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BERTHOLD KERN
Das Erkenntnisproblem
und seine kritische Lösung

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"An der Spitze unseres Erkenntnissystems steht jenes objektive Denken als eine vom Objekt abhängige, von ihm bedingte und mit ihm übereinstimmende Entwicklung von Begriffen, deren Inhalt wir Erkenntnis nennen."

IV. Abschnitt
Das kritische Erkenntnissystem (1)

Als praktisches Ziel der Erkenntnistheorie habe ich die Feststellung der Begriffe bezeichnet, in denen wir die Erkenntnis niederlegen und mittels derer wir die Erkenntnis fortführen. Diese Feststellung der Begriffe erfordert aber nicht nur die erkenntnisgemäße Bestimmung der Begriffsbedeutung, sondern vollendet sich erst in der Bestimmung auch ihrer Stellung zueinander, in der Feststellung des Begriffssystems, welches die einheitliche Ordnung der Begriffe darstellt. Ich habe bereits zweierlei Begriffssysteme, ein psychisches und ein stoffliches, einander gegenübergestellt. Beide werden umfaßt vom Erkenntnissystem, welches die einheitliche Ordnung des Gesamtinhalts unserer Erkenntnis und zugleich den beherrschenden Einheitsbegriff bestimmt. Dieser letztere als der oberste Begriff, unter dem und kraft dessen sich jene Ordnung vollzieht, in dem sie aufgeht und ihre Bedingungen vorfindet, ist das Denken (2). Unser Begriffssystem wird damit zu einem Aktualitätssystem in dem bereits erörterten Sinn, daß alle Substantialität erst ein Erzeugnis des Denkens, daß das Urbild der Wirklichkeit nicht das Sein, sondern das Geschehen ist und erst aus diesem das Sein als sekundäre Form ersteht, in die wir den Erkenntnisinhalt zwecks seiner Ordnung kleiden.

Das Denken steht also an der Spitze des Erkenntnissystems lediglich als Bedingung und Voraussetzung jeder Erkenntnis, in KANTs Terminologie gesprochen als logisches Apriori, nicht als psychologisches Prius; der psychologischen Auffassung muß vielmehr ausdrücklich zugestanden werden, daß die Denktätigkeit sich erst anhand der Erkenntnis, in deren Lauf und in Abhängigkeit vom Gegenstand der Erkenntnis, ebenso im individuellen, wie in einem phyologenetischen Sinn entwickelt. Das Erkenntnissystem ist ein logisches, kein psychologisches System.

Es ist ferner vorauszuschicken, daß der Begriff des Denkens kein selbständig verwertbarer Begriff ist, daß er vielmehr stets einer begrifflichen Ergänzung bedarf durch die Beziehung auf den Begriff des Ich oder auf den Begriff als solchen. Im ersteren Fall ist die Voraussetzung der Erkenntnis das "Ich denke" KANTs in dessen transzendentalem Sinn. Im letzteren Fall gelangen wir anstelle der Voraussetzung auf das inhaltliche Element der Erkenntnis, in welchem das Denken erst seine Realisierung gewinnt. Im ersteren Fall nehmen wir die Richtung auf das Subjekt, im letzteren auf das Objekt. Da für das Erkenntnisproblem das Objekt als Beziehungs- und als Ausgangspunkt der entscheidende Faktor ist, so gewinnen wir hierdurch als maßgebende und richtende Wendung die, daß der Begriff das Denken trägt, daß der Begriff sich entwickelt und daß diese Entwicklung der Begriffe Denken heißt. Sofern die Entwicklung der Begriffe durch das Objekt bedingt und gerichtet wird, heißt sie mehr als Denken, heißt sie Erkennen. Hier tritt die Eigenart dieser Wendung und ihr Unterschied zu anderen mit Bestimmtheit hervor. Das Erkennen hängt lediglich ab vom Objekt und könnte als objektives Denken bezeichnet werden im Unterschied zum subjektiven Denken, welches seine Bedingungen im Subjekt hätte und in dessen Organisation. Jenes steht im Gegensatz zu aller Bewußtseinsphilosophie, aber ebenso auch im Gegensatz zur logistischen Selbstentwicklung des Begriffs und zur Mechanik der Empfindungen. Ein solches objektives Denken ist es, was einzig und allein hier in Frage steht. Hätte KANT seiner "transzendentalen Apperzeption" und seine "Ich denke" die Wendung zum Begriff und durch diesen unmittelbar zum Objekt genommen, so hätte er sich zahllose Schwierigkeiten und Mißverständnisse erspart. In seinem Sinne jedenfalls hätte diese Wendung durchaus gelegen. HEGEL hat sich zwar dem Begriff zugewandt, aber das Objekt verfehlt, während FICHTE unter der verhängnisvollen Macht der Sprache sich in der subjektiven Denkweise verfangen hat.

