so zusammenhängen, daß es unmöglich ist, anders sich körnicht [gehaltvoll - wp], mit Wärme oder Genauigkeit auszudrücken, als wenn man auch ebenso denkt. Aber so viel ist doch gewiß, daß diejenige Ausbildung der Ideen, durch welche sie zusammengedrängt, vollkommen gemacht, und zu einem geschwinden und doch immer richtigen Fortgang geschickt gemacht werden, mit der Arbeit sie gut auszudrücken einerley, oder doch für uns nicht zu unterscheiden sei. Die Erfahrung lehrt, wie sehr unähnlich die Urteile der Nationalen und der Ausländer über ein Werk, das jene im Original und diese in der Übersetzung kennen, ausfallen; daß SCHÖNAICH dem Engländer ganz erträglich und GESSNER ihm stuff [oberflächlich - wp] scheinen kann. So sehr hängt der Eindruck der Sachen vom Eindruck der Schreibart ab, in der sie gesagt werden. In ihr liegen die Fehler, die uns am ehesten und am meisten beleidigen, und von ihr kommen die Schönheiten, die uns allenthalben durch das ganze Werk reizen. Ein vernachlässigter Ausdruck zieht über das beste Werk einen Flor, der die Schönheiten desselben einem gemeinen Auge ganz unsichtbar, und auch einem scharfen und geübten unkenntlich macht. Dürfen wir uns nun wohl noch wundern, warum der große Haufen unserer Nation sich so wenig für unsere guten Köpfe und Schriften interessiert, da unter diesen guten Köpfen so viele sind, die ihre Gedanken nur halb auszudrücken wissen; da die Kunst zu schreiben, die bei den Franzosen und Engländern auch mancher mittelmäßige und schlechte Schriftsteller besitzt, bei uns nicht einmal allen unseren guten Schriftstellern eigen ist; da die meisten unserer Leute von Genie entweder diesseits der Vollkommenheit in Absicht der Schreibart stehen bleiben, oder schon über dieselbe hinaus sind, entweder die in unserer Sprache liegende Schönheit und Kraft des Ausdrucks vernachlässigen oder in dieselben fremden Schönheiten und eine ihr unnatürliche Stärke bringen wollen? So viel von dem Interesse, das aus Vorstellungen entspringt: im folgenden Teil werden wir vom Interesse reden, das aus Empfindung und Leidenschaft entsteht. |