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STEPHAN WITASEK
Allgemeine Psychologie
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"Nicht das kleinste Naturgesetz, nicht die geringste Lehre der Physik wird wankend, wenn die Erkenntnistheorie auch noch so deutlich zeigt, daß es materielle Dinge etwa gar nicht gibt. Die Tatsache bleibt unumstößlich fest: Unser Vorstellen ist so beschaffen, daß es uns  Dinge  zur Vorstellung bringt; und von der Beschaffenheit eines großen Teils dieser Dinge handelt die Physik. Und ebenso ist es nach unmittelbarer, unreflektierter Erfahrung sicher und deutlich, daß eine Vorstellung niemals identisch ist mit dem Ding, das sie zum Vorgestelltwerden bringt, der Mond was anderes ist (auch wenn er gar nicht existiert), als unsere Vorstellung, mittels welcher wir ihn vorstellen."

1. Kapitel
Das Gegenstandsgebiet der Psychologie

1. Hinweis auf das Gebiet
der psychischen Tatsachen

Der Anfang allen Philosophierens ist das Staunen; so sagen die großen Denker der Alten. Aber fast mit gleichem Recht könnte man auch von der Psychologie behaupten, daß sie mit dem Staunen beginne. Es ist wie die Entdeckung eines neuen Landes, wenn man zum ersten Mal mit Bedacht erschaut, was man bis dahin, obgleich es einem stets das Nächste war, doch immer übersehen hat: die ganze, reiche Welt des Innenlebens. Die eben erwachende Seele des Kindes ist alsbald ausgefüllt von den tausend Wundern, die ihr die Sinne aus der umgebenden Welt berichten. Ein Knabe von etwa acht Jahren, ernsthaft gefragt, was es denn alles gebe, zählt Berge, Flüsse, Seen, Bäume, Häuser, Tiere, Menschen, Gerät und Spielzeug und Sonne, Mond und Sterne auf, niemals Gedanken, Schmerz. Und leicht könnte man sagen, daß die meisten von uns darin stets Kinder bleiben. Auch der Erwachsene ist in der Regel mit den Dingen seiner Umgebung, mit der Außenwelt, beschäftigt und wird kaum je der Vorgänge in seiner Innenwelt gewahr, die ihm von jenen Kunde bringen. Denn diese sind wie selbstlose Freunde, die uns von allem möglichen erzählen, nur nicht von sich - wenn wir's nicht ausdrücklich verlangen. Solches Verlangen ergeht aber nur selten; unsere Aufmerksamkeit ist von selbst aus guten Gründen auf die Außenwelt gerichtet und nur bei ganz besonderem Anlaß wendet sie sich einmal der Innenwelt zu.

Wenn sie es aber tut und nicht zu rasch sogleich wieder abspringt, dann zeigt sie uns ein Neues und eine ungeahnte Fülle, ja eine ganze zweite Hälfte allen Seins. Sie zeigt uns da zunächst, daß wir ja eigentlich gar nicht die Dinge selbst, sondern gleichsam nur Abbilder von ihnen haben, die, bald deutlicher, bald unklar und verschwommen, ja oft genug die Dinge ganz entstellend, mehr oder weniger flüchtig vorüberhuschen, während die Dinge doch wohl beharren oder auch einmal wiederkehren, nachdem die Dinge längst vergangen sind. Sie zeigt uns, wie diese Bilder, scheinbar regellos, doch in Wahrheit nach eigenen Gesetzen einander folgen, sich verketten, zu Gedanken und Gedankenreihen sich zusammenschließen; wie die Gedanken, eine Welt für sich, fast unabhängig von den Dingen, bald in mühevoller, die Kräfte anspannender Arbeit, bald in leichtem Fluß, ein endloses Getriebe, sich regen, ineinandergreifen und uns zu einem Phantasiegebilde, zu Wahrheit oder Irrtum führen; zeigt uns, wie sich überall im Getriebe etwas regt, fördernd oder störend, das in der Außenwelt kein Widerspiel mehr hat, das aber hier erst Farbe, Glanz und Wärme ausmacht, ein Hoffen, Bangen, ein Lieben, Hassen, Streben, Verlangen oder Fliehen; und wie das Ganze als Eigenes, Neues der Welt der Außendinge gegenübersteht, durch sie beeinflußt und wieder mächtig in sie eingreifend, ihr Schicksal oft beherrschend und gestaltend, ein gleicher Faktor im Geschehen und im Sein des Alls, unser Inneres - das Seelenleben.


2. Charakteristik der psychischen Tatsachen
im Vergleich zu den physischen.

All dieses Zahllose und Mannigfaltige, die Vorgänge und Gebilde in unserem Bewußtsein oder, wie wir es von nun an stets bezeichnen wollen, die Gesamtheit der  psychischen Tatsachen,  ist geradeso real und wirklich, ja viel unmittelbarer gegeben und bekannt, als die materiellen Dinge und Vorgänge in der Außenwelt, im übrigen jedoch seiner Beschaffenheit nach von diesen total verschieden. Die Verschiedenheit ist die größte, die wir zwischen irgend zwei Dingen der Welt vorfinden, ja - wenn wir nicht geradezu an die zwischen  etwas  und  nichts  denken wollen - vielleicht die größte, die wir überhaupt ersinnen können. Freilich ist es schwer, sie jemandem, der die Verschiedenheit nicht schon von selber merkt, in Worten aufzuweisen; nicht aber deshalb, weil sie etwa zu fein und zu versteckt wäre, sondern weil man, sieht einer den Wald vor Bäumen nicht, damit er ihn doch endlich sieht, nichts anderes tun kann, als seinen Blick nur wieder hin auf den Wald zu lenken. An dies und jenes kann man ja wohl erinnern. Ein steinerner Würfel ist hart und kalt, grau und schwer und eckig; die Vorstellung von ihm, der Gedanke, die Erinnerung an ihn, hat nichts von diesen Eigenschaften und kann nichts davon haben - sie enthält nur selber wiederum die Vorstellung von Hart und kalt und anderem. Mein Freund, den ich bemitleide, geht vielleicht rechts neben mir; der Gedanke an meinen Freund, oder das Mitleid ist weder rechts noch links, es hätte gar keinen Sinn, ihm einen Ort anzuweisen. Der Baum, der vor uns steht, den können  wir beide  sehen; jedoch mein inneres Bild vom Baum, wie ich ihn sehe (meine Wahrnehmungsvorstellung), das kenne ich allein, das kann  kein anderer  sehen, so wenig wie die Gedanken und Gefühle, die ich daran knüpfe. Und schließlich - vielleicht das bedeutendste von dem, was sich da überhaupt in Worte kleiden läßt: Mein Vorstellen, mein Denken, mein Fühlen und mein Wollen ist stets in eigenartiger Weise auf irgendetwas "gerichtet"; ich stelle mir  etwas  vor, ein etwas, das nicht das Vorstellen ist, vielleicht ein Buch; mein Denken erfaßt Dinge, die selbst kein Denken, ja überhaupt nichts Geistiges sind; es erfaßt sie, ohne sie etwa in sich hineinzuziehen; von einem räumlichen Verhältnis ist keine Rede, kann keine Rede sein und doch "trifft" unser Denken jene Ding. Das gleiche gilt vom Fühlen und vom Wollen. Es ist eine Beziehung, die rätselhaft, ja unausdenkbar sein müßte, wenn wir sie nicht so gut aus unserer inneren Erfahrung kennen würden. Doch sie ist ganz auf das Psychische beschränkt; sucht man das Physische, die Welt der materiellen Dinge, auch noch so eifrig durch, da ist nicht eine Spur von ihr zu finden; da ist ein räumliches Neben- oder Ineinander, Bewegung gegeneinander, da gibt es mancherlei Beziehungen, doch so ein inneres Bezogensein, Gerichtetsein, Hinweisen auf ein anderes, das hat da keine Stelle. Die physischen Dinge stehen abgeschlossen gegeneinander da, keines weist in jenem eigenartigen Sinn über sich hinaus, wie wir es vom Vorstellen und allem psychischen Geschehen her kennen. Darin liegt wohl der greifbarste, charakteristischste Unterschied zwischen den beiden Gebieten - wenn man auch nicht gerade sagen kann, daß er es ist, der etwa auch die Wesensverschiedenheit der beiden ausmacht; auch er ist nur ein Merkmal dieser Wesensverschiedenheit und diese selbst läßt sich nicht anders fassen als daß man sagt: Materielles hier und dort Geistiges.


3. Die Doppelheit des "Gegebenen" trotz
Einerleiartigkeit des unmittelbar Erlebten.

Wenn wir nun aber, wie es eben hieß, die materiellen Dinge selbst gar nicht gegeben haben, sondern gleichsam nur Abbilder von ihnen, woher nehmen wir die Berechtigung zu all diesen Behauptungen? Wie kommen wir dazu, Physisches und Psychisches zu unterscheiden und einander gegenüberzustellen, wenn alles, was wir haben und kennen, doch nur ein Einerleiartiges, das Psychische, ist?

Die Schwierigkeit, die damit angedeutet sein soll, ist bloß eine scheinbare. Sie ist nur möglich durch die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der Ausdrücke "gegeben", "haben", "kennen". Eben wegen jener besonderen Eigentümlichkeit der psychischen Tatsachen, vor allem der Vorstellungen, "auf etwas gerichtet zu sein", ist uns mit dem Erleben einer psychischen Tatsache in zweifachem Sinn etwas "gegeben": direkt und unmittelbar die psychische Tatsache selbst, mittelbar und in übertragenem Sinn eben das, worauf sie gerichtet ist. Ein Beispiel mag dies klarer machen. Ich gehe nachts heimwärts, erhebe zufällig mein Auge und erblicke den Mond am Himmel. Nun weiß ich etwas über den Mond, etwa, daß er am Himmel steht, sich im letzten Viertel befindet und wie er eben aussieht. Damit ist mir von einem physischen Ding etwas gegeben; d. h. ich habe Kunde von seiner Existenz, seinem Zustand und seiner Beschaffenheit. Dieses "Kunde haben von etwas" ist der eine Sinn jenes "Gegebenen". Es ist mir dabei aber auch noch in einem eigentlicheren Sinne etwas gegeben: die Wahrnehmungsvorstellung vom Mond und der Gedanke an ihn. Die sind natürlich etwas Psychisches. Und dieses "habe" ich unmittelbar und wirklich und erkenne seine Beschaffenheit. Aber indem ich es habe, gewinne ich vermöge der Eigenart des Psychischen, auf etwas gerichtet zu sein, auch Kunde von noch etwas anderem, vom Gegenstand dieses Psychischen (dieser Vorstellung), in unserem Beispiel vom Mond. So ist mir im geschilderten Erlebnis zweierlei gegeben: die Kunde von einem Physischen (vom Mond) und ein Psychisches (meine Wahrnehmungsvorstellung oder mein Gedanke); und ich erkenne leicht, daß das auch wirklich zweierlei ist: mein Gedanke an den Mond ist etwas anderes als der Mond selber.

Dabei ist es zunächst ganz gleichgültig, ob der physische Gegenstand der Vorstellung, etwa der Mond, in Wahrheit auch wirklich so beschaffen ist, wie er uns in unserer Vorstellung erscheint, ja, ob er in Wahrheit überhaupt existiert. Das zu untersuchen ist Sache einer eigenen Wissenschaft, der Erkenntnistheorie. Mag diese Wissenschaft bei ihrer Arbeit zu dieser oder jener Antwort kommen, für unsere Tatsachenbeschreibung kann das nichts ausmachen. Immer bleibt es aufrecht, - leicht zu erkennende und niemals wegzuklügelnde Tatsache der unmittelbarsten Erfahrung - daß unser Denken auf etwas gerichtet ist, jede Vorstellung z. B. auf etwas, das nicht wieder eben diese Vorstellung ist und daß es uns dadurch von diesem etwas Kunde bringt. Die beiden Daten bleiben, auch wenn die Erkenntnistheorie zeigen sollte, daß eines oder das andere von ihnen irreführt. Sie haben, so wie sie uns ansich, in unserer unmittelbaren Tatsachenerfahrung gegeben sind, ihre eigentümlice, voneinander sichtlich verschiedene Beschaffenheit, die zu erforschen nötig ist. Denn nicht das kleinste Naturgesetz, nicht die geringste Lehre der Physik wird wankend, wenn die Erkenntnistheorie auch noch so deutlich zeigt, daß es materielle Dinge etwa gar nicht gibt. Die Tatsache bleibt unumstößlich fest: Unser Vorstellen ist so beschaffen, daß es uns  Dinge  zur Vorstellung bringt; und von der Beschaffenheit eines großen Teils dieser Dinge handelt die Physik. Und ebenso ist es nach unmittelbarer, unreflektierter Erfahrung sicher und deutlich, daß eine Vorstellung niemals identisch ist mit dem Ding, das sie zum Vorgestelltwerden bringt, der Mond was anderes ist (auch wenn er gar nicht existiert), als unsere Vorstellung, mittels welcher wir ihn vorstellen. So stellt sich unser Denken - das "unmittelbar Gegebene" - vor aller theoretischen Bearbeitung dar, das ist die Tatsache, von der selbst die Erkenntnistheorie, auch wenn sie mit den destruktivsten Absichten ans Werk geht, den Ausgang nehmen.


4. Gegenstand der Psychologie
sind die psychischen Tatsachen.

Wenn wir demnach die Vorstellung und den vorgestellten Gegenstand in solcher Weise zu unterscheiden haben und den vorgestellten Gegenstand (in der Hauptsache) der Physik, genauer den Wissenschaften von der materiellen Welt oder der äußeren Natur, zur Bearbeitung zuweisen, dann bleibt es offenbar einer anderen Wissenschaft vorbehalten, die Vorstellung selber zu behandeln. Diese andere Wissenschaft ist nund die Psychologie. Der Psychologie fällt es zu, an jener Tatsache, jenem Erlebnis, das wir eine Vorstellung nennen, all das zu untersuchen, was jenes Erlebnis  selber ist,  während das, wovon es uns Kunde gibt, oder worauf es "gerichtet" ist (der Gegenstand der Vorstellung), normalerweise außer ihren Bereich fällt. Aber nicht nur die Vorstellungen etwa liegen im Forschungsgebiet der Psychologie, vielmehr alle die  psychischen Tatsachen,  auf die wir eingangs die Aufmerksamkeit gelenkt haben: Empfindungen, Gedanken jeder Art, Gefühle, Verlangen und Verabscheuen; all das für sich sowie in seinen vielfachen Verbindungen, Verschränkungen, seinem Entstehen und Vergehen und seiner wechselseitigen Abhängigkeit, all die zahllosen Gebilde, die sich dabei ergeben, das Aufmerken, das Phantasieren, das Erkennen und das Irren, das Lieben, Hassen, Fürchten, Sehnen, Bewundern und Genießen, das Abstrahieren und Vergleichen und wie sie alle heißen, die hundert Regungen des Menschenherzens und des Menschengeistes. Das macht das Gegenstandsgebiet der Wissenschaft Psychologie aus:  die  Gesamtheit der psychischen Tatsachen.


5. Ablehnung der Bestimmung:
Gegenstand der Psychologie sind die Erlebnisse
nach ihren subjektiven Eigenschaften.

Die eben vorgetragene Bestimmung des Gegenstandes der Psychologie wird heute durchaus nicht allgemein anerkannt; sie wird vielmehr von autoritärer Seite verworfen, ja geradezu für sinnlos erklärt. Es ist daher unerläßlich, den Einwänden, die gegen sie vorgebracht werden, sowie der Auffassung, durch die sie ersetzt wird, ausdrückliche Beachtung zu schenken.

Der Antrieb zur Entwicklung dieser zweiten Lehre geht von der Unterscheidung physischer und psychischer Tatsachen aus, und zwar vom Widerspruch gegen die Zulässigkeit dieser Unterscheidung. Es wird mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, daß es für unsere ursprüngliche Erfahrung einen solchen Gegensatz nicht gibt. Vielmehr zeige sie uns einen Ablauf von Erlebnissen, die, alle von gleicher Art, keine Handhabe zu einer so fundamentalen Trennung bieten. Wir haben nichts anderes als sogenannte Empfindungen, Anschauungen (=Vorstellungen), Erinnerungen, Stimmungen, Gefühle; eine Folge von solchen und ihren Verknüpfungen macht unser ganzes Leben aus. Farben-, Ton-, Wärme-, Druck-, Raum-, Zeit- usw. Empfindungen "sind in mannigfaltiger Weise miteinander verknüpft und an dieselben sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Aus diesem Gewebe tritt das relativ Festere und Beständigere hervor, es prägt sich dem Gedächnis ein und drückt sich in der Sprache aus. Als relativ beständiger zeigen sich zunächst räumlich und zeitlich verknüpfte  Komplexe  von Farben, Tönen, Drücken usw., die deshalb besondere Namen erhalten und als  Körper  bezeichnet werden. ... Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als  Ich  bezeichnet wird. ... Der Gegensatz zwischen Ich und Welt (= Psychischem und Physischem), Empfindung oder Erscheinung und Ding fällt dann weg, und es handelt sich lediglich um den  Zusammenhang der Elemente  ..., für welchen eben dieser Gegensatz nur ein teilweise zutreffender, unvollständiger Ausdruck war. ... So besteht also die große Kluft zwischen physikalischer und psychologischer Forschung nur für die gewohnte stereotype Betrachtungsweise. Eine Farbe ist ein physikalisches Objekt, sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit von der beleuchteten Lichtquelle (andern Farben, Wärmen, Räumen usw.) achten. Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut ... so ist sie ein psychologisches Objekt, eine Empfindung. Nicht der Stoff sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden." (1)

Aufgrund solcher Gedankengänge meint man nun sagen zu müssen, die Psychologie sei "eine Wissenschaft nicht von einem bestimmten Ausschnitt der Welt, sondern von der ganzen Welt, aber von dieser nur nach einer bestimmten Hinsicht" (2), und für die Aufgabe der Psychologie ergibt sich daraus etwa die Formulierung, sie habe eine "Beschreibung der von erlebenden Individuen abhängigen Eigenschaften der Erlebnisse zu liefern" (3), oder die Psychologie sei die Wissenschaft der "von körperlichen Subjekten abhängigen Bestandteile der reinen, ursprünglichen Erfahrung". (4) -

Alle diese Bestimmungen sind dem gewiß sehr wertvollen Streben nach erkenntnistheoretischer Exaktheit entsprungen, scheinen jedoch dieses Ziel - wie auch sofort zu berichten sein wird, bis zu einem gewissen Grad selbst in den Augen ihrer Vertreter - nicht durchaus erreichen zu können.

Vor allem ist folgendes zu bedenken. Der Begriff des Subjektes und seines Gegensatzes zum Objekt nimmt seinen ganzen Sinn nur von der oben besprochenen Erfahrungstatsache her, daß unser Vorstellen und Denken  auf etwas gerichtet ist;  in der von der unmittelbaren Erfahrung geforderten Unterscheidung von Vorstellen und Vorgestelltem steckt seine Wurzel. Wer diese Unterscheidung leugnet, verliert schließlich den Inhalt des Begriffspaares Subjekt-Objekt. "Denn theoretisch liegt keine Veranlassung vor, den eigenen Körper als räumliches Einzelwesen gegen andere Körper im Raum abzugrenzen und als Ich diesen gegenüberzustellen, da ja auch der eigene Körper als ein Erlebnis gelten und damit jener doppelten Betrachtung der Subjektivierung und Objektivierung unterworfen werden kann." (5) Wird also dem Begriff Subjekt nicht irgendeine neue Bedeutung gegeben, so haben die obigen Formulierungen aufgrund dieser Anschauungsweise - nach der es also bloß einen ganz einerleiartigen ursprünglichen Erfahrungsinhalt ohne jene eigentümliche Richtungsbeziehung geben soll - gar keinen denkbaren Sinn.

Eine solche neue Bedeutung dem Subjektsbegriff zu geben, wird dann auch versucht. Der Grundgedanke dabei ist folgender. Die Erlebnisse sind sämtlich von einerlei Art und in sich geschlossen, tragen also jedes für sich allein gar nichts an sich, was eine Scheidung von Subjekt und Objekt im herkömmlichen alten Sinn begründen würde. Sie folgen einander in vorerst regellos scheinendem Ablauf. Die wissenschaftliche Behandlung dieses ursprünglichen Tatsachenmaterials hat die Aufgabe, es zu ordnen, d. h. das Gesetz aufzudecken, nach dem die Reihe verläuft, anders ausgedrückt, mittels welches sie geordnet dargestellt werden kann. Dabei ergebe sich nun, daß es nicht möglich ist, die Erlebnisreihe unter Zugrundelegung eines einzigen (allgemeinen) Geschehens-Gesetzes verständlich zu machen. Es seien dazu wenigstens zwei (allgemeinste) Gesetze anzunehmen, die dadurch als zwei erscheinen, daß sie von  verschiedener Art  sind: das eine das Gesetz  mechanischen  Zusammenhangs, das andere das des  assoziativen.  Nur als Interferenz [Überlagerung - wp] zweier solcher Gesetze lasse sich die Erlebnisreihe verstehen. Und zwar unterliege wenigstens der größere Teil der Einzelerlebnisse (die Empfindungen) sowohl der einen wie zugleich der andern der beiden Gesetzmäßigkeiten; in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit nach dem mechanischen Gesetz nennt man sie objektiv bedingt, in der nach dem assoziativen Gesetz subjektiv. In dieser einen Beziehung sind sie dann Sache der Psychologie, in jener andern der Physik.

So scharfsinnig und geistvoll der Versuch auch ist, den zuerst seiner natürlichen Grundlage beraubten Begriffsgegensatz Subjekt-Objekt dann doch wieder zu halten, so hält er doch nicht Stich. Denn wodurch werden wohl Gesetze des Geschehens zu  verschiedenen  Gesetzen? Doch nur durch die Verschiedenheit der Dinge oder Geschehnisse, von denen sie handeln. Alle Gesetze sind, wenn man von dem, was sie in gesetzmäßige Verbindung bringen, absieht, einander der Art nach völlig gleich; sie sagen dann alle das Gleiche aus, nichts weiter als: notwendige Verbindung. Besteht nun die Erlebnisreihe aus lauter gleichartigen Elementen, so ist nicht abzusehen, wie sie zur Aufstellung von zweierlei verschiedenen allgemeinen Grundgesetzen soll Anlaß geben können, wie insbesondere die Gesamthit der Empfindungen für zwei Ablaufgesetze verschiedener Art Raum bieten sollte; denn auch die allfällige Verknüpfung mit Gefühlen kann allgemein gar nichts ausmachen, weil auch der kleinste Geschehensablauf, der von Gefühlen nichts enthält, dem einen oder anderen Gebiet sich zuteilen lassen muß und zuteilen läßt. Die Ausdrücke mechanisches, assoziatives Gesetz sind wohl geeignet, darüber hinwegzutäuschen; aber abgesehen davon, daß es noch mehr als fraglich ist, ob jedes dieser Gesetze, einen bestimmten Sinn vorausgesetzt, auf seinem Gebiet uneingeschränkte Geltung hat, so zeigt sich auch an ihnen klar, daß sie verschiedene Gesetze nur dadurch sind, daß sie Verschiedenes betreffen: das eine besagt eine notwendige Abfolge etwa materieller Bewegungen, das andere das gleich etwa von Vorstellungen.

So scheitert diese Lehre in ihrer schärfsten Fassung an einer inneren Unmöglichkeit, die freilich nur einer abstrakten Analyse erkennbar wird. Viel handgreiflicher ist, was an jenen, gleichsam nur für den Hausgebrauch oder die Praxis bestimmten einfacheren Formulierungen eine ruhige Befriedigung nicht aufkommen läßt. Es scheint zum Beispiel gar nicht möglich, an den Erlebnissen (psychischen Tatsachen) Bestandteile oder Eigenschaften zu unterscheiden, die vom erlebenden Individuum, dem Subjekt, abhängen, im Gegensatz zu solchen, von denen das nicht gilt; denn sie sind in allen ihren Teilen und Eigenschaften durchaus vom Subjekt bestimmt, und wo sie vom Objekt mit abhängig sind, verschmelzen die beiden Einflüsse ganz und gar zu einem einheitlichen Gebilde, an dem,  für sich  genommen, ein realer Anteil des einen und des andern so wenig mehr zu sondern ist, wie etwa am Ton der Geige der Anteil des Bogens von dem der Saite. Freilich läßt sich am Ton untersuchen, wie er vom Bogen und wie er von der Saite  abhängt;  aber - um im Gleichnis zu bleiben - die Psychologie bekümmert sich ja nicht nur um die Abhängigkeit, um die Entstehung des Tones, sondern um den Ton und seine Beschaffenheit selber. In diesem sind nun zwei nach Ursprung verschiedene Bestandteile nicht auseinander zu sondern. Dasselbe gilt auch vom Punkt in der Ebene, an den man zur Verdeutlichung der These gleichfalls manchmal erinnert. Auch er hat keine unterscheidbaren Teile; aber daß er in jeder Lage durch zwei Faktoren, Abszisse und Ordinate, bestimmt ist, kann hier nichts erklären, weil diese beiden doch nur als Bilder für Subjekt-Objekt Sinn bekommen und eine solche Unterscheidung, wie wir gesehen haben, hier keinen Boden hat.

Ein anderes, was an der in Rede stehenden Anschauungsweise befremdet, ist, daß sie es erst von langwierigen Überlegungen abhängig macht, zu entscheiden, ob ein Gegebenes, an das man etwa eben denkt, ein Subjektives oder Objektives, psychisch oder physisch ist. Sonst macht man diese Unterscheidung auf den ersten Blick und braucht nicht viel dabei zu spekulieren. Wo es wirklich einmal ein besonderes Studium verlangt, zu entscheiden, ob ein - zumeist abnormes - Geschehen "ein subjektives oder objektives" ist, wie etwa seinerzeit bei der Untersuchung des Farbenkontrastes, da ist die Frage nicht, ob das  Erlebnis  (die Wahrnehmung des Kontrastes) ein Subjektives oder Objektives, psychisch oder physisch ist; denn darüber besteht kein Zweifel, es ist natürlich psychisch. Die Frage dreht sich nur darum, ob die  Bedingung des abnormen Verlaufs  auf seiten des Subjektiven oder des Objektiven liegt und ob deshalb, von diesem abnormen Geschehen  besonders Notiz  zu nehmen, der Psychologie oder der Physik zukommt. (6)

So mag es wohl berechtigt sein, wenn wir dieser Auffassung vom Gegenstand der Psychologie nicht Folge leisten. Dies umso mehr, als wir gesehen haben, daß, was sie an der von uns vertretenen Ansicht rügt, nicht stichhaltig ist. In jedem Erlebnis, besonders deutlich und unmittelbar in jeder Empfindung oder Wahrnehmung, ist uns die Erfahrungsgrundlage zu zweierlei gegeben: zunächst nur Kunde von dem  was  wir empfinden oder wahrnehmen und ferner noch zum Wissen davon,  daß  wir eben empfinden oder wahrnehmen. Beides führt aber nicht auf dasselbe: das Wahrgenommene ist etwas anderes als die Wahrnehmung. Jenes ist meist ein Physisches, diese stets psychisch. Das eine ist dann Sache der Wissenschaft von der äußeren Natur (Physik, Chemie usw.), das andere gehört der Psychologie.


6. Ablehnung der Bestimmung:
Gegenstand der Psychologie ist die Seele

Ist die soeben abgelehnte Fassung vom Gegenstand der Psychologie ein Ergebnis jüngster Wissenschaftsentwicklung, so ist die dritte, der wir nun noch gedenken müssen, geradezu die alte, ursprüngliche. Sie ist mit dieser Wissenschaft gleichsam zur Welt gekommen, sie blieb das ganze Mittelalter durch in Geltung, sie hat den Plan beherrscht zur Zeit des großen Aufschwungs der deutschen Philosophie vor hundert Jahren, sie ging noch mit zu Anfang der Verbindung, die später unsere Wissenschaft mpt physiologischem Erkennen schloß, sie steht auch heute noch an manchem Ort in Ehren und ist gewiß dem unbefangenen Laien die selbstverständliche, natürliche: Psychologie gleich Wissenschaft von der Seele, das sagt ja schon ihr Name.

Doch trotz der scheinbar übermächtigen Autoritäten ist es uns unmöglich, diese Fassung anzunehmen - sofern wir mit unseren Worten das besagen wollen, was wir meinen. Denn wer von Seele spricht, wird heute wohl zunächst noch so verstanden werden, als ob er jenes substanzielle Seelenwesen meinte, das, immateriell, unteilbar, einfach, ein relativ selbständiges Dasein haben und nach der Lehre herrschender Konfessionen in seiner Verbindung mit dem Leib dessen Leben, durch seine Trennung von ihm den Tod ausmachen soll.

Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, ob eine solche Seele existiert und ob sie Gegenstand der Forschung sein kann. Für jetzt, bei den ersten Schritten in unserer Disziplin, ist maßgebend, daß wir, um nur erst Boden zu gewinnen, den Gegenstand der Untersuchung aus  der Erfahrung  holen. Und das ist sicher: die Seele als metaphysische Substanz, als eigenes, immaterielles Wesen, ist kein Erfahrungsding. Sie mit den äußeren Sinnen wahrzunehmen, daran denkt ja ohnedies niemand. Aber auch das Innenleben gibt nie und nirgends eine Anschauung von einem solchen Wesen. Die bunte Mannigfaltigkeit, die es enthält, zerfällt bei näherem Betrachten in Vorstellungen, Gedanken, Gefühle und ähnliches, lauter zusammengesetzte, wandelbare, meist rasch vorübergehende Gebilde, die gar nichts von den Forderungen erfüllen, die zu erfüllen das Wesen jener Seele ausmacht; und je genauer man den Inhalt des Bewußtseins untersucht, umso deutlicher wird man gewahr, daß es nichts neben und nichts in diesen Gebilden wahrnehmen läßt, was man die Seele in diesem Sinne nennen dürfte. Ja, mancher wird sogar geneigt sein geradewegs zu sagen, was überhaupt einmal wahrnehmbar ist, das kann schon deshalb nicht die Seele sein.

Man sieht, die Seele ist nicht Erfahrungstatsache. Sie ist der Gegenstand eines Begriffes, den sich der Mensch schon in der dunklen Vorzeit seines Naturdaseins ganz unwillkürlich zu bilden begonnen hat, den er sich dann, durch mannigfache Wandlungen hindurch, allmählich weiter entwickelt hat, teils zur Befriedigung der Sehnsucht seines Herzens, teils um sich die eigene Natur und das Geschehen der Welt zu erklären, der dann durch manche religiöse Lehre die höhere Sanktion erhielt und dessen sich zum Schluß auch die Theorie des Innenlebens bemächtigte, um ihn zur Klärung ihres Tatsachengebietes auszunützen. Wenn also die Psychologie eine Seele statuiert, so kann sie das nicht im Sinne eines Erfahrungswissens tun, sondern im Sinne einer Hypothese, ganz so, wie etwa die Chemie von den Atomen und die Physik vom Lichtäther sprechen. Auch sie kann nur den Zweck damit verfolgen, die (psychischen) Tatsachen durch eine solche Annahme besser zu erklären und zu beschreiben, als es ihr ohne deren Hilfe möglich wäre; und wie sonst überall so gilt auch hier, daß dieser Annahme ums größerer Wahrheitswert zuzuerkennen ist, je größer jene Hilfe ist, die sie der Theorie zu leisten vermag.

Daraus ergibt sich, daß die Psychologie nicht mit der Lehre von der Seele beginnen kann. Sie muß vielmehr vom Tatsächlichen den Ausgang nehmen, und dabei wird es sich zeigen, ob sich die Forschung einmal zur Hypothese einer Seele gedrängt sieht oder nicht. Auf jeden Fall kann davon erst die Rede sein, bis die Erfahrungstatsachen in weitem Ausmaß erkundet sind; dann hat sich dem Stand dieses Erfahrungswissens die Hypothese anzupassen und stets angepaßt zu halten, wenn es sich mit fortschreitender Forschung erweitert.

Darin liegt es begründet, daß nicht die Seele, sondern die psychischen Tatsachen als Gegenstand der Psychologie zu nennen sind.
LITERATUR - Stephan Witasek - Grundlinien der Psychologie, Leipzig 1908
    Anmerkungen
    1) ERNST MACH, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, 1. Auflage, 1886, Seite 2, 3, 10, 13. - 4. Auflage 1903, Seite 1, 2, 11, 14. Die kleine Änderung des Wortlautes im Anfang des ersten Zitates ist zur Verdeutlichung der vorgetragenen Anschauung vorgenommen und gewiß ganz in ihrem Sinne; vgl. übrigens zum Beweis Seite 16 unten: "Man nennt diese Elemente gewöhnlich Empfindungen."
    2) HERMANN EBBINGHAUS, Grundzüge der Psychologie I, 1. Auflage 1902, Seite 7. In der zweiten Auflage (1905) fehlt zwar die obige prägnante Fassung, doch scheint der Standpunkt dadurch keineswegs verschoben.
    3) OSWALD KÜLPE, Grundriß der Psychologie, Seite 5
    4) KÜLPE, Einleitung in die Philosophe, 1. Auflage, 1895, Seite 66
    5) KÜLPE, Einleitung in die Philosophe, 1. Auflage, 1895, Seite 224
    6) Vgl. EBBINGHAUS, a. a. O. Seite 7