An der Spitze unseres Erkenntnissystems steht also jenes objektive Denken als eine vom Objekt abhängige, von ihm bedingte und mit ihm übereinstimmende Entwicklung von Begriffen, deren Inhalt wir Erkenntnis nennen. Diese Entwicklung von Begriffen ist eine gesetzmäßige. In der Beziehung des Denkens auf unser subjektives Ich sprechen wir von Denkgesetzen, in der Beziehung des Denkens auf das Objekt und den objektiv gültigen Begriff würden wir sie als Gesetze der Begriffsentwicklung bezeichnen und formulieren müssen. Als solche gelten sie für den gesamten Begriffsinhalt und weisen ebenso wie dieser unmittelbar auf das Objekt. Sie sind dann Gesetze der objektiven Wirklichkeit, in der sie ihren Ursprung haben und aus der sie in die Begriffsentwicklung und in unser subjektives Denken übergehen. Vom Gesichtspunkt des Subjekts aus sind es Denkgesetze, die wir in die Wirklichkeit hineindenken, mittels derer wir nach einer üblichen Ausdrucksweise die Wirklichkeit formen; vom Gesichtspunkt dieser letzteren aus dagegen sind es deren Gesetze, die als solche auch für unser Denken gelten, die unser Denken als ein Teil jener Wirklichkeit aus ihr aufnimmt. So findet auch an dieser Stelle der Streit um die subjektive oder objektive oder transzendental und transzendente Bedeutung unserer Naturgesetze seine unzweideutige Lösung und im Besonderen die Übereinstimmung des Gesetzes vom zureichenden Grund mit dem Kausalgesetz ihre erkenntniskritische Rechtfertigung. Dasselbe gilt für die Gesetze der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten hinsichtlich ihrer Geltung für unser Denken und zugleich für die Natur und ebenso, wie bereits früher erwähnt, für die Anwendung der Mathematik auf das Naturgeschehen.

Entsprechend den Grundfunktionen des Denkens, dem Unterscheiden und Vergleichen, treten als Grundbegriffe der Erkenntnis diejenigen der Vielheit (*Mannigfaltigkeit) und der Einheit auseinander und zugleich in ein Wechselverhältnis gegenseitiger Bedingtheit. Hier bereits treten auch die Begriffe des Objekts und des Subjekts auseinander und weisen sich als Relativbegriffe aus. In ihnen verkörpert sich die Vielheit der Begriffe vermöge ihrer Beziehung auf das mannigfaltige Objekt und die Einheitlichkeit des Begriffs vermöge seiner Beziehung auf das einheitliche Ich, welches im Begriff die Vielheit zur Einheit zusammenfaßt. In einem objektiven Sinn ist der Begriff Element, in einem subjektiven ist er die Einheit der unter ihm gefaßten Mannigfaltigkeit. Genau dasselbe gilt von der Zahl, nur daß in ihr die bloße Begrifflichkeit von Vielheit und Einheit noch schärfer hervortritt und auch der Beziehung auf Objekt und Subjekt entkleidet ist, indem sie beides in sich vereinigt und repräsentiert. Dieser Charakter der Zahl macht es erst verständlich, wieso die Pythagoräer in ihr das Wesen der Welt zu erblicken vermochten.

