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LUDWIG GOLDSCHMIDT
Zur Würdigung der
Kritik der reinen Vernunft

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"Das gemeine Urteil bemerkt nicht, daß es seinen Inhalt - den Stoff, die Materie des Urteils - aus Wahrnehmungen schöpft, und glaubt es mit den Dingen selbst zu tun zu haben, die dem Verstand unmittelbar und ansich gegenüberstehen; ... Man übersieht, daß man sich selbst immer in der Erkenntnis mitdenken muß und daß ohne das Subjekt nichts für sich Erkennbares übrig bleibt. Für dieses naive Urteil ist die kantische Einsicht gleichgültig, weil es sich immer nur mit Gegenständen möglicher Erfahrung befaßt; erst der spekulierende Verstand will wissen, was er von den Dingen, sofern er vom Subjekt absieht, zu halten hat."

9. Die Kritik ist sofern zunächst eine Lehre von der Möglichkeit eines reinen, d. h. allgemeinen Objekts, bei dem naturgemäß von jedem empirischen Sonderinhalt abzusehen ist. Im Grunde hat die Lehre vom Raum und von der Zeit die Entscheidung schon gefällt; aber sie hat die Frage nach der Möglichkeit der Verbindung, der synthetischen Verstandesleistung, noch offen gelassen. Die Ästhetik erörtert Raum und Zeit als Erkenntnisprinzipien, aus denen synthetische Sätze a priori begriffen werden können; sie gibt nur "eines von den erforderlichen Stücken zur Auflösung" der kritischen Aufgabe und behält anderen Erwägungen die Frage nach der Synthesis selbst vor, die immer Sache des Verstandes ist. Für die Untersuchung des reinen Verstandes war aber notwendig vorauszusetzen, daß er zur Verbindung schon ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung "vor sich liegen habe". Im Begriff der Verbindung liegt schon, daß etwas verbunden wird, und es ist in der Kategorienlehre nur die Frage, wie durch Synthesis eine Verknüpfung unserer Wahrnehmungen zur Erfahrung, eine objektive Einheit derselben durch Begriffe, hergestellt werden kann.

Der Kern der transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe ist sofern die Lehre von der transzendentalen Apperzeption, der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins, in dem auch das Mannigfaltige der Anschauung erst seine Einheit findet. Alle Vorstellungen müssen meine Vorstellungen sein, ich muß sie in einem Bewußtsein zueinander hinzufügen können; der Verstand ist schließlich nichts anderes, als die Einheit des Bewußtseins im Mannigfaltigen, das er eben denkend verbindet und immer wieder als ihm gehörig wiedererkennt. Erkennen, in bestimmter für jedermann gültiger Weise urteilen heißt im Grund nur, gegebenes Mannigfaltiges zur objektiven Einheit der Appzerption zu bringen, und dieses objektive Urteilen hat so viele Arten, als es Formen, Funktionen, Verstandeshandlungen, d. h. aber Kategorien gibt, durch die wir eben die Urteilsformen deswegen unterscheiden, weil sie nichts anderes bezeichnen als die besonderen Weisen der Verknüpfung im Verstand. Diese Verbindung kommt dem in der Anschauung Gegebenen nicht für sich zu, der Verstand trägt seine Einheit erst in das Mannigfaltige hinein, und wenn dieses Mannigfaltige der Anschauung notwendig nur durch Denken zur Einheit des Bewußtseins gebracht werden muß, wenn es ferner nur im Raum und in der Zeit gegeben werden kann, so kann nur auf so viel verschiedenen Weisen ein Mannigfaltiges der Anschauung zur objektiven Einheit des Bewußtseins geführt werden, als es Kategorien gibt. Steht somit alles Mannigfaltige der Anschauung unter der Kategorie, so ist in allen unseren Wahrnehmungen schon die Einheit, die wir mit den Anschauungen des Raums und der Zeit notwendig verbinden müssen, wenn wir sie nicht in der transzendentalen Abstraktion als bloße Formen denken, in denen verbunden wird. Im allgemeinen Gegenstand der Mathematik und in ihrer Abstraktion haben wir schon die Vorstellungen des Raumes und der Zeit zur Einheit gebracht, und ihnen muß jede Wahrnehmung notwendig gemäß sein. Wir können also unsere Wahrnehmungen, die nur im Raum und in der Zeit möglich, damit aber schon den Kategorien des Verstandes gemäß sind, nur durch diese Verstandesbegriffe zur Erfahrung verknüpfen. Erfahrung bedeutet somit nichts anderes als die Anwendung der Kategorien auf unsere empirischen Anschauungen; sie sind ein apriorischer Besitz, aber dieser leitet seinen Rechtsgrund nur aus dem einzigen Gesichtspunkt ab, daß er zum empirischen, keinem Zweifel vernünftiger Menschen unterliegenden Gebrauch notwendig ist. "Erfahrung" sagt KANT mit bestimmter Fixierung dieses Begriffs "besteht in der synthetischen Verknüpfung der Erscheinungen (Wahrnehmungen) in einem Bewußtsein, sofern diese notwendig ist."

Das Resultat der Kategorienlehre ist also ein positives, sofern es für den Verstand nachweist, was ihm notwendig zugehört, es ist hinsichtlich der Metaphysik negativ, sofern es ihn auf den Erfahrungsgebrauch eingeschränkt zeigt. Gegenstände können uns nur in der Sinnlichkeit durch Anschauung gegeben und sie können nur in den Kategorien bestimmt gedacht werden. Anschauung und Begriff, Raum, Zeit und die Kategorien sind somit die Bedingungen der Erfahrung nach ihrer formalen Seite, sie sind somit die Konstituenten eines jeden möglichen Gegenstandes, sofern er erkannt werden soll. Man weiß damit von einem besonderen Objekt noch nicht, was dieses Objekt von jedem anderen unterscheidet; das zu bestimmen ist eben Sache des jedesmaligen Urteils, dessen empirischer Inhalt zufällig, d. h. anders denkbar, ist. Er kümmert uns auch hier nicht, wo nur die Frage ist, durch welche Begriffe Unterscheidung und somit Bestimmung möglich ist. Sieht man aber von aller, auch von der reinen Anschauung im Erkenntnisvermögen ab, so isoliert man den Verstand; man behält dann mit ihm nur den Gedanken an mögliche Objekte, ihre logische Form, nicht aber ein mögliches Objekt übrig. Der analytische Verstand, dessen Leistungen die formale Logik erschöpft, hat es nur mit der Ordnung und den Vergleichen der Vorstellungen zu tun, wenn sie schon erworben sind. Die transzendentale (synthetische) Logik beschäftigt sich mit den Begriffen und Urteilen von möglichen Objekten, die analytische mit möglichen Begriffen und Urteilen, deren Inhalt samt seiner realen Möglichkeit ihr gleichgültig ist; die Mathematik hat es mit möglichen Anschauungen zu tun, die sie nach willkürlichen selbst bestimmten Begriffen konstruieren kann, weil sie a priori des Raumes und der Zeit sicher ist.

10. Wenn nun der dogmatischen Metaphysik das wahre Wesen der Logik nicht minder als das der Mathematik und ihres in den Sinnen allgemein gegebenen Gegenstandes entgangen war, so hatte sie mit den Verstandesbegriffen ein Spiel getrieben, dessen tiefe Begründung in der Vernunft der kritische Philosoph zugleich mit dem Schein entdeckt, der uns der Ruhe vor metaphysischen Gaukelwerken zu berauben droht. Jene Kategorien erhalten nur einen Sinn, wenn man durch sie ein Mannigfaltiges der Anschauung zur Einheit bringt, d. h. wenn man einen Gegenstand möglicher Erfahrung bestimmt; sie werden sinnenleer, d. h. sinnlos, wenn man sie auf nichtsinnliche, vermeintliche Objekte anwendet. Das sinnenleere, nur gedachte "Objekt" ist der problematische Gegenstand, der für eine unsere Einsichten über alle Erfahrung erweiternde Metaphysik übrig bleiben würde, er ist das Ding-ansich. Wir haben die Fähigkeit, die Kategorien für sich zu denken, wie wir auch die leeren Formen der Urteile und überhaupt eine reine Vernunft in Gedanken abzusondern vermögen. Trotz allen Scharfsinns der vorkantischen dogmatischen Metaphysiker hat aber keiner von ihnen bemerkt, daß man durch reine Kategorien zwar denken muß, wenn man dem Gegenstand alle Sinnlichkeit ausgetrieben hat, daß man durch sie aber nichts Bestimmtes mehr zu denken vermag. Wir sagen: der Ofen ist die Ursache der erhöhten Temperatur im Zimmer. Hier ist durch die Kategorie der Ursache eine Aufeinanderfolge von Wahrnehmungen bestimmt. Was aber behaupten wir noch, wenn wir irgendeine Veränderung auf eine transzendentale (in die Dinge-ansich hineinverlegte) oder eine transzendente (außerhalb der Dinge überhaupt wirkende) Ursache beziehen? Wir haben zur Bestimmung immer nur Wahrnehmungen, d. h. in den Sinnen Gegebenes, dessen wir uns bewußt sind, unser Urteil bezieht sich in objektiv bestimmter Weise niemals auf etwas, das nicht wahrgenommen werden könnte oder nicht mit der Wahrnehmung in einen Zusammenhang zu bringen wäre, und wenn die in den Wahrnehmungen gegebenen Vorstellungen objektiv zu verknüpfen sind, so suchen wir die allgemeinen Bedingungen für diese synthetischen Behauptungen im erkennenden Subjekt, nicht aber in einem Objekt, das von unserer Sinnlichkeit losgelöst eben kein Objekt mehr für uns ist. Was vermöchten wir ohne Beharrliches in der Anschauung von einer Substanz zu prädizieren, welche Bestimmungen vermögen wir über eine causa sui [Ursache seiner selbst - wp] zu treffen?

