Gnaeus FlaviusE. EhrlichH. KantorowiczG. JellinekJ. Ungervon Jhering | ||||
Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1)
Der Jurist steht im Gewirr der Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und soll sie, wo der Buchstabe des Gesetzes versagt, mit rein geistigen Mitteln meistern. Sein Objekt weist ihn auf die Naturwissenschaften, seine Methoden sind philosophisch. Statt mit Energien arbeitet er vorwiegend mit Deduktionen. Dies macht den modernen Tatmenschen verdrossen und erweckt den heißen Wunsch nach besseren, schärferen Behelfen. Dazu kommt die unehrerbietige Neugier unserer Tage. Ein unbändiger Wissenseifer schlüpft in die dunkelsten Ecken, um aufzuspüren, ob denn wirklich überall das Wort der Sache entspricht. Daß in der Rechtswissenschaft ein gehäuftes Maß solcher täuschender Worte aufgespeichert ist, wird niemand leugnen, und jeder Jurist, der nicht bloß handwerksmäßig erlernte Routine stumpf weiterübt, wird sich schon seine GEdanken über den ererbten Hausrat der juristischen Dogmatik gemacht haben. Was Gnaeus Flavius über die Unzulänglichkeit der landläufigen Interpretationsregeln, über die juristische Konstruktion, die Analogie, das Argumentieren mit der ratio legis und dem Geist des Gesetzes, die Fiktionen usw. sagt, das ist wahr, mag es zum Teil auch schon früher von anderen gesagt worden sein und von Gnaeus Flavius mit unsinnigen Übertreibungen gesagt werden. Die Rechtswissenschaft arbeitet heute mit einer Menge von Bildvorstellungen, die der Kritik nicht standhalten und uns die wahren Denkprozesse verschleiern; wird sich aber sachlich etwas ändern, wenn wir gegen diese Bilder anstürmen, mit des "Wesens Tiefe" selbst hantieren? Der Kampf umd die Rechtswissenschaft, den Gnaeus Flavius führt, ist vornehmlich ein Kampf gegen das Wort, gegen das Symbol, gegen den Tropus. Von dem, woran wir tatsächlich leiden, wird uns dieser Kampf nicht erlösen: vom Zwiespalt des Willens, die Tatsachen des Lebens, das Leben des sozialen Körpers zu beherrschen, und der Erkenntnis, wie arm und dürftig die Mittel sind, die der Jurist in seinen logischen, dialektischen und psychologischen Erwägungen besitzt. Ästhetik, Philosophie, Kunstwissenschaften, zum Teil auch die Geschichtswissenschaft müssen allerdings mit denselben Mitteln ihr Auslangen finden, wenn sie auch dort teilweise unter anderen Namen figurieren. Das Elend der Rechtswissenschaft ist nur, daß sie sich in ihren Aufgaben von diesen Wissenschaften wesentlich unterscheidet und eben an der wachsenden Größe ihrer Aufgaben des Abstandes zwischen Zweck und Mittel immer deutlicher wird. Darum die bohrende Unruhe in der Rechtswissenschaft. Manches Inventarstück der Dogmatik bedarf einer gründlichen Neubearbeitung; die Teilnahme des Parlaments an der Gesetzgebung und die ungheure Menge von Ablenkungen und Fragen, die für Verständnis und Auslegung der Gesetze daraus entspringen, ist fast noch gar nicht wissenschaftlich behandelt worden. Das alles und noch anderes wird geschehen müssen. An die Art des menschlichen Denkens oder an die mit unseren geschichtlichen Denkgewohnheiten zusammenhängenden Mängel und Unvollkommenheiten des Betrachtens, Schließens und Urteilens wird aber keine Reform rühren. Hier hat ein faustischer Zug Gnaeus Flavius zu weit hingerissen. Viel mehr Aussicht, diesem unerquicklichen Zustand zu entrinnen, wäre natürlich, wenn der Jurist, vorzugsweise der Richter, die Regelung, die ein konkretes Lebensverhältnis seiner Natur und Art nach fordert, einfach nur zu wollen braucht, wenn er also, statt unter allen