Jenen grundlegenden Begriffen der Vielheit und der Einheit reiht sich gemäß dem Aktualitätscharakter des Systems als allgemeinster Ordnungsbegriff die Zeit an, innerhalb derer sich jegliches Geschehen vollzieht. Oberhalb der Zeit stehen nur die Denkgesetze und mit ihnen zusammenfallend die Naturgesetze sowie die zeitlosen Grundbegriffe, die ich vorher erwähnt habe. Alles Übrige steht innerhalb des Zeitbegriffs und ist ihm unterzuordnen. Auch die Substanz als beharrlicher Träger des Geschehens ist ein in der Zeit Beharrendes. Nur in einem Substantialitätssystem würde auch die Substanz und das Sein als zeitlos oder überzeitlich gelten dürfen und dann aus der Einschränkung des Seienden der Zeitbegriff hervorgehen, was auf platonische Gedanken zurückführt. Mit der Bestimmung der Zeit als allgemeinsten Ordnungsbegriffs ist natürlich nicht gesagt, daß wir unter Umständen aus Zweckmäßigkeitsgründen den Zeitbegriff nicht auch ausschalten und in den Einzelheiten eines untergeordneten Gebietes gelegentlich ohne ihn denken könnten, wie z. B. bei Definitionen, Gesetzen, Verhältnissen usw.

Wesentlich größere Freiheit haben wir in der Anwendung des Substanzbegriffs. Er ergibt sich aus der Zeit und tritt ihr entgegen als Einheit in der Zeit, als Zusammenfassung der Zeit, des zeitlichen Geschehens und des Wechsels der Geschehnisse. Der Substanzbegriff hebt den inneren Zusammenhang von Geschehnissen hervor und tritt als Vertreter dieses Zusammenhangs auf. In ihm verdichtet sich der Zusammenhang zum Begriff eines in der Zeit Beharrenden. Übrigens ist dies nur seine systematische Stellung; denn er liegt bereits so tief im Begriffssystem, daß er auch zu den verschiedensten anderen Begriffen Beziehungen eingeht und deshalb erklärlicherweise einer sehr verschiedenartigen Begriffsbestimmung zugänglich ist und eine solche tatsächlich auch erfährt. Eine einheitliche Bestimmung seines Inhalts ist daher kaum mehr möglich.

Im vorstehenden Sinn nimmt der Substanzbegriff die Gesamtheit der Wirklichkeit in sich auf, es ist der Grundbegriff, vermöge dessen aus dem zeitlichen Zusammenhang alles Geschehens die Welt ersteht als ein seiendes und beharrendes, nur Veränderungen erfahrendes Ganzes. Ein Teil in diesem Ganzen, ein vorgestellter Ausschnitt aus ihm ist das empirische, mit Inhalt gefüllte Ich. Aber der Ausschnitt bleibt nur ein vorgestellter, der die Zusammenhänge mit dem Ganzen nicht lösen und nicht verleugnen kann. Immerhin sind auch in diesem Ich gewisse innere Zusammenhänge vorhanden, welche uns das Recht zu seiner Unterscheidung vom übrigen Weltinhalt geben. Insbesondere ist es der zeitliche Zusammenhang, wie er im Gedächtnis und dem ununterbrochenen Bleiben der Körperform sich vorwiegend darstellt, der uns berechtigt, diesem Ich eine relative Selbständigkeit zuzusprechen, ebenso wie wir es in mannigfaltigeren Unterscheidungen mit anderen (belebten oder unbelebten) Teilen des Weltganzen tun.

