ra-1p-4R. GeijerF. DehnowS. KornfeldF. KleinK. Schneider    
 
JULIUS SCHOBERLECHNER
Über das Unbewußte
im Rechtsleben

[nach einem im Grazer Juristenverein gehaltenen Vortrag]

"Unbewußtes Schaffen von Recht ist auch bei der Tätigkeit gelehrter Richter unvermeidlich - deshalb aber auch zulässig. Bei jeder Entscheidung kann es eintreten. Der Richter informiert sich anläßlich eines speziellen Falls in tatsächlicher Beziehung über die anzuwendenden Gesetzesbestimmungen. Die Sache ist zweifelhaft. Er informiert sich über die Judikatur; er findet entgegengesetzte Entscheidungen. Nun muß er sich selbst entscheiden. In vielen solchen Fällen wird seine Entscheidung schließlich auf Intuition, auf einer Wirkung des Rechtsgefühls, des Unbewußten beruhen, er wird, wenn er auch den besten Willen, die aufrichtigste Meinung hat, nur nach dem Gesetz und dessen Intentionen zu entscheiden, möglicherweise darüber hinausgehen, wenn ihn das Rechtsgefühl, der Trieb nach Gerechtigkeit, dazu leitet; er darf es aber nur unbewußt tun."

Der Titel, den ich meinem Vortrag gegeben habe, erweckt unwillkürlich die Erinnerung an EDUARD von HARTMANNs, "Philosophie des Unbewußten". Diese Reminiszenz ist unbeabsichtigt und geeignet, eine unrichtige Auffassung vom Thema des Vortrags und dessen Charakter zu geben. Ich empfinde daher die Notwendigkeit, zunächst festzustellen, warum ich trotzdem diesen Titel wählte, was ich unter dem "Unbewußten" meine, unter welchem Gesichtspunkt ich also das Rechtsleben betrachten will. Ich gebrauche dieses Wort ganz seiner gewöhnlichen, dem Wortlaut entsprechenden Bedeutung, als das Gegenteil des "Bewußten"; ich will also mit demselben alles bezeichnen, was wir wissen, sei es, daß es uns nicht oder noch nicht bewußt geworden ist, sei es, daß wir es vergessen haben. Unter dem "Unbewußten" verstehe ich also alles dasjenige, dem eine auf die Menschheit oder einzelne Menschen bezügliche Eigenschaft fehlt, nämlich die, daß es derselben oder denselben bewußt ist. Ich gebrauche das Wort nur als Negation der relativne Eigenschaft des "Bewußten". Ich will mich keineswegs der schweren und gänzlich aussichtslosen Aufgabe unterziehen, das Wesen all dessen, was uns nicht bewußt ist, was außerhalb unseres Bewußtseins liegt, zu ergründen und darzustellen, einer Aufgabe, deren Lösung bisher den größten Denkern, inklusive von HARTMANN, nicht gelungen ist und nicht gelingen konnte; denn es ist eine  contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp], das Unbewußte darstellen zu wollen, weil die Darstellung ja das Bewußtsein zur Voraussetzung hätte. Was ich will, ist nichts anderes, als eine Erörterung darüber zu versuchen, welchen Einfluß das Unbewußte im obigen Sinn - also dessen, was uns dem Einzelnen oder der Menschheit nicht bewußt ist - auf das Rechtsleben übt. Ich verkenne nicht, daß ich damit das Wort eigentlich in doppelter Bedeutung nehme. Es besteht aber zwischen den Wirkungen des Unbewußten im Recht in beiden Bedeutungen ein gewisser Zusammenhang, der sich aus den folgenden Auführungen ergeben wird und deshalb mußte ich gerade dieses Wort wählen, weil es sonst keines gibt, mit dem ich mein ganzes Thema umfassend bezeichnen könnte.

Man könnte vom "Unbewußten" in einem objektiven und einem subjektiven Sinn sprechen. Unter ersterem wäre all dasjenige zu verstehen, was der Menschheit als Kumulativbegriff nicht zu Bewußtsein gekommen ist, unter letzterem, was einem einzelnen im konkreten Fall nicht bewußt ist.

In beiden Fällen kann der Mangel an Bewußtsein auch nur ein zeitlicher sein, auch bei der Entwicklung der Menschheit, im Laufe ihrer Geschichte, kann ein Vergessen vorkommen, insbesondere solange die Mittel zur Überlieferung noch nicht auf großer Höhe stehen, oder durch Naturereignisse oder menschliche Kräfte zerstört werden. Auch hier kann es möglicherweise ein Erinnern geben!

EDUARD von HARTMANN benannte im wesentlichen dasselbe, was SCHOPENHAUER als den "Willen", die Materialisten als die "Kraft" bezeichnet haben, mit dem Ausdruck "das Unbewußte". Es ist ihm - wie ich glaube - mit Recht vorgeworfen worden, daß dieser Ausdruck nur für ein  Accidens [Merkmal - wp], nicht für eine Substanz gebraucht werden kann. Aber wohl kaum zu bestreiten ist, daß es das, was er damit bezeichnen wollte, gibt, mögen wir es nun Wille, Kraft, Seele nennen, als Drang zum Leben, zur Tätigkeit, zur Glückseligkeit darstellen. Nach unserem Fühlen gibt es ein  Agens,  das die Welt, die Natur, die Menschheit belebt und in Bewegung setzt, und jeder von uns fühlt, daß er etwas von diesem  Agens  in sich trägt,  daß die Seele des Menschen im wesentlichen identisch ist mit dem, was die Welt beseelt.  Dieses  Agens  gehört dem Reich des Unbewußten - im objektiven Sinne - an. Nach von HARTMANN sind die Individuen "objektiv gesetzte Erscheinungen, gewollte Gedanken des Unbewußten, bestimmte Willensakte desselben". Diese Individuation verlangt als Grundbedingung ihrer Möglichkeit den Egoismus. Mit demselben sei als unvermeidliches Übel eine Verletzung des anderen zwecks eigenen Vorteils durch Unrecht, Böses, Unsittlichkeit usw. verbunden.