Umständen mit dem ihm zur Verfügung gestellten Quantum von Gesetzesbefehlen auskommen zu müssen, überall dort, wo das Gesetz zur Entscheidung nicht oder nicht voll ausreicht, aus sich, aus seinem Rechtsgefühl schöpfen darf, was als Recht gelten soll. Darauf zielt das Plädoyer des Gnaeus Flavius für freie Rechtsprechung. Dieser Punkt allein interessiert das große Publikum, die Seufzer und die Hoffnungen betreffs der Rechtswissenschaft können als eine häusliche Angelegenheit den Juristen überlassen werden. Heute gilt der Grundsatz: Der Richter habe nach dem Gesetz oder in tunlichst enger Anlehnung an das Gesetz zu urteilen. Dies zu sichern, ist der unausgesprochene Zweck der gegenwärtig üblichen Methoden der Rechtsanwendung. Von jeder richterlichen Entscheidung, die nicht schlankweg vom Gesetz abgelesen ist, kann man nun in gewissem Sinne sagen, sie sei nicht mehr Ausfluß des Gesetzes, sondern die individuelle Schöpfung des Richters. Diesen Gesichtspunkt einseitig fortentwickelnd, kommt Gnaeus Flavius zu seiner Forderung: Weg mit den Krücken und falschen Hilfen, weg mit allem, womit ihr verhüllen wollt, daß das Urteil fast immer jenseits des Gesetzes geschöpft ist, weg mit allem, womit ihr einen scheinbaren Zusammenhang, eine scheinbare Einheit von Gesetzeswortlaut und Urteil auch in solchen Fällen herstellen wollt, gesteht doch endlich ein, daß der Richter hier ohne Gesetz, einzig danach entscheidet, was er nach seiner eigenen Überzeugung, nach seinem Verstand und Rechtsgefühl als Recht anerkennt! "Nur freies Recht, mit der Spontaneität seiner Entscheidungen und der gefühlsmäßigen Deutlichkeit seiner Inhalte angesichts des einzelnen Rechtsfalles, kann diese Ausfüllung bringen und hat sie in der Tat stets gebracht." Als Minimum bezeichnet Gnaeus Flavius, der sich dabei noch für einen Hochtory der "Freirechtsbewegung" hält, der Richter müsse vom Gesetzeswort absehen dürfen wenn ihm
2. wenn der Richter nach gewissenhafter Ansicht es für unwahrscheinlich hält, daß die zur Zeit der Entscheidung bestehende Staatsgewalt die Entscheidung so getroffen hätte, wie es das Gesetz verlangt; 3. in verzweifelt verwickelten oder nur quantitativ fraglichen Fällen, wie Schadenersatz für immateriellen Schaden; 4. wenn beide Streitteile im Prozeß den Richter von der Pflicht der Beobachtung irgendeiner staatlichen Rechtsnorm entbinden. Das Ideal des Gnaeus Flavius, anstelle der Gesetzgebung die Rechtswissenschaft zu setzen, deren hauptsächliches Organ dann der Richter wäre, hat auch eine politische Seite. Die freie Rechtsschöpfung, wo sie individuelles Recht hervorbringt und ihm Geltung verschafft, ist selbst Quelle des Rechts und muß daher nach der Meinung des Gnaeus Flavius, wie alle übrigen Rechtsquellen und wie das Recht selbst, Wille sein. Dann steht folgerichtig Rechtswissenschaft und Rechtsschöpfung dem Gesetz gleich, nur sind sie nicht, wie das Gesetz, konstitutioneller Herkunft und nicht durch die Garantien und Verantwortlichkeiten dieser letzteren gedeckt; ihr Ursprung ist vielmehr rein gelehrt - wissenschaftlich, so daß wahrscheinlich der Einschlag des intellektuellen, doktrinären Elements überwiegen, und die im Parlament zusammentreffenden materiellen Interessen der ganzen Bevölkerung hier weniger Beachtung finden würden. Rechtswissenschaft wie Rechtsschöpfung sind außerdem auch formell nicht Gesamtwille, sondern höchstens der besondere Wille des Gelehrtentums oder wissenschaftlicher Praktiker eines einzelnen Berufes. Gerade wenn Recht vor allem Wille ist, wäre es daher ausgeschlossen, daß Kreise, die