Ob wir dabei die Substanz als unteilbare und unendliche Einheit oder als eine Vielheit von wechselndem Zusammenhang anzusehen haben, bedürfte kaum der Erwähnung, wenn es nicht zu so vielen müßigen Spekulationen über Welt, Gott und Seele Anlaß gegeben hätte. Maßgebend hierfür darf allein der Grundsatz sein, daß wir nicht aus dem inhaltlich ganz und gar leeren, also rein formellen Substanzbegriff auf die Wirklichkeit schließen dürfen, sondern unserem Substanzbegriff diejenige Fassung zu geben haben, die den Ergebnissen unserer Erfahrung entspricht und von ihnen bestimmt wird. Jedenfalls, solange wir nicht einem absoluten Ich oder absoluten Geist verfallen wollen, sondern im Wirklichkeitsinhalt Unterscheidungen vornehmen, welche dessen Einheit zerlegen, müssen wir auch die Substanz zerlegen und die Art der Zerlegung einem Wechsel untwerfen. Mit anderen Worten: absolute Beharrlichkeit, also zeitliche Unendlichkeit, dürfen wir nicht beliebigen Teilen oder beliebigen Komplexen, nicht beliebigen Abgrenzungen der Substanz unterschieben, sondern nur der substantiellen Einheit, d. h. dem Ganzen (als Einheit gedacht) und zugleich - was auf dasselbe hinausläuft - den elementaren Einheiten (gemäß der gegenseitigen Wechselbeziehung zwischen den Grundbegriffen Einheit und Vielheit). Nur für diese beiden Grenzen des Substanzbegriffs, für das Ganze und die Elemente, gilt das Gesetz von der Erhaltung der Substanz, aber nicht für jeweilige Einschränkungen und Zusammenhänge, wie sie durch unsere Unterscheidungsbegriffe bedingt sind.

Gebunden sind wir übrigens auch an den Substanzbegriff keineswegs, obwohl er uns wertvolle Vorteile bietet, sondern können das Wirklichkeitsgeschehen auch ohne ihn auffassen und dabei Ersatzbegriffe verwenden (z. B. Wille, Kraft, Energie), dann aber ohne solche Ersatzbegriffe ihrerseits wiederum zu hypostasieren [vergegenständlichen - wp]. Die Anwendung des Substanzbegriffs bleibt eine reine Frage der Zweckmäßigkeit für die Ordnung und Verwertung unseres Erfahrungsinhalts.

Nun aber spalten sich, wenn wir weiter abwärts das System unserer Erkenntnisbegriffe verfolgen, diese in zwei Sondersysteme, deren eines den Geschehensinhalt auf das denkende Ich bezieht, ihn dem Ich als Erkenntnisinhalt einverleibt, seinen Wert für das Ich gefühlsmäßig feststellt und die Reaktionen des Ich auf diesen Gefühlswert in der Form von Denkhandlungen zum Ausdruck bringt, die wir meist unter dem Begriff des Willens erörtern. Die andere Erkenntnisweise läßt das erkennende Ich außer Betracht und bezieht den Inhalt des Geschehens nur auf diesen selbst, d. h. seine Inhaltsteile auf andere Inhaltsteile und auf das Ganze des Objekts. In der Trennung des Objekts vom Ich liegt offenbar das Grundmotiv des räumlichen Denkens, welches das hierbei sich entwickelnde Begriffssystem durchweg beherrscht und ihm seinen andersartigen Charakter gibt. In der Unterscheidung des Objekts vom Ich, im Vergleich seines Inhalts nur innerhalb dessen selber und in der Beurteilung seiner Inhaltsteile nur hinsichtlich ihrer gegenseitigen Beziehungen und Zusammenhänge liegt ferner das Grundmotiv für die Verselbständigung des Objekts gegenüber dem Denken und für die Unterscheidung und die gegensätzliche Auffassung von Wirklichkeitsinhalt und Erkenntnisinhalt. Der Gegensatz entspringt lediglich dem Gegensatz der beiden Erkenntnisweisen und Begriffssysteme.