Daß die dogmatische Metaphysik mit den Verstandesbegriffen einen transzendentalen Gebrauch versuchte, beruhte auf einem Irrtum, den sie mit dem naiven Realismus gemein hat. Das gemeine Urteil bemerkt nicht, daß es seinen Inhalt - den Stoff, die Materie des Urteils - aus Wahrnehmungen schöpft, und glaubt es mit den Dingen selbst zu tun zu haben, die dem Verstand unmittelbar und ansich gegenüberstehen; es gebraucht auch die Begriffe vom Raum und von der Zeit transzendental, d. h. es glaubt durch sie Eigenschaften ansich seiender, außerhalb der Sphäre des Subjekts befindlicher Wesen zu erkennen. Man übersieht, daß man sich selbst immer in der Erkenntnis mitdenken muß und daß ohne das Subjekt nichts für sich Erkennbaren übrig bleibt. Für dieses naive Urteil ist die kantische Einsicht gleichgültig, weil es sich immer nur mit Gegenständen möglicher Erfahrung befaßt; erst der spekulierende Verstand will wissen, was er von den Dingen, sofern er vom Subjekt absieht, zu halten hat. Will er auf ihre Natur schließen, so bedient er sich eben derselben Begriffe, die er auch in der Erfahrung gebraucht.

Kein Zweifel, daß der Metaphysiker den Gedanken an solche Dinge noch denken kann. Wie wären denn sonst metaphysische Versuche mit ihrem vermeintlichen Zwang möglich gewesen? Wenn man aber von sinnenfreier Größe, von intelligiblen Eigenschaften und Beziehungen in ähnlicher Weise spricht, wie man diese Begriffe auf in den Sinnen gegebene Gegenstände anwendet, so wird man nicht gewahr, daß man entweder nichts Bestimmtes mehr denkt, oder daß man Prädikate aus der empirischen Welt der Erscheinungen, d. h. aus unserer Wirklichkeit in einen sinnenfreie, intelligible, d. h. nur denkbare und eben deshalb unerforschliche Welt anthropomorphistisch [vermenschlicht - wp] überträgt. Wir verlangen in der Erkenntnis von einer jeden Ursache, daß wir ihr eine Stelle in der Zeit anzuweisen, daß wir sie durch Prädikate zu bestimmen, d. h. von einer jeden anderen zu unterscheiden vermögen. Das ist ohne sinnliche Merkmale nicht möglich, der Verstand ist ohne sie mit seinen Handlungen allein, er denkt noch ein Etwas überhaupt und gleicht dem Vogel, der im Käfig seine Flügel spannt, aber über seine Schranken nicht hinaus kann. Jenes Etwas überhaupt kann er von keinem Etwas derselben Art unterscheiden, und wenn er dieses Etwas von allem Erkennbaren absondert, so sagt er damit nur, welche Merkmale er an seinem Gegenstand nicht zu finden vermag. Er fällt immer nur limitative [begrenzende - wp] Urteile, die ihre Prädikate eingrenzen, aber den Begriff des Subjekts nicht vermehren. Das Ding-ansich ist nicht im Raum und nicht in der Zeit, es ist in keiner möglichen Erfahrung. Sieht er aber diesen Gedanken völlig ein, so erwächst ihm die Einsicht der Kritik, daß er mit seinem Erkennen an einer Grenzen angelangt ist und weitere Bemühungen nutzlos sind.

Ich bezweifle nicht, daß Dinge-ansich gegeben sind und allen Erscheinungen zugrunde liegen, aber damit behaupte ich eben, daß sie nur ansich und nicht für uns gegeben sind. Für unseren Verstand sind sie Nichts, was zu erforschen übrig bleibt und keiner der theoretischen Versuche, über den jenseitigen Grund der Erscheinungen etwas auszuklauben, kann zu einem Erfolg führen. Nach der kantischen Kritik stehen sie auf dem Niveau der Entdeckungen, die das perpetuum mobile oder die Quadratur des Zirkels herzustellen vermeinen. Es ist möglich, von allen empirischen Unterschieden abzusehen und damit die Möglichkeit eines reinen Objekts zu erwägen; eben das ist die Aufgabe der Kritik, die hier Möglichkeiten behauptet, die von der Erfahrung realisiert werden können. Wenn man aber auch von allen sinnlichen, d. h. räumlichen und zeitlichen Unterschieden überhaupt abstrahiert, so hat man im Begriff eines Dings überhaupt, das jede Sinnlichkeit ausstößt, noch einen möglichen Begriff, aber keinen möglichen Gegenstand übrig behalten. Von dieser Art ist z. B. des LEIBNIZ Monade, wie oben bemerkt, ein völlig richtiger metaphysischer Begriff, dem man nicht anders innere Eigenschaften andichten könnte, als LEIBNIZ das getan hat. Aber Realität läßt sich einem solchen Begriff nicht verschaffen; logisch völlig einwandfrei, bleibt nichts als das blanke Hirngespinst, das seine inneren Bestimmungen von unseren Vorstellungen und die Möglichkeit seiner Wirkungsmöglichkeit überhaupt, einer Gemeinschaft mit anderen Substanzen, durch eine von uns aus Gnaden unserer reinen Vernunft vorgesehene prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie erhält. Erkannt hat man aber auf diese Weise nichts.

Wer das Wesen der Dinge auf materialistische Prinzipien zurückzuführen sucht, wie der dogmatische Atomistiker, begeht denselben Irrtum, wie sein spiritualistischer Gegner. Das Ansichseiende läßt sich so wenig mit unseren Begriffen erfassen, wie es auch ohne Widersprüche sich dann nicht mehr denken läßt, wenn man ihm Raum und Zeit als seine materialen Bedingungen anhaften läßt. Es hätte mehr philosophische Einsicht bedeutet, wenn man nicht leichthin über KANT hinweggeschritten wäre, aber das Bedürfnis des Einzelnen verlangt immer wieder, gegenüber dem Vorgänger seine Überlegenheit zu zeigen; und doch gibt es bessere Gebiete als das fruchtlose, dürre Feld metaphysischer Grübeleien. Bei aller Achtung vor Geist, Scharfsinn und vor einer staunenswerten Phantasie all der Männer, die ihre Zeit mit sich fortgerissen haben, kann man geistreiche Irrtümer nur als das einschätzen, was sie sind. Für die unkritische Menge ist jener faszinierende Einfluß, dem sie sich jeweils willen- und gedankenlos hingegeben hat, nicht schmeichelhaft, aber er ist leicht zu begreifen. Jedermann fühlt sich durch metaphysische Einbildungen selbst geschmeichelt. Will man aber alle menschlichen, metaphysischen Leistungen auf Rechnung der sich offenbarenden Vernunft setzen, so mag man erst sieben - es mag für "den Vater aller Lügen" dabei auch ein hinreichender Anteil übrig bleiben. Macht und Anhang des blödesten Aberglaubens stehen aber dem "metaphysisch großer Männer" nicht nach, und KANT mag nicht so unrecht haben, wenn er sagt, daß um sie gemeinhin viel Wind ist. War KANT im Recht, wenn er seiner Kritik das bescheidene Verdienst beigemessen hat, Irrtümer zu verhüten, was bleibt dann von jenen Versuchen, die nach ihm die Geschichte der Irrtümer mit neuem Material versorgen? Sie sind ja schon der "historischen Bedeutung" verfallen, ehe sie das Licht der Welt erblickt haben.

Das Ding-ansich ist ein Grenzbegriff, in dem alle Bestimmungsmöglichkeit für uns aufgehoben ist. Die Fähigkeit, dieses Gedankending mit seinen Phantasien auszuschmücken, oder die schier unverwüstliche Ausdauer, sich durch Vermutungen vom Jenseits Aufschlüsse ungehört und unbeantwortet zu erbetteln, mag einem jeden gegönnt sein - mit der Erkenntnis von Gegenständen haben transzendentale Erdichtungen nicht das Mindeste zu tun. Einem Mann wie KANT gegenüber sich hier originaler Gedanken zu berühmen, wäre sinnlos; an der nötigen Phantasie hätte es ihm nicht gefehlt. Wer jedoch die Fehler mit dem kritischen kantischen Auge sieht, der freut sich nicht mehr der schillernden Seifenblasen, auch wenn er "in Metaphysik verliebt" wäre.

Ist denn nun aber das Ding-ansich nicht der leibhaftige Rückstand der alten Metaphysik, die KANT glücklich überwunden hat? Gewiß: KANT bestimmt mit ihm den Begriff des metaphysischen "Objekts" und zeigt damit, wo unsere Einsichten am Ende sind. Es sagt sofern gar nichts mehr, als was uns so geläufig ist: Unsere Erkenntnis reicht nicht weiter, als unsere Sinne reichen, diese Erkenntnis zu kontrollieren. Und das Jenseitige haben wir nicht die Gedankenlosigkeit zu leugnen. Man kann es in bestimmter Weise ebensowenig bestreiten, als man es bejahen kann. Genug, daß wir nach der kritischen Beurteilung unserer eigenen Fähigkeiten wissen, daß es sich unserer Erkenntnis verschließt.

