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GEORG SAMUEL ALBERT MELLIN
"Erscheinung"
Enzyklopädisches Wörterbuch
der kritischen Philosophie

[oder Versuch einer faßlich und vollständigen Erklärung der in Kants
kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze]


"Schon lange vor Lockes Zeiten, am meisten aber nach diesen, hat man allgemein angenommen und zugestanden, daß man unbeschadet der wirklichen Existenz äußerer Dinge, von einer Menge ihrer Prädikate sagen kann, daß sie nicht zu diesen Dingen ansich gehören. Man nannte sie daher Erscheinungen, oder Gegenstände, die außerhalb unserer Vorstellung keine eigene Existenz haben. Dahin gehören z. B. die Wärme, die Farbe, der Geschmack, der Geruch usw. Kant behauptet nun, nicht nur diese Qualitäten der Körper, sondern auch alle übrigen, z. B. die Ausdehnung ... die Undurchdringlichkeit oder Materialität, Gestalt, Größe usw. sind nicht weniger Erscheinungen."

1. Phänomen, phaenomenon, phénoméne. Dasjenige, was dem Gegenstand nur zufälligerweise zukommt, und nur auf eine besondere Stellung oder Organisation dieses oder jenes Sinnes (nicht für jeden menschlichen Sinn überhaupt) gültig ist. (Kr. d. r. V. 62) Das ist die gewöhnliche empirische Bedeutung dieses Worts. in diesem Sinn sagt man vom Regenbogen, er sei eine Erscheinung. Denn ein solcher farbiger Regenbogen ist nicht wirklich an dem Ort vorhanden, wo wir ihn erblicken, sondern wir sehen ihn nur, wenn es eine ganze Fläche oder Wand von Regentropfen gibt, welche die Sonne bescheint, so daß von gewissen Stellen derselben die Sonnenstrahlen frei in unser Auge gelangen können. Dieser Regenbogen kommt also dem Gegenstand, d. h. den Regentropfen, die jene Wand bilden, nur zufälligerweise zu, denn nicht immer, wenn es regnet, sehen wir in den Tropfen einen Regenbogen. Ferner ist er nur für die besondere Stellung unseres Auges gültig, er kann nicht gesehen werden, wenn wir nicht die Sonne im Rücken haben, indem wir jene Regenwand, welche die fallenden Regentropfen bilden, anblicken, und wenn die Sonne nicht höher als 51 Grad am Himmel steht. Hiernach ist also der Regenbogen eine bloße Erscheinung, und der Sonnenregen die Sache ansich, an welcher der Regenbogen zufällig erscheint. Das ist auch ganz richtig, wenn wir den Ausdruck Sache ansich in physischer Bedeutung nehmen, und darunter das verstehen, was in der allgemeinen Erfahrung, unter allen noch so verschiedenen Lagen, die es zu den Sinnen hat, doch in der Anschauung so und nicht anders bestimmt ist (Kr.d .r. V. 62f). Ein Beispiel von einem nur für die subjektive Organisation eines einzelnen Sinnes gültigen Phänomens ist, daß der Gelbsüchtige alles gelbt sieht.