"Zu bewundern ist nur", sagt von HARTMANN, "die Weisheit des Unbewußten, die 1. als Gegengewicht gegen den notwendigen Egoismus jene anderen Instinkte, wie Mitleid, Wohlwollen, Dankbarkeit, Billigkeitsgefühl und Vergeltungstrieb in des Menschen Brust gelegt hat, welche zur Verhütung vielen Unrechts und Erzeugung positiver Wohltaten dienen und von welchen der Vergeltungstrieb und das Billigkeitsgefühl in Verbindung mit dem Staatsbildungstrieb nach einer Übertragung der Verwaltung an die Staatsgewalt die Idee der Gerechtigkeit erzeugen, welche nun ihrerseits durch die in Aussicht gestellte Strafe die Unterlassung des Unrechts zu einer Sache des Egoismus macht, so daß dieser sich selbst in seinen Überschreitungen aufhebt. Aber ganz abgesehen von dieser bewunderungswürdigen Einrichtung sind und bleiben doch Sittlichkeit und Gerechtigkeit nur Ideen, die bloß in Bezug auf das Verhalten der Individuen zueinander und zu den von den Individuen gebildeten Korporationen eine Bedeutung haben, aber auf das innere Wesen der Individuen angewendet, das heißt auf das All, Einige, Unbewußte - abgesehen von der Form seiner Erscheinung - bedeutungslos werden."

Nur das Rechtsgefühl entspringt, wie Gefühle, Begehrungen, Triebe überhaupt - nach von HARTMANN aus dem Unbewußten.

Wir können uns, glaube ich, diesen Zuteilungen zu Bewußtem und Unbewußtem anschließen und aus denselben für das Rechtsleben Konsequenzen ziehen und zwar zunächst für die Frage der  Rechtsbildung.  Das Recht beruth in den modernen Rechtsstaaten auf dem Gesetz. Das Gesetz ist bewußte Gedankenarbeit. Zu dieser Gedankenarbeit ist die Gesetzgebung berufen. Nur dort, wo sie sich dieser Arbeit, aufgrund des Rechtsgefühls bewußtes Recht zu schaffen, noch nicht unterzogen hat, ist Raum für andere bewußte Rechtsbildung. Sonst kann es nur auf unbewußten Wegen zu Gewohnheitsrecht und richterlichem Recht kommen. Diese Freistellung ist sehr wichtig in einer Zeit, in welcher sich nicht selten Stimmen erheben, die dem Richter die Befugnis, ja unter Umständen die Pflicht vindizieren, nötigenfalls auch mit Bewußtsein vom Gesetz abweichend Recht zu sprechen. Das wäre aber in Wirklichkeit nicht Recht. Recht ist dort, wo etwas durch Gesetze normiert ist, nur das, was dem Gesetz entspricht. Der Richter ist dazu berufen, die Gesetze zur Anwendung zu bringen. Jedes Abweichen von diesem Grundsatz wäre sehr gefährlich, die Vorteile einer laxeren Auffassung würden weitaus durch die Gefahren der Willkür und der Rechtsunsicherheit aufgehoben werden. Unbewußtes Schaffen von Recht ist auch bei der Tätigkeit gelehrter Richter unvermeidlich - deshalb aber auch zulässig. Bei jeder Entscheidung kann es eintreten. Der Richter informiert sich anläßlich eines speziellen Falls in tatsächlicher Beziehung über die anzuwendenden Gesetzesbestimmungen. Die Sache ist zweifelhaft. Er informiert sich über die Judikatur; er findet entgegengesetzte Entscheidungen. Nun muß er sich selbst entscheiden. In vielen solchen Fällen wird seine Entscheidung schließlich auf Intuition, auf einer Wirkung des Rechtsgefühls, des Unbewußten beruhen, er wird, wenn er auch den besten Willen, die aufrichtigste Meinung hat, nur nach dem Gesetz und dessen Intentionen zu entscheiden, möglicherweise darüber hinausgehen, wenn ihn das Rechtsgefühl, der Trieb nach Gerechtigkeit, dazu leitet; er darf es aber nur unbewußt tun. Es ist richtig, daß bei dieser Anschauung die objektiv unrichtige Gesetzanwendung für formell zulässig erkannt, die absichtlich vom Gesetz abweichende, ansich vielleicht sehr vernünftige und zweckentsprechende Entscheidung als unzulässig eliminiert wird. Dafür, daß die unbewußten Abweichungen vom Gesetz nach Möglichkeit eingeschränkt werden, daß die Fehlergrenze in der Rechtsprechung auf das geringste Maß reduziert wird, ist eben durch den Instanzenzug vorgesorgt und dadurch, daß in der höheren Instanz die Zahl und Erfahrenheit der Richter und damit die Garantie gegen unbewußtes Abweichen vom Gesetz zunimmt. Würde aber selbst auch nur die oberste Gerichtsinstanz das Recht haben, bewußt vom Gesetz abzuweichen, so könnte niemand, der sein Recht verfolgt, mehr die Gewißheit haben, daß ihm das ihm nach dem Gesetz zustehende Recht auch wirklich zuteil werden wird - es wäre damit eine der wichtigsten Grundlagen des Rechtsstaats erschüttert.