Man hat hier und Schwierigkeiten, die Idealität des Raumes und der Zeit zu verstehen. Wenn man nur bedenken wollte, daß alle Versicherungen, mit denen man dafür anrückt, daß z. B. der Raum den Objekten ansich zukommen muß, oder wie ich jüngst als Phrase gelesen habe, daß er beim "Bau der Welt" mitbeteiligt gewesen ist, eben denselben Argumenten entspringen, auf die KANTs Lehre sich stützt. Gewiß, es ist uns durchaus unmöglich, noch etwas außerhalb des Subjekts vorzustellen, wenn wir den Raum wegdenken. Es will ganz und gar nicht gelingen, und die Dinge bleiben vor uns in unserem Bewußtsein immer, wie sie erscheinen, und weil dieser Zwang, der uns den Raum aufdrängt, so wenig zu überwinden ist, als der Zwang geometrischer Sätze, hat man ein Recht, ihn dem Subjekt selbst als mit ihm notwendig verbunden und nicht ansich seienden Dingen, die wir nur denken, zuzusprechen. Es ist eine Schrulle, in der kein Korn, sondern ein Scheffel Überhebung steckt, wenn uns ohne einen ansich seienden Raum die Festigkeit der Welt Sorge macht. Der Gedanke will uns so gar nicht in den Sinn, daß diese Welt ohne ein Unding von Raum existieren könnte. Wenn wir damit sagen wollen, wir können ohne den Raum nicht mehr verstehen, so haben wir damit sehr recht, denn in der Tat, was sie ohne den Raum, d. h. ohne uns zu bedeuten hat, das ist es, was wir mit Recht nicht begreifen. Wir können ja unsere Außenwelt nicht denken, ohne uns immer mit im Sinn zu behalten, die wir sie anschauen. Im Übrigen ist doch niemand von uns Sterblichen beim "Bau der Welt"§ zugegen gewesen, und bis einmal die Frage an uns herantritt, eine Welt selbst zu erschaffen, könnten wir den ansich seienden Raum und auch das greuliche Gespenst einer ziemlich langweiligen, immer im gleichen Schritt marschierenden Zeit ganz auf sich beruhen und den seine Kinder verzehrenden Chronos dem Dichter überlassen. Es handelt sich doch bei der ganzen Frage nur darum, mit uns selbst einig zu werden, nicht aber um Möglichkeiten, die völlig außerhalb unseres Horizontes liegen.

KANT tastet mit seiner Lehre keine empirische Erkenntnis an, wenn er uns hier zur Einsicht verhilft; mit dieser ist nowendig auch der Gedanke an eine ansich seiende Welt verbunden, und das heißt nichts anderes als die Anerkennung des Unerforschlichen, die uns die Vernunft aufnötigt. Man spricht zuweilen von einem mystischen Zug der kantischen Philosophie, der sich im Ding-ansich kund tut. Es ist völlig unverständlich, wenn man von Mystik redet, wo man so nüchternen Gedanken folgt. Wer in dieser Welt der Erscheinungen nur forscht und auf ein Wissen von übersinnlichen Dingen verzichtet, der wird nicht zum Mystiker, wenn er in einer philosophischen Kritik ausdrücklich feststellt, daß man über jenseitige Dinge weder Bestimmtes behaupten noch daß man sie in bestimmter Weise leugnen darf. Geheimnisse sind noch keine Wunder, sagt GOETHE. Wir vergessen heute zuweilen, daß wir starke Rückstände eines völlig gedankenlosen Materialismus zu überwinden haben. Das Ding-ansich hält hier eine Grenzwacht. Der dogmatische Materialismus vermeint das Ding-ansich zu erkennen. Wenn ferner der dogmatische Pneumatismus [Spiritualismus - wp] sich verleiten läßt, von einem empirischen Unterschied unserer inneren und äußeren Vorstellungen auf die besondere Natur einer ansich seienden Seele zu schließen, so urteilen beide, Materialismus und Pneumatismus, über den unerforschlichen Grund von Erscheinungen. KANTs Lehre vom Ding-ansich belehrt sie beide, es ist über diese dogmatischen Probleme so wenig auszumachen, als über jene nutzlose Frage nach der Gemeinschaft von Seele und Körper. Ist doch die Frage nach der Gemeinschaft von Substanzen überhaupt unbeantwortbar.

KANTs transzendentaler Idealismus gestattet zum ersten Mal in der Philosophie einen empirischen Realismus, der den verschiedenen Arten von Objekten, den äußeren und den Erscheinungen der Seele, nach ihrer besonderen Art gerecht zu werden vermag. KANT ist insofern empirischer Dualist, aber der Unterschied ist nur für unsere Erfahrung vorhanden: die Tatsache innerer und äußerer Erfahrung scheidet unsere Naturerkenntnis in Psychologie und Physik, die gleichen Erkenntnisprinzipien unterworfen werden. KANTs Lehre verbietet somit jeden Versuch, das Wesen der Dinge-ansich, die der Seele oder dem Körper zugrunde liegen, zu bestimmen, und schließt ebensosehr mystische wie oberflächlich materialistische Vorstellungen und eine dogmatische Vereinigung beider vollständig aus.

Aber die kantische Philosophie läßt sich das Recht nicht nehmen, das Ding-ansich als intelligiblen, unerforschlichen Grund der Erscheinungen, der sie als Vorstellungen bestimmt, zu denken. Nur eine absolute Einsicht könnte uns berechtigen zu sagen: Im Inbegriff unserer Erfahrung ist das Wesen aller Dinge überhaupt abgeschlossen. Diese Behauptung kann nur die gedankenlose Vermessenheit wagen. KANT ist bescheidener, wenn er überall nur eine relative Begreiflichkeit lehrt. Was uns unmittelbar gewiß ist, wie die Axiome der Geometrie, werden wir zu bezweifeln keinen Anlaß haben; aber wir begreifen auch ihre Möglichkeit nur mit Rücksicht auf die Erfahrung, die auf diesen Axiomen ruht. Jede wissenschaftliche Bemühung wird ohne Voraussetzung einer allgemeinen Gesetzlichkeit sinnlos. Aber in unbedingter Weise sehen wir kein Gesetz und auch diese Voraussetzung nicht ein, denn Gesetze bestehen nur relativ auf das Subjekt, das sie und durch sie erkennt. KANT fragt in der Kr. d. r. V. von "dem Standpunkte schwacher Menschen": "Was kann ich wissen?" und er hat ein Recht zu lehren: Unser Wissen ist eingeschränkt auf alles, was uns im Raum und in der Zeit erscheinen kann. Das ist der Inbegriff einer Natur, der unsere Vernunft das Gesetz vorschreibt, nach der wir sie erkennen. Ein paradox scheinender Satz, der sich leicht einsehen läßt, wenn man nur bedenkt, daß es sich um lediglich formale Gesetze handelt, die erst durch ein Gegebenes eines Inhalts gewärtig sind. Es sind die Gesetze von Erscheinungen, die unseren Erkenntnisbedingungen notwendig gemäß und eben deshalb erkennbar, d. h. allgemein bestimmbar sind, das Ding-ansich bleibt uns unbekannt. Wir sollen mit Begriffen, die nur in unserer Erfahrung Sinn haben, nicht ins Jenseits wandern, das sagt uns KANTs Ding-ansich.

Aber, wird man sagen, diese Lehre wir in KANTs Kritik der praktischen Vernunft verleugnet? Auch das ist nicht richtig. KANT stellt die Kr. d. r. V., wie wir noch sehen werden, fest, daß die Gesetze einer Natur, in der alles nach ewigen Normen bestimmbar ist, keineswegs in einem logischen Widerspruch stehen mit den Ansprüchen unserer Vernunft, die dennoch behauptet: Dieses Ereignis hätte nicht sein sollen. Das formale Naturgesetz, ohne das keine Erfahrung denkbar ist, und das Gesetz des sittlichen Handelns widerstreiten sich nicht; sie konkurrieren nicht einmal miteinander. Wir beurteilen nur in beiden Fällen etwas im Fundament Verschiedenes. In der Natur wollen wir ein Objekt erkennen, wie es geworden ist, und hier fragen wir nach den Bestimmungsgründen eines wollenden Subjekts, um zu entscheiden, was sein soll. Dort vollzieht sich alles nach Gesetzen, die keine Ausnahme zulassen, und wir erkennen auf für jenes Ereignis keine an, dennoch stellen wir fest, daß Gesetze verletzt sind. Auf diese Beurteilung haben wir nur dann ein vernünftiges Recht, wenn wir uns hier nicht bloße über Erscheinungen äußern, sondern auch über die freie Handlung, die nicht in der Anschauung, sondern nur nach Begriffen bestimmbar ist. Wir urteilen hier nur nach der Analogie mit Naturgesetzen und nehmen das Recht zu diesem sittlichen Urteil aus Ideen, die wiederum nur praktische Realität in der Erfahrung selbst erhalten sollen. Es ist das Eine, dem Begriff durch die Bestimmung des Objekts in der Erkenntnis, ein anderes, ihm durch die Tat, die sittliche Handlung, Realität zu verschaffen. Dort machen wir einen theoretischen, hier einen praktischen Gebrauch von den Begriffen. Das sind verschiedene Gebiete, die in keinen logischen Konflikt miteinander kommen können, wenn man sich nur über die eigene Vernunft Rechenschaft gegeben hat. Allerdings hat KANT durch den Begriff des Dings-ansich und durch die Bedeutung, die er den Noumenen in praktischer Absicht beilegt, Zweifel gelöst, die sich den praktischen Ideen von skeptischer und empiristischer Seite entgegenstellen. Aber er hat seinen auf Vernunft gegründeten Empirismus, das "Bathos [fruchtbarer Boden - wp] der Erfahrung" nicht verleugnet, und eben deshalb ist er in seinen religiösen Anschauungen mystischer Schwärmerei nicht anheimgefallen. Er wußte und erkannte an, daß die praktischen Interessen bei den rationalistischen Vernunftschwärmern, die theoretischen empirischer Forschung bei den Vertretern der philosophischen, konsequent-empiristischen Skepsis besser gewahrt sind. Aber die Extreme in Fragen, die eine unbedingte Lösung heischen [erfordern - wp], weisen auf eine dritte Möglichkeit; KANT hat beide Gegensätze vermieden, indem er sie in seinem großartigen Prozeß - den Antinomien - für immer ausgeglichen hat.

11. Wir kommen nochmals auf die Stellung der kantischen Kritik zur empirischen Realität der Außenwelt zurück. Die seit dem Erscheinen der Kritik geäußerten Bedenken gegen die Idealität von Raum und Zeit nehmen kein Ende. Bald macht man diese Lehre zum Jllusionismus, bald läßt man den Jllusionismus aus ihr folgen. KANT selbst sagt treffend: Es wäre meine eigene Schuld, wenn ich aus Erscheinungen bloßen Schein machen wollte. Man hat zunächst zu bedenken, daß KANT, wie jeder Mensch von gesundem Verstand, die empirische Realität der Dinge anerkennt. Er beruft sich nicht auf den gesunden Verstand, wo er die Verpflichtung des Philosophen auf sich nimmt, Gründe zu geben; aber er verleugnet den gesunden Verstand niemals. Man kann heutzutage nicht selten den Eindruck gewinnen, als ob ein Gedanke schon deshalb philosophisch ist, weil er dem gesunden Verstand zuwider ist. Bei KANT ist das anders, wenn er die empirische Realität und die Erkenntnis der Objekte zur Einsicht bringen möchte. Das ist ja zum Teil sein Problem, das ihm von den Konsequenzen eines transzendentalen Realismus durch die Philosophie eines CARTESIUS und BERKELEY gestellt wird. Kann die Kritik den Gedanken des bloßen Traumlebens überwinden, die reine Mathematik zur Einsicht bringen und endlich die Antinomien, scheinbare Widersprüche in unserer Vernunft, lösen, so sollte man meinen, daß damit dem gesunden und philosophischen Verstand zugleich gedient ist. Eine Konkurrenz findet bei der kantischen Kritik nur zwischen dem transzendentalen Realismus und dem transzendentalen Idealismus statt. Ein Drittes gibt es nur in den Mißverständnissen der Philosophen. Es bleibt ja nur die unlösbare Frage, ob die Gegenstände auch anders als sinnlich, d. h. im Raum und in der Zeit, angeschaut werden können. Wer lehrt, daß man sich in der Erkenntnis der Erscheinungen der Erkenntnis des Dings-ansich nähert, der ist transzendentaler Realist. Die Grenze, die das Ding ansich bezeichnet, ist das Unerforschliche, ein Nullwert für die Erkenntnis, aber kein Ziel, das man erreichen könnte. Wer erkennen entweder Erscheinungen oder Dinge-ansich; ein Drittes gibt es nicht. Alle Vermittlungsversuche hat man hier auszuschlagen. Es ist eine Tatsache, daß unserem Urteil über Gegenstände immer nur Wahrnehmungen zur Verfügung stehen. Sind sie den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen, haben wir von diesen a priori Erkenntnis, so kommt den uns gegebenen Anschauungen Raum und Zeit notwendig zu. Die Phänomene, eben die Dinge, die der Physiker bestimmt, sind räumlich und zeitlich; das "Etwas überhaupt", das wir denken, können wir nur sinnlich bestimmen, und sofern wir uns in der Abstraktion von den sinnlichen Bestimmungen frei zu machen suchen, kommen wir erst auf den Gedanken eines "Etwas überhaupt", das nur durch den reinen Verstand bestimmt werden könnte, wie es ohne sinnliche Unterschiede, d. h. ohne räumliche und zeitliche Bestimmung, für sich ist. Wo menschliches Denken anhebt, bringt man seine Vorstellungen auf Begriffe. Man befreit durch Abstraktion den Gegenstand von zufälligen Merkmalen und hebt schließlich in Gedanken alle empirischen Unterschiede auf. Geht man noch einen Schritt weiter, so macht man in Gedanken den Gegenstand auch vom erkennenden Subjekt frei und denkt nur noch Dinge schlechthin, wie sie ansich sein mögen. Damit sind wir eben in einem jenseitigen Gebiet, in dem für uns jede Möglichkeit der Unterscheidung aufgehoben ist. Hier beginnt die fruchtlose Spekulation, die mit metaphysischen Prinzipien hilfreich der Gottheit unter die Arme greift. Was sie tun und lassen muß, schreibt ihr die menschliche Vernunft bestenfalls in einem unbewußten Dünkel vor.

Über diese Künste entscheidet eben die bescheidene Ansicht der transzendentalen Ästhetik, sofern sie mit dem Recht der Selbsterkenntnis dem reinen Verstand eine reine Sinnlichkeit unterliegend zeigt; beide können nur in empirischer Erkenntnis realisiert werden. Die Wirklichkeit der Außenwelt wird aber nicht angetastet, wenn man ihre Erkenntnis zur Einsicht bringt. Man muß sich wundern, wie zäh die Menschheit an dem Mißverständnis hängt, das sich zuerst dem Wort Erscheinung entgegengestellt hat.

Entweder ist der Raum ansich, sei es als Substanz oder Akzidenz [Merkmal, Eigenschaft - wp] der Dinge-ansich, wirklich oder er ist nur wirklich als ein notwendiges Zubehör zum Subjekt, d. h. aber er kommt nur den Erscheinungen zu, die nur mit Rücksicht auf ein Subjekt Sinn und Bedeutung haben. Dem transzendentalen Realismus folgt ein empirischer Idealismus auf dem Fuß, der die Außenwelt nicht geradezu leugnet, aber bezweifelt. Ist der Raum ansich wirklich, so hat ihn doch noch niemals jemand wahrgenommen, wir denken ihn bloß und können die Vorstellung räumlicher Objekte von der Vorstellung innerer Erscheinungen, der Gedanken, als Vorstellungen nicht unterscheiden, d. h. wir finden keinen Grund, für die einen außerhalb von uns (im transzendentalen Sinn, d. h. außerhalb der Erkenntnissphäre des Subjekts) Objekte zu erschließen. Dieser Schluß von der Wirkung auf eine bestimmte Ursache ist bestreitbar. Es kann sich ja alles im inneren Sinn abspielen.

KANT hat diesen Schluß als unnötig nachgewiesen, indem er gezeigt hat, daß uns die Außenwelt auf das unmittelbare Zeugnis unseres Bewußtseins, mit dem Raum und Zeit notwendig verbunden ist, und nicht aufgrund eines Schlusses von der Wirkung auf die Ursache sicher ist. Er hat die logische (problematische) Möglichkeit, mit der man noch heute spielt und die im Solipsismus ihren unsinnigsten Ausdruck findet, als das erwiesen, was sie ist, als einen Mangel philosophischer Einsicht. Bei KANT bleibt somit die Wirklichkeit der gegebenen Gegenstände nicht offen, und er kann den Raum unseren Gegenständen zusprechen, eben weil sie notwendig in ihm als Erscheinungen wirklich sind. Wir haben a priori nur die Kenntnis des Raums und können nichts antizipieren, was wir in ihm empirisch wahrnehmen. Die Erscheinungen sind somit nicht zweifelhaft, und im einzelnen Fall haben wir die "Augen aufzutun", um den Traum von Wachsein, die Täuschung von der Wirklichkeit, wie das immer nach empirischen Gesetzen möglich ist, zu unterscheiden. Wie man nun aus KANTs Lehre den Jllusionismus folgen lassen will, ist völlig rätselhaft, zumal auch mit dem Begriff der Erscheinung notwendig etwas gedacht wird, das ihr in letzter Linie zugrunde liegt und das eben selbst nicht erscheinen kann. Man schreibt das eben so hin: die Welt ist nichts, wenn der Raum und die Zeit nicht den Dingen ansich ankleben. Aus dem kantischen Idealismus folgt aber nur mit aller Notwendigkeit: Man kann solche Dinge, die außerhalb der Sphäre des Subjekts, außerhalb des Inbegriffs einer möglichen Erfahrung liegen, nicht erkennen. Der Raum gehört zum Subjekt selbst, er ist mit ihm so notwendig verbunden, wie jedermann das an sich selbst feststellen kann. Dieser Gedanke ist nur zu verstehen, wenn man sich klar gemacht hat, daß der transzendentale Standpunkt in einem völlig anderen Sinn von Gegenständen spricht, die außerhalb von uns liegen, als wir es im empirischen Gebrauch gewöhnt sind. Die empirischen Objekte scheinen im Raum außerhalb von uns zu schweben, aber sie sind doch immer nur durch sinnliche Wahrnehmungen und was mit ihnen räumlich und zeitlich zusammenhängt, gegeben. Es ist mehr als hundert Jahre nach KANT geradezu sinnlos, die Frage nach der Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Dinge-ansich zu erörtern. Man beweist damit nur, daß man den Begriff des Dings-ansich nicht erfaßt hat, denn im Grunde ist es nur die Erscheinung, von der man nicht einsieht, daß sie ohne Raum und Zeit nicht möglich ist. Wenn man sich nur selbst genauer prüfen wollte. Das Ding-ansich ist ja nur ein Verstandeswesen, das eben vor dem Verstand und nicht vor den Sinnen möglich wäre. Eben dieses Ding-ansich bleibt bei KANT als ein mögliches Objekt auch für einen anderen Verstand problematisch, an der Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Dinge, die in der Erfahrung bestimmt werden, zweifelt KANT so wenig, daß er der erste genannt zu werden verdient, der sie begreiflich machen kann. Dinge-ansich denken wir nur durch die reine Kategorie; wir haben eine Begriff von dem, was wir somit ausscheiden, aber keinen Begriff von Dingen-ansich als möglicher Objekte. Es existiert etwas, das unserer Sinnlichkeit den Stoff zur Anschauung liefert, aber wir haben eben nur diesen Stoff in unseren Wahrnehmungen und kommen mit seinem Lieferanten in keinen unmittelbaren Rapport [Bezug - wp], der unmöglich ist. Wir denken einen solchen Grund der Erscheinungen notwendig, wissen aber nur, was er nicht ist; er gibt uns somit eine sichere Grenze, die uns von fruchtlosen Bemühungen zurückhalten soll.

Man könnte sich allenfalls darüber beschweren, daß die Idealität von Raum und Zeit die empirische Realität der Erscheinungen nicht schlechthin erklärt, daß wir die letzte Wurzel nicht erreichen können. Man würde wohl gern wissen, wie es möglich ist, daß wir in Raum und Zeit anschauen und in gewissen Begriffen zu denken gezwungen sind; darauf ist aber, wie sehr man sich auch anstrengen mag, keine Antwort möglich.

Genug! Wir können niemals a priori mit Begriffen, die ihre objektive Realität nur in der möglichen Erfahrung nachzuweisen vermögen, auf Dinge-ansich in bestimmter Weise schließen, wir wissen mit unbedingter Sicherheit, daß wir mit unseren Begriffen keinen transzendentalen Gebrauch verbinden dürfen; er muß immer gleich fruchtlos ausfallen. Die Dinge-ansich sind also für uns keine möglichen Objekte; aber die Erfahrung fragt auch gar nicht nach ihnen. Wodurch soll uns nun die Realität der Außenwelt zweifelhaft werden, wenn man hier nur eine Frage offen hält: Können Dinge-ansich mögliche Objekte für einen andersgearteten Verstand sein? Haben wir ein Recht, diese Möglichkeit zu leugnen, und kann der Gedanke unser Gemüt beunruhigen: alle die Verhältnisse, in denen wir die Körper und uns selbst wahrnehmen, können denkbarerweise für ein anders gerartetes Subjekt verschwinden, wenn den transzendentalen Objekten ein Wesen gegenübertritt, das nicht wie wir, an Raum und Zeit gefesselt ist. Wenn man sich überlegt, was man selbst bei der Angst vor dem Jllusionismus denkt, so ist es eine Sorge um Wesen, denen die Pracht unserer Natur nicht vergönnt wäre. Uns ist sie ja sicher, und wir lassen sie uns nicht verkümmern, auch wenn uns ein Schleier das Jenseits verbirgt. Wir können eben transzendentale Objekte nicht voneinander unterscheiden, haben es auch gar nicht nötig, wenn wir das "Etwas überhaupt", das wir ein Ding nennen, empirisch von jedem anderen sondern können. Über ein göttliches, intellektueller Anschauung fähiges Wesen ist aber ebensowenig ein Streit möglich, wie über das Ding-ansich selbst. KANT sagt von beiden im Grunde nur Negatives aus; es sind nicht unsere Gegenstände und es ist nicht unser Verstand, der sie bestimmen könnte. Hierüber ist wahrlich nicht zu streiten. Beide Begriffe sind nur problematisch gedacht, sie bezeichnen nur logische Möglichkeiten, die einen Übergang zur realen Möglichkeit völlig ausschließen. Die logische Möglichkeit ist aber das wenigste, was man von einem Begriff sagen kann, noch weniger würde den logischen Widerspruch, d. h. das innerlich Unmögliche bedeuten. Wo liegt aber in jenen Begriffen ein Moment, gegen das die bloße Einheit unserer Gedanken Protest einlegt? Das bloße Denken des Übersinnlichen kann keine Philosophie verbieten, und in Widersprüche geraten wir erst, wenn wir Raum und Zeit mit ansich seienden Dingen verwechseln, wenn wir Gesetze des Verstandes, die nur im Diesseits ihre Realität nachweisen können, auf Jenseitiges übertragen. Erkennt man die Verpflichtung der menschlichen Vernunft an, sich über sich selbst Rechenschaft zu geben, so kann man KANT nicht ausweichen. So sind die Widersprüche der Antinomien nur durch seinen Lehrbegriff lösbar. Die Frage nach der Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt tritt völlig unabhängig von der historischen Lehre KANTs an jeden denkenden Menschen heran, und die zwingenden Beweise, die KANT in dogmatischer (begrifflich ableitender) Methode für These und Antithese gibt, lassen nur eine Lösung zu: Es ist sinnlos, eine ansich gegebene, nach Zeit und Raum unendliche Welt oder ihr endliches Widerspiel zu denken. Inwiefern aus diesen über die Natur von Raum und Zeit entscheidenden Resultate aber ein Zweifel an der empirischen Realität der Außenwelt folgen sollte, ist nicht zu verstehen.

12. Man kann die Spekulation überhaupt verbieten, und wird dann alle diese Fragen als müßige abweisen. Dann soll man sich aber des Rechts ganz begeben, über metaphysische Systeme ein Urteil zu sprechen. KANT hat diesen Fall wohlerwogen, und er hält die empiristische Skepsis, wie sie etwa in HUMEs konsequent negierender Philosophie vorgelegen hat, für die Euthanasie, den sanften, erlösenden Tod der reinen Vernunft. KANT ahnte freilich nicht, wie weit sich diese Zweifel noch versteigen werden. Aber trotz der modernen Ausartung der Skepsis werden sich Physiker und Mathematiker nicht hindern lassen, ihre Aufgaben zu vollziehen. Die moderne Skepsis sucht ihnen den Boden zu entziehen und ihren Wissensstolz zu dämpfen. Die Kritik zeigt ihnen ihren sicheren Boden, aber es ist auch ihnen dienlich, wenn sie sich der Grenzen ihrer Forschung bewußt bleiben und die Begriffe und Grundsätze, die alltäglich gebrauchen, nach ihrer Natur und nach ihren Grenzen schätzen lernen. Der Streit um die empirische Natur der geometrischen Axiome wäre ebenso unmöglich gewesen, wie die Frage nach einer nur wahrscheinlichen Kausalität, wenn man sich nicht über KANTs Riesenarbeit gleichgültig hinweggesetzt und hier von der Mathematik selbst Aufschlüsse erwartet hätte, die sie so wenig wie die empirische Psychologie geben kann. Daß die Erfahrung von letzten Prinzipien getragen wird, ist a priori einzusehen. Für diese letzten Tatsachen jeder Erkenntnis ist eine empirische Ableitung unmöglich; man kann sie in Erfahrungsurteilen feststellen und auch die Gelegenheiten aufspüren, bei denen das Individuum anfängt sich ihrer zu bedienen. Aber man kann jene Sätze nicht durch Induktion verifizieren, weil die Induktion selbst schon jene Prinzipien voraussetzt. Es gibt keinen anderen Weg, allgemeingültige Sätze, auf die man schließlich notwendig kommt, zu erweisen, als daß man zeigt, daß sie die Erfahrung selbst bedingen; daß durch sie die ansich subjektive Natur unserer Wahrnehmungen in objektiven Bestimmungen überwunden wird.

Philosophische Arbeit pflegt dem Physiker und Mathematiker nicht selten gleichgültig zu sein, aber man hört es nicht ungern, wenn der Philosoph das Lieder von der alleinseligmachenden Erfahrung anstimmt, aus der alles Wissen abstammt. Woher sie selbst stammt und wie man ihre Quellen scheiden muß, fragt man sich nicht. Alles wird dann angesichts des uneingeschränkten Spielraums der Gedanken unsicher, und die a priori zwingende Vernunft bleibt ein Akt naiver Selbstberäucherung. "Die Welt ist eng und das Gehirn weit." Während man früher die von der Philosophie übrig gelassenen Zweifel als einen Mangel angesehen hat, erkennt man heute nicht selten in den so billigen Möglichkeiten, die man behauptet, ein Zeichen überlegenen, reifen Nachdenkens. Man prahlt förmlich, indem man die Vernunft ihren Manifestationseid leisten läßt. Der Naturforscher schätzt seine Ergebnisse bescheiden als nur wahrscheinliche ein, und er nickt zustimmend, wenn der Philosoph sich für seine nur wahrscheinliche Kausalität, d. h. seinen nur wahrscheinlichen Verstand den "Beglaubigungsschein" des empirisch forschenden Nachbarn erbittet.

Es ist allerdings nicht jedermanns Sache, die äußersten Konsequenzen seiner noch so sicher vertretenen Gedanken zu ziehen. Der von solipsistischen Phantasien geplagte Philosoph ist nicht grausam genug, seine Familie hungern zu lassen; der Pessimist geht dieser bösen Welt nicht aus dem Weg und läßt es sich zuweilen recht wohl ergehen; der Physiker, dem man den Kausalbegriff mit seiner Genehmigung amputiert, würde nicht wenig über eine Kritik seiner Beobachtungen erbost sein, wenn man ihm seine Schlußfolgerungen oder gar die Wahrheit seiner Erscheinungen mit einem solchen Argument streitig machen würde. Und selbst der Philosoph, der mit überlegener Weisheit KANTs Räderwerk der Kategorien verspottet, der ihr Register langweilig und sich durch das Konzert dieser logischen Spieluhr angeödet findet, wird es nicht verhindern können, daß der Stuhl, auf dem er seine Wahrheit verkündet, und der Himmel, den er gedankenvoll anschaut, und sein eigenes von ihm mißverstandenes Inneres sich nicht anders bestimmen lassen als nach Prädikaten der Größe, Eigenschaft, Relation und Modalität. Und mit diesen Kategorien ist auch sein erkennender Verstand erschöpft. Es ist wunderbar, daß man sich noch nicht in derselben Weise über die Langeweile beklagt hat, die in der Mathematik durch den beständigen Gebrauch derselben Sätze hervorgerufen wird. -

Hätten der Physiker und Mathematiker auch alle Ursache, die kantische Lehre nicht aus dem Auge zu verlieren, so haben immerhin beide einen eigenen Prüfstein für ihre Untersuchungen. Dem Mathematiker bestätigt die eigene Vernunft durch den unmittelbaren, unausweichlichen Zwang der Anschauung die Wahrheit seiner Lehren, und auch die Zweifel an den Axiomen halten die Arbeit des Mathematikers nicht auf. Wenn er dennoch auf Erfahrungen wartet, die das vernichtende Urteil über EUKLID fällen könnten, so schadet ihm das weiter nichts. Der Physiker kontrolliert seine Resultate beständig an der Erfahrung und vergißt niemals, daß er seine Hypothesen nicht immer a priori in alle ihre Konsequenzen verfolgen kann. Er ist also auf seiner Hut. Ganz anders aber nimmt sich heute der Metaphysiker aus, der trotz kantischer Kritik sich noch um Bestimmungen des Dings-ansich abmüht. Was verleitet den Philosophen immer wieder - nach GOETHEs drastischem Urteil - mit "Kindern und Affen" hinter den Spiegel zu blicken? Hat ihn nicht KANT über die Natur des Spiegels bündig belehrt? Kann er seine Aussagen jemals verifizieren? Kann er seinen Aussagen auch nur den Charakter von Wahrscheinlichkeitsbehauptungen geben? Sieht er nicht, daß schon der Begriff der Möglichkeit, geschweige der der Wahrscheinlichkeit für das Jenseits sinnlos wird? Es liegt auf der Hand, daß man für ein nur gedachtes Ding keine Belege beibringen kann, die den Nachbarn überzeugen. Im kantischen Begriff des Dings ansich liegt die Grenzbestimmung für jede menschliche Vernunft. Dieses merkwürdige "Residuum" [Überbleibsel - wp] der alten Metaphysik hat diese selbst als dogmatische Lehre vom Übersinnlichen für alle Zeiten vernichtet. Erscheinung und Ding-ansich, Phänomenon und Noumenon, Sinnes- und Verstandeswesen, das ist eine Unterscheidung, mit der KANT gegenüber der verschwimmenden Grenze einer durch die Sinne nur getrübten Verstandeswelt Ernst macht.

BERKELEYs Idealität von Raum und Zeit war ein Protest gegen Undinge, die jede Vernunft zurückweisen muß, bei KANT gibt ihre richtige Bestimmung in einer gesetzmäßigen Sinnlichkeit den Schlüssel zu allen Täuschungen der unbehutsamen Vernünftler. Ihr wollt Objekte aus reinem Verstand bestimmen? Nun wohl, zeigt uns die Begriffe, mit denen Euch das gelingen könnte. Legitimiert sie mit ihren Ansprüchen auf Zauberkräfte, "auf die ich mich nicht verstehe". HUMEs Mahnung, vorerst den gemeinen Gebrauch der Begriffe zu untersuchen, ehe man sich mit ihnen ins Jenseits versteigt, war bei KANT auf einen fruchtbaren Boden gefallen, und von HUME hat KANT ebensowohl die anthropomorphistische [typisch menschliche - wp] Erschleichung [Subreption - wp], als die Inhaltsleere vermeintlicher Bestimmungen aus reinem Verstand zu erkennen gelernt. Wenn der Raum und die Zeit uns notwendig anhaften, wenn im Raum und in der Zeit unsere Verstandesbegriffe allein objektive Realität finden, wenn uns in den Sinnen allein Objekte gegeben werden können, was bleibt dann für den reinen Verstand übrig? Daß man von einem negativ bestimmten Ding-ansich zu positiven Merkmalen übergehen möchte, der bloße Wunsch ist begreiflich. Die nur logische Welt, die von reinen Begriffen (Kausalität, Substanz u. a.) regiert wird, genügt schließlich niemand, es ist ja nichts anderes als der ins Jenseits verlegte eigene reine Verstand. Geheimnisvolle Wesen, die sich uns ewig verschließen, zu vorstellenden, wollenden Dingen zu machen, sie mit all dem sicher oder nur mutmaßend zu begaben, was uns eigen ist, das ist aber heute noch, ebenso leicht, wie es vordem gewesen ist und immer bleiben wird. Nur Erkenntnis kommt dabei nicht heraus.

13. Ich habe meine Darstellung des kantischen Gedankengangs in der Kritik unterbrochen und will, ehe ich sie wieder aufnehme, noch auf die wichtigsten Momente eingehen, die KANTs Leistung aus allen früheren metaphysischen Versuchen heraushebt. Es gehört zum Verständnis der Kritik, daß man einsehen lernt: Hier liegt eine völlige Neuschöpfung in einer deutlich bestimmten Wissenschaft vor. Nicht dringend genug kann davor gewarnt werden, mit einem Urteil vor dem Verständnis der Kritik an sie heranzutreten, das von beständigen historischen Vergleichen in der Literatur großgezogen worden ist. Man übe sein Richteramt aus, nachdem man verstanden hat, und entwöhne sich des Gedankens, nach dem der scharfe Denker in beständiger Selbsttäuschung befangen war. Damit übt man auch gegen die Person des Philosophen nur Gerechtigkeit, der nicht bloß ein wahrhafter Mann, sondern auch selbst gegen seine Vorgänger von vollkommener Gerechtigkeit beseelt gewesen ist. Man findet bei ihm nichts von dem "geniemäßigen" Urteil, das unter der bestechenden Form des populären Vertrags eine völlige Gedankenleere verbirgt. Wo er Kritik übt, da gibt er auch zwingende Gründe. Er hat ein Recht auf Gegengründe; es ist unbescheiden, wenn man der kantischen Lehre nur Meinungen, d. h. die eigene Person, entgegenstellt.

Nur zu oft vergleicht man in mechanischer Weise kantische Gedanken mit denen der Vorgänger. Das hat er von diesem, das von jenem. Anstatt aber in den alten Lehrbüchern zu suchen, halte man einmal in der eigenen Verunft Umschau. Diese Quelle hat ja auch vor KANT bereits gesprudelt. In der Erklärung unserer Begriffe können große Unterschiede nicht auftreten. Auch vor dem eingehenden Verständnis gewisser Naturerscheinungen hat man sie immer schon zu beschreiben vermocht. KANT selbst weist darauf hin, daß man sich darüber analytisch schon Rechenschaft gegeben hat, was man in seinen Begriffen denkt. Zweifelhaft ist ja nur die Rechtssphäre ihres Gebrauchs. Es wäre wunderbar, wenn sich nicht bei allen Philosophen vor KANT Gedanken finden sollten, die in der Kritik berührt werden. Alle diese Gedanken sind ja sein allgemeines Thema. Erfinden ließe sich hier nichts. Natürlich reifen bei ihm Keime, die schon in früheren Schriften, namentlich bei LEIBNIZ, LOCKE und HUME, Sprossen getrieben haben. HUMEs Monographie über die Kausalität verlangt vom Nachfolger eine vollkommenere, systematische Arbeit, WOLFFs strenge Systematik verlangt die schulgemäße, strenge Form. Mit den zwanglosen Dialogen des LEIBNIZ, mit den Essays von HUME konnten Funken geschlagen werden, KANT zündet ein Licht an, das nie verlöschen kann. Wer ein vollständiges Inventar unseres reinen Vernunftvermögens aufstellen will, hat sich vollständiger Arbeit zu versichern, und hier ist schon die kühn gestellte Aufgabe und der Plan ihrer Lösung ein vollständiges Novum.

Und wenn kein kantischer Gedanke ohne Beispiel in der Vorgeschichte wäre, die Kr. d. r. V. verlangt mit Notwendigkeit die Form des Systems, das aus der Natur der Vernunft selbst, nicht bloß aus dem Bedürfnis nach einer übersichtlichen Darstellung hervorgeht. Man darf die Begriffe nicht aufraffen, wie sie zufällig sich bieten, man hat sie hat sie nach ihrem Ursprung zu sondern und am Leitfaden eines Prinzips zu entwickeln.

Nirgends zeigt uns die Natur so wenig wie die Geschichte eine Ordnung, wie sie sich in unseren systematischen Lehrbüchern vorfindet. Die Vernunft ist hier tätig, und trotz allen Spottes über die schoeine Ordnung, wie sie sich in unseren systematischen Lehrbüchern vorfindet. Die Vernunft ist hier tätig, und trotz allen Spottes über die scholastischen Subtilitäten der Logik ist ARISTOTELES, ihr Begründer, ein Wegweiser aller wissenschaftlichen Forschung geworden. In die bunte Mannigfaltigkeit der Dinge Verbindung und Ordnung zu tragen, ist eine Aufgabe des menschlichen Verstandes; mit den unmittelbar erkannten Regeln hauszuhalten, ist eine Sache der Vernunft. Kann man die Vernunft in ihrem eigensten Gebiet von der Ordnung dispensieren [entbinden - wp], die sonst in allen ihren Geschäften herzustellen sucht? Jede Metaphysik ist durchwoben von einer Reihe von Begriffen, mit denen sie reine Erkenntnis herzustellen sucht. Wo gehören sie hin? Was ist im Begriff zur Einheit des Gedankens verknüpft, ist es eine Anschauung, oder haben wir es mit einer bloßen Verstandeshandlung zu tun, die man auf einen Begriff gebracht hat? Was wird im Begriff des Raumes gedacht? Ich betone das Wort Begriff, hat man doch KANT einen Vorwurf daraus gemacht, daß er den Raum zu den Anschauungsarten zählt und dennoch von seinem Begriff spricht; so gedankenlos ist eine philosophische "Kritik", die nicht mehr, was im Begriff gedacht wird, vom Denken selbst scheiden kann. Ein Pferd ist sicher kein Begriff, darf man deshalb nicht vom Begriff des Pferdes sprechen?

Das System der Vernunft muß sich selbst kontrollieren, und man kann sich seiner bemächtigen; man kann unendlich Vielfaches aus reiner Vernunft denken, aber die Vernunft selbst in ihren reinen Handlungen muß sich erschöpfen. Daß ALEXANDER ohne Heer keine Länder erobern konnte, ist ein billiger und leerer Satz der Schulberedtsamkeit, daß KANT ohne die Kategorienlehre, diesen Leitfaden seines Systems, die Kritik nicht schreiben konnte, hat eine tiefere Bedetung. Die Entdeckung KANTs, nach der Urteil und reiner Begriff derselben Verstandesleistung entspringen, daß hier Vorstellungen zur Einheit, hier die Synthesis der Anschauungen zur Einheit des Verstandes gebracht werden, lichtet stark verwachsene Gebiete. Raum und Zeit werden mit ihren in der aristotelischen Tafel der Kategorien beibehaltenen Modis aus dem reinen Verstand ausgestoßen, man kann nun nicht mehr Raum und Zeit als einen ursprünglichen Besitz des Verstandes betrachten, es sind nicht Formen der Verbindung, sondern Formen, in denen verbunden wird. Ohne diese Unterscheidung konnte KANT die Kritik der reinen Vernunft nicht ausüben. Ohne die Kategorienlehre blieb es beim Alten, man konnte ohne sie nicht zum sicheren Verständnis einer reinen Erkenntnis gelangen.

Der Verstand findet schon ein allgemeines Gebiet in einer reinen, für jedes Subjekt gültigen Anschauung vor, das uns die Möglichkeit sichert, a priori über die Möglichkeit von Objekten zu bestimmen. Wir erkennen nur das a priori, was wir selbst in die Dinge legen. Der Verstand bestimmt Raum und Zeit durch Begriffe, er bringt, was sie uns als Mannigfaltiges bieten, im Urteil zur Einheit des Gedankens, und so ist der Begriff des Raumes und der Zeit selbst vor der Sinnlichkeit verknüpft, aber die in ihm gedachte Synthesis ist vom Verstand vollzogen. Und nach der anderen Seite gibt erst die Kategorienlehre die Möglichkeit, die Ideen als besondere Gebilde der Vernunft, und damit ihre wahre Bedeutung zu bestimmen. Freilich sieht man hier nur scholastische Spitzfindigkeiten, weil man selbst nur auf das Äußere den Blick richtet und nicht mitzudenken gewillt ist. Und wieviel Streit hätte vermieden werden können, wenn man, was nur Idee ist, immer als solche erkannt hätte. Als GOETHE den Bau einer vorbildlichen Pflanze beschrieben hat, rief ihm SCHILLER zu: Aber das ist keine Erfahrung, es ist nur eine Idee! Wie oft hätte man heute Ursache, daran zu erinnern, daß man nach Ideen die Forschung einrichten muß, aber daß man über niemals erfahrbare Verwirklichungen nicht streiten darf. Wie oft gibt man als objektive Wahrheit, was nur Idee ist und erst zur Ermittlung der Wahrheit hinleiten soll.

KANT gibt ein Inventarium unseres Vernunftbesitzes; wie sollte das ohne systematische Ordnung bewirkt werden können, wie hätte er Klarheit zu schaffen vermocht, solange er keinen Leitfaden hatte, nach dem er nach der Idee, dem festen Plan der Vernunft viele Einzelerscheinungen der Metaphysik einheitlich vor unsere Augen stellen konnte?

Aber KANT gibt seinem Werk nicht bloß in der Form eine Garantie des Gelingens; er bestimmt zum ersten Mal in aller Schärfe metaphysischen Untersuchungen ein fest begrenztes Gebiet. Man soll in den Wissenschaften die Grenzen nicht ineinanderlaufen lassen, das gibt üble Wirtschaft. Die Logik ist dadurch nicht bereichert worden, daß man sie mit psychologischen Untersuchungen beschwert hat. Die Kritik scheidet das Apriori vom Aposteriori mit einer sicheren Kennzeichnung, das Apriori bestimmt hier ein Gebiet nach festen Leistungen der Vernunft. Sollten wir heutzutage dieser großartigen Abstraktion nicht mehr ganz gewachsen sein, die in einem a priori gewährleisteten Inbegriff möglicher Erfahrung, in einer Sphäre, die alle Erfahrung in sich aufnehmen kann, verlangt, daß man das Besondere eben in dieser schrankenlosen Allgemeinheit erkennt? Wie oft hat diesem Begriff des Apriori sich ein Raisonnement [Argument - wp] entgegengestellt, das KANT nie bestritten haben würde. Natürlich ist das Apriori weder mit Augen zu sehen, noch mit Händen zu tasten. Auch von unserer eigenen Existenz haben wir nur empirisch Kenntnis. Das "cogito ergo sum" [Ich denke, also bin ich. - wp] ist ein empirischer Satz. Schließt das aus, daß wir ein für allemal einsehen können, mit Notwendigkeit und Allgemeinheit, daß 2 x 2 = 4 ist, während keine Macht des Gedankens uns dieselbe Sicherheit dafür gibt, daß morgen die Sonne wieder am Himmel erscheint? Sollte man wirklich den Unterschied des Apriori und Aposteriori hinwegdisputieren können? Es gibt üble Wirtschaft, sagt der Philosoph, wenn man die Grenzen der Wissenschaften ineinander laufen läßt. Die so viel gepriesene empirische Untersuchung ist in den kritischen Fragen sinnlos. Man muß erst seine Einnahmen überschlagen, um zu wissen, was man ausgeben kann.

Genug! Erst mit dieser scharfen Trennung, die sich an unser geübtes Abstraktionsvermögen wendet, konnte es KANT gelingen, Rationalismus und Empirismus, völlig unberechtigte Gegensätze, in der Einheit der sicheren Einsicht aufzulösen. Jede dieser Lehre hinkt, eine jede von ihnen läßt ein Bein nachschleppen. LEIBNIZ diskreditiert die Sinnlichkeit, die nur da ist, den Verstand zu verwirren; LOCKE entzieht dem Verstand seine Hauptdomäne, wenn er ihn die von der Sinnlichkeit gegebenen Vorstellungen durch Reflexionsbegriffe nur ordnen läßt. Der Verstand ordnet nicht bloß, er verbindet auch, und damit ihm das in der reinen Erkenntnis eines Gegenstandes gelingt, müssen im Gegenstand schon reine, allgemeine apriorische Faktoren wirksam sein, die ihn konstituieren. Apriorische und aposteriorische Elemente begegnen sich in der Erkenntnis; das ist nur denkbar, wenn die reine Erkenntnis eine Bedingung aller Erkenntnis ist.

Der Empirist kann zwar die Leistungen des Verstandes bei Gelegenheitsursachen als tatsächlich feststellen, aber er kann niemals ihre Notwendigkeit und Allgemeinheit aus einzelnen Fällen ableiten; der Rationalist kann aus bloßen Begriffen keinen einzigen synthetischen Satz a priori beweisen, er sei noch so häufig im Gebrauch. Wie man von einem Begriff zu einem anderen übergeht, den jener nicht enthält, läßt sich begrifflich nicht erweisen. Beide können sie nicht begreiflich machen, wieso sich unser Verstand a priori auf Gegenstände zu beziehen vermöchte. Der eine müht sich ab, die Genesis des Verstandes, durch den Verstand selbst zu entdecken, der andere sieht ein, daß Vernunft schon da sein muß, wo erkannt werden soll, aber er kann nicht zur Einsicht bringen, wie sie sich der außerhalb der Sphäre des Subjekts schwebenden Dinge bemächtigen kann. Hier bleibt kein anderes Mittel, als in der Möglichkeit der Erfahrung selbst das Dritte zu suchen, das eine apriorische Synthesis des Verstandes begreiflich macht. Beide Richtungen haben in gewissem Sinne recht, beide haben unrecht. Der "glückliche Gedanke" eines Mannes löst die Schwierigkeit. Der Verstand verbindet, was schon seinen Begriffen gemäß ist und was ihm in Wahrnehmungen gegeben ist, die nur im Raum und in der Zeit möglich sind. KANT erkennt die Erfahrung sofern an, aber er ist kein dogmatischer und kein skeptischer Empiriker. Wer die Erfahrung leugnet, mit dem wäre auch über reine Erkenntnis gar nicht zu verhandeln. KANT beruft sich auf das Zeugnis der Erfahrung, aber er leitet von ihr nicht wieder ab, was sie selbst begreiflich machen soll. KANT ist Rationalist, aber er wandert mit der Vernunft nicht in ein Gebiet, dessen Grenzen er nur von unserer Seite bestimmen kann. Seine Metaphysik ist eine Lehre von der apriorischen Erkenntnis, sofern sie Erfahrung möglich macht oder sich auf Erfahrung zu beziehen vermag. Reine Vernunft ist kein Hirngespinst, wenn sie ihrer Grenzen im Gebrauch eingedenk bleibt. Der Rationalist KANT begründet die Empirie; die Gegensätze sind so wenig berechtigt, als sie sich jemals konsequent zur Geltung bringen lassen. Sie lösen sich hier völlig auf.

Im engsten Zusammenhang mit diesen Gedanken erscheint KANTs richtige Einschätzung der formal logischen, analytischen Operationen unseres Verstandes im Gegensatz zu verbindenen, synthetischen Funktionen, die als Verstandesarbeit aller Erfahrung zugrunde liegen. Der Verstand kann nichts ordnen, was er nicht zuvor synthetisch verbunden hat. Dieser Unterschied bestimmt retrospektiv der allgemeinen, analytishen Logik erst ihren Begriff; sie hat es nur mit der Einheit des Denkens, dem Zusammenbestehen von Gedanken selbst zu tun und fragt gar nicht nach dem Gegenstand. Das logische Wesen von Begriff, Urteil und Schluß ist zu scheiden von dem transzendentalen, sofern dabei auf die allgemeine Möglichkeit einer empirischen Synthesis reflektiert wird. Unsere Gedanken können als solche richtig sein, ohne daß ihnen ein Gegenstand entspricht. Wenn man diese neue kantische Unterscheidung analytischer und synthetischer Operationen nicht anerkennt, so kann man die ganze Kritik zu den Akten legen. Namentlich philosophische Mathematiker bemerken zuweilen nicht, daß sie mit KANT völlig übereinstimmen und daß nur eine falsche Begriffsbestimmung der Logik selbst den Zwiespalt bedingt. Jener Unterschied allein zeigt, daß auch das konsequenteste metaphysische System noch nicht verbürgt ist, wenn man sich keine Rechenschaft über die Gegenstände zu geben vermag, über die eine ansich richtige Gedankenfolge befindet. Namentlich KANTs Lehre vom analytischen und synthetischen Urteil ist seit den ersten Tagen der Kritik angefochten worden. Und doch ist dieser Unterschied schon mit der Idee einer Erkenntnislehre überhaupt gegeben. Wie wollte man sonst eine reine Logik von einer Logik, die auch den Gegenstand allgemein ins Auge faßt, trennen? Erkenntnislehre soll ja nich auf eine besondere Disziplin angewandte Logik, sondern eine allgemeine, jeden möglichen Gegenstand erwägende Untersuchung bedeuten. Wie ein roter Faden geht die Kritik dieses neuen Unterschieds durch die seit hundert Jahren gedankenlos geübte Beurteilung des kantischen Werks hindurch. Wenn man aber die Kritik auch nur in irgendeinem Resultat, ja nur in ihrer Aufgabe selbst anerkennt, so hat man sich der Untersuchung schon gefangen gegeben. Gegen die Worte streitet man, nicht gegen die Begriffe, die KANT mit ihnen verbindet. Es soll nur ein relativer Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen bestehen. Wieviele Forscher haben das HERDER nachgebetet? Und doch hätte man KANT wahrlich zutrauen können, daß ihm der verschiedene Umfang des Wissens bei verschiedenen Menschen nicht wohl entgangen ist. Es mutet geradezu komisch an, daß man erst darauf verweisen muß, daß er z. B. mit dem Begriff des Goldes selbst ein Beispiel dafür gibt, daß man das "eine Mal mehr, das andere Mal weniger Merkmale desselben denkt". Und hat man nie gelesen, was er von der Unmöglichkeit gewisser Definitionen sagt? Nächstens wird man einmal entdecken, daß Punkt, Linie, Fläche und Körper nur relative Unterschiede bedeuten, weil man schon keinen Punkt vorzeigen kann, der den mathematischen Anforderungen entspricht. Es ist fast, als ob man die Gabe der Abstraktion allmählich ganz unterdrücken wollte. Und doch führt sie unsere Schritte in jeder wissenschaftlichen Untersuchung; sie leitet uns nur dann irre, wenn wir uns nicht bewußt bleiben, daß wir es eben mit einer Abstraktion zu tun haben.

KANTs Größe beruht zum größten Teil in dem klaren Verständnis gerade dieser geistigen Operation, der wir die Logik des ARISTOTELES ebensowohl, als auch die königliche Mathematik verdanken. Er hat gesehen, wir hier ein glücklicher Gedanke den Gegenstand vom empirischen Beiwerk befreit, das zur Einsicht nichts beiträgt. Aber er bringt uns wieder zu Bewußtsein, daß die Logik die reine Verstandeshandlung im Denken von Gegenständen überhaupt, d. h. welcher Art sie auch sind, und daß die Mathematik nur a priori beschreibt, was sie in der Erfahrung konstruieren kann. Er weiß, welche Leistungen in den beiden Disziplinen dargestellt werden, und schließt nicht von ihnen auf einen reinen Verstand, der für sich etwas zu bedeuten hat.

Indem er so zunächst erkennt, was die Logik als Lehre vom ordnenden, analytischen Denken nicht leisten kann, indem er ferner für die reine Mathematik einsieht, wie weit sich ihre Abstraktion erstreckt, erschließt sich ihm die Natur des reinen, d. h. nur möglichen Gegenstandes, d. h. einer bloßen Form, mit der die Mathematik noch befaßt ist. Die reine Anschauung, die hier dem Verstand zugrunde lilegt, macht das reine synthetische Urteil der Mathematik möglich. Kein Mensch kann analytisch von der 1 zur 2 kommen; die Zahl ist ein sinnliches Schema der Größe; sie ist rein, aber der Typus der Synthesis selbst. Man kann a priori aus seinen Begriffen herausgehen, weil die Anschauung dazu uns eine bestimmte Routine aufzwingt. Im Begriff der Geraden ist der Begriff der Größe, die wir von ihr aussagen, noch nicht gedacht, hier herrscht eine Synthesis, die wir der zwingenden Anschauung und nicht den analytischen Operationen verdanken, mit der wir die Ordnung erst dann herstellen, wenn wir die Vorstellungen schon verbunden haben (1).

Der Metaphysiker, der einen Anfang der Welt behauptet, fällt damit ein synthetisches Urteil und zwar a priori. Er urteilt über etwas, das ihm keine Erfahrung geben und keine bestätigen kann. Der Metaphysiker appelliert mit jener Behauptung an die Vernunft der gesamten Menschheit; er erwartet ihr Urteil, ihre Kritik. Ist es nun nicht eine natürliche Frage: Wie kann man sich der allgemeinen Kriterien bemächtigen, die hier und bei jedem synthetischen Urteil a priori die Spreu vom Weizen, das Wahre vom Falschen, die Erdichtung von der objektiven Einsicht scheiden?

Die Oberflächlichkeit der heute herrschenden Tageskritik, die vom philosophischen Feingeschmack oder vom Bedürfnis des Tages redet, hatte KANT noch nicht zu richten, er war noch in dem naiven Stadium, wo man vom wissenschaftlichen Gewand bei aller "Liebe" für die Metaphysik auch einen wahrhaften Inhalt verlangt, wo man "Spiel und Arbeit" auseinanderhält.

So ist dann in der Kardinalfrage der Kritik: Wie sind synthetischen Urteile a priori möglich? ihre Hauptaufgabe enthalten, über die vor aller Metaphysik entschieden sein muß. Wer sich mit metaphysischen Gaukeleien die Zeit vertreiben, wer - und sei es in der löblichsten Absicht - metaphysische Meinungen verbreiten und zu ihnen überreden will, schlägt diese Frage aus dem Wind. Wenn aber die literarische Kritik philosophischer Werke und Systeme wirklich urteilen und richten will, so muß sie dazu auch durch allgemeine Gesetze befugt sein. Ob man sich mit einer Metaphysik nach moderner Phrase befreunden kann, ist nicht die Frage. Das Spiel der Mode kann man anderen Gebieten anheimstellen. Eine einhellige philosophische Kritik, eine wissenschaftliche Arbeit der Philosophen, das ist das Ziel, das KANT anbahnt. Wo das Urteil durch ein subjektives, individuelles Medium gebrochen wird, da herrscht keine Kritik, sondern Meinung, nicht selten auch Willkür. Es ist schlechterdings sinnlos, die letzte Richtschnur des kritischen Urteils in wahrscheinlichen Gesetzen zu suchen. Daher braucht KANT den Terminus der "Form"; formale Kriterien können nicht dem Zweifel unterliegen. Und hier kann uns nur die Arbeit der Kritik, ihre so oft geschmähte Methode zu immer größerer Deutlichkeit verhelfen. Es gibt Kriterien der Wahrheit, aber es gibt kein allgemeines Kriterium der Wahrheit, dessen war sich KANT bewußt. Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung des Gedankens und des Gegenstandes beruth, so ist das allgemeine Kennzeichen der Wahrheit widersprechend; jeder Gegenstand ist eben ein besonderer; die Einzelprüfung läßt sich nicht durch einen Zauberspruch umgehen, aber unsere auf Gegenstände gerichteten Gedanken müssen wir formal wenigstens richten können. Uns dazu in den Stand zu setzen, ist die Kritik geschrieben worden.

Unser Register wichtiger Momente ließe sich noch um eine Reihe tiefer und wahrer Gedanken vermehren. Die lange Zeit ihrer Ausgreifung, eine von KANT geduldig und beständig geübte, auf das eigene Bewußtsein und seine Funktionen gerichtete planmäßige Reflexion haben die kantische Kritik zum splendidesten [großartigsten - wp] Werk der philosophischen Literatur sich entwickeln lassen. Ein schier unerschöpflicher Brunnen, aus dem freilich nicht selten gegen den Verfasser selbst geschöpft worden ist. Wie oft hat man ihm die eigenen Argumente, die man von ihm hätte lernen können, entgegengehalten!

LITERATUR: Ludwig Goldschmidt, Zur Würdigung der Kritik der reinen Vernunft. Begleitschrift zur Neuherausgabe von G. S. A. Mellin, Marginalien und Register zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Gotha 1900
    Anmerkungen
    1) Hegel hält ihm entgegen, daß der Satz von der Geraden nur eine Definition ist. Erledigt das aber die Frage, wie sie als synthetische Definition möglich war?