nicht verfassungsmäßig zum Wollen für die Gesamtheit befugt sind, Recht schaffen können. Denn damit wäre auch die Herrschaft bei ihnen. Die Freirechtsbewegung bezweckt, so betrachtet, nicht bloß eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Umwälzung, eine Art Staatsstreich, indem sie die verfassungsmäßigen Gesetzgebungsfaktoren entthronen oder sie zumindest zwingen will, neben sich eine Macht zu dulden, die durch ihre verfassungsrechtliche Unabhängigkeit aller Beschränkungen entledigt, die Absichten der legitimen Gesetzgebung beliebig durchkreuzen kann. Und diese Verschiebung des Schwerpunktes ist nicht eine zufällige Nebenfolge der neuen Lehre, sondern sie liegt in ihrem Plan. Denn ihre letzte Wurzel ist die allmählich in Schwang gekommene niedrige Einschätzung des Wertes des Parlaments, namentlich als Gesetzgebungsorgan. Gnaeus Flavius meint, unserer heutigen juristischen Dogmatik bedürfe es nicht mehr, denn der Richterstand sei dermalen "wohl reif genug, um des alten Gängelbandes zu entraten, reifer bei weitem jedenfalls als die Mehrzahl der als Gesetzgeber funktionierenden Partei-Agenten". Diese absonderliche Ansicht läßt sich nur begreifen, wenn erwähnt wird, daß der Verfasser natürlich auch die Trennung der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt für unrichtig hält, aber sie zeigt unter allen Umständen, nach welchen unrichtigen Maßen der ganze Bau der freien Rechtsprechung entworfen ist. Politisch scheint demnach, wenn man nach diesen Proben schließen darf, die "junge Bewegung" nicht am besten orientiert zu sein. Gerade eine Untersuchung aus der staatsrechtlich-politischen Perspektive würde ihr aber sehr heilsam sein, weil sich von keinem anderen Standpunkt ähnlich sicher bestimmen läßt, in welchem Umfang und mit welchen Vorbehalten auch im Verfassungsstaat Jurisprudenz und richterliches Urteil neben dem Gesetzesrecht rechtsbildende Kraft beanspruchen können. Wenn man uns schließlich verheißt, die freie Rechtsprechung werde die Volkstümlichkeit und Fachlichkeit der Judikatur steigern, so kann auch das nicht ohne Widerspruch hingenommen werden. Abgesehen davon, ob prinzipiell Volkstümlichkeit zu den für eine Entscheidung maßgebenden Rücksichten und Gesichtspunkten gehört, wird aller in dieser Hinsicht denkbare Nutzen der freien Rechtsschöpfung durch die Gegeneventualität mehr als aufgewogen, daß dann ebensogut auch volkstümliche Gesetze durch einen den Anschauungen und dem Empfinden des Volkes ferner stehenden Richter vereitelt werden können. Was aber die größere Fachlichkeit der Rechtsprechung anlangt, so wäre sie allerdings überaus wünschenswert, aber der Hebel muß anderswo, nämlich bei den Studieneinrichtungen, angesetzt werden. Gute fachliche Bildung des Richters setzt nämlich vor allem einen anderen Universitätsunterricht voraus, als ihn der Jurist heute genießt. In die Lehrpläne der juridischen Fakultäten müssen neue Fächer, neue Methoden aufgenommen werden. Mit dem seit einem halben Jahrhundert traditionell gelehrten Rechtsstoff und den spärlichen Erweiterungen seiner neueren Zweige kann man sich nicht für alle Zukunft zufrieden geben. Die bisherigen Versuche haben nicht tief genug gegriffen. Die Studienreform wird unerschrockener, kühner werden und den heutigen ausgedehnteren Wirkungskreis des Juristen mehr beachten müssen. Dann wird sie vielleicht bringen, was uns auch in diesem Punkt die Freirechtsbewegung wahrscheinlich schuldig bleiben würde.
1) Dieser Artikel ist ursprünglich in der "Neuen Freien Presse" vom 22. Juli 1906, Nr. 15.055 erschienen. |