Eine Folge des erwähnten Grundsatzes ist auch, daß der Richter bei der  Auslegung  der Gesetze nicht bewußt über dieselben hinausgehen, bzw. sie nach seinem Ermessen verbessern oder ergänzen darf. Seiner Argumentation bei der Auslegung können nur Gedanken zugrunde liegen, wie: das hat die Gesetzgebung gemeint, das kann der Gesetzgeber nicht gewollt oder gemeint haben, so oder so würde er normiert haben, wenn er einen bestimmten Fall, der sich ereignet hat und für den keine Norm gegeben ist, im Auge gehabt hätte. Nie aber kann bei der Auslegung vom Standpunkt des Gesetzgebers abstrahiert oder gar gegen denselben bzw. mit der Annahme entschieden werden, daß er etwas übersehen oder richtig angeordnet habe; es darf bei der Auslegung nicht die Tenenz bestehen, etwas zu tun, was nur dem Gesetzgeber zusteht.

Sonst steht obiger Grundsatz einer ausdehnenden Auslegung nicht entgegen. Eine objektive Grenze ist für dieselbe oft schwer festzustellen; gerade deshalb muß an dem oben erwähnten subjektiven Maßstab für die Zulässigkeit einer Auslegung umso mehr festgehalten werden. Dieser grundsätzliche Maßstab bildet auch kein Hindernis für eine Wandlung in der Auffassung der Gesetze, wie sie der Fortschritt der Zeit oft mit sich bringt und wie wir sie zum Beispiel zum § 878 a. BGB (Begriff der unerlaubten Verträge) bei der Frage des Ersatzes ideellen Schadens, insbesondere zu § 1328 a. BGB (1), bei der Frage der Möglichkeit des Kausalnexus im Sinne des § 1294 a. BGB durch physische Einwirkung auf eine Person (2), beobachtet haben.

Eine sehr gute Jllustration für die eben erörterte Frage bietet die Einrichtung der Geschworenengerichte. Bekanntlich wurde als ein Hauptvorteil dieses Institutes der Umstand betrachtet, daß nicht gelehrte Richter zum Spruch kommen und dadurch eine freiere Anwendung der Gesetze möglich wird. Andererseits wird den Geschworenen vom Gesetz doch eine treue Beobachtung der Gesetze zur Pflicht gemacht, nach § 313 StPO müssen sie dieselbe sogar beschwören. Dies scheint ein Widerspruch zu sein, ist es aber tatsächlich  nicht.  Die Lösung liegt darin, daß sie mit Bewußtsein vom Gesetz nicht abweichen dürfen, daß sie aber als Laien - wo das Rechtsgefühl es erfordert - unbewußt vom Gesetz abweichen oder dasselbe zumindest weniger streng anwenden und auslegen. Sie tun es, weil ihnen die gründliche Kenntnis der Gesetze fehlt und weil ihnen nicht die Gewohnheit, als Richter die Gesetze genau anzwenden, innewohnt.

Sehr wichtig im Rechtsleben ist auch  die Kenntnis der Gesetze,  bzw. die Frage des Bewußtseins in dieser Beziehung bei Vornahme oder Unterlassung von Rechtshandlungen. Solange jemand recht tut, wird allerdings diese Frage nicht aufgeworfen und hat deren Beantwortung auch keine rechtliche Wirkung. Anders, wenn Unrecht gesetzt wird, also im Fall einer Rechtsverletzung. Nach § 2 a. BGB, dann nach § 2 und 233 StGB kann sich niemand mit der Unwissenheit der gehörig kundgemachten Gesetze entschuldigen. Hier ist die Wirkung des Unbewußten, des Nichtwissens also durch positive und apodiktisch gesetzte Vorschrift beseitigt.

