Müller-ErzbachDehnowvon BülowJ. LukasG. BeselerGnaeus Flavius | ||||
Rechtswissenschaft und Freirechtsbewegung
Vorbemerkung des Verfassers Daß ich dabei alle Einzelheiten der neuen Bestrebungen richtig gewürdigt hätte, möchte ich mir gewiß nicht anmaßen; man kann in so vielgestaltigen Dingen überhaupt ehrlich wollen, und nur zu oft berichtigen spätere Erfahrungen wieder die ursprüngliche Annahme. Aber in diesem prinzipiellen Punkt ist meine Überzeugung unerschütterlich: daß die Freirechtsschule den schwersten Irrtum gegen sich selbst begeht, wenn sie glaubt, das Recht fortbilden zu können, indem sie es von seiner Wurzel abschneidet und das Werden vom Werden trennt! Auch die Bienen und Ameisen haben durch Naturanlage ihren Staat, allein er baut sich heute noch nach derselben Regel wie zur Zeit der Pharaonen, weil ihnen das fehlt, was die menschliche Entwicklung auszeichnet, nämlich die Überlieferung. Die entscheidende Wichtigkeit dieses letzteren Moments gilt von allen Weistümern, die sich mit dem Menschen befassen, vor allem aber auch von der Rechtswissenschaft. Wenn manche Anhänger der historischen Rechtsschule dadurch irrten, daß sie, statt auf der Überlieferung fortzubauen, aus der Überlieferung selbst konstruierten, so ist das kein Grund, den Historismus als solchen über Bord zu werfen. Davor zu warnen schien mir vor allem ein deutscher Österreicher berufen, weil wir es in Österreich schon einmal - von 1811 bis in die fünfziger Jahre - mitmachten, wohin uns die Loslösung vom historischen Rechtsgrund geführt hatte - zur leeren Paragraphistik. Begänne man nun in Wiederholung dieses Fehlers die deutsche Rechtsentwicklung mit der Kodifikation von 1900, so hätte man nur die Wahl zwischen den Klippen dieser Erstarrung oder dem Hinauslaufen ins uferlose Meer der soziologischen Forderungen des Tages. Nur die Prüfung jedes Rechtssatzes an seinem Werden und an den sozialen Funktionen, die er dabei erfüllte, können einen geregelten Kurs sichern, dessen Steuer die Erfahrung der Menschheit führt. So soll es mit der wichtigsten nationale Einrichtung, dem Recht sein. Es ist ein Wagnis, das ich tue. Das Recht umfängt uns wohl alle; aber über keine Wissenschaft herrschen so unklare Vorstellungen wie über jene vom Recht. Die einen halten sie für eine bloß mechanische Kenntnis umfassender und ermüdender Reglements - die anderen für eine boshafte Kunst, durch dialektische Ausdeutung die seltsamsten Folgerungen hieraus zu ziehen. Gnädig noch jene, die sie als eine Art Geheimlehre betrachten, an deren Tempel sie mit achtungsvoller Verbeugung, aber auch zugleich mit einem frommen Schauder und dem Wunsch vorbeigehen, nur ja darin nichts zu tun zu haben. Über diesen Gegenstand soll ich einen populären Vortrag halten, der in seinem engen Rahmen ein klares Bild über die wirklichen wissenschaftlichen Aufgaben der Jurisprudenz zu geben und zugleich deren modernste Richtungen zu erörtern hätte. Dabei verspreche ich Ihnen noch, daß ich mich mit gar keinen spezifisch sensationellen Gegenständen befassen werde, weder mit dem Streit um die Todesstrafe, noch mit politischen Schlagworten, ja nicht einmal mit dem ohnehin schon langweilig gewordenen Kodex der parlamentarischen Obstruktion. Die zahlreich anwesenden Juristen von Fach mögen entschuldigen, daß ich eine Anzahl von Dingen, die ihnen wohlbekannt sind, andeutungsweise vorausschicken muß, da ich deren Wissenschaft von den außer unserem Beruf stehenden Zuhörern unmöglich verlangen kann. Das Recht umfängt, wie ich schon äußerte, alle Gebiete des Lebens - den Verkehr der Staaten unter sich im Völkerrecht, die innere Verfassung des Staates im Staatsrecht, seine Verwaltung im Gebiet des Verwaltungsrechts, das sich an der Hand der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu einem immer fester werdenden Rechtssystem verdichtet. Dazu kommen dann die als juridisch im engeren Sinne bezeichneten, im Schutz der ordentlichen Gerichte stehenden Gebiete: das öffentlich-rechtliche des Strafrechts und das privatrechtliche des Zivilrechts. Letzteres, das nach der schlichten Definition unseres bürgerlichen Gesetzbuches "die Privatrechte der Einwohner des Staats unter sich bestimmt", trifft unter dem ebenso schlichten Titel des "bürgerlichen Rechts" in Wirklichkeit die allerwichtigsten Bestimmungen für sämtliche Lebensverhältnisse und liefert hiermit die wahre Grundlage der Zivilisation. Das Zivilrecht empfängt den jungen Staatsbürger bei seinem Eintritt ins Leben mit dem Schutz der väterlichen Gewalt und ersetzt diese, wenn notwendig, durch ein sorgfältiges Vormundschaftsrecht, es regelt die Ehe und die sämtlichen rechtlichen Verhältnisse der Familie, es bestimmt über die Erbfolge und ihre hundertfältigen Verwicklungen nach dem Tod, es ordnet die Befugnisse des Eigentums und seine Beschränkungen zugunsten der Nachbarschaft und anderer Rechte Dritter, es schützt schließlich den ganzen rechtlichen Verkehr durch ein System von Normen für die verschiedensten Vertragsverhältnisse und für die Ansprüche aus erlittener Beschädigung. Ergänzt noch durch die Bestimmungen des Handelsrechts, See- und Bergrechts usw. kann man wirklich sagen: Das Zivilrecht ist die gesellschaftliche