Erst sekundär entspringt hieraus die Konstruktion von fremden Ichs; sie hat die räumliche Trennung zur Voraussetzung und denkt erst a posteriori in gewisse Komplexe von Objektsinhalten ein dem eigenen Ich analoges raumloses Einheits-Ich als Seele oder Geist hinein. Hierauf beruth dann weiter die Möglichkeit, geistige Vorgänge und geistige Inhalte nicht bloß subjektiv als Erlebnisse, sondern auch objektiv aufzufassen als Wissenschaftsinhalte und Erkenntnistatsachen, als logische Denknormen, als ethisches Sollen, als soziale Rechtsordnung, als religiöse Gebote usw. unter Beziehung auf ein Allgemeinbewußtsein von verschiedenem Umfang bis hinauf zu einem absoluten Geist, der in das Ganze des Objekts hineingedacht wird. Dieser subjektive Objektsinhalt wird dann für die unorganischen Objekte, auf die wir uns den Begriff des Denkens zu übertragen scheuen, in den Begriff eines metaphysischen Willens gefaßt oder in den Begriff der Kraft gekleidet, die aber anthropomorph gedacht wird. Damit ist dann der Ichbegriff auch in die unorganischen Objekte hineingetragen, wenn auch in möglichst unkenntlicher Form. Der Hylozoismus [Der Stoff lebt! - wp], Panpsychismus und Animismus deckt jedoch jenen Zusammenhang mit dem Ichbegriff deutlich wieder auf.

Wenden wir uns zwecks näherer Beleuchtung der beiden Begriffssysteme zunächst an das räumliche, so befinden wir uns auf dem Gebiet der Natur, also in der Gesamtheit all dessen, was wir mittels des räumlichen Begriffssystems aufzufassen und darzustellen vermögen. In der Natur haben wir nun nicht mehr mit den Begriffen selber, sondern mit dem Begriffsinhalt zu rechnen. Die Begriffe wandeln sich hier in inhaltsgefüllte Formen des realen Seins und Geschehens um. So bedingt der Raumbegriff für allen Naturinhalt eine bestimmte Ausdehnung, Größe und Form und für alles Naturgeschehen als Grundform die Bewegung. Ohne diese Attribute ist keinerlei Naturauffassung möglich. Tritt dem Raum der Substanzbegriff hinzu, dann erhalten wir als reine raumerfüllende Substanz den physikalischen Weltäther mit den lediglich negativen Eigenschaften der Kontinuität, der Unbewegtheit und Unbeweglichkeit (mit anderen Worten: der Unwirksamkeit und Unwägbarkeit). Erst die Bewegung macht diskrete Teilchen des Äthers zur wirkungsfähigen (deshalb wägbaren) Materie, die nun in den mannigfaltigsten Zusammenhäufungen, Formen und Bewegungen den Raum durchsetzt. Der logische Satz vom Grunde nimmt unter diesen Verhältnissen die Form des Kausalgesetzes an und bedingt innerhalb des letzteren das Gesetz von der Erhaltung der Bewegung, d. h. den Satz, daß sich Bewegung nicht ohne Ursache verändern kann. Damit haben wir den Grundstock der Begriffe und Gesetze, mittels derer die Natur unserer Erkenntnis unterworfen werden kann. Das ergibt die mechanistische Naturauffassung, die nur auf die Begriffe Stoff und Bewegung zurückgreift.

Praktisch ist die mechanistische Naturauffassung allerdings nicht völlig durchzuführen, weil sie zu breit ist und demzufolge den Inhalt des Naturgeschehens nicht in übersichtlicher Weise und Zusammenfassung bewältigen läßt. Wir nehmen deshalb von Alters her für diesen Zweck den Kraftbegriff zu Hilfe. Mittels seiner vereinheitlichen wir Ursache und Wirkung, fassen beides unter ihm zusammen und bestimmen mittels seiner den Bewegungswert eines mechanischen oder sonstigen physikalischen Vorgangs. Der Bewegungswert wird im Kraftbegriff zum Gewicht; die Unterscheidung des unwägbaren vom wägbaren Stoff (des Äthers von der Materie) nimmt in dieser Ausdrucksweise also schon auf den Begriff der Kraft Bezug. Waren wir in der mechanistischen Naturforschung auf das Messen beschränkt, so erlaubt die Einführung des Kraftbegriffs uns nun auch das meist bequemere Wägen und ermöglicht anstelle des räumlichen Konstruierens und räumlichen Vergleichens das leistungsfähigere algebraische Rechnen. Wir nehmen weiter als Ausdruck für den Arbeitswert von Bewegung und Kraft den Energiebegriff zu Hilfe und bringen mittels seiner auch die qualitativ verschiedenen Kräfte auf einen einheitlichen, vergleichbaren und rechnungsmäßigen Ausdruck. Ja wir könnten so weit gehen, den Stoffbegriff gänzlich auszuschalten und ihn durch den Kraftbegriff oder den Energiebegriff zu ersetzen. Dann haben wir die dynamistische oder die energetische Naturauffassung. Auch das wäre aber einseitig und würde zu andersartigen Schwierigkeiten führen, deshalb verwenden wir jene Begriffe je nach Zweckmäßigkeit unterschiedslos miteinander und ergänzen sie weiter durch zahllose Hilfsbegriffe verwickelteren, zugleich aber zusammenfassenderen, die Darstellung und die Rechnung vereinfachenden und abkürzenden Inhalts. So bewältigen wir mehr und mehr den Inhalt des unorganischen Naturgeschehens.