Das  Nichtwissen von Tatsachen,  der Umstand, daß jemand bestimmter Tatsachen nicht bewußt ist, also in Bezug auf dieselben unbewußt handelt, ist im Rechtsleben oft von ausschlaggebender Wirkung und Wichtigkeit. Ich verweise hier auf das Gebiet der  bona fides  [guter Glaube - wp], des Vertrauens auf das öffentliche Buch, von Treu und Glauben im Handelsverkehr, auf die Frage des Irrtums bei Verträgen und strafbaren Handlungen, des zum Schadenersatz verfplichtenden Verschuldens und Mitverschuldens, der Schuld und Mitschuld im Strafrecht. Überall handelt es sich da in erster Linie um das Wissen oder Nichtwissen bestimmter Umstände, um die Frage, ob der Handelnde sich derselben nicht bewußt war, ob etwas Unbewußtes bei seiner Handlungsweise unterlaufen ist oder nicht. Es wäre gewiß sehr interessant, das ganze Rechtsgebiet von diesem Gesichtspunkt aus zu durchforschen und es würden dann auf manche Dinge neue Streiflichter fallen. Diese Aufgabe reicht aber weit über die diesem Vortrag naturgemäß gesteckten Grenzen hinaus. Nur auf einem Gebiet will ich in diese Betrachtung eingehen, da mir die Resultate derselben besonders wichtig erscheinen. Es ist dies das  Gebiet der Verträge.  Nach § 861 a. BGB ist zum Zustandekommen eines Vertrages ein Versprechen und dessen Annahme notwendig, nach § 869 a. BGB muß die Einwilligung in einen Vertrag frei, ernsthaft, bestimmt und verständlich erklärt werden, müssen daher die beiden Willenserklärungen auch mit Bewußtsein der Vertragsteile und mit übereinstimmendem Inhalt erfolgen. Ganz im Einklang mit diesen gesetzlichen Bestimmungen lautet auch die Lehre in den Büchern unserer hervorragendsten Rechtslehrer und Kommentatoren. Und doch bieten weder das Gesetz, noch die Lehre, noch die denselben entsprechenden Tatsachen eine Garantie dafür, daß wirklich eine Willensübereinstimmung, wie sie das Gesetz in den zitierten Bestimmungen anscheinend fordert, vorliegt. So kann es ja selbst bei der solennsten [feierlichsten - wp] und sichersten Form des Vertragsabschlusses: der schriftlichen - vorkommen, und es kommt auch wirklich häufig vor, daß einer der Vertragschließenden bei der Abfassung des Vertrages zerstreut ist oder das Geschriebene und Vorgelesene nicht versteht, sich also des Inhaltes der von ihm unterschriebenen Urkunde nicht bewußt ist. Aber auch abgesehen von solchen Fällen liefert das Rechtsleben zahllose andere Fälle, in welchen Verträge ohne jede Willenserklärung, ja ohne Bewußtsein von einem Vertragsabschluß zustande kommen, zahllose Fälle, in welchen die Vertragsbedingungen einem oder beiden Teilen ganz oder doch teilweise in ihren Einzelheiten nicht bekannt sind. Täglich kommt es vor, daß Laien Verträge abschließen, ohne davon eine Ahnung zu haben, ohne sich um die Vertragsbedingungen zu kümmern. Wenn wir uns im Gasthaus oder Kaffeehaus etwas bestellen, wenn wir einen Lohnwagen aufnehmen oder auch nur in die Wagen der elektrischen Bahn einsteigen, wenn wir uns Konzert- oder Theaterkarten lösen, wenn wir irgendetwas kaufen, das Gekaufte uns zuschicken lassen, wenn wir eine Badeanstalt besuchen, jemandem etwas schenken usw., schließen wir jedesmal Verträge, über deren Charakter und rechtliche Folgen oft nicht einmal Juristen völlig im klaren sind.

Unser bürgerliches Gesetzbuch sagt im § 863, man könne seinen Willen auch stillschweigend durch solche Handlungen erklären, welche mit Überlegung aller Umstände keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln, übrig lassen. Sind solche Umstände vorhanden, so wird aber oft ein Vertragsabschluß auch dann angenommen, wenn der Wille zu einem solchen erwiesenermaßen nicht vorhanden war. Einen solchen häufig vorkommenden Spezialfall bietet übrigens das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch selbst im § 1152, welcher lautet: "Sobald jemand eine Arbeit oder ein Werk bestellt,  so wird auch angenommen,  daß er in einen angemessenen Lohn eingewilligt hat. Ist der Lohn weder durch Verabredung, noch durch ein Gesetz festgesetzt, so bestimmt ihn der Richter." - Obwohl dieser Paragraph unter der Marginalnote: "Stillschweigender Lohnvertrag" erscheint, und ungeachtet der oben erwähnten, von demselben Gesetz gegebenen Bestimmungen über die Erfordernisse des Zustandekommens eines Vertrages, fragt hier das Gesetz und mit demselben auch die Praxis in den einzelnen Anwendungsfällen gar nicht mehr danach, ob es wirklich die Absicht des Bestellers war, einen Lohn zu bezahlen. Entweder müßte man also sagen: Das Gesetz nimmt ihn als vorhanden an und wenn er nicht da wäre, supponiert oder fingiert es ihn, wofür die Marginalnote spricht - diese Auffassung ist aber künstlich und führt zu einer Fiktion (3) oder man muß offen anerkennen, daß hier das Gesetz über seine eigenen Normen der §§ 861 und 869 a. BGB hinausgeht und einen eigenen Vertragsabschluß auch dort annimmt, wo im Sinne dieser Gesetzesstellen keiner ist, wo keiner beabsichtigt war, daß es also auch einen unbewußten Vertragsabschluß akzeptiert (4). Dies tut dann auch die Praxis. Ein Beispiel für viele: Ein junger schon eigenberechtigter Mann aus bäuerlichen Kreisen leistet durch Jahre im Haus seines Oheims, der einen landwirtschaftlichen Besitz hat, Dienste eines Knechts. Er erhielt im Haus den notwendigen Unterhalt, er begehrte aber nie einen Lohn, weil sich aufgrund von Äußerungen des Oheims darauf verläßt, daß er nach dessen Tod die letztwillige Zuwendung einer Realität Entschädigung finden wird. Nach dem Tod desselben findet sich ein Testament, in welchem aber nur jemand anderer bedacht erscheint. Der junge Mann klagt nun den Erben auf Bezahlung des angemessenen Geldlohns für die geleisteten Dienste. Derartige Klagen sind mir in der Praxis wiederholt vorgekommen und hatten jedesmal Erfolg, obwohl in solchen Fällen auch keine stillschweigende Vereinbarung auf einen Lohn stattgefunden hat. Sie müßten meines Erachtens selbst dann Erfolg haben, wenn erwiesen wird, daß der Erblasser Äußerungen machte, aus welchen geschlossen werden muß, daß er seinen Verwandten nur ausnützen wollte und nie die Absicht hatte, ihm außer dem Unterhalt etwas zu geben und wenn auch zugegeben ist, daß der Kläger nie einen Lohn erwartete und verlangte, also erwiesen ist, daß von keiner Seite die Absicht auf einen Geldlohn gerichtet war. Ähnlich wird nach § 1114 ein Bestandvertrag stillschweigend erneuert durch die Unterlassung einer Aufkündigung, wenn im Vertrag eine vorläufige Aufkündigung ausbedungen worden ist - ob nun die Aufkündigung von den Vertragsteilen absichtlich unterlassen wurde oder nicht - und  "geschieht",  wie das Gesetz sagt, wenn keine Aufkündigung ausbedungen worden wäre,  eine "stillschweigende Erneuerung",  wenn der Bestandnehmer nach Verlauf der Bestandzeit fortfährt, die Sache zu gebrauchen oder zu benützen und der Bestandgeber es dabei bewenden läßt. In diesen beiden Fällen gilt also der Vertrag als erneuert und wird somit ein Vertragsabschluß auf Fortsetzung des Bestandsverhältnisses angenommen, wenn möglicherweise die Vertragsteile auch nicht diese Absicht hatten, vielleicht die rechtzeitige Kündigung nur übersehen haben oder der Bestandnehmer das Bestandobjekt nur in der Intention weiterbenützte, es bei der ersten Gelegenheit ohne Zahlung eines weiteren Bestandzinses aufzugeben und der Bestandgeber es ihm vielleicht nur bis zur Auffindung eines anderen Bestandnehmers belassen wollte.