2. In KANTs transzendentalem System heißt aber Erscheinung, oder Sinnenwesen (Kr. d. r. V. 306), jedes Objekt der sinnlichen Anschauung (Kr. d. r. V. XXVI). Nehmen wir z. B. den ganzen Regenbogen mit dem Erfahrungsgegenstand, der Regenwand, selbst, worin er sich zufällig bildet, und fragen, ohne uns daran zu kehren, daß jeder Mensch, der mit uns einerlei Standpunkt hat (das Gesicht nach der Regenwolke zugekehrt, und die Sonne im Rücken, niedriger als 51 Grad), den Regenbogen sieht, folglich auch in der Wahrnehmung der Regentropfen, in denen sich die Sonnenstrahlen brechen, mit uns übereinstimmt; so können wir noch fragen, ob, wenn wir nicht durch Sinne die Gegenstände anschauen, bloß kein Regenbogen da sein würde, oder ob dann noch ein anderer Unterschied sein würde. Und da behauptet KANT, daß dann, wenn wir die Regentropfen ohne Sinne erkennen könnten, nicht so wie sie durch die Sinne gewisse Beschaffenheiten annehmen, diese Regentropfen selbst nicht vorhanden sein würden, und daß sie selbst nicht nur, sondern auch ihre runde Gestalt, ja sogar der Raum, in welchem sie fallen, nichts ansich sind, sondern bloße Erscheinungen, d. h. bloße Modifikationen, oder Grundlagen unserer sinnlichen Anschauung, daß aber das eigentliche Objekt, welches kein Gegenstand der Erfahrung ist, sondern der Grund des Daseins eines Erfahrungsgegenstandes in unseren Sinnen, und das daher das transzendentale Objekt heißt, uns ganz unbekannt bleibt. In der empirischen Anschauung können also empirische Erscheinungen sein, welche wegfallen, wenn der Sinn eine andere Stellung, oder Organisatio bekommt; aber die ganze empirische Anschauung stellt uns nur eine transzendentale Erscheinung dar, und es ist in dieser Anschauung gar nichts, was irgendeine Sache ansich anzeigt. Wir haben es daher überall in der Sinnenwelt, oder in der Erfahrung, selbst bis zur tiefsten Erforschung ihrer Gegenstände, keineswegs mit Dingen-ansich, sondern mit nichts als mit Erscheinungen zu tun. (Kr. d. r. V. 62; Kr. d. praktischen V. 93; siehe Artikel "Ästhetik")

Diese Theorie ist von der des LEIBNIZ über die sinnlichen Gegenstände ganz unterschieden. LEIBNIZ nahm die Erscheinungen als Dinge-ansich, obgleich er, wegen der Verworrenheit ihrer Vorstellungen, die nach seiner Meinung die Sinne hineinbringen, dieselben auch mit dem Namen der Phänomene belegt hat. KANT hingegen behauptet, die sinnlichen Gegenstände sind darum Erscheinungen, weil sie nicht Dinge-ansich sind, sondern Vorstellungen in unseren Sinnen, welche die die Gegenstände ansich nicht verworren, sondern gar nicht darstellen, denen wir aber, durch den Verstand genötigt, Dinge-ansich zugrunde legen müssen, die wir aber gar nicht erkennen können (Kr. d. r. V. 320). LEIBNIZ verwechselte die reinen Verstandesobjekte, bzw. Dinge-ansich mit den Erscheinungen (Kr. d. r. V. 376).

3. So wie also in der Erfahrung der Regenbogen nicht etwas ist, was sich in den Regenwolken befindet, sondern bloß in unserem Sinn des Gesichts sein Dasein hat, aber doch so, daß außerhalb von uns selbst etwas ist, was da verursacht, daß wir einen solchen Regenbogen erblicken; ebenso ist jeder Gegenstand einer empirischen Anschauung (Wahrnehmung Kr. d. r. V. 225; Prolegomena 81) selbst nicht etwas, was sich auch außerhalb der Erfahrung an irgendeinem Ort so befindet, denn selbst jeder Ort ist etwas im Raum und hat folglich mit all dem, was an einem Ort ist, samt dem ganzen Raum, nur in unseren Sinnen sein Dasein, aber doch so, daß wir, durch unsere Denkgesetze selbst genötigt (Prolegomena 104f), nach welchen alles seinen Grund haben muß, einen Grund des Daseins dieser Gegenstände in unseren Sinnen denken müssen, der nicht wieder Erfahrungsgegenstand, oder Erscheinung sein kann (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 565), sondern das, was erscheint, welches daher die intelligible Ursache der Erscheinung oder der transzendentale Gegenstand heißt, und uns gänzlich unbekannt ist und bleiben muß. Denn was die Gegenstände ansich sein mögen, kann uns durch die aufgeklärteste Erkenntnis der Erscheinung derselben, die uns allein gegeben ist, niemals bekannt werden (Kr. d. r. V. 69). KANT setzt in der Erklärung des Begriffs der Erscheinuhng noch das Prädikat unbestimmt hinzu (Kr. d. r. V. 34), um dadurch das Gedachte auszuschließen, nicht der Gegenstand, insofern er schon durch Prädikate bestimmt wird, sondern so wie er sich in der Anschauung darstellt, heißt die Erscheinung. Schon lange vor LOCKEs Zeiten, am meisten aber nach diesen, hat man allgemein angenommen und zugestanden, daß man unbeschadet der wirklichen Existenz äußerer Dinge, von einer Menge ihrer Prädikate sagen kann, daß sie nicht zu diesen Dingen ansich gehören. Man nannte sie daher Erscheinungen, oder Gegenstände, die außerhalb unserer Vorstellung keine eigene Existenz haben. Dahin gehören z. B. die Wärme, die Farbe, der Geschmack, der Geruch usw. KANT behauptet nun, nicht nur diese Qualitäten der Körper, sondern auch alle übrigen, z. B. die Ausdehnung, der Ort, und überhaupt der Raum, mit allem, was ihm anhängig ist, die Undurchdringlichkeit oder Materialität, Gestalt, Größe usw. sind nicht weniger Erscheinungen. Jene sind nur Modifikationen einzelner Sinne, diese Modifikationen der Sinnlichkeit überhaupt. Alle Eigenschaften also, die die Anschauung eines Körpers ausmachen, gehören zu seiner Erscheinung, als Ding-ansich ist er uns gänzlich unbekannt. (Kr. d. praktischen V. 64)

