cr-4tb-1HumeErdmannBerkeleyZimmermann     
 
GIDEON SPICKER
Kant, Hume und
Berkeley

[eine Kritik der Erkenntnistheorie]
[1/2]

"Wenn Aenesidemus Kant vorwirft, er habe den Dogmatismus nicht überwunden, so ist dieser Vorwurf entweder aus Mißverständnis oder Sophisterei hervorgegangen. Kant wollte ihn gar nicht überwinden, weil er überhaupt nicht zu überwinden ist, indem es gar keine Philosophie gibt, noch geben kann, die ganz voraussetzungslos beginnen könnte. Aber zu zeigen, wo die Voraussetzungslosigkeit aufhört, und welche Gründe für die Unmöglichkeit einer weiteren Analyse sich vorbringen lassen, ist eben Aufgabe und der Zweck der Kritik."

E i n l e i t u n g
Ursprung und Zweck
der Vernunftkritik

Es zeugte nicht bloß von großer Willkür, sondern war auch von verderblicher Tragweite, dem erkennenden Subjekt nur die Form, der Materie nur den Inhalt zuzuschreiben, gleich als ob es eine Form ohne allen Inhalt und einen Inhalt ohne alle Form gäbe. Worüber wir uns aber noch mehr verwundern können, ist: daß diese inhaltsleere Form noch Gegenstand einer eigenen "bis dahin ungeahnten Wissenschaft" sein soll, welches eben die Kritik der reinen Vernunft ist. KANT nennt sie eine "neue Wissenschaft, die gänzlich isoliert und die einzige ihrer Art ist"; "die Niemand außer ihm (HUME) sich auch nur hätte einfallen lassen, von welcher Niemand auch nur den Gedanken vorher gefaßt hatte, wovon selbst die bloße Idee unbekannt war (Prolegomena, Seite 9, Kirchmann-Ausgabe).
    "Diese, sage ich, war das Schwerste, das jemals zum Zweck der Metaphysik unternommen werden konnte, und was noch das Schlimmste dabei ist, so konnte mir Metaphysik, soviel deren nur irgendwo vorhanden ist, hierbei auch nicht die mindesten Hilfe leisten, weil jene Deduktion (sämtlicher Begriffe aus einem einzigen Prinzip) zuerst die Möglichkeit einer Metaphysik ausmachen soll."
KANT betrachtet also seine Kr. d. r. V. als die größte Tat, welche die Philosophie seit 2000 Jahren aufzuweisen hat. Denn das Größte, was vor ihm geschah, soweit die Geschichte der Metaphysik reicht, war HUMEs Untersuchung des Kausalitätsbegriffs.
    "Seit Lockes und Leibniz' Versuchen, oder vielmehr seit dem Entstehen der Metaphysik, soweit die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen, die in Anbetracht des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender werden können, als der Angriff, den David Hume auf dieselbe machte." (Prolegomena, Seite 3)
Allein das war ja nur ein "Teil", ein einziger Begriff und doch war es schon eine "entscheidende Begebenheit". Das Größte war jedoch hiermit noch nicht erzielt.
    "Er brachte kein Licht in diese Art von Erkenntnis; aber er schlug doch einen Funken." (ebd.)

    "Wenn man von einem gegründeten, obgleich nicht ausgeführten Gedanken anfängt, den uns ein Anderer hinterlassen hat, so kann man wohl hoffen, es bei fortgesetztem Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnigste Mann kan, dem man den ersten Funken dieses Lichts zu verdanken hatte." (ebd. Seite 7)
Er selbst betrachtet das ganze kritischen Unternehmen als die "Ausführung von Humes Problem in seiner möglich größten Erweiterung".
    "Ich versuchte also zuerst, ob sich nicht Humes Einwurf allgemein vorstellen läßt, und fand bald, daß der Begriff von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige ist, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß Metaphysik ganz und gar daraus besteht." (ebd. Seite 7)
Was also selbst seinem "scharfsinnigen Vorgänger unmöglich schien, und Niemand außer ihm sich auch nur hätte einfallen lassen", das war ihm über alles Erwarten gelungen, und zwar nicht bloß wieder nur in Bezug auf einen weiteren Teil, sondern gleich in Bezug auf das Ganze.
    "Da es mir nun mit der Auflösung des Humeschen Problems nicht bloß in einem besonderen Fall, sondern in Absicht auf das ganze Vermögen der reinen Vernunft gelungen war, so konnte ich sichere, obgleich immer nur langsame Schritte tun, um endlich den ganzen Umfang der reinen Vernunft, sowohl in seinen Grenzen als auch in seinem Inhalt vollständig und nach allgemeinen Prinzipien zu bestimmen, welches dann dasjenige war, was Metaphysik bedarf, um ihr System nach einem sicheren Plan auszuführen." (ebd. Seite 8)
Soviel nun das Ganze mehr ist, als sein Teil, so hoch steht KANT über HUME, "seinem scharfsinnigen Vorgänger." Und so hoch HUME nicht nur über seinen philosophischen Zeitgenossen, sondern über allen Philosophen, "soweit die Geschichte der Metaphysik reicht", steht: ebenso hoch und noch viel höher steht KANT über HUME und allen Philosophen, die die Geschichte kennt. Er wird deshalb auch dasselbe Schicksal haben mit seinen tiefsinnigen Untersuchungen, wie jener. Man wird ihn nicht verstehen.
    "Ich besorge aber, daß es der Ausführung des Humeschen Problems in seiner möglich größten Erweiterung (nämlich der Kr. d. r. V.) ebenso gehen dürfte, als es dem Problem selbst erging, da es zuerst gestellt wurde. Man wird sie unrichtig beurteilen, weil man sie nicht versteht; man wird sie nicht verstehen, weil man das Buch zwar durchzublättern, aber nicht durchzudenken Lust hat; und man wird diese Bemühung darauf nicht verwenden wollen, weil das Werk trocken, weil es dunkel, weil es allen gewohnten Begriffen widerstreitend und überdem weitläufig ist." (ebd. Seite 8)
Von HUME bis auf KANT war letzterer allein der "empfängliche Zunder", der vom HUMEschen "Funken" ergriffen wurde.
    "Er brachte kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre unterhalten und vergrößert worden." (ebd. Seite 3)
KANT meint als HUME allein begriffen, ja was selbst HUME unmöglich schien, nicht nur möglich gemacht, sondern zur höchsten Evidenz erhoben zu haben. Und was schien ihm denn so unmöglich? HUME ging von dem einzigen Begriff, der Kausalität aus und fragte, mit welchem Recht die Vernunft sich denkt, daß etwas so beschaffen sein kann, daß es, wenn es gesetzt ist, dadurch auch etwas Anderes notwendig gesetzt werden muß.
    "Er bewies unwidersprechlich", sagt Kant, "daß es der Vernunft gänzlich unmöglich ist, a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken." (ebd. Seite 4)
HUME verwarf deshalb die Apriorität des Kausalbegriffs und behauptete: alle apriorischen Erkenntnisse wären nichts als falsch gestempelte gemeine Erfahrungen, die sämtlich auf Gewohnheit beruhen.

Um also den großen und gefährlichen Skeptiker zu widerlegen, hätten seine Gegner
    "sehr tief in die Natur der Vernunft, sofern sie bloß mit reinem Denken beschäftigt ist, hineindringen müssen, welches ihnen ungelegen war." (ebd. Seite 6)
Sie hätten die Natur des "reinen Denkens" ergründen und auf sichere Prinzipien basieren sollen, gerade so wie es KANT in seinem Werk getan hat, "welches das reine Vernunftvermögen in seinem ganzen Umfang und Grenzen darstellt." (ebd. Seite 8)
    "Denn jene Kritik muß als Wissenschaft, systematisch und bis zu ihren kleinsten Teilen vollständig dastehen, ehen noch daran zu denken ist, Metaphysik auftreten zu lassen, oder sich auch nur eine entfernte Hoffnung derselben zu machen." (ebd.)

    Denn "reine Vernunft ist eine so abgesonderte in ihr selbst so durchgängig verknüpfte Sphäre, daß man keinen Teil derselben antasten kann, ohne all die übrigen zu berühren, und nichts ausrichten kann, ohne vorher jedem seine Stelle und seinen Einfluß auf den andern bestimmt zu haben." (ebd. Seite 10)
Was unseren KANT außerdem noch zu dem großen Unternehmen anspornte, war das verführerische Beispiel der Mathematik und Naturwissenschaft. "In jenem Versuch, das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern, und dadurch, daß wir nach dem Beispiel der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution in derselben vornehmen, besteht nun das Geschäft der Kritik der reinen spekulativen Vernunft." (Kr. d. r. V. Vorwort, Seite 31)
    "Ich sollte meinen, die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch eine auf einmal zustande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind, wären merkwürdig genug, um dem wesentlichen Stück der Umänderung der Denkart, die ihnen so vorteilhaft geworden ist, nachzusinnen, und ihnen soviel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zum Versuch nachzuahmen." (Kr. d. r. V., Seite 27)
Von dem glänzenden Erfolg dieser beiden Wissenschaften angelockt, arbeitete er dann zwölf volle Jahre an seinem unsterblichen Werk und wir glauben ihm gerne, daß
    "viel Beharrlichkeit und auch selbst nicht wenig Selbstverleugnung dazu gehörte, die Anlockung einer früheren günstigen Aufnahme der Aussicht auf einen zwar späten, aber dauerhaften Beifall nachzusetzen." (Prolegomena, Seite 10)
57 Jahre zählte KANT, als seine "Kritik" 1781, dem Todesjahr unseres großen Kunstkritikers LESSING, erschien. Er hatte also den besten Teil seines Lebens dieser aufreibenden Arbeit gewidmet und dadurch faktisch gezeigt, wie sehr ihm "das Wohl der Wissenschaft, die ihn so lange beschäftigt hielt, am Herzen lag." Er schloß jedoch hiermit seine schriftstellerische Tätigkeit noch nicht ab, sondern war einerseits stets darauf bedacht, den großartig angelegten Bau nach allen seinen Teilen auszuführen und andererseits
    "auf alle Winke, es sei von Freunden oder Gegnern, sorgfältig zu achen, um sie in der künftigen Ausführung des Systems dieser Propädeutik gemäß zu benutzen." (Kr. d. r. V., Seite 44)
Es ist fast rührend zu hören, was der alternde KANT in Bezug auf diese beiden Punkte in der Vorrede zur zweiten Ausgabe von sich selbst sagt:
    "Da ich während dieser Arbeiten schon ziemlich tief ins Alter fortgerückt bin (in diesem Monat (1) ins vierundsechzigste Jahr), so muß ich, wenn ich meinen Plan, sowohl die Metaphysik der Natur als auch der Sitten, als Bestätigung der Richtigkeit der Kritik der spekulativen wie auch der praktischen Vernunft, zu liefern, ausführen will, mit der Zeit sparsam verfahren, und die Aushellung sowohl der in diesem Werk anfangs kaum vermeidlichen Dunkelheiten, als auch die Verteidigung des Ganzen von den verdienten Männern, die es sich zu eigen gemacht haben, erwarten." (Kr. d. r. V., Seite 44)
Aus all diesen Aussprüchen erkennt man zur Genüge, wie tief der bescheidene Mann von der Größe und Tragweite seines gelungenen Unternehmens überzeugt und erfüllt war. Hielt er schon die bloße Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetisch für "klassisch" (Prolegomena, Seite 17), welche hohe Meinung wird er erst von der eigentlichen Kritik als "vollendetem Werk", wie er sie selbst bezeichnet, gehabt haben? (ebd. Seite 11) Er glaubte nicht nur, daß keine "Widerlegung" derselben möglich ist, sondern auch, daß nicht einmal ein "Widerspruch" darin vorkommt. "Widerlegt zu werden ist in diesem Fall keine Gefahr, wohl aber nicht verstanden zu werden." (Kr. d. r. V. , Seite 44) Auch die Widersprüche sind bloß "scheinbar"; sie entstehen nur "wenn man einzelne Stellen, aus ihrem Zusammenhang gerissen, gegen einander vergleicht", "sind aber demjenigen, der sich der Idee im Ganzen bemächtigt hat, sehr leicht aufzulösen." (ebd. Seite 45) Endlich wie im Hinblick auf die Naturwissenschaft kein Gedanke erschütternder und großartiger war, als die kopernikanische Auffassung der ganzen Sphärenwelt, gerade so groß und aller bisherigen Anschauung zuwider ist seine vom philosophischen Standpunkt aus neue aufgefasste Darstellung der gesamten Erscheinungswelt.
    "Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen." (Kr. d. r. V., Seite 28)
Dürfen wir uns noch wundern, wenn KANT bei solchen Anschauungen später keinen Widerspruch mehr ertragen konnte, wenn er denjenigen, die über Dunkelheit klagen, "Blödsichtigkeit" vorwirft oder diejenigen, welche dreist gegen seine "kritischen Grundsätze" entscheiden und mitsprechen, als "pecus" [Kleinvieh - wp] bezeichnet und selbst einen FICHTE seinen "tölpelhaftesten Schüler" nennt?

Aus all dem geht deutlich hervor, was KANT bewogen hat, das große reformatorische Werk zu unternehmen, die Dinge nicht, wie sie ansich sind, sondern als Erscheinungen zu betrachten und alle Wahrheit und Gewißheit von unserer Subjektivität abhängig zu machen. Es ist einerseits sein streng wissenschaftlicher Geist und andererseits seine tief sittliche Natur. "Was kann ich wissen?" "Was soll ich tun?" sind die beiden großen und wichtigen Fragen, die er an sich selbst stellt. Als dritte reiht sich daran: "Was darf ich hoffen?" Jene beiden können nur dann zur Zufriedenheit beantwortet werden, wenn wir sowohl die Gesetze des Erkennens, als auch die des Handelns in uns selbst tragen. Sind die Gesetze der wissenschaftlichen Einsicht, sowie des sittlichen Wollens nicht a priori, sind sie bloß aus der Erfahrung abstrahiert, so entbehren sie aller Wahrheit und objektiven Gültigkeit; es kommt ihnen nicht der Charakter und Allgemeinheit zu, sondern sie sind bloß empirisch und zufällig. Damit fällt alle wissenschaftliche und sittliche Überzeugung. Der Mensch hat weder einen festen Haltepunkt, noch ein sicheres Ziel. Er ist einem beständigen Schwanken und Zweifeln ausgesetzt, und sein ganzes Lebensglück, das nur in einer unerschütterlichen Gewißheit der Vernunft und streng sittlicher Betätigung seiner moralischen Anlagen besteht, ist für immer dahin. Das Verdienst der Kritik besteht also nach KANT hauptsächlich darin, durch Entdeckung und Entwicklung apriorischer, d. h. allgemeingültiger und notwendiger Erkenntnisse jenem Schwanken in theoretischer wie in praktischer Hinsicht auf immer ein Ende gemacht zu haben. Durch sie allein sind die höchsten Güter der Menschheit gerettet und gleichsam die unentbehrliche Hilfsmittel zu unserer einzig warhen Glückseligkeit zurückerobert.
    "Durch diese allein kann dem Materialismus, Fatalismus, Atheismus, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben, die allgemein schädlich werden könnten, zuletzt auch dem Idealismus und Skeptizismus, die mehr den Schulen gefährlich sind und schwerlich ins Publikum übergehen können, selbst die Wurzel abgeschnitten werden." (Kr. d. r. V., Seite 39)
Es ist schon von "unschätzbarem Vorteil" sagt KANT, wenn man bloß in Anschlag bringt, daß durch diese Kritik
    "allen Einwürfen gegen Sittlichkeit und Religion, auf sokratische Art, nämlich durch den klarsten Beweis der Unwissenheit der Gegner auf alle künftige Zeit ein Ende gemacht wurde." (Kr. d. r. V., Seite 37)

    "So behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht stattgefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Anbetracht der Dinge-ansich belehrt, und alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte." (Kr. d. r. V., Seite 56)

    "Ich kann Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Zweck des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwänglicher Einsichten benehme." (ebd.)

    "Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d. h. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen,' ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist." (ebd.)
Aus dieser letzteren Äußerung ist klar zu erkennen, wie grundfalsch die Behauptung ist, KANT habe der Metaphysik ein Ende gemacht und den Dogmatismus zerstört. Was ihm am tiefsten zu Herzen ging, war gerade die Metaphysik [hv_meta] und was er am wärmsten empfohlen hat, war WOLFFs dogmatische Methode in Verbindung mit der kritischen.
    "Die Kritik ist nicht dem dogmatischen Verfahren der Vernunft in ihrem reinen Erkenntnis als Wissenschaft entgegengesetzt (denn diese muß jederzeit dogmatisch, d. h. aus sicheren Prämissen a priori streng beweisend sein), sondern dem Dogmatismus, d. h. der Anmaßung, mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen (der philosophischen), nach Prinzipien, sowie sie die Vernunft längst im Gebrauch hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, wodurch sie dazu gelangt ist, allein fortzukommen. Dogmatismus ist also das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens." (Kr. d. r. V., Seite 39)
KANT wollte also mit seiner Kritik, trotz seiner Appellation an den Glauben, nicht etwa einer Popularphilosophie oder gar dem Skeptizismus, "die mit der ganzen Metaphysik kurzen Prozeß machen", das Wort reden;
    "vielmehr ist die Kritik die notwendige vorläufige Verandstaltung zur Beförderung einer gründlichen Metaphysik als Wisenschaft, die notwendig dogmatisch und nach der strengsten Forderung systematisch, folglich schulgerecht (nicht populär) ausgeführt werden muß." (Kr. d. r. V., Seite 39)
Diese schulgerechte Pünktlichkeit als unerläßtliche Bedingung zur Ausführung des großen Baues der Metaphysik ist aber nur möglich, wenn man im wolffischen Geist und nach wolffischer Methode zu Werke geht und dabei selbstverständlich die Kritik unseres Erkenntnisorgans beständig im Auge behält.
    "In der Ausführung des Plans, den die Kritik vorschreibt, d. h. im künftigen System der Metaphysik, müssen wir dereinst der strengen Methode des berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen, der zuerst das Beispiel gab und durch dieses Beispiel der Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland wurde, wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen ist, der auch eben darum eine solche, als Metaphysik ist, in diesen Stand zu versetzen vorzüglich geschickt war, wenn es ihm beigefallen wäre, durch eine Kritik des Organs, nämlich der reinen Vernunft selbst, sich das Feld vorher zu bereiten." (Kr. d. r. V. Seite 40)
Diesen Mangel schreibt er nicht einmal WOLFF, sondern vielmehr "der dogmatischen Denkungsart des Zeitalters" zu, worüber jedoch die Philosophen sowohl seiner als auch aller vorigen Zeiten einander nichts vorzuwerfen haben. Seit KANT wurde WOLFF eine solche Anerkennung nicht mehr zuteil, was aber nicht seiner Verdienstlosigkeit, sondern bloß einer Nichtbeachtung seiner Werke und dem Vorurteil gegen seine dogmatische Methode beizumessen ist. KANT selbst wollte mit seinem kritischen Verfahren weiter nichts als eine Ergänzung und Vervollsständigung der wolffischen Methode bezwecken.
    "Diejenigen, welche seine Lehrart und doch zugleich auch das Verfahren der Kritik der reinen Vernunft verwerfen, können nichts anderes im Sinn haben, als die Fesseln der Wissenschaft gar abzuwerfen, Arbeit in Spiel, Gewißheit in Meinung und Philosophie in Philodoxie [Liebe zur Behauptung - wp] zu verwandeln." (Kr. d. r. V., Seite 40)
Wenn daher AENESIDEMUS KANT vorwirft, er habe den Dogmatismus nicht überwunden, so ist dieser Vorwurf entweder aus Mißverständnis oder Sophisterei hervorgegangen. KANT wollte ihn gar nicht überwinden, weil er überhaupt nicht zu überwinden ist, indem es gar keine Philosophie gibt, noch geben kann, die ganz voraussetzungslos beginnen könnte. Aber zu zeigen, wo die Voraussetzungslosigkeit aufhört, und welche Gründe für die Unmöglichkeit einer weiteren Analyse sich vorbringen lassen, ist eben Aufgabe und der Zweck der Kritik. Dies hat KANT in redlichstem Streben und in echt wissenschaftlichem Geist versucht und dadurch das Beispiel und den Anstoß gegeben, diese erste unerläßliche Bedingung aller gründlichen Erkenntnis auf allen Gebieten des Wissens zu erfüllen.

In der Unterscheidung der Dinge als Gegenstände der Erfahrung von eben demselben als Dingen-ansich liegt der Schwerpunkt der kritischen Philosophie. Die Ausführung dieser Unterscheidung ist eben die Kritik der reinen Vernunft; die Folgerungen aus derselben bilden Inhalt der übrigen Werke. Gelingt es oder ist es mir in dem vorliegenden Traktat gelungen, diese Unterscheidung nach KANTs eigenen Grundsätzen als eine unhaltbare nachzuweisen, so ist seine ganze Philosophie im Fundament erschüttert und folglich einer gründlichen Reform zu unterwerfen. Damit ist aber durchaus nicht gesagt, daß deswegen auch seine Kritik oder sein Standpunkt oder das Hauptresultat vollständig überwunden oder etwa gar seine Bemühung umsonst gewesen ist; vielmehr ergeht an uns die Forderung, das von ihm aufgestellte Problem von Neuem aufzunehmen, sich in den Kernpunkt zu vertiefen und durch eine gründlichere Analyse der Begriffe und Bestimmungen die ganze Aufgabe einen Ruck vorwärts zu bringen. KANT selbst hielt ursprünglich die Kritik bloß für ein "Propädeutik" [Vorschule - wp] (ebd. Seite 44) oder für einen "Traktat von der Methode", nicht für das "System der Wissenschaft selbst". (ebd. Seite 31) Mehr ist sie in der Tat nicht.
    "Kants Grundgedanke oder genauer bezeichnet der Ausgangspunkt seines kritischen Denkens ist es", bemerkt F. A. Lange mit Recht, "dem eine Epoche machende und für alle Zeiten gültige Bedeutung zuzuschreiben ist, während die ganze Ausführung des Systems von der luftigen Begriffsarchitektur der meisten deutschen Philosophen sich nur durch etwas solideres Gefüge unterscheidet." (F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, erste Auflage, Seite 233)
Es sind bald hundert Jahre, daß dieses merkwürdige Buch erschienen ist und seitdem hat sich eine ganze Periode in der Geschichte der Philosophie, und zwar eine der größten nach allen Seiten hin abgewickelt. Unsere Aufgabe ist nun zunächst, die Prinzipien zu untersuchen, die Konsequenzen zu verfolgen, mit einem Wort, genetisch oder historisch-kritisch zu Werke zu gehen, um zu sehen, mit welchem Recht jene Prinzipien aufgestellt und diese Konsequenzen gezogen wurden. Ich glaube in dieser Beziehung einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des Erkenntnisproblems geliefert zu haben und bin mit KANT vollständig der Überzeugung,
    "daß derjenige, der Metaphysik zu beurteilen, ja selbst eine abzufassen unternimmt, den Folgerungen, die hier gemacht werden, durchaus ein Genügt tun muß, es mag nun auf die Art geschehen, daß er meine Auflösung annimmt oder sie auch gründlich widerlegt und eine andere an deren Stelle setzt - denn abweisen kann er sie nicht."

LITERATUR - Gideon Spicker - Kant, Hume und Berkeley, Berlin 1875
    Anmerkungen
    1) Er wurde am 22. April 1724 geboren.