und wirtschaftliche Organisation des Volkes, der Menschheit. Es ist eine Eigentümlichkeit naiver Betrachtung, daß wir das, was uns von frühester Jugend an umgibt, als ein durch die Natur selbst Gegebenes, und Triebe, die bei uns seit der Kindheit geweckt und anerzogen werden, als angeboren zu betrachten. So hat sich wohl bei allen Kulturvölkern und auch sonst zu allen Zeiten mehr oder weniger deutlich die Vorstellung eines Naturrechts gebildet und erhalten, dessen unveränderliche Gesetze aus der Beschaffenheit der Dinge selbst hervorgehen sollen und dem Menschen als angeboren in die Vernunft gelegt sind. Besonders bestärkt wurden diese Auffassungen durch die Geistesrichtung, die der französischen Revolution vorherging. Jenes Zeitalter zeichnete sich vor allem durch eine Überschätzung der Vernunft, und zwar der Vernunft der unmittelbaren Gegenwart gegenüber jener Tradition und Erfahrung der Vergangenheit aus. HIPPOLYTE TAINE, der glänzende Historiker sagt: "Je näher das Jahr 1789 rückt, umso mehr wird allgemein klar, daß man sich in einem Jahrhundert der Aufklärung und der Vernunft befindet." Die Folge davon war zunächst eine dem klassischen französischen Geist charakteristische Zurücksetzung der Geschichte. Zuerst wurde die Geschichte ignoriert und von der Gelehrsamkeit abgeraten, weil sie langweilig und kompliziert ist. In den Salons glaubte man, die ernstesten philosophischen Fragen durch wortspielendes Vernünfteln zu lösen, während die weiteren Kreise sich an den Theorien ROUSSEAUs berauschten: Der Mensch sei im wilden Urzustand unsäglich gut und glücklich gewesen, während ihn nur die Gesellschaft verdorben und elend gemacht hat. Zurück zur Natur, und der Idealstaat bildet sich von selbst aufgrund des brüderlichen contrat social! Man schuf sich als Objekt dieser Theorien das ideologische Bild eines Normalmenschen, der unabhängig von Zeit und Ort, Klima und Natur, Barbarei und Zivilisation wie eine mathematische Einheit den Regeln unterworfen wird, die man als angeborene Ideen erklärte. Bald gelangte man von einer Überschätzung der Vernunft einerseits, zu einer Geringschätzung von Kultur und Wissenschaft andererseits. Man brauchte ja nur auf eine Taste des von der Natur gegebenen Werkzeugs der Vernunft zu schlagen, um alle Formen für Recht, ewigen Frieden und ein gemeinsames Wohlergehen fertig vorbereitet hervorspringen zu sehen. Es war nur eine Konsequenz dieser Richtung, daß dem Begründer der modernen Chemie, LAVOISIER, als er die Guillotine des Revolutionstribunals bestieg, aus der Menge zugerufen wurde: "Nous n'avons plus besoin des savants3 - wir brauchen keine Gelehrten mehr. Im kühleren Deutschland haben wir freilich diese Exzesse der menschenfreundlichen Theorie nicht mitgemacht. Aber die Fabel des auf angeborenen Grundsätzen beruhenden Vernunftrechts, mit dem man zugleich ein für alle Zeiten und Völker gültiges Normalrecht gefunden zu haben glaubte, grub sich umso tiefer ein und beherrschte mehr als je zuvor die Geister. Nimmt man aber den Inhalt dieses Naturrechts unter eine ernste Betrachtung, so gewahrt man nichts als eine Reihe von Sätzen, die aus dem faktischen Rechtsbestand der Zeit gezogen sind, denen zum Beweis ihrer vernunftrechtlichen allgemeinen Gültigkeit ein oberflächliches Räsonnement als Mäntelchen umgehängt wird, Sätze, die aber trotz ihrer vermeintlichen ewigen Gültigkeit ganz anders ausgefallen wären, wenn das Naturrechtsbuch zur Zeit der Römer abgefaßt worden wäre, als diese noch die Sklaverei für berechtigt hielten, anders im Mittelalter, als das Grundeigentum durch das Prinzip der Feudalität beherrscht wurde, aber auch wieder anders hundert oder mehr Jahre nach uns ausfallen würden, wo wieder neue Rechtsformen Platz greifen können, an denen wir vielleicht jetzt schon mitarbeiten, ohne es zu wissen. Drastisch sagte hierüber JHERING: Glauben, unsere Urvordern hätten die Idee des Eigentums, des Vertrages, der Ehe fertig in ihren Köpfen angetroffen, ist ebenso töricht, wie anzunehmen, sie hätten irgendwo Pflug und Harke aufgefunden mit der Einladung, nun frisch und munter den Acker damit zu bestellen. Nach den großen Napoleonischen Kriegen und der hiermit verbundenen nationalen Wiedererhebung Deutschlands griff notwendig eine Ernüchterung von den in der Revolution so furchtbar ad absurdum geführten rationalistischen Ideen Platz. Wie mit jeder nationalen Erhebung war aber hiermit ein innigeres Verständnis der geschichtlichen Entwicklung verbunden. Dies galt auch im Rechtsleben. Die historische Rechtsschule entstand in Deutschland, fand aber dort einen sehr komplizierten Rechtszustand vor. Wie bekannt, war die Entwicklung des nationalen germanischen Rechts in der zweiten Hälfte des Mittelalters durch die Rezeption des römischen Rechts unterbrochen worden (1). Beim Wiederaufblühen der Wissenschaften zunächst von der Rechtsschule zu Bologna unter dem Namen corpus juris zusammengefaßt und in der Glosse erklärt, trat es von dort aus seinen erneuerten Siegeslauf durch Europa an. Es war die Zeit des Wiederaufblühens der Wissenschaften, als die Universitäten in Italien, dann in Deutschland und Frankreich entstanden, eine Verjüngung der Menschheit viel edler und