Ferner heißt es im § 876 a. BGB: "Wenn der versprechende Teil selbst und allein an seinem wie immer gearteten Irrtum schuld ist, so besteht der Vertrag; es wäre denn, daß dem annehmenden Teil der obwaltende Irrtum offenbar aus den Umständen auffallen mußte." Nach dieser Gesetzesstelle kommt daher ein Vertragsabschluß zustand, obwohl ein Vertragsteil vermöge des unterlaufenen Irrtums, dessen Inhalt nicht gewollt, möglicherweise ganz oder zum Teil nicht gekannt hat.

Ist somit, wie wir aus diesen Beispielen ersehen, schon das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch selbst tatsächlich über seine eigenen Anforderungen, hinsichtlich der Vertragsabschlüsse hinausgegangen, wie vielfach hat dies erst seit der Einführung dieses Gesetzbuchs das Leben mit seinen sich immer mehr komplizierten Rechtsverhältnissen und seiner stets zunehmenden Hast und Eile getan. Wie viele Verträge werden da von den Vertragsteilen, wenn auch mit Bewußtsein, so doch  unbewußt  der einzelnen Bestimmungen des Vertrages, des Vertragsinhaltes eingegangen. Ich erinnere an die zahlreichen Versicherungsverträge aller Art, die Benützung der großen Transportunternehmungen, der Post, des Telegraphen, Telefone, der Postsparkasse, die Dienstverträge in Fabriken, wo eigene Fabriksordnungen bestehen, selbst die gewöhnlichen Dienstbotenaufnahmen, Verträge mit Leihanstalten, mit Auktionsunternehmungen, Gründung und Beitritt zu Genossenschaften, Ankauf von Aktien usw. usf., vor deren Eingehen die Kontrahenten die Bedingungen nicht gelesen oder auch schon wieder vergessen haben.

In allen diesen Fällen dürfte es darauf ankommen, ob den Kontrahenten vor Abschluß des Vertrages die Kenntnisnahme der Bedingungen möglich war, ob sie also selbst am Nichtwissen schuld tragen (Analyse des § 876 a. BGB). In vielen Fällen wird selbst diese Möglichkeit eine theoretische sein, so wenn zum Beispiel eine Theaterunternehmung auf Karten, die von ihr zum Verkauf gebracht wurden, drucken läßt, daß im Falle einer Änderung der Vorstellung der ganze Preis nicht zurückgegeben wird, da in diesem Fall der Erwerber erst nach der Empfangnahme des Billets, also meist erst nach dem Vertragsabschluß, diese Bedingung zur Kenntnis nehmen kann.

Dem Gesagten zufolge schenit es, daß man für das gegenwärtige Rechtsleben folgendes formulieren könnte: Ist der Wille zu einem Vertragsabschluß vorhanden, so genügt dieser allein, wenn dem Vertragsteil nur die Möglichkeit gegeben ist, den ganzen Inhalt des Vertrages, alle Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen. Das selbstverschuldete Unbewußte (das Nichtwissen) ist gleich einem selbstverschuldeten Irrtum zu behandeln.

Wenn von jemandem äußerlich Tatsachen gesetzt werden, die vernünftigerweise auf den Willen zu einem Vertragsabschluß schließen lassen, so genügt dies zum Zustandekommen des Vertrages, wenn auch der Wille zu einem solchen Abschluß fehlt, wenn das Bewußtsein desselben mangelt oder unter Umständen selbst wenn ein gegenteiliger Wille vorhanden war. (5) Man könnte zum letzteren Fall auch die Worte des § 863 mit Auslassung des "daran" gebrauchen, also sagen: "Wenn die gesetzten Handlungen derart sind, daß sie mit Überlegung aller Umstände keinen Grund zum zweifeln übrig lassen"; ... aber man könnte trotzdem nicht mit Recht mit der Marginalnote von einer stillschweigenden Willenserklärung sprechen, weil man nicht, und zwar auch nicht stillschweigend einen Willen erklären kann, der nicht vorhanden ist. (6)

Schließlich - last not least - muß ich zum Gegenstand des heutigen Vortrags noch eine Tatsache erwähnen, welche die Basis für die heutige Organisation der Behörden überhaupt, insbesondere auch der Justizbehörden bildet, für das Rechtsleben also von eminenter Bedeutung ist. Ich meine die Tatsache der regelmäßigen Stabilität, bzw. geringen Variabilität der statistischen Daten, welche in den von den Behörden periodisch vorzulegenden Ausweisen nachgewiesen werden, ein Umstand, welcher es bewirkt, daß die behördlichen Agenden an einem bestimmten Ort jährlich, wenn auch nicht vollkommen, so doch annähernd an Zahl gleich sind (solange nicht besondere Ursachen für Änderungen örtlich auftreten), so daß in der Regel eine bestimmte Anzahl von Kräften zu deren Bewältigung genügend ist. Woher kommt es, daß in einem Bezirk jährlich annähernd gleich viele Geburten, Sterbefälle, Heiraten, Ehescheidungen, strafbare Rechtsverletzungen, Zivilstreitigkeiten etc. vorkommen? Alle diese Dinge sind doch in konkreten Fällen scheinbar völlig zufälliger Natur. Von wie mannigfachen, scheinbar ganz zufälligen Umständen hängt es ab, ob eine Heirat, eine eheliche oder gar außereheliche Geburt zustande kommen, ob eine Ehe zur Scheidung führt, ob sich ein Rechtsstreit ergibt, ob es in demselben zur Klage kommt, ob jemand stiehlt, einen anderen beschuldigt usw.

THOMAS BUCKLE bespricht in seinem berühmten Werk: "Geschichte der Zivilisation in England", die Regelmäßigkeit der Ereignisse des menschlichen Lebens, insbesondere auch der menschlichen Handlungen. Er verweist beispielsweise auf die Gleichmäßigkeit der Zahl der Verbrechen, selbst der Morde, der Selbstmorde, der jährlich geschlossenen Ehen, des Verhältnisses der männlichen und weiblichen Geburten, und darauf, daß man Gleichförmigkeiten entdeckt hat, bei denen die Ursachen ganz unbekannt sind. "So", führt er aus, um ein sonderbares Beispiel zu geben, sind wir jetzt imstande, zu beweisen, daß sich selbst Gedächtnisfehler durch diesen allgemeinen Charakter der notwendigen und unwandelbaren Ordnung bemerkbar machen. Die Postämter von London und Paris haben neuerlich Berichte veröffentlich über die Anzahl der Briefe, welche die Schreiber derselben aus Vergeßlichkeit ohne Aufschrift abschickten, und wenn man den Unterschied in Anschlag bringt, den eintretende Umstände verursachen, so findet man Jahr für Jahr die Berichte nur wiederholt. Alle Jahre vergißt dieselbe Anzahl Briefschreiber diese Handlung, so daß wir wirklich für jeden folgenden Zeitraum die Zahl derer vorhersagen können, deren Gedächtnis ihnen bei dieser unbedeutenden und scheinbar zufälligen Gelegenheit den Dienst versagt."

EDUARD von HARTMANN geht bei seiner Untersuchung des "Unbewußten in der Leiblichkeit" von den einzelnen Zellen aus, die zum Beispiel auch im menschlichen Körper alle ihre bestimmten für das Ganze wesentlichen Funktionen haben, deren sie selbst unbewußt sind. Sie dienen dem großen Organismus, ohne zu wissen, daß sie ein Teil desselben sind. Ebenso wäre es möglich, daß auch wir (jeder Einzelne ein Konglomerat solcher Zellen) wieder Teile eines höheren Ganzen sind, dessen wir nicht bewußt sein, auf dessen Existenz wir nur aus seinen Wirkungen zu schließen vermögen. Eine solche Wirkung könnte die erwähnte Regelmäßigkeit in der Lebenserscheinung sein.

BUCKLE sagt: "Wer die Regelmäßigkeit der Ereignisse ruhig ins Auge faßt, wer sich fest von der großen Wahrheit überzeugt hat, daß die Handlungen der Menschen unter dem Einfluß vorhergehender Ursachen in Wahrheit immer folgerecht sind, und so launenhaft auch scheinen mögen, nur einen Teil in einem großen System allgemeiner Ordnung bilden, wovon wir bei gegenwärtigen Zustand unserer Kenntnisse nur die Umrisse zu erblicken vermögen - wer dies einsieht und damit zugleich den Schlüssel und die Grundlage der Geschichte besitzt, den werden die eben angeführten Tatsachen so wenig befremden, daß er sie vielmehr geradezu erwartet haben wird als etwas, was längt hätte bekannt sein sollen."

THOMAS BUCKLE ist schon im Jahre 1862 gestorben. Wi haben seither die Ergebnisse der Statistik dieses Wort bewahrheitet. Und wie beweisen sie auf allen menschlichen Gebieten die Richtigkeit dessen, was er bezüglich der Verbrechen sagt: "Die großen sozialen Gesetze, denen das Verbrechen unterworfen ist, lassen sich nur durch die Beobachtung einer  großen Anzahl und langer Perioden  entdecken, während in einer kleinen Anzahl und in einem kurzen Zeitraum das individuelle moralische Prinzip triumphiert und die Wirkung des umfassenderen intellektuellen Gesetzes zerstört." Er fügt bei: "Während also das sittliche Gefühl, wodurch einer getrieben wird, ein Verbrechen zu begehen oder sich dessen zu enthalten, einen ungemeinen großen Einfluß darauf ausübt, wie viel Verbrechen er selbst begeht, wird es auf die Menge der Verbrechen in der Gesellschaft, zu der er gehört, gar keinen Einfluß haben, weil er am Ende sicherlich durch ein entgegengesetztes Gefühl, welches bei Anderen ein entgegengesetztes Gefühl erzeugt, ausgeglichen wird."

Nach BUCKLE haben eben "physische Erscheinungen und moralische Grundsätze ohne ZWeifel in kurzen Zeiträumen große Abweichungen hervorgebracht, in längeren Perioden hingegen sich selbst berichtigt und die Waage gehalten und so den intellektuellen Gesetzen unbehindert von ihrer geringeren und untergeordneten Einwirkung das "Feld überlassen".

Ob BUCKLE nicht in der Wertschätzung der intellektuellen Gesetze zu weit geht, wenn er des weiteren sagt: "Die Handlungen der Einzelnen leiden eine bedeutende Einwirkung durch ihre moralischen Gefühle und Leidenschaften, aber sie stehen mit Leidenschaften und Gefühlen Anderer in Widerstreit und werden durch sie aufgewogen, - und so kommt ihre Wirkung im Großen und Ganzen der menschlichen Angelegenheiten nirgends zum Vorschein und die Handlungen der Menschheit, im Ganzen genommen, werden der Masse von  Kenntnissen,  die sie besitzt, zur Regulierung überlassen;" - und wenn er behauptet, daß "die Totalität menschlicher Handlungen unter dem höchsten Gesichtspunkt, durch die Totalität des menschlichen  Wissens  regiert wird", - will ich dahingestellt sein lassen. Zweifellos scheint mir aber in den zitierten Stellen ein Schlüssel für die erwähnte Regelmäßigkeit der Lebenserscheinungen insofern liegen, als sie für die scheinbare Zufälligkeit derselben in individuellen Leben und in einem kleinen Kreis einerseits, und ihre Regelmäßigkeit im größeren Kreis andererseits, schon jetzt trotz unserer noch mangel- und lückenhaften Kenntnisse eine Erklärung geben.

Allerdings führt uns diese Erklärung aber auch nicht weiter, als daß sie uns die erwähnte Regelmäßigkeit begreiflich erscheinen läßt. Die Statistik sagt uns, daß Gesetze bestehen müssen, BUCKLE zeigt uns, wie das Bestehen und Wirken der Gesetze selbst dort, wo wir uns im Einzelleben derselben nicht bewußt sind und Zufälle oder freies Handeln annehmen, - möglich und begreiflich ist.

Wie sich diese Gesetze aber selbst erklären, das hat BUCKLE nicht zu erörtern und nicht zu untersuchen versucht. Hier haben wir es eben mit einer Auswirkung jenes "Agens" zu tun, welches von HARTMANN mit dem den Mangel jeder positiven Erkenntnis dartuenden Namen des "Unbewußten" bezeichnet hat.

So spielt also auch im Rechtsleben dieses Unbewußte eine bedeutende Rolle; es steht sowohl für den Einzelnen, als auch für die Völker, ja für die Menschheit im Hintergrund, als Gesetzgeber, als Regulator, als Hilfsarbeiter. Wir folgen bewußt den von uns bewußt statuierten Gesetzen, wir folgen aber auch unbewußt uns noch nicht bewußten Gesetzen der Natur. Wir bilden bewußt das Recht und Gesetz, allein wir tragen auch unbewußt zur Rechtsbildung bei. Sehr wichtig und bedeutungsvoll ist im Rechtsleben das Wissen und das durch dasselbe geleitete bewußte Verhalten, sehr häufig hat aber in demselben auch dasjenige große Bedeutung,  was  wir nicht wissen und die Frage, ober wir von etwas gewußt haben oder nicht. - Zumeist spielt sich das Rechtsleben des Einzelnen durch bewußte Handlungen ab, vielfach aber sind auch unbewußte Handlungen von rechtlicher Bedeutung.

Wie im Leben der Gesamtheiten, dort, wo das bewußte Handeln und das Wissen seine Grenzen hat, das "Unbewußte" Wirkungen hervorbringt und zu herrschen beginnt, so auch im Leben des Einzelnen. Und wie im Leben der Menschheit der Fortschritt darin besteht, das Gebiet des Wissens immer mehr zu erweitern und das Unbewußte immer mehr in ein Bewußtes zu verwandeln, so besteht auch der Fortschritt des Einzelnen sowohl in seinem eigenen Lebensgang, als auch gegenüber den Mitmenschen darin, sein Wissen immer mehr auszudehnen, sein Handeln immer bewußter zu gestalten, den Wirkungen des Unbewußten immer weniger Spielraum zu lassen.

Hierin liegt auch der Zusammenhang alles "Unbewußten" in den verschiedenen Bedeutungen des Wortes.
LITERATUR Julius Schoberlechner, Über das Unbewußte im Rechtsleben, Allgemeine österreichische Gerichtszeitung Nr 30, Wien 22. Juli 1905
    Anmerkungen
    1) Slg. neue Folge I, Seite 391
    2) Jur. Bl. Nr. 42, 1904
    3) Ich halte überhaupt - auch im Zivilrecht - Fiktionen stets für verwerflich. Der Jurist hat nicht das Recht, die Verhältnisse nach seinem Ermessen in der Phantasie zu gestalten und seinen Auffassungen anzupassen. Er hat sie zu nehmen und zu betrachten, wie sie sind; das Recht und die Gesetze müssen sich denselben anpassen. Wahrheit ist immer und überall die Hauptsache.
    4) Richtiger drückt sich das Deutsche bürgerliche Gesetzbuch bei den Bestimmungen über den Dienst- und Werkvertrag (§§ 612 und 632) aus: Eine Vergütung  gilt als  stillschweigend  vereinbart,  wenn die Dienstleistung, bzw. die Herstellung des Werkes, den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist.
    5) Betrachtet man schematisch die drei Vertragselemente:  Wille, Bewußtsein, Erklärung,  so ergeben sich folgende Möglichkeiten auf Seiten eines oder beider Vertragsteile:
      a) Der bewußte Wille und eine bewußte oder unbewußte Erklärung;
      b) der unbewußte Wille und eine bewußte oder unbewußte Erklärung;
      c) unbewußt kein Wille (Mangel des Willens) und eine bewußte oder unbewußte Erklärung;
      d) bewußt kein Wille (bewußtes Nichtwollen) und eine bewußte oder unbewußte Erklärung;
      e) bewußt oder unbewußt kein Wille (also Nichtwollen oder Mangel jedes Wollens) und keine Erklärung.
    In allen diesen Fällen können der Wille und das Bewußtsein hinsichtlich des ganzen Vertragsinhaltes, hinsichtlich eines Teils derselben, oder gar nur hinsichtlich der Tatsache des Vertragsabschlusses vorhanden sein, kann die Erklärung, das Setzen äußerer Tatsachen, ausdrücklich oder stillschweigend sein. - - - Der Fall  a  entspricht den Anfordernungen unserer heutigen Theorie. - - - Im Fall  b  könnten vom Standpunkt derselben schon Bedenken erhoben werden, da sie auch das Bewußtsein vom Vertragswillen zu fordern scheint. Sie stellt diese Anforderung aber nicht ausdrücklich, die Praxis geht so wie das Gesetz in den oben angeführten Bestimmungen über dieselbe hinweg; sie nimmt dort, wo äußere Tatsachen gesetzt werden, welche auf einen Vertragswillen schließen lassen, diesen auch an, ob er dem bezüglichen Vertragsteil zu Bewußtsein gekommen ist oder nicht, außer es wäre dies aus persönlichen Gründen - zum Beispiel Mangel an Vernunft, Trunkenheit - nicht möglich gewesen. Dies gilt auch dann, wenn tatsächlich der Will zu einem Vertragsabschluß gänzlich fehlt, also nicht bloß nicht zu Bewußtsein gekommen ist (Fall  c),  so zum Beispiel im Fall eines sogenannten stillschweigenden Lohnvertrages des § 1152 a. BGB; wenn die Intention, eine Arbeit gegen Entgelt zu bestellen nicht nur nicht zum Bewußtsein des Bestellers gekommen ist, sondern gar nicht bestanden hat - ja sogar, wenn der Besteller im geheimen die Absicht hatte, nicht ein Entgelt zu geben, also einen Lohnvertrag einzugehen (Fall  d).  [Ebenso bei der sogenannten Zechprellerei.] Fraglich ist, ob im Fall  d  nach österreichischem Recht ein Vertragsabschluß auch bei unbewußter Erklärung angenommen werden könnte, wenn nämlich jemand den Willen hat, einen Vertrag nicht einzugehen, aber unbewußt etwas tut, woraus auf das Vorhandensein eines Vertragswillens geschlossen werden könnte; zum Beispiel jemand der Meinung ist, daß irgendeine Leistung oder Schaustellung unentgeltlich sei; wäre er nicht dieser Meinung, so würde er, wie er bei sich denkt, die Leistung nicht für sich in Anspruch nehmen, von der Schaustellung keinen Gebrauch machen, denn er hat kein Geld; da er sie für unentgeltlich hält, tut er es. Ist damit ein Vertrag zustande gekommen, ist er  ex contractu  zu einer Zahlung verpflichtet? Ist er es zumindest dann, wenn er ob der von ihm angenommenen und vorausgesetzten Unentgeltlichkeit, die Frage, was er dann tun würde, wenn ein Entgelt zu zahlen wäre (wie es ohne sein Wissen wirklich der Fall ist), gar nicht in Erwägung gezogen und bedacht hätte? (Fall  c). - - - Sicher ist, daß, wenn der letzte Fall (e) auch nur auf einer Seite gegeben ist, von einem Vertrag nicht die Rede sein kann, daß also, damit ein solcher zustande kommt, mindestens eine unbewußte Erklärung, nämlich eine äußere Tatsache, die den Schluß auf den Vertragswillen objektiv zuläßt, wenn er auch subjektiv nicht zutrifft, vorhanden sein muß, während der Mangel des Willens einen Vertragsabschluß nicht ausschließt.
    6) Das Deutsche bürgerliche Gesetzbuch setzt laut der Bestimmungen im Titel: "Vertrag", für diesen einen Antrag und dessen Annahme voraus und normiert nur in § 151 bezüglich der letzteren, daß sie den Antragstellenden gegenüber nicht erklärt zu werden braucht, wenn eine solche Erklärung nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten ist oder der Antragende auf sie verzichtet hat. Im § 154 heißt es aber dann: "Solange sich die Parteien nicht über alle Punkte eines Vertrages geeinigt haben, über die nach der Erklärung auch nur einer Partei eine Vereinbarung getroffen werden soll, ist im Zweifel der Vertrag nicht geschlossen. Die Verständigung über einzelne Punkte ist auch dann nicht bindend, wenn eine Aufzeichnung stattgefunden hat."