Nun gelangen wir an die lebenden Organismen. Auch ihre Formen und Gesetze müssen wir feststellen und finden in der Erfahrung keinerlei zwingenden Grund, für sie die physikalischen und chemischen Gesetze außer Geltung zu setzen oder in ihrer Geltung einzuschränken. Im Gegenteil, wenn wir nicht auf volle Erkenntnis des Lebens verzichten wollen, wenn wir nicht die gesetzmäßige Einheit unserer Erkenntnis und damit diese letztere selber vernichten wollen, dann müssen wir die Geltung jener Gesetze auch für die Lebensvorgänge behaupten. Und die Erfahrung hat uns das Recht zu dieser Behauptung bisher nicht widerlegt. Schritt für Schritt ist die Physiologie in dieser Richtung vorgedrungen. Sehr viel fehlt, aber an einem weiteren Vordringen zu verzweifeln haben wir niemals Anlaß gehabt. Sehr viel verwickelter gestalten sich die Beziehungen, die Zusammenhänge, die Gesetze und die notwendigen Hilfsbegriffe. Aber mit jedem Schritt erreichen wir auch wieder neue Hilfsmittel zur Bewältigung und zur Vereinfachung jener Aufgabe.

Mit Erfolg hat die jüngste Zeit auch die nervösen Leistungen bis hinauf zu den physiologischen Funktionen des Gehirns in Angriff genommen. Hier sehen wir sinnliche Reize durch die nervösen Gehirnbahnen sich fortpflanzen und in den ausgelösten Reflexbewegungen ihre augenscheinliche Wirkung entfalten. Sind jene Gehirnbahnen umfassender und weiter verzweigt, so entstehen im Enderfolg verwickeltere und inhaltsreiche Handlungen, deren Bedingungen im Gehirn und seiner Funktionsweise wir mit großem Aufwand von wissenschaftlichen Untersuchungen und Darlegungen noch auflösen und zur Erkenntnis bringen können. Immer mehr aber schwillt jener Knoten der Gehirnvorgänge an, wir gelangen in ein Netz von Bahnen und Zusammenhängen, welches für unsere Erkenntnis eine Unendlichkeit bedeutet. An ihr bricht sich die Leistungsfähigkeit unseres räumlichen Begriffssystems, für sie ist es unzureichend und nicht mehr verwertbar. Hier liegt seine Grenze, aber nicht die Grenze unseres Erkenntnisvermögens.

Wir haben ja noch unser zweites Begriffssystem, welches statt der räumlichen raumlose Begriffe verwendet und mittels ihrer auch die Unendlichkeit beherrscht. Mit ihm befinden wir uns auf dem Gebiet des psychischen Lebens, in welchem unsere Begriffe selber ihren Ursprung haben. Hier gibt es keine Ausdehnung mehr und keine reale Trennung, sondern nur noch eine begriffliche Unterscheidung. Statt der realen Gegenstände, statt der stofflichen Bestandteile, haben wir hier nur Begriffe, statt der Bewegungsvorgänge Denkvorgänge, statt des unendlichen Raums die absolute Einheit des Ich, dessen Substanz den einheitlichen Zusammenhang der das Ich bildenden Begriffe darstellt. In der psychischen Welt ist das Ich die einzige Substanz, auf welche geistige Inhalte bezogen werden können und zu dessen Gedanken oder Vorstellungen sie dadurch werden.

Will man die Parallele mit den räumlichen Grundbegriffen durchführen, so entspricht die raumlos einheitliche Substanz des Ich der unendlich ausgedehnten Substanz des Weltäthers, die Begriffe, welche dem leeren Ichbegriff einen Inhalt geben, den materiellen Bestandteilen der Natur, die ja gleichfalls dem ansich leeren Begriff des Äthers erst seinen realen Inhalt geben. Der Bewegung des materiellen Stoffs entspricht die Aktualität der Begriffe, insofern sich diese gegenseitig beeinflussen, bedingen, entwickeln und zu Begriffen von immer umfassenderem Inhalt auswachsen. Den Eigenenschaften des materiellen Stoffs entsprechen die Inhalte und die gegenseitigen Beziehungen der Begriffe. Die Beziehungssphäre eines Begriffs ist gleich der Wirkungssphäre eines stofflichen Gebildes.
Wie die Wirkungen des Stoffs, so könnten wir auch die Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Begriffe, ihren Einfluß aufeinander im Denkprozeß, unter dem Bild der Kraft auffassen. Offenkundig tun wir dies im Ausdruck des "Wettstreits der Motive" bei den Willenshandlungen, und wenn wir aus jenem Wettstreit den Entschluß hervorgehen lassen und diesen als Wille bezeichnen, so beweist dies haarscharf, daß der Wille ein Kraftbegriff ist, von dem uneingeschränkt auch all das gilt, was ich vorher über den Kraftbegriff gesagt habe. Danach vereinheitlichen wir mittels des Willensbegriffs den Entschluß (das Ergebnis des Wettstreits der Motive) und die Handlung, fassen beides unter ihm zusammen und drücken durch ihn den Intensitätswert des motivierenden Denkens, des Beweggrundes, genauer gesagt den Größenwert der Gefühlsbetonung aus, der sich als Rechnungssumme aus den positiven und negativen Begleitgefühlen der Motive ergibt. Der Wille ist also nicht eine Ursache der Handlungen, sondern vielmehr der resultierende Intensitätswert der Gefühlsbetonung. Er schiebt sich nicht zwischen Motiv und Handlung ein, sondern ist gleich der Kraft ein die Ursache und die Wirkung zusammenfassender, das Gleichheitszeichen vertretender Hilfsbegriff. Diese Stellung des Willens im Begriffssystem macht allem unnötigen Streit umd das Vorrangsrecht ein Ende, stellt den Voluntarismus der Philosophie mit einer dynamischen und energetischen Naturauffassung in eine Reihe und hat auch der Psychologie (EBBINGHAUS, ZIEHEN) bereits zu denken gegeben.

Übrigens ist diese Parallele der raumlosen und der räumlichen Begriffe, die sich mit Leichtigkeit durch das ganze Begriffssystem durchführen läßt, eine notwendige Konsequenz der psychophysischen Identität und beweist deren Berechtigung von rückwärts her. Sie zeigt zugleich in durchsichtigster Weise, wie der Raumbegriff allein es ist, der den Unterschied der beiden Systeme und damit den Unterschied der psychischen und der physischen Welt bedingt. Ich gehe hier nicht weiter darauf ein, weil es mir nur um die Begründung der Identität und ihres entscheidenden Einflusses auf unsere Erkenntnis zu tun ist.

Sobald wir den Raum aus dem Inhalt unserer Begriffe ausschalten, ist es möglich, mit dem Begriff die Unendlichkeit zu umspannen. Die Begriffe psychischen Inhalts kennen keine Grenzen ihres Machtbereichs, und darin liegt ihr spezifischer Erkenntniswert. Alle Quantität wandelt sich in ihnen in Qualität um, alle Bewegungsformen in qualitative Unterschiede des Begriffsinhalts, alle Größenwerte in begriffliche Umfangswerte oder Intensitätswerte. So tritt an die Stelle der Größenzunahme der materiellen Objekte und des Wachstums ihres Inhalts die größere Allgemeinheit des Begriffs, so werden die Formen der stofflichen Bewegung zu Qualitäten der sinnlichen Empfindungen in allerlei Nuancierungen, die weitverzweigten Vorgänge der Gehirntätigkeit zu Vorstellungen und Gefühlen von unerschöpflicher qualitativer Mannigfaltigkeit, die verwickeltsten Zusammenhänge innerhalb dieser Vorgänge zu einheitlichen Begriffsinhalten. Kurzum, all das, was in Anbegracht des inhaltlichen Umfangs unser räumliches Begriffssystem und mittels seiner die naturwissenschaftliche Physiologie nicht mehr zu bewältigen und nicht mehr zur begreifbaren Darstellung zu bringen vermag, all das, woran ihre synthetische Kunst eine unüberwindbare Grenze findet, all das bewältigt spielend mittels psychischer Auffassungs- und Darstellungsweise die Psychologie. Wie die Analyse des Wirklichkeitsgeschehens der Machtbereich der Naturwissenschaften ist, so ist der synthetische Fortgang zu den höchsten geistigen Leistungen und zugleich die analytische Arbeit in diesem hochgelegenen Erkenntnisgebiet der Machtbereich der Psychologie und die Bearbeitung der geistigen Zusammenhänge, die über das Individuum hinausgehen und die Allgemeinheit des theoretischen und praktischen Denkens umfassen, der Machtbereich der Philosophie.

Wie aber, wenn wir unter das Gebiet des Bewußtseins, in anderer Ausdrucksweise unter das Gebiet der menschlichen Gehirntätigkeit herabgehen, in dasjenige Gebiet, in welchem die Naturwissenschaften ihre Meisterschaft bewiesen haben? Eine Strecke weit folgt die Psychologie noch, indem sie die psychophysischen Beziehungen untersuchen hilft, indem sie die Frage eines Seelenlebens der Tiere und vielleicht der Pflanzen aufwirft und erörtert, aber immer kümmerlicher werden ihre Untersuchungs- und Ausdrucksmittel, bei den niederen Tieren und vollends bei den pflanzlichen Gebilden fehlt es ihr bereits an Begriffen, nur mit Analogien kann sie sich noch notdürftig behelfen, und jenseits des organischen Lebens gehen ihr jegliche Begriffe ab. Hier liegt die Grenze für die Leistungsfähigkeit der Psychologie, aber nicht die Grenze unseres Erkenntnisvermögens. Hier vielmehr ist der Punkt, an dem die Naturwissenschaften eingreifen und mit ihrem räumlichen Begriffssystem die Arbeit fortführen und selbst jenseits aller unmittelbaren Wahrnehmbarkeit, selbst jenseits der mikroskopischen Leistungsfähigkeit durch logische Schlüsse bis ins unendlich Kleine vorzudringen imstande sind - dank der analysierenden Verwertbarkeit des Raumbegriffs.

Damit habe ich die Eigenart, die Leistungsfähigkeit, die Vorzüge und zugleich die Mängel der beiden Begriffssysteme zur Genüge gekennzeichnet. Gemeinsam und nebeneinander sind sie verwendbar in einem verhältnismäßig kleinen Teil unseres Erkenntnisgebietes, nämlich in demjenigen Teil, welcher sich etwa als die mittlere Lage unserer Gehirntätigkeit bestimmen läßt. Innerhalb dieser Zone liegen alle diejenigen Reizvorgänge der Sinnesorgane, die sich so weit in den Großhirnmantel hinein ausbreiten, daß sie die Bedingung erfüllen, an welche das Auftreten von Bewußtsein geknüpft ist. Diese Bedingung besteht in einer derartigen Weiterleitung der Reize, daß sie in der grauen Hirnrinde sich mit Erinnerungsbildern assoziieren, dadurch apperzipiert werden und eine Beurteilung hervorrufen, eine Beurteilung, als deren niedrigste, automatische, fast noch mechanische Stufe die elementarsten Formen der Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle anzusehen sind. Innerhalb dieