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Kants Lehre vom inneren Sinn und seine Theorie der Erfahrung [2/2]
III. K a p i t e l Der innere Sinn 1. Der Begriff des inneren Sinnes bietet ungleich größere Schwierigkeiten, als der des äußeren. Trotz der eminenten Bedeutung, welche die Lehre vom inneren Sinn für das ganze System der Transzendentalphilosophie besitzt, sind die grundlegenden Äußerungen KANTs über diesen Punkt verhältnismäßig spärlich und unzureichend. Mit Recht hat HERBART bemerkt, KANT bringe den inneren Sinn in den ersten Zeilen "nicht eben in der Meinung, ein Problem aufzustellen, sondern vielmehr den Grundstein zu allem Folgenden zu legen." (1) Der Begriff des inneren Sinns ist tatsächlich in zwei wesentlich verschiedenen Auffassungen im kantischen System wirksam, welche allerdings in der Darstellung unterschiedslos durcheinanderlaufen und deren Trennung nur durch die Berücksichtigung ihrer Wirkung auf die Erfahrungslehre möglich ist. Die Differenz dieser beiden Auffassungen läßt sich am kürzesten ausdrücken durch das Verhältnis des äußeren Sinns zum inneren, welcher einmal das Verhältnis der Koordination, das anderemal ein Verhältnis der Subordination ist: dort der äußere Sinn neben dem inneren als selbständige und gleichberechtigte Erkenntnisquelle, hier der äußere Sinn als bloße Teilsphäre des inneren. Es wird unsere nächste Aufgabe sein, durch eine systematische Analyse der kantischen Begriffsbestimmungen den Gegensatz sowie den Zusammenhang der beiden divergierenden Auffassungen klarzustellen. 2. Jene Auffassung, welche den inneren Sinn in eine Parallele zum äußeren stellt, ist ohne Zweifel die ursprüngliche; sie ist eben jene, welche an LOCKE anknüpft. Wenn die Seele auf die inneren Vorgänge in ihr selbst "blickt" und sie betrachtet, so versehen sie den Verstand mit einer anderen Art von Vorstellungen, die von Außendingen nicht erlangt werden können; dahin gehörten das Wahrnehmen, Denken, Zweifel, Glauben, Begründen, Wissen, Wollen und all jene verschiedenen Tätigkeiten der eigenen Seele. Indem wir uns deren bewußt sein und sie in uns betrachten, so empfängt unser Verstand dadurch ebenso bestimmte Vorstellungen, wie von den unsere Sinne erregenden Körpern. Diese Quelle von Vorstellungen hat jeder ganz in sich selbst, und obgleich hier von keinem Sinn gesprochen werden kann, da sie mit äußerlichen Gegenständen nichts zu tun hat, so ist sie doch dem Sinn sehr ähnlich und könnte ganz richtig innerer Sinn genannt werden. Allein da ich jene Quelle schon Sinneswahrnehmung nenne, so nenne ich dieselbe Selbstwahrnehmung, da die von ihr gebotenen Vorstellungen von der Seele nur durch die Wahrnehmung ihres eigenen Tuns in ihr gewonnen werden können. (2) Wir haben also zwei voneinander unabhängige Erkenntnisquellen, Sensation und Reflexion, verschieden durch den Ursprung ihrer Vorstellungen, geeint durch ihre gemeinsame Existenz in ein und derselben "Seele" (3). In der gleichen Auffassung wurzelt auch KANTs Begriff des inneren Sinnes: Dieser ist das Organ des Selbstbewußtseins im Gegensatz zum äußeren Sinn als dem Organ der eigentlichen (objektiven) Sinneswahrnehmung. Es fragt sich nun, inwieweit der angestrebte Parallelismus der beiden Sinne von KANT tatsächlich festgehalten wurde. Ist ein solcher auf kantischer Voraussetzung überhaupt durchführbar? 3. KANT definiert den inneren Sinn als jene "Eigenschaft unseres Gemüts", mittels deren "das Gemüt sich selbst oder seinen inneren Zustand anschaut". Der innere Sinn gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst als einem Objekt; allein es (er?) ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist, so daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird." (Kr. d. r. V., Seite 58) Gleich hier am Beginn tritt uns ein auffallender Gegensatz der beiden Sinne im Hinblick auf ihre "Gegenstände" entgegen.
Alle Vorstellungen, sie mögen nur äußere Dinge zum Gegenstand haben oder nicht, gehören doch ansich, als Bestimmungen des Gemüts, zum inneren Zustand (Kr. d. r. V., Seite 67) (6). Aller Zuwachs der empirischen Erkenntnis und jeder Fortschritt der Wahrnehmung ist nichts als eine Erweiterung der Bestimmung des inneren Sinnes (Kr. d. r. V., Seite 186). Gedanken, Bewußtsein, Begierden usw. denkender Wesen können wir nicht äußerlich anschauen; denn dieses gehört alles vor den inneren Sinnen (Kr. d. r. V., Seite 591). Als "Prädikate des inneren Sinnes" werden ferner aufgeführt: Gedanken, Gefühl, Neigung oder Entschließung; Vorstellungen, Wille; Vorstellungen und Denken (Kr. d. r. V., Seite 592); meine Gedanken (Kr. d. r. V., Seite 599); die Empfindungen, Lust und Schmerz (Kr. d. r. V., Seite 601); des Bewußtseins überhaupt (Prolegomena, Seite 57 A). Wie die Außenwelt Gegenstand er "Körperlehre, als einer Physiologie der Gegenstände äußerer Sinne" ist, so bildet diese Innenwelt den Gegenstand der "Seelenlehre, als der Physiologie des inneren Sinnes" (Kr. d. r. V., Seite 605). Jene zieht die "ausgehnte", diese die "denkende Natur" in Erwägung (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Werke IV, Seite 357). Nur jene hat einen rationalen Teil und ist "eigentliche Wissenschaft", diese ist und bleibt empirische Psychologie (7). Es ist von Wichtigkeit, diese methodologische Aufteilung der wissenschaftlichen Behandlung der beiden Sinnesgebiete im Auge zu behalten. Unter jenen inneren Erscheinungen lassen sich vier Gruppen unterscheiden: Die erste Gruppe umfaßt - in irgendeiner Weise - auch die äußeren Erscheinungen, die zweite bezieht sich auf Gedanken und Vorstellungen, die dritte auf den Willen, die vierte endlich auf die Gefühle der Lust und Unlust. Im Allgemeinen hat als Kennzeichen einer Bestimmung des inneren Sinnes zu gelten:
2. daß sie sinnlich ist, d. h. auf Empfindungen beruth; 3. daß sie in einem Zeitverhältnis vorgestellt wird; 4. daß sie zugleich ein Verhältnis ihres Gegenstandes zum inneren Zustand des Subjekts ausdrückt; 5. endlich - wenn der Parallelismus der beiden Sinne festgehalten wird - daß die innere Erscheinung nicht im äußeren Sinn ihren Ursprung haben kann. Unter diesem Gesichtspunkt erhebt sich zunächst die Frage, mit welchem Recht und in welchem Sinn auch die äußeren Erscheinungen zum inneren Sinn gezählt werden können? Der von KANT tatsächlich ergriffene Ausweg, den äußeren Sinn ganz und gar in den inneren aufgehen zu lassen, bleibt - weil der parallelen Auffassung widerstreitend - vorläufig außer Betracht. Ansich genommen, d. h. eben als Gegenstände unseres äußeren Sinnes, bleiben die äußeren Erscheinungen vom Gebiet des inneren Sinnes offenbar ausgeschlossen. Die Körper im Raum sind keine inneren Zustände in unserer Seele, die Physik ist kein Zweig der empirischen Psychologie. Daß jene Körper selbst wieder Erscheinungen sind und als solche von KANT auch "Vorstellungen" genannt werden, tut nichts zur Sache: sie sind Vorstellungen in transzendentaler Bedeutung und gehören unserem transzendentalen Ich an, dessen Organ, der äußere Sinn, selbst ein transzendentales Vermögen ist. Daß auch den äußeren Erscheinungen eine Zeitordnung eigen ist, bleibt vorläufig gleichfalls außer Betracht, denn die objektive Zeitbestimmtheit der Geschehnisse in der Außenwelt ist nicht identisch mit dem subjektiven Zeitverhältnis unseres empirischen Bewußtseins und dem Beständigen Wechsel innerer Vorgänge. Wohl aber sind die Wahrnehmungen, sowie die Erinnerungs- und Phantasievorstellungen, welche sich auf jene Außenwelt beziehen, als solche jederzeit auf Gegenstand unseres empirischen Bewußtseins und stehen zum inneren Zustand unserer "Seele" in ganz bestimmten Verhältnissen. Als empirische Bewußtseinsinhalte sind sie auch in den beständigen Wechsel aller inneren Erscheinungen einbezogen. "Unsere Apprehension [Zusammenfassung - wp] des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv und also immer wechselnd", mag dieses Mannigfaltige "ansich" sukzessiv sein oder nicht. Die Außenwelt, insofern sie äußere Wahrnehmung ist, gehört also zweifellos in gewisser Weise auch dem inneren Sinn an. Nun fragt es sich eben, wie die Zugehörigkeit der äußeren Erscheinungen zum äußeren Sinn (als Körper im Raum) zu vereinbaren ist mit der Zugehörigkeit ebenderselben Erscheinungen (als Wahrnehmungen in der Zeit) zum inneren Sinn, ohne die Selbständigkeit des äußeren Sinnes gegenüber dem inneren aufzuheben? Der bequemste Ausweg schien die Annahme einer inhaltlichen Doppelexistenz dieser äußeren Erscheinungen zu sein: als Erscheinungen im Raum in transzendentaler Bedeutung und als Wahrnehmungen dieser Erscheinungen in einem empirischen Sinn; jene könnten dann als "Körper" zum äußeren, diese als "Bestimmungen des Gemüts" zum inneren Sinn gerechnet werden. In Wirklichkeit würde aber dieser Ausweg, welcher sich mit der hypothetischen Konjunktur Vaihingers (8) sehr nah berührt, nur einer Verdoppelung der vorliegenden Schwierigkeit gleichkommen. Die äußeren Erscheinungen in transzendentaler Bedeutung würden einerseits - wie später gezeigt werden soll - ebenso als "Erscheinungen" einem inneren Sinn in transzendentaler Bedeutung zugehören, wie andererseits äußere Wahrnehmung in einem empirischen Subjekt einen äußeren Sinn in empirischer Bedeutung voraussetzt, der dann wieder seinem Inhalt nach zum empirischen inneren Sinn in dem gleichen fraglichen Verhältnis stehen würde, wie bisher. Überdies würde diese Annahme einen zweifachen Raum voraussetzen: einen Raum als Form des transzendental- und einen Raum als Form des empirisch-äußeren Sinnes. Auch der letztere Raum wäre natürlich außerhalb des empirischen Subjekts und unserer Wahrnehmungsinhalte, folglich "außer uns", daher sich die Schwierigkeit, wie dasjenige, was empirisch "außer uns" ist, zugleich empirisch "in uns" sein kann, nur wiederholen würde. Alle diese Schwierigkeiten scheinen vermieden werden zu können, wenn man an die Stelle einer zweifachen Existenz eine doppelte Zuordnung der äußeren Erscheinungen in der Weise setzt, daß sie ihrem Gegenstand nach dem äußeren, der Art ihres Gegebenwerdens nach aber dem inneren Sinn angehören. Diese Wendung setzt die begriffliche Trennung der äußeren Wahrnehmung in Wahrnehmungsinhalt und Wahrnehmungsfunktion voraus; jener ist äußere, diese innere Erscheinung. Sie fällt im Wesentlichen mit der Auffassung LOCKEs vom inneren Sinn zusammen: Nicht die äußere Wahrnehmung ihrem Inhalt nach, sondern das Bewußtsein der wahrnehmenden Tätigkeit der Seele gehört dem inneren Sinn an. Die äußere Erscheinung ist dann: Wahrnehmung (unmittelbare Empfindungswirklichkeit) im Raum und Bewußtsein dieses Wahrnehmens (nur) in der Zeit; mit anderen Worten: das "Wahrnehmen" im Raum wird selbst wieder wahrgenommen und diese zweite Wahrnehmung ordnet sich als eine "innere" nur im Zeitverhältnis (9). Die Anschauungen des inneren Sinnes, sofern sie sich auf jene des äußeren beziehen, sind also zeitlich geordnete Empfindungen vom Gegebenwerden der Anschauungen im äußeren Sinn. Diese Empfindungen bilden die "Materie" der inneren Anschauungen, die Zeit ist deren "Form". Nach Analogie des äußeren Sinnes werden auch diese inneren Empfindungen auf eine Affektion zurückgeführt werden müssen. das Affizierende kann hier aber weder das Ding-ansich, noch die äußere Erscheinung als solche, sondern nur das transzendentale Subjekt selbst im Akt der Erzeugung seiner äußeren Anschauungen sein. Unser innerer Sinn muß also durch jene transzendental-psychologische Einwirkung, welche das Subjekt als äußerer Sinn durch die Dinge-ansich erleidet, irgendwie mitaffiziert werden, und das Produkt dieser Affektion in Verbindung mit der bereitliegenden Zeitform ist das Bewußtsein des empirischen Ich, durch den äußeren Sinn irgendwie bestimmt worden zu sein, d. h. das Beußtsein des äußeren Wahrnehmens. Das Gemüt affiziert sich selbst durch das "Setzen" seiner Vorstellungen, wie es auch die Vorstellung der Zeit selbst durch eine solche Affektion erzeugt (Kr. d. r. V., Seite 77). Das Verhältnis von äußerem und inneren Sinn wäre demnach nicht so zu denken, daß die Erscheinungen des ersteren zugleich solche des letzteren sind, sondern so, daß ihnen jederzeit eine innere Erscheinung genau korrespondiert. Der Wahrnehmungsinhalt ist gänzlich "außer uns", das Bewußtsein des Wahrnehmens gänzlich in uns. Nur mittels der inneren Anschauung erfassen wir auch die äußeren in der "Vorstellungskraft", d. h. im empirischen Bewußtsein (Kr. d. r. V., Seite 67). Beide Arten von phänomenalen Erkenntnisgebilden sind ihrer Beschaffenheit nach ganz ungleichartig, entsprechen sich aber vollkommen vermöge ihres gemeinsamen Ursprungs und ergänzen sich gegenseitig zur vollendeten sinnlichen Wahrnehmung. Eine solche Art von "psycho-physischem Parallelismus" bietet allein die Möglichkeit, die ursprünglichen, mit LOCKE übereinstimmenden Ansätze einer paritätischen Auffassung beider Sinne weiterzuführen. Ein Vergleich der Erscheinungen der beiden Sinne ergibt aber einen bemerkenswerten Unterschied: der Wahrnehmungs-Inhalt, welcher dem äußeren Sinn angehört, ist eine unmittelbare Empfindungswirklichkeit im Raum. Die Wahrnehmung ist selbst das Wirkliche im Raum (Kr. d. r. V., Seite 602). Es gibt nichts außerhalb der äußeren Erscheinung, worauf diese sich beziehen könnte, oder womit sie übereinzustimmen hätte. Der Raum ist die Daseinsform der empirischen Außenwelt. Eine ebenso primäre Bewußtseinstatsache ist auch das Wahrnehmen selbst, als Funktion betrachtet; die Zeit ist die Daseinsform aller Betätigungen unseres Wahrnehmungsvermögens. Im Gegensatz dazu aber ist die ihr entsprechende Bestimmung des inneren Sinnes sekundären Charakters: sie ist eine Wahrnehmung unseres Wahrnehmens, eine Erscheinung dieses inneren Vorgangs. Als innerer Vorgang betrachtet, ist natürlich auch diese innere Wahrnehmung ein primäres Phänomen, sie ist aber auch sekundären Charakters ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung nach, insofern sie nicht mit ihrem Gegenstand zusammenfällt. Gilt aber die Zeit als die Form des inneren Sinns, so ist auch die Zeitbestimmung, in welcher uns die primären Vorgänge in unserer Seele erscheinen, von sekundärer Art; die Zeit unseres inneren Sinnes ist dann eine Vorstellungs- und keine Daseinform der inneren Geschehnisse. 5. Eine besondere Stellung in Bezug auf den inneren Sinn nehmen die "Vorstellungen" sensu stricto, d. h. die Erinnerungs-, Phantasie- und Traumvorstellungen ("Einbildungen") ein. Zu ihnen müssen auch die reinen Anschauungen des Raums und der Zeit gerechnet werden, sofern sie als Vorstellungen dem empirischen Bewußtsein angehören. Obwohl unsere Vorstellungen zum größten Teil äußere Gegenstände zum Inhalt haben, gehören sie doch insgesamt zweifellos der Innenwelt des vorstellenden Subjekts an. Es gilt als Täuschung, wenn der Mensch die Erscheinungen des inneren Sinnes für die äußere Erscheinung, d. h. Einbildungen für Empfindungen, nimmt (Anthropologie, WerkeVII, Seite 474). Nur solche räumliche Vorstellungen also, die auf äußerer Empfindung beruhen, gehören dem äußeren Sinn an. Jene Empfindungen also, die den "Einbildungen" zugrunde liegen, müssen durch "innere Ursachen gewirkt sein" (Kr. d. r. V., Seite 567). Der Ursprung unserer Vorstellungen ist die Einbildungskraft, und zwar die produktive, soweit es sich um die reinen Raum- und Zeitanschauungen handelt, die reproduktive im Hinblick auf alle übrigen Anschauungen, sofern diese nicht unmittelbar auf äußerer Wahrnehmung beruhen. Als empirische Bewußtseinsinhalte sind aber alle diese Vorstellungen Bestimmungen des inneren Sinnes, welcher im Hinblick auf sich selbst durch die Einbildungskraft bestimmt wird. Äußere Vorstellungen sind also äußere Anschauungen von lediglich innerer Empfindungswirklichkeit. Außerdem wird aber auch eine Selbstaffektion des Ich durch seine eigene vorstellende Tätigkeit stattfinden, und die ihr entsprechenden Empfindungen werden sich in der Zeit ordnen. Die Vorstellungen sensu stricto gehören also sowohl, auch wenn sie sich auf den Raum beziehen, ihrem Inhalt wie ihrer Funktion nach dem inneren Sinn an. In beider Hinsicht sind diese Vorstellungen sekundären Charakters, d. h. sie beziehen sich auf primäre Bewußtseinsinhalte: die Vorstellungsinhalte auf äußere Wahrnehmung, die innere Wahrnehmung unseres Vorstellens aber eben auf diese Seite unseres Seelenlebens (10). Für das empirische Bewußtsein sind "Vorstellungen" von "Wahrnehmungen" durch die "Spontaneität, die jede Einbildung charakterisiert" (Kr. d. r. V., Seite 199), hinreichend unterschieden. Hierin sind sie den nun zu besprechenden spontanen Bewußtseinsinhalten, den "Gedanken" nahe verwandt; sie sind offenbar mit jenen "Akzidenzien" [Merkmalen - wp] des inneren Sinnes gemeint, die mit dem Denken "analogisch" sind (Kr. d. r. V., Seite 228). 6. Wie verhält es sich nun mit diesem letzteren selbst, mit unseren Gedanken und Begriffen? Ohne Zweifel sind sowohl diese wir unser "Denken" selbst Vorgänge in unserer Seele und werden uns jederzeit im Zeitverhältnis bewußt. Insofern gehören sie auch offenbar zum inneren Sinne und werden auch von KANT an verschiedenen Stellen ausdrücklich zu diesem gerechnet (z. B. Kr. d. r. V., Seite 228; Fortschritte VIII. Seite 521 u. a.). Dagegen erhebt sich hier aber ein Bedenken, das bei den "Vorstellungen", die ansich schon Anschauungen waren, nicht vorhanden war. "Denken" ist ein Vermögen des Verstandes, sein Charakter ist Spontaneität. Dadurch ist es der Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgendeine Weise affiziert wird, mit ein Wort der Sinnlichkeit, geradezu entgegengesetzt. Folglich können die "Vorstellungen des Verstandes", d. h. unsere Gedanken und Begriff (Kr. d. r. V., Seite 143) als solche, obwohl wir uns ihrer im Zeitverhältnis bewußt werden, keine "innere empirische Anschauung" sein, die jederzeit sinnlich ist (Kr. d. r. V., Seite 291). Diese Schwierigkeit ist nur aufzulösen, wenn unser Denken ansich und das Bewußtsein dieses unseres Denkens zweierlei sind: dann kann das Denken selbst eine spontane Verstandesfunktion, unser empirisches Bewußtsein von ihm eine Anschauung des inneren Sinns sein. Da der innere Sinn das einzige Organ unserer empirischen Selbsterkenntnis ist, so ist es einleuchtend, daß auch die ansich unanschaulichen Bestandteile unseres Seelenlebens durch diese sinnliche Vorstufe allen Erkennens hindurchgegangen sein müssen, wenn eine Erkenntnis dieses unseres denkenden Selbst überhaupt möglich sein soll. Wir müssen empfinden, daß wir denken, um uns dieses Denkens überhaupt bewußt zu werden. Jedes Empfinden setzt aber eine Affektion voraus; folglich muß das Denken unseren inneren Sinn affizieren, damit dieser uns Anschauungen, oder besser gesagt, ein sinnliches Bewußtsein der Betätigung unserer Spontaneität liefern kann. Das ist auch offenbar KANTs Meinung:
7. Fast in noch höherem Maß als die "Gedanken" müssen "Wille und "Gefühl der Subsumtion unter den Begriff "Anschauung des inneren Sinnes" widerstreben. Sie gehören überhaupt nicht zu den Anschauungen (Kr. d. r. V., Seite 76). Besonders ist es der Wille, welcher dem Gebiet der Sinnlichkeit entrückt ist; die Spontaneität des sittlichen Wollens bildet das Grundthema der Kritik der praktischen Vernunft. Eine besondere Stellung nehmen, nach KANT, die Gefühle ein. Es gibt ihrer zwei Arten: ein "pathologisches", d. h. "ein auf den inneren Sinn gegründetes Gefühl der Lust und Unlust", und ein "moralisches", welches weder zum Vergnügen noch zum Schmerz gerechnet werden kann (Kritik der praktischen Vernunft, Werke V, Seite 84). Das letztere gehört somit offenbar nicht, oder zumindest nicht in gleicher Weise, zur Sinnlichkeit wie jenes. Das Gefühl im engeren Sinne, d. h. das Gefühl der Lust und Unlust, ist "eine dem inneren Sinn angehörige Rezeptivität" (Kritik der praktischen Vernunft, Werke V, Seite 62). Aber auch diese Rezeptivität ist gleichwohl nicht dieselbe, von welcher die transzendentale Ästhetik handelt:
8. Auffallend im Vergleich zum Inhalt des äußeren Sinnes ist die Dürftigkeit der Erscheinungen des inneren. Dort die bunte Mannigfaltigkeit der Körperwelt, ja das ganze Universum (als Gegenstand der Sinne), hier eine geringe Mannigfaltigkeit relativ einfacher, sukzessiv gegebener Empfindungen. Der Grund dieses Unterschiedes liegt vornehmlich in der Beschaffenheit der beiden Anschauungsformen. Der äußere Sinne verdankt die Stattlichkeit seiner Erscheinungen in erster Linie dem Raum; nur die räumlich geformte Empfindung verdient eigentlich den Namen "Anschauung". Die inneren Erscheinungen können nur in übertragener Bedeutung "Anschauungen" genannt werden; die Zeit fügt den inneren Empfindungen keine neue Bestimmung hinzu, sie ordnet dieselben nur. Jeder Versuch, die innere Anschauung zu eigentlicher Erkenntnis zu erheben, führt notwendig zu einer Beziehung auf äußere Erscheinungen. Der Außenwelt entlehnte Bilder müssen vikariierend [stellvertretend - wp] für die innere Anschauung eintreten. Sogar die Anschauungsform des inneren Sinnes selbst ist davon nicht ausgenommen:
Noch ein weiterer Nachteil im Vergleich zu den äußeren Erscheinungen erwächst dem inneren Sinn aus seiner Anschauungsform, die wieder in anderer Art die Heranziehung der ersteren notwendig macht. Da alle inneren Erscheinungen in der Zeit und nur in der Zeit Existenz haben, so ist allem empirischen Bewußtsein die Veränderung und der Wechsel wesentlich. Wenn irgendwo, so gilt das pantha rei [alles fließt - wp] vom Inhalt des inneren Sinnes. Alle Veränderung aber setzt "etwas Beharrliches in der Anschauung" voraus, "um auch selbst nur als Veränderung wahrgenommen zu werden." Im inneren Sinn wird nun aber gar keine beharrliche Anschauung angetroffen (Kr. d. r. V., Seite 107/8), eben weil die innere Wahrnehmung uns alles sukzessive darstellt. Selbst die einzige, scheinbar beharrliche Erscheinung, die "Vorstellung Ich", welche alle anderen begleitet und verknüpft, macht hiervon keine Ausnahme, denn wir können "niemals ausmachen, ob dieses Ich (ein bloßer Gedanke) nicht ebensowohl fließt, wie die übrigen Gedanken" (Kr. d. r. V., Seite 596).
9. Zusammenfassend können wir die Lehre vom inneren Sinn, von der Voraussetzung des Parallelismus beider Sinne ausgehend, etwa folgendermaßen interpretieren: der innere Sinn ist, analog wie der äußere, ein rezeptives Organ, welches Affektionen erleidet, dieselben in spezifischer Weise umgestaltet und sie dann dem Bewußtsein als "innere Erscheinungen" darbietet. Das Affizierende sind hier aber nicht Dinge-ansich, sondern die Tätigkeiten unserer eigenen Seele: das "Setzen" der Erscheinungen des äußeren Sinnes, das "Vorstellen", "Denken", "Fühlen" und "Wollen". Was diese in uns hervorrufen, sind Empfindungen, welche Analoga der "transzendentalen" Empfindungen des äußeren Sinnes sind und ihrer qualitativen Verschiedenheit nach sogar den fünf Sinnesqualitäten desselben entsprechen. Die "subjektive Bedingung, wie nach der Beschaffenheit der menschlichen Seele unsere innere Empfindungen gegeben werden" (Anthropologie, Werke VII, Seite 453), ist die Zeit, welche, wie der Raum, als eine Anschauungsform a priori in unserem Gemüt bereit liegt. Die aus jenem materialen und diesem formalen Faktor hervorgehende innere Anschauung ist ein Erkenntnisgebild, welches uns ein sinnliches Abbild der ansich unanschaulichen Vorgänge in unserer Seele darbietet. Diese Vorgänge selbst sind der Gegenstand unseres inneren Sinnes; was dieser uns liefert, sind Anschauungen von diesem Gegenstand. Die Gesamtheit der Erscheinungen des inneren Sinnes ist daher nicht identisch mit unserer Innenwelt, denn sie umfaßt nicht wie die primären inneren Prozesse, sondern nur die Vorstellungen von ihnen (13). Hierdurch unterscheidet sich der innere Sinn wesentlich vom äußeren, dessen Bestimmungen unmittelbar unsere Außenwelt sind und nicht bloß diese Außenwelt vorstellen. Insofern aber die primären Vorgänge in unserer Seele von uns doch als bekannt und als wirklich (nicht nur als "Grenzbegriff") und als unabhängig von ihrer inneren Wahrnehmung vorausgesetzt werden, sind die Erscheinungen des inneren Sinns eben durchweg sekunären Charakters: sie sind Erscheinungen unserer Innenwelt, nicht diese selbst. Der innere Sin in dieser Bedeutung ist daher selbst ein sekundäres Erkenntnisvermögen, d. h. er ist ein Wahrnehmungsorgan für eine Wirklichkeit, die selbst außerhalb seiner Sphäre liegt. Seine Erscheinungen stehen daher nicht mit den äußeren Wahrnehmungsinhalten, sondern mit den äußeren (sekundären) Vorstellungen auf erkenntnistheoretisch gleicher Stufe. Die erkenntnistheoretische Differenz gegenüber dem äußeren Sinn hat ihren Grund nicht in der Beschaffenheit des inneren Sinns selbst, sondern vielmehr in der besonderen Stellung, welche, nach KANT, die ihn affizierenden primären Seelenvorgänge einnehmen. Wenn alle Äußerungen unserer Spontaneität und sogar Lust und Unlust von unseren Wahrnehmungen derselben verschieden sind, so haben wir eigentlich ein doppeltes Selbst: ein sinnliches Ich, welches aus dem inneren Sinn hervorgeht, und ein Ich ansich, welches den Gegenstand unserer inneren, sinnlichen Wahrnehmung bildet. Unser Ich spaltet sich zum Zweck seiner Selbsterkenntnis - die wie jede Erkenntnis auf Anschauung, also hier auf innerer Anschauung, beruhen muß - in ein Doppel-Ich: in ein Ich als Subjekt und in ein Ich als Objekt des Erkennens.
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1) Herbart, Psychologie als Wissenschaft, Bd. 2, § 125, Seite 189 2) Locke, Essay on human understanding, II, 1. § 4 (Übersetzung von Rieglmann), 1894, Seite 125. 3) Über die Zweideutigkeit auch in Lockes Begriff des inneren Sinnes vgl. Cohen "Kants Theorie der Erfahrung", zweite Auflage, Seite 332. - Über den Gegenatz in der Auffasung des inneren Sinnes bei Locke und Leibniz und Kants Verhältnis zu beiden vgl. Volkmann, Psychologie, II, Seite 184f. 4) vgl. F. A. Langes Kritik des inneren Sinnes in "Logische Studien", 1877, Seite 37f. 5) Kant, Anthropologie aus pragmatischer Sicht (VII, Seite 465) wird der innere Sinn erklärt als jener, "wo der menschliche Körper durch das Gemüt affiziert wird". In der Antinomie (Kr. d. r. V., Seite 343) heißt es: "Denn euer Gegenstand - das All - ist bloß in eurem Gehirn und kann außerhalb desselben gar nicht gegeben werden." 6) vgl. auch Kr. d. r. V., Seite 567. 7) "Phaenomena recensuntur et exponuntur, primo sensus externi in physica, deinde sensus interni in psychologia empiria." [Phänomene werden besprochen und erklärt, zunächst der äußere Sinn in der Physik, dann der innere Sinn in der empirischen Psychologie. -wp] (Dissertation II, Seite 404) 8) Vaihinger in den bereits erwähnten "Straßburger Abhandlungen zur Philosophie", 1884: Zu Kants Widerlegung des Idealismus". 9) Daß auch diese Wahrnehmung des Wahrnehmens wieder wahrgenommen werden müßte, um ins Bewußtsein zu treten, usw. in indefinitum [endlos - wp], ist eine leicht bemerkbare Schwierigkeit, welche aber jeder Form der Lehre vom inneren Sinn eigen ist (vgl. Drobisch, "Empirische Psychologie", Bd. 2, § 56; Volkmann, Lehrbuch der Psychologie II, Seite 185f). Es ist aber doch ein bemerkenswerter Unterschied, ob die "wahrzunehmende Wahrnehmung" bereits selbst eine innere oder, wie im obigen Fall, äußere Wahrnehmung ist. Der letzteren kommt nämlich das Prädikat "Wahrnehmung" sensu stricto [im engeren Sinn - wp], überhaupt erst dann zu, wenn die bei ihrem Auftreten ins Spiel gesetzten Bewußtseins-Funktionen selbst bewußt geworden sind. Ohne diesen Umstand ist sie eben eine äußere Erscheinung, aber keine äußere Wahrnehmung. Die äußere Wahrnehmung ist überhaupt nur darum "Wahrnehmung", weil sie jederzeit zugleich innere Wahrnehmung ist. 10) Die "reinen Anschauungen" machen hiervor nur scheinbar eine Ausnahme, denn unsere Raum- und Zeitvorstellungen sind jederzeit empirisch und beziehen sich eben auf die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. 11) vgl. hierüber auch Otto Schneider, "Die psychologische Entwicklung des Apriori", 1883, Seite 29/30. 12) vgl. Vaihinger, Kommentar II, Seite 478 13) Diese Auffassung steht im Gegensatz zu derjenigen Vaihingers (Kommentar II, Seite 482), welcher die "Tätigkeitsakte des aktiven Teils des Ich" in Parallele setzt mit den Empfindungen des äußeren Sinns. Nach Vaihinger bilden also diese Tätigkeitsakte selbst das Mannigfaltige des inneren Sinns, der ihnen nur die Zeitvorstellung hinzufügt. Nach meiner Auffassung hingegen treten jene Tätigkeitsakte des Ich in Parallele zu den affizierenden Dingen ansich, während das Mannigfaltige des inneren Sinns aus den von ihnen angeregten Empfindungen besteht. Die Gründe, welche für diese Auffassung sprechen, ergeben sich aus meiner obigen Darstellung selbst. Übrigens spricht auch Vaihinger a. a. O. von der "Anschauung unserer inneren Vorgänge" (Kommentar II, Seite 478), welche doch offenbar etwas von diesen selbst verschiedenes sein muß. 14) vgl. Staudinger ("Noumena", 1884): "Die sorgfältige Unterscheidung zwischen dem Ich der Apperzeption und dem Ich des inneren Sinns bildet den Kern und Quellpunkt der Transzendentalphilosophie." (Seite 12) |