reicher an Talenten als unsere Moderne. In Deutschland begann die Aufnahme des römischen Rechts unter den großen Hohenstaufen, und am Ende des Mittelalters stand es in allen Kulturstaaten Europas in Geltung mit Ausnahme der nordischen Reiche und Englands, wo es übrigens auch auf die Rechtsentwicklung wesentlichen Einfluß nahm. Ein gesetzgeberischer Akt im heutigen Sinne, der diese Geltung formell ausgesprochen hätte, ist nicht nachweisbar. Es ist überhaupt ein zweiter, weitverbreiteter Irrtum, alles Recht auf einen Befehl der staatlichen Gewalt zurückzuführen. In Wahrheit war das Recht weit früher da als ein Staat im heutigen Sinne. Es bildete sich im Zusammenleben der Stämme mit der Notwendigkeit sozialer Gemeinschaft und der damit verbundenen Reaktionen dieser Gemeinschaft gegen alles, d. h. gegen das gesellschaftswidrige Handeln eines einzelnen. Die Abwehr wurde zunächst dem Verletzten überlassen, hierbei fand er aber die Unterstützung anfänglich seiner Sippe, allmählich die der sich erweiternden Rechtsgemeinschaften. Aus dem Volk hervorgegangene Schöffen oder Richter begannen dieses Recht zu sprechen nach Regeln, die sich aus dem Herkommen selbst bildeten und durch dieses befestigten, sich durch Weistümer und Rechtsbücher auf die Nachfahren überlieferten. Diese Erscheinungen sind insbesondere auf deutschem Rechtsboden genau und historisch erweisbar. Die größeren politischen Gemeinschaften waren schon lange zu Herzogtümern oder Reichen erwachsen, als sie sich noch um diese gewohnheitsmäßige Bildung des Privatrechts aus dem Volk heraus nicht, oder nur selten bekümmerten, geschweige denn darin inbegriffen. Was sie allmählich übernahmen, war nur der Schutz des nach herkömmlichen Formen geschöpften Urteils in seiner Durchführung. Hieraus entstand dann erst ein Einfluß zuerst auf die Zusammensetzung dieser Gerichtshöfe, allmählich, aber sehr langsam, auch auf die inneren Grundsätze der Rechtsprechung. Die Vorstellung von der gesetzgeberischen Allmacht oder gar Alleinmacht des Staates für die Rechtsschaffung entspringt einer viel späteren Zeit, ist eigentlich eine Frucht, die erst der aufgeklärte Absolutismus zeitigte und mit ihm in charakteristischer Parallele die gleichfalls auf die Staatsallmacht hinauslaufende Idee des ROUSSEAU'schen contrat social. Die Rezeption des römischen Rechts ist selbst der schlagendste Beweis für die oben entwickelte Art der Rechtsbildung. Sie erfolgte kraft der geistigen Überlegenheit dieses vollendet durchgearbeiteten Rechts durch die Richterstühle selbst, und wäre ohne gesetzgeberischen Akt nie möglich gewesen, wenn damals die Gesetzgebung überhaupt das Privatrecht als ihre ausschließliche Domäne betrachtet hätte. Ob diese Rezeption ein Vorteil war, steht heute nicht mehr zur Frage, da sie längst geschehen ist, und ihre Wirkungen schon geäußert hat. Tatsache ist, daß das römische Recht dem germanischen Recht an Klarheit und Durchbildung weit überlegen, aber auch in seinen Formen viel geeigneter zur modernen wirtschaftlichen Fortbildung mit ihren Vorzügen und auch Auswüchsen war, als die deutschen Weistümer des Mittelalters. Die historische Schule, die nach den Befreiungskriegen unter der Leitung SAVIGNYs die Herrschaft antrat, traf folgenden Zustand in Deutschland an: Das römische Recht durch mehrhundertjährige Übung umgestaltet zum usus modernus pandectarum, dann neben einigen Gebieten des Kirchenrechts auch privatrechtliche Vorschriften der Reichsgesetzgebung, alles unter dem Namen des gemeinen Rechts zusammengefaßt. Dabei ein sehr breites Gebiet des Gewohnheitsrechts, das sich besonders als Handels- und Seerecht auf dem Boden von Usancen [Gepflogenheiten - wp] ganz selbständig entwickelt hatte. Neben all dem bestanden aber auf deutschen Rechtsboden noch eine große Anzahl landesgesetzlicher Vorschriften und eine Unzahl Stadtrechte privatrechtlichen Inhaltes, die auf ihren Gebieten dem gemeinen Recht vorhergingen. Die autochthone Rechtsentwicklung hatte also zu einer Verwirrung geführt, die im Verein mit der sich stets verfestigenden Staatsmacht schon im 18. Jahrhundert zum immer lauteren Ruf nach einer einheitlichen Kodifikation führte. Den Anfang machte Preußen mit seinem allgemeinen Landrecht von 1794; in Frankreich war 1803 der Code civil ins Leben getreten, der zufolge der französischen Okkupation der Rheinprovinzen auch dort eingeführt und auch nach deren Rückfall an die deutschen Bundesländer in Wirksamkeit bliebt; Österreich schuf sich 1811 sein eigenes bürgerliches Gesetzbuch. Fast das ganze übrige Deutschland blieb unter gemeinem Recht. Es ist nun ein Unrecht, wenn man heute gegen SAVIGNY den Vorwurf erhebt, als habe er einseitig das römische Recht zur Grundlage unserer Rechtsentwicklung machen wollen. Es finden sich in SAVIGNYs Schriften lebhafte Aneiferungen der Germanisten, auch auf ihrem Gebiet an der systematischen Erforschung des Rechts mitzuarbeiten. Ob nun die Quellenforschung dem Zweck allein dienstbar blieb, das Verständnis der Rechtswerdung zu vermitteln, oder ob sie denselben auch in mancher Hinsicht überschritt und die Quelle selbst über die Anforderungen der Gegenwart erhob - eines steht jedoch fest: Durch SAVIGNY und seine Schüler ist das gemeine Recht in solcher Weise durchforscht, aufgeklärt und in ein vollendetes System gebracht worden, daß diese Leistung nicht nur ein unvergängliches Verdienst deutscher Wissenschaft bildet, sondern auch auf diesem Gebiet fast nichts mehr zu tun bleibt. Man mag vielleicht sagen: Die Arbeit der historischen Schule ist getan; das ist aber kein Grund, diese Arbeit, wie es einzelne Eiferer unter den Modernisten Tun, herabzusetzen, während wir alle aus ihren Ergebnissen die Grundlagen unseres Wissens geholt haben! Wie sah es nun außerhalb des gemeinen Rechts auf dem Gebiet der Kodifikationen aus, vor allem des preußischen Landrechts und des österreichischen bürgerlichen Gesetzbuches? Beide Gesetze sind in der Hauptgrundlage römisches Recht, so wie man dieses zur Zeit ihrer Abfassung verstand, im übrigen beeinflußt durch die damals (vor SAVIGNY) übermächtige Theorie des Naturrechts, sowie auch auf manchem Gebiet durch das deutsche Recht. Das preußische Gesetzbuch ist kasuistischer, das österreichische übersichtlicher und einfacher. Beide sind Kinder ihrer Zeit. Wenn sie aber auch alle Vorzüge übermenschlicher Werke hätten, sind sie doch nicht befreit von den unvermeidlichen Mißständen, die jede Kodifikation an sich trägt. Der Einheitlichkeit, Klarheit und Rechtssicherheit halber wird sie verlangt und das Beste der Zeit an Theorie und Erfahrung soll in ihr niedergelegt werden. Nun kommt man aber hierdurch zugleich in einen unlösbaren Widerspruch mit dem Wesen jeder Theorie und noch mehr mit den Anforderungen des Lebens. Die Theorie wird fixiert, während ihr Wesen auf einem rastlosen Fortschreiten beruth, und ebenso soll das Leben selbst in den kodifizierten Rechtsgesetzen gefesselt werden, während sein Wesen in der fortwährenden Entwicklung liegt. Eine Änderung der Kodifikation ist schon durch deren Natur als ein zusammenhängendes Ganzes erschwert; unmöglich aber kann die Gesetzgebung allen diesen Bedürfnissen zuvorkommen, besonders dann, wenn etwa gar die Theorie in ihrer Entwicklung unterbunden, die Bildung von Gewohnheitsrecht abgeschnitten, die richterlichen Entscheidungen aber durch sklavische Auslegungsweisen an den starren Wortlaut gefesselt sind. In den deutschen Bundesländern außerhalb der österreichischen Grenzpfähle waren damals im allgemeinen günstigere Verhältnisse. Das preußische Landrecht anerkannte Rechtsgewohnheiten innerhalb gewisser Grenzen. Wichtiger war noch der engere Kontakt mit dem übrigen Bundesgebiet des gemeinen Rechts und mit der unermüdlichen Tätigkeit der deutschen Rechtswissenschaft, vertreten durch die glänzenden Romanisten und Germanisten der historischen Schule. Wie aber sah es in Österreich aus? Das bürgerliche Gesetzbuch von 1811 hatte zunächst das Gewohnheitsrecht als eine selbständige Rechtsquelle formell aufgehoben (2). Aber was noch weit nachteiliger war, die österreichische Politik von damals hielt auf das Ängstlichste alles hintan, was an eine Verbindung des öffentlichen Lebens mit jenem "im Reich" anklang. Insbesondere gegen die Wissenschaft, die auf deutschen Universitäten tradiert wurde, herrschte ein unüberwindliches Mißtrauen und nun gag gegen eine ausländische Rechtslehre! Was ging die deutsche Rechtswissenschaft das österreichische Gesetz an, und was umgekehrt den österreichischen Juristen die deutsche Rechtslehre? Im bürgerlichen Gesetzbuch hatte er den Inbegriff des bei uns geltenden Privatrechts niedergelegt und um mehr hatte er sich nicht zu kümmern, um ein guter Beamter zu werden. Der Studienplan von 1810 strich das deutsche Recht gänzlich aus den Lehrfächern, das römische wurde zunächst noch aus dem Gesichtspunkt beibehalten, daß vorläufig noch manche ältere Rechtsfälle nach ihm zu entscheiden sind, sein Vortrag aber auf den engsten Raum zusammengedrängt, dem Professor des österreichischen Privatrechts aber jede Wiederholung aus dem römischen Recht ausdrücklich verboten und derselbe angewiesen, nur darauf zu achten, daß die Hörer ihre Behauptungen aus dem neuen Gesetzbuch selbst zu beweisen und "philosophisch" zu begründen fähig sind. Hiermit wurde das Gesetz von den Wurzeln abgeschnitten, aus denen es entstanden war. Statt das einzelne Rechtsinstitut aus den Anlässen kennen zu lernen, aus denen es geschaffen wurde, es in die Wirkungen zu verfolgen, die es geäußert hat und die Wandlungen zu begreifen, denen es in deren Folge unterlegen war, trat nur dessen letzte Wortform, der dünne Querschnitt einer organischen Entwicklung vor das Auge des Juristen, dessen Denktätigkeit hierdurch auf ein ödes Räsonnieren aus dem Buchstaben beschränkt wurde, das nicht in die Tiefe dringen konnte und sich in eine flache Umschreibung von Wortvorstellungen auflöste. Dazu kam noch ein wachsender Byzantismus, der das Gesetz als ein Produkt der Weisheit des höchsten Gesetzgebers anbetete, so daß schließlich jede Art ernsthafter Kritik als eine Art Illoyalität erschien. So wurde dann auch von 1811 bis in die fünfziger Jahre in Österreich nicht ein privatrechtliches Werk geleistet, das seine Zeit überdauert hätte, geschweige denn auch nur entfernt an jene Leistungen heranragen würde, die zur selben Zeit die historische Schule in Deutschland vollbrachte.
Das ganz außerordentliche Ansehen, das UNGER genießt und das jedesmal, wenn er sich in Juristenkreisen zeigt, spontan zum Ausdruck kommt, beruth, abgesehen von allen seinen sonstigen Qualitäten, vor allem in dem Bewußtsein, daß er der Retter der österreichischen Jurisprudenz geworden ist und damit zugleich der Schöpfer einer österreichischen Juristenschule, die ihren Namen mit Stolz neben jene der reichsdeutschen Juristen stellen darf und öfters schon in der Lage war, zurückzugeben, was UNGER nach den eigenen Worten jener Vorrede
Mit dessen Gründung kam auch dort die Frage der einheitlichen Rechtskodifikation ins Rollen - 1874 trat die erste Kommission zusammen, die nach 13 Jahren den ersten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches vorlegte. Er befriedigte nicht, stand allzu ausschließlich unter dem imperium der romanistischen Schule, glich in vielen Partien einem in deutscher Sprache abgefaßten Pandektenlehrbuch in streng logischer Entwicklung, aber ohne genügende Rücksicht der neu herangetretenen Forderungen des Lebens, ohne Förderung der ihnen entsprechenden nach Luft ringenden neuen Rechtsbildungen. Eine neue erweiterte Kommission, der auch Vertreter der Interessenkreise und der Volkswirtschaftslehre beigezogen wurden, legte nach neuerlichen Beratungen 1895 den Entwurf II dem Bundesrat vor, der disen mit einigen Änderungen als Entwurf III an den Reichstag brachte, aus dem 1896 das Gesetzbuch in seiner heutigen Form mit Wirkung ab 1. Januar 1900 hervorging. * Einige wesentliche Punkte, in denen nach dieser vielfältigen Beratung durch das DBGB modernen Anforderungen Rechnung getragen wurde, sind folgende: Das Schikaneverbot § 226 "die Ausübung eines Rechtes ist unzulässig, wenn sie nur den Zweck haben kann, einem anderen Schaden zuzufügen." EMIL STEINBACH hat in seinem Werk "Vermögensschäden" schon 1888 eine ausführliche Geschichte dieser Frage geliefert, die ihr anschaulichstes Bild im Neidbau gewinnt. Darf ich auf meinem Grundstück - wir denken jetzt einen Fall, wo keine städtische Bauordnung das Verhältnis regelt - eine Mauer aufführen, die nur den Zweck hat, dem Nachbarn die Aussicht zu verbauen? Die Fanatiker des Eigentumsbegriffes sagen: Ja - die Anhänger einer sozialeren Auffassung sagten von jeher: Nein! Im oft als herzlos geschmähten römischen Recht finden sich eine Anzahl Stellen, die dem Recht Schranken setzen, wo es nur den Zweck hätte, einem anderen zu schaden. Trotzdem war bei der Schöpfung unseres österreichischen bürgerlichen Gesetzbuches die Aufnahme einer bezüglichen Beschränkung abgelehnt worden, und diese Ablehung aus dem angeblich naturrechtlichen Begriff des unbegrenzten Eigentumsrechts begründet. Hier liegt zugleich ein Beispiel für den Ausdruck Begriffsjurisprudenz" vor, dem wir heute öfters in folgendem tadelnden Sinn begegnen. Man konstruiert einen juristischen Begriff aus einer Reihe ansich überzeugender Anhaltspunkte - z. B. hier den des schrankenlosen Eigentums, dann leitet man aus diesem Begriff in Verbindung mit anderen Begriffen logisch lückenlos Rechtssätze her - zuletzt kommt man aber dabei auf Sätze, die dem sozialen Zweck des Rechts, ja dem natürlichen Rechtsgefühl widerstreben. Das ficht aber den echten Begriffsmathematiker nicht an - er sagt summum jus saepe summa injura [Das höchste Recht ist oft die größte Ungerechtigkeit - wp] - und fiat justitia pereat mundus [Die Welt mag untergehen, wenn nur die Gerechtigkeit siegt. - wp], verbeugt sich vor dem idolatrisch [götzenhaft - wp] verehrten Begriffsfetisch: "Du hast es so gewollt" - und spricht das härteste Unrecht als Recht aus. Daß das nicht der Zweck der Rechtspflege sein kann, daß ganz gewiß in irgendeinem seiner Obersätze sich ein Fehler eingeschlichen hat, daß einer derselben zu weit oder eng gefaßt, ja daß dies erweislich der Fall sein muß, da unhaltbare Untersätze daraus folgen, dies alles wird hierbei vergessen. Die juridischen Begriffe sind aber keine Größen im Sinne der Mathematik, die absichtlich mit den Abstraktionen einer nur die Quantität vorstellenden Zahl und eines nur die Form besitzenden sonst aber inhaltsleeren Raumes rechnet, um aus diesen Abstraktionen unfehlbare Schlußketten zu ziehen, und deren Ergebnisse sodann, aber mit den gehörigen Erfahrungskoeffizienten versehen, auf die substanzielle Natur anzuwenden. Was aber tun, wenn bereits gegebene Gesetze im einzelnen Fall solche unerträgliche Konsequenzen liefern oder zu liefern scheinen? Das ist das Problem, bei dem die Freirechtsschule ansetzt, mit der wir uns heute noch zu befassen haben. Vorläufig noch zur induktiven Betrachtung des DBGB zurückkehrend, ist also zu konstatieren, daß die Frage des Schikaneverbotes in dessen § 226 ihre Lösung, allerdings etwas kümmerlich, aber doch in guter Richtung, gefunden hat. Im Zusammenhang hiermit steht die weitere Frage des Nachbarrechts, das reguliert, inwieweit der Eigentümer eines Grundstücks lästige Einwirkungen, die von anderen Grundstücken ausgehen, sich gefallen lassen muß, oder sich dagegen schützen kann. Bestimmungen, die z. B. in unserem österreichischen bürgerlichen Gesetzbuch gänzlich fehlen. Eine weitere sehr wichtige Bestimmung des deutschen Gesetzes ist die Einführung des Begriffs von "Treu und Glauben" ins Gesetz. Nach dem DBGB sind Verträge so auszulegen, wie es "Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte" erfordert, und gleiche Grundsätze gelten für die Erfüllung von Verpflichtungen. Im Zusammenhang hiermit stehen jene Gesetzestellen, die Akte, welche gegen die guten Sitten verstoßen, als