4. Man muß aber ja nicht Erscheinung und Schein für einerlei halten, welches von den ältesten Zeiten der Philosophie her geschah, und einem noch unausgebildeten Zeitalter wohl zu verzeihen ist (Prolegomena 104). Man hat KANT, obgleich er ausdrücklich (Kr. d. r. V. 349) vor dieser Verwechslung warnt, dennoch den Vorwurf gemacht, er verwandle die ganze Sinnenwelt in lauter Schein (Prolegomena 65), da er sie doch nur für Erscheinungen erklärt. Etwas ist nämlich eine Erscheinung, weil es von den Sinnen dargestellt wird, und der Gegenstand ansich nicht so beschaffen sein kann, als er in unserer sinnlichen Vorstellung (der Erscheinung) sich darstellt (Prolegomena 61). Eine Erscheinung ist daher eine bloße Vorstellung, die, außer in unseren Gedanken, keine ansich gegründete Existenz hat (Kr. d. r. V. 518f), und erst durch die Einwirkung der Sinnlichkeit auf die, durch die Affizierung der Sinnlichkeit hervorgebrachte, Empfindung gewirkt wird (Kr. d. r. V. 527). Sie ist daher auch nur in der Wahrnehmung wirklich, die in der Tat nichts anderes ist, als die Wirklichkeit einer empirischen Vorstellung, d. h. Erscheinung (Kr. d. r. V. 521). Aber etwas ist Schein, wenn der Gegenstand ganz anders von uns beurteilt wird, wenn der Gegenstand ganz anders von uns beurteilt wird, als er wirklich beschaffen ist. Der Schein ist daher ein irriger Gedanke, der weder in der Erfahrung, noch außerhalb derselben einen Gegenstand hat, der dadurch gedacht würde, und durch den nicht bemerkten Einfluß der Sinne auf den Verstand im Urteil desselben bewirkt wird. Die Erscheinung ist also ein Gegenstand, sofern er angeschaut wird, der Schein aber ein Irrtum im Urteil über einen Gegenstand. In den Sinnen ist kein Schein, denn sie irren ja nicht, indem sie gar nicht urteilen. Erscheinung drückt das Verhältnis des Gegenstandes zu unserer Sinnlichkeit, Schein ein Verhältnis des Gegenstandes zu unserem Verstand aus (siehe Artikel "Schein"). Die sinnlichen Gegenstände sind Erscheinungen, sie aber für Dinge-ansich zu halten, das ist Schein, der durch den unbemerkten Einfluß der Sinne auf den Verstand entspringt, welcher dadurch zu einem irrigen Urteil verleitet wird (Kr. d. r. V. 349f).

5. Endlich muß man sich auch nicht vorstellen, daß KANT alles in bloße Erscheinung verwandelt. Denn es ist unmöglich, etwas für Erscheinung zu halten, ohne etwas vorauszusetzen, das da erscheint. Der Verstand gesteht eben dadurch, daß er Erscheinungen annimmt, das Dasein von Dingen-ansich zu, und insofern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zugrunde liegen, folglich bloßer Verstandeswesen (intelligibila, d. h. Gegenstände des reinen Verstandes), nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich ist. Darum ist auch der gemeine Verstand, wie bekann, so geneigt, hinter den Gegenständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares, für sich selbst Tätiges zu erwarten. Er verdirbt es aber wiederum dadurch, daß er sich dieses Unsichtbare versinnlicht, d. h. zum Gegenstand der Anschauung machen will, und dadurch also nicht um einen Grad klüger wird (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 107). KANT gibt zu, was man nur irgendwie zugeben kann. Er gesteht, daß es außerhalb unserer selbst Körper, d. h. Dinge gibt, die, obgleich nach dem, was sie ansich sein mögen, uns gänzlich unbekannt sind, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsere Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wird die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also bloß die Erscheinung, jenes uns unbekannten aber nichts destoweniger wirklichen Gegenstandes bedeutet (Prolegomena 63). Denn von diesen Verstandeswesen, die darum so heißen, weil der Verstand sie sich als den Grund der Erscheinungen notwendig denken muß, erkennen wir gar nichts, nicht einmal das Dasein derselben. Denn das Denken des Daseins derselben, welches unserem Verstand notwendig und unvermeidlich ist, ist noch bei weitem kein Erkennen dieses Daseins. Wir können uns gar nicht einmal eine Vorstellung davon machen, wie etwas, das nicht im Raum und in der Zeit, und also nicht Erscheinung ist, vorhanden sein kann. Denn mit der Vorstellung eines Daseins müssen wir immer das irgendwo und irgendwann verknüpfen, wenn wir dieses Dasein erkennen wollen (siehe Artikel "Denken" und "Erkennen").

6. Man unterscheidet an den Erscheinungen die Materie und die Form. Die Materie der Erscheinung ist das, was in ihr Empfindung ist, denn diese macht das Empirische aus; die Form der Erscheinung ist Raum und Zeit (Prolegomena 54). Es gibt äußere und innere Erscheinungen. Die äußeren sind diejenigen, welche im Raum sind. Sie befinden sich zugleich in der Zeit, weil die Zeit die Form unseres inneren Sinnes ist und also alles, was sich in den Sinnen befindet, folglich auch die äußere Anschauung, eine Bestimmung des Gemüts ist, und daher auch zum inneren Zustand gehört, und folglich der Form desselben, der Zeit, unterworfen sein muß. Denn alle Körper mitsamt dem Raum, darin sie sich befinden, sind nichts als bloße Vorstellungen (Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre VII) in uns, und existieren nirgendwo anders, als bloß in unseren Gedanken (sinnlichen Vorstellungen). Sie sind uns als außerhalb von uns befindliche Gegenstände gegeben, allein von dem, was sie ansich sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur Erscheinungen (Prolegomena 62f). Die inneren Erscheinungen sind diejenigen, welche bloß in der Zeit sind, also alle unsere übrigen Vorstellungen, die nicht räumlich sind (Kr. d. r. V. 51).

7. Was wir also erkennen, sind bloß Erscheinungen, niemals Dinge-ansich. Auch den Begriff von sich selbst bekommt der Mensch nicht a priori, sondern empirisch, folglich erkennt er auch sich selbst nur, wie er sich erscheint, nicht wie er ansich sein mag. Denn er kann auch von sich selbst nur Kundschaft einziehen durch den inneren Sinn, und folglich nur durch die Erscheinung seiner Natur, und die Art, wie sein Bewußtsein affiziert wird (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 105f).

LITERATUR: Georg Samuel Albert Mellin, Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, Bd. 2-1, Jena und Leipzig 1799