nichtig erklären, so der berühmte § 138, der jedes Geschäft annulliert, durch das sich jemand unter Ausbeutung der Notlage des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines anderen Vermögensvorteile versprechen läßt, die den Wert seiner Gegenleistung unverhältnismäßig übersteigen. Hiermit ist der nach unserem Gesetz nur auf Darlehen beschränkte Begriff des Wuchers auf ausbeuterische Geschäfte jeglicher Art ausgedehnt. § 826 des DBGB verpflichtet denjenigen zum Ersatz, der einem anderen in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise Schaden zufügt. Hiermit sind jene Schadenszufügungen getroffen, die ohne direkt rechtswidrig zu sein, doch das im Verkehr notwendige Vertrauen täuschen, so insbesondere alle Handlungen des unlauteren Wettbewerbs, auch sofern sie nicht durch das betreffende Spezialgesetz ohnehin schon getroffen wären (sogenannte Generalklausel). Wir in Österreich haben noch nicht einmal ein solches Spezialgesetz, da die vieljährigen Bemühungen bisher am Widerstand Ungarns scheiterten, das zufolge des 1907er Ausgleichs bei einem solchen Spezialgesetz mitzureden hat. Durch die Annahme einer allgemeinen Bestimmung bei der Reform unseres bürgerlichen Gesetzbuches könnte man abhelfen, da uns in die allgemeine Zivilgesetzgebung niemand dreinzureden hat, wenn wir eben selbst die nötige Schneidigkeit hierzu besitzen (4). § 227 DBGB regelt das Notwehrrecht gegen rechtswidrige Angriffe, §§ 228 und 904 das Recht des Notstandes, das zur Abwehr dringender Gefahren auch Eingriffe in fremdes Eigentum gegen Ersatzleistung gestattet. Von einer Regelung der letzteren Rechte ist in unserem über 100 Jahre alten bürgerlichen Gesetzbuch nichts zu finden. Die angeführten lobenswerten Fortschritte der deutschen Gesetze öffnen der Rechtsverwirklichung Gebiete von größerem Umfang als es vielleicht der erste Anblick erscheinen läßt. Zu bedauern ist dabei nur, daß so manche andere ebenso wichtige Anforderung nicht erfüllt, sondern mit dem oft gehörten Satz abgewiesen wurde, "daß man ein unmittelbar dringendes Bedürfnis hierfür nicht zu erkennen vermochte", oder "daß bei richtiger Anwendung, auch mit den bisherigen Bestimmungen, das Auslangen gefunden werden kann." So fand insbesondere das Begehren einer Haftpflicht für alle aus gefährlichen Betrieben hervorgegangenen Schäden kein Gehör. Hierdurch kommen die Gerichte in die Lage, entweder das Gesetz zu drehen und wenden, um mit ihm, wie der schöne Ausdruck lautet, "das Auslangen zu finden", oder sie gelangen zu Urteilen, die dem Rechtsbewußtsein ins Gesicht schlagen. Ein Musterbeispiel letzterer Art ist folgender Fall, dessen Vortrag in meinem Haftpflichtreferat die Entrüstung des deutschen Juristentages auslöste. Graf ZEPPELIN war zu einer Notlandung in Echterdingen genötigt; ein Windstoß riß den Notanker los und dieser zerschmetterte einem Mann aus dem Volk den Schenkel. Graf ZEPPELIN weigerte Ersatz und die Gerichte wiesen den Verkrüppelten ab. Die Luftfahrt wurde bei gutem Wetter und mit erprobter Mannschaft angetreten - sagen die reichsgerichtlichen Gründe - alle Gefahren lassen sich hierbei nie vermeiden, übrigens war der Windstoß eine höhere Gewalt, die man nicht vorhersehen konnte (!), ein besonderes Haftpflichtgesetz, wie beim Automobil, existiert für die Luftfahrt nicht, ein Verschulden liegt nicht vor, folglich ist die Beschädigung ein Zufall, den der Verunglückte selbst zu tragen hat. Dem Armen wurde also - wie der juristische Ausdruck lautet - vom Luftfahrer mit der Sorgfalt eines guten Hausvaters und nach allen Regeln der Luftschiffahrt das Bein abgerissen. Glücklicherweise sind solche Urteile selten, und die Gerichte tun ja das möglichste, um solchen Konflikten zu entgehen, in die sie die höhere Gewalt und unerforschliche Weisheit der Gesetzgeber mitunter bringt. Was uns aber nun zunächst interessiert, ist, daß ungeachtet dieser Bestrebungen, dann der vielen angeführten lobenswerten Bestimmungen des neuen DBGB, ungeachtet schließlich der erzielten Rechtseinheit, die Befriedigung im Deutschen Reich über dieses neue Gesetzeswerk doch keine allzu große ist; im Gegenteil, fast unmittelbar nach dessen Inslebentreten, setzte die sogenannte freirechtliche bewegung mit besonderer Vehemenz ein. * Im Jahre 1906 erschien zu Heidelberg unter dem Pseudonym GNAEUS FLAVIUS eine fünzig Seite starke Schrift, "Der Kampf um die Rechtswissenschaft", die Aufsehen machte, manche Zustimmung fand, aber auch lebhaften Widerspruch erregte. Wenn ich meinem heutigen Vortrag denselben Titel gab, so geschah es aber nicht, um ihn etwa mit der Besprechung jener Schrift auszufüllen, sondern nur weil ich diesen Titel überhaupt für passend fand, um die am Tapet stehenden Fragen zu bezeichnen. Denn es handelt sich in der Tat nicht um einen der gewöhnlichen Ansichtskämpfe (Kontroversen) innerhalb der Jurisprudenz, sondern um einen Kampf um dieselbe, von außen und innen, um ihre Stellung, Bedeutung und Richtung. Da ich aber schon bei den Titeln bin, ein paar Worte über das Pseudonym, das sich der Verfasser beilegte, weil es auch andeutet, was er damit wollte. GNAEUS FLAVIUS - den anwesenden Juristen ist es ohnehin bekannt - war ein römischer Ädil [niederer Beamter - wp], um 300 v. Chr. Die Tage, an denen Recht verhandelt wurde, hießen dies fasti. Wollte ein Römer an einem anderen Tag eine Klage anhängig machen, so sagte man ihm: Heute ist der Schalter zu, komme an einem dies fastus. Darauf seine Frage: wann ist der nächste dies fastus? Antwort: "O, Bürger, das ist ein Amtsgeheimnis" und er mußte zu einem Eingeweihten wandern, der ihm zugleich die Klage nach dem ebenso geheim gehaltenen Formulart verfaßte und am richtigen geheimnisvollen Termin anbrachte. Der Ädil GNAEUS FLAVIUS nun setzte einen Volksversammlungsbeschluß durch, wonach das Verzeichnis der dies fasti und der legis actiones künftig hin ausgehängt werden mußte. Hierüber große Entrüstung in Juristenkreisen, er habe den ganzen Stand ruiniert. Allein - so wird die Sache auf den Kathedern vorgetragen - gerade von da begann die geistige Durcharbeitung des Rechtsstoffes, durch die nicht mehr auf ihr Monopol gestützten Juristen, welche die Grundlage zum Weltruf des römischen Rechts wurde. Sie sehen also aus diesem Pseudonym, das der Freiburger Dozent Dr. KANTOROWICZ, der später mit diesem seinen wirklichen Namen in den Kampf trat, damals wählte, daß er in der Tat diesem Kampf die Bedeutung einer "Reform der frommen Juristengemeinde an Haupt und Gliedern beilegte" und es war hiernach und nach dem ganzen Inhalt und der heftigen Form des opusculum nur konsequent, wenn UNGER in seiner kurz darauf erschienenen Besprechung in der deutschen Juristenzeiten u. a. sagte: Was will die kleine Schrift? Sie unternimmt es, der heutigen Rechtswissenschaft und Rechsprechung den Todesstoß zu versetzen und das Prinzip der "freien Rechtsprechung" und "Rechtsschöpfung" an die Stelle zu setzen. Seither ist wohl schon vielfach Wasser in den Wein gegossen und am Sturm des damaligen Angriffes manches abgeklärt worden. Um die Bewegung vorurteilsfrei zu besprechen, ein kurzer Rückblick. Ihre Wurzeln greifen, wie erwähnt, schon hinter das neue deutsche bürgerliche Gesetzbuch zurück. JHERING, auf den sie sich gern als Initiator beruft, kann vielleicht insofern herangezogen werden, als er in seiner zweiten Periode (seit den sechziger Jahren) den Zweck als Schöpfer des Rechts bezeichnete, und wiederholt betonte, daß die historische Schule sich zu sehr von den praktischen Zwecken des Rechts abwendet, sich zu ausschließlich mit der immer erneuerten dialektischen Erörterung der Rechtsbegriffe befaßt. So sagte er z. B. in seiner Schrift "Scherz und Ernst in der Juristenprudenz", Seite 359 mit der ihm eigentümlichen Drastik:
Übrigens hat BÜLOW sich den Folgerungen, die später die Freirechtsschule auf seine Anregungen aufbaute, nicht angeschlossen. 1888 entwickelte der Czernowitzer Professor EUGEN EHRLICH in seiner Schrift "Lücken im Recht" sowie später in weiteren Schriften, "daß der Richter gewisse Unklarheiten des Rechtssystems dazu benützt, den Erfordernissen der Rechtsentwicklung zu folgen, daß besonders gewisse weite Begriffe mit denen Theorie und Praxis operiert: Treu und Glauben - ungerechtfertigte Bereicherung - Anfechtung einer Rechtshandlung als gegen die guten Sitten - sogenannte stillschweigende Willenserklärung - sich hierzu eignen". In seinem Vortrag in der Wiener juristischen Gesellschaft vom März 1903 verdichtete EHRLICH diese Entwicklung zum Begehren der "freien Rechtsfindung" für die Wissenschaft und auch für den Richter, sofern letzterem nicht eine positive Vorschrift des Gesetzes direkt einschränkend gegenübersteht. Inzwischen war 1899 in Frankreich das epochemachende Werk von FRANCOIS GÉNY, Professor der Universität Dijon, "Méthode d'interprétation", versehen mit einer Einleitung des berühmten Pariser Universitätsprofessors SALLEILES erschienen. Bekanntlich ist der französische Code civil noch um acht Jahre älter, als unser österreichisches bürgerliches Gesetzbuch, er zählt 109 Jahre, und war 1803 nach einer sehr forcierten Beratung zustande gekommen, da NAPOLEON I., damals noch lebenslänglicher Konsul, auf das einheitliche Gesetzeswerk drängte. Das hatte übrigens neben manchen Schwächen mitunter auch den Nutzen, einfache und entwicklungsfähige Bestimmungen zustande zu bringen. Von dieser Entwicklungsfähigkeit hat das französische Richteramt glänzenden Gebrauch gemacht. Mit angeborenem praktischen Sinn haben die französischen Richter, und mit einer Sourveränität, die eines unserer Kollegien nie wagen würde, insbesondere der Pariser Kassationshof die Bestimmungen des Code aufgefaßt, ausgelegt und dem Leben angepaßt, so daß es gerade hierdurch gelungen ist, dieses alte, und manche Gebrechen aufweisende Gebäude in gewissem Sinne populär zu erhalten. Ganze Rechtsinstitute sind aus einzelnen Paragraphen abgeleitet worden, so aus den §§ 1382, 1383 über Schadenersatz, die berühmte Bekämpfung der concurrence déloyale, als deren Ersatz man im Deutschen Reich das ganze bereits erwähnte Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb schaffen mußte, während wir in Österreich in unserer geduldigen Bedürfnislosigkeit überhaupt noch gar nichts dafür haben. Der Rahmen diese Vortrages ist zu eng, um sich eingehend mit dem Werk GÉNYs zu befassen, dessen Autor sich, nebenbei bemerkt, durch eine stupende Kenntnis der deutschen Rechtswissenschaft auszeichnet, und das trotz Verschiedenheit der Grundlagen so viel ähnliches in den Beschwerden enthält, daß es aus diesem Gesichtspunkt allein, das höchste Interesse verdient. SALEILLES schließt seine Vorrede in Anknüpfung an den bekannten Ausspruch JHERINGs: "durch das römische Recht, aber über das römische Recht hinaus" mit dem Worten: "par le Code civil, mais au delà du Code civil". [den Code civil, aber über den Code civil hinaus - wp] Das große Aufsehen, das GENYs Buch machte, bestimmte EHRLICH in seinem Vortrag von 1903 über "freie Rechtsfindung", sich die Priorität des Grundgedankens zu wahren, wofür er auf seine Schrift von 1888 hinwies, jedoch unter gleichzeitiger Anerkennung, daß GENY gewiß ohne Kenntnis jener "älteren auch in Deutschland wenig bekannt gewordenen Abhandlung" gearbeitet habe. Das Zusammentreffen vieler Schlußfolgerungen müsse aber das Vertrauen in diese erhöhen. Es ist weder meine Absicht, noch wäre es im Rahmen dieses Vortrags möglich, einen kompletten Überblick der freirechtlichen Literatur zu geben, die sich seither sehr ausgedehnt hat und der andererseits von den Freirechtlern auch Schriftsteller beigezählt werden, die dies ihrerseits wieder ablehnen. Als besonders markant will ich nur hervorheben die schon erwähnte Schrift GNAEUS FLAVIUS von 1906 samt den seither erschienenen Schriften desselben Verfassers Dr. KANTOROWICZ, insbesondere die erheblich abgeklärtere "Rechtswissenschaft und Soziologie" von 1911. Dann ERNST FUCHS, heute der Vertreter der schärfsten Tonart, insbesondere dessen "Juristischer Kulturkampf" von 1912. Fleiß und Scharfsinn im Aufsuchen der Schwächen der heutigen Rechtsfindungsmethoden wird leider in den Hintergrund gestellt durch Überschwänglichkeit der Folgerungen und durch einen böotischen [provinziellen - wp] Ton der Angriffe, der auf dem Gebiet wissenschaftlicher Erörterungen ungewöhnlich ist. Besonders schlecht geht es bei FUCHS den Richtern. Halten sie sich an die formalistische Auslegung, so heißen sie Pandektologen, ihre Krankheit Pandectitis, gehen sie freier zu Werke, so heißen sie Krypto-Soziologen, kommen aber auch nicht viel besser weg, weil sie das Urteil zwar nach ihrem Rechtsgefühl fällen, as sie aber durch eine "Theaterwissenschaft" logischer Folgerungen verdecken (Seite 46), hingegen unterlassen, dieses Rechtsgefühl unter die Kontrolle soziologischer Rechtslehre zu stellen. (Seite 50) Die Frage aber: wo lehrt man diese Wissenschaft? beantwortet er selbst dahin:
Das Werk hat den besonderen Wert, als Warnungstafel zu dienen, wohin der Kultus von Extravaganzen und die zügellose Lust am Schlager gerade auf diesem so ungemein empfindlichen und folgenschweren Gebiet führen kann. Von ganz anderer Bedeutung sind eine Reihe weit positiverer Schriften, so jene des Jenaer Professors DANZ (insbesonder: "Richterrecht und Gesetzesrecht"), dann das bemerkenswerte Werk von Dr. ERICH JUNG (Problem des natürlichen Rechts, 1912) u. a. Auf den Schweizer Gelehrten GMÜR, der eine ganz selbständige Stellung einnimmt, komme ich dann zuletzt bei der Besprechung des Schweizer Zivilgesetzes.
1) Wohl die gelungenste bündige Darstellung der ganzen komplizierten Rechtswerdung in Deutschland: OTTO von GIERKE, Deutsches Privatrecht, Bd. I, Seite 3-25. 2) Über die interessante Frage, inwiefern eine solche Aufhebung einer ganzen Rechtsquelle auch pro futuro rechtlich wirksam ist, vgl. insbesondere GENY (Méthode d'interprétation) und dessen Zitat, Seite 200, Anm. 1. Auf das Werk GENYs komme ich in diesm Vortrag noch zurück. 3) Einer der ersten, der für UNGER in die Schanze trat und in dessen Sinn weiterschuf war RANDA und dessen Prager Schule. (Vgl. RANDA, Besitz nach österr. Recht" insbesondere die Vorrede zur ersten Auflage 1864.) 4) § 221 des österr. Entwurfes der Novelle macht zu einer ähnlichen Bestimmung eine nicht zu billigende Einschränkung. Die gegen die guten Sitten erfolgende Schadenszufügung soll danach ohne Ersatzpflicht bleiben, wenn die sittenwidrige Handlung in Ausübung eines Rechtes geschah, es sei denn, daß diese Rechtsausübung lediglich in der Absicht erfolgte, den anderen zu schädigen. Hierdurch werden zwei nicht in innerer Verbindung stehende Kennzeichen gehäuft (sittenwidrige Handlung und schikanöse Schädigungsabsicht) und gerade jene Vorgänge des unlauteren Geschäftsverkehrs außer Verantwortung gestellt, die zwar den anderen in sittenwidriger Weise schädigen, aber durchaus nicht aus bloßer schikanöser Bosheit, sondern des eigenen Vorteils halber erfolgen. 5) In seinen früheren Arbeiten, insbesondere im "Geist des römischen Rechts" stand JHERING noch auf einem anderen Standpunkt. Er betonte die "Realität der Rechtsbegriffe", die aus der Struktur der Rechtsinstitute entnommen werden und aus denen dann wieder abgeleitete Rechtssätze erfließen. Dies ist das System der konstruktiven Begriffsjurisprudenz, die mitunter unbekümmert um die Anforderungen des Lebens zu zweckwidrigen Folgerungen gelangt und deren einseitiger Kult der historischen Schule zum Vorwurf gemacht wird. Vergleiche hierüber die treffliche Auseinandersetzung von HECK, in dessen jüngst erschienener Tübinger Königsrede, 1912, Seite 12-22, die mir erst nach meinem Vortrag zuging. Die Irrungen, die hierbei der historischen Schule vorgeworfen werden, sind aber selbstverständlich keine Argumente gegen die historische Methode der Rechtserkenntnis. 6) Speziell die Idee, daß das Recht bei seiner Bildung durch den Geist des Volkes wesentlich beeinflußt wird, halte ich trotz aller Witzeleien über den "unauffindbaren Volksgeist" für durchaus richtig. Dieser "Volksgeist" darf allerdings nicht als individuell bewußtes Wesen aufgefaßt werden, das freilich niemand gesehen hat, sondern als eine Summe von Einwirkungen, die aus den Charakteranlagen eines Volkes hervorgehen und daher in Sprache, Sitte und vor allem auch im Recht ihren Ausdruck finden, wenngleich sie bei den vielfach sich kreuzenden Kulturfaktoren nie in reiner Vollkommenheit zur Wirkung gelangen. Gerade in den vielfachen Klagen, daß durch die Rezeption des römischen Rechts die germanische Rechtsentwicklung geschädigt worden sei, liegt die prinzipielle Anerkennung nationaler Einflüsse auf die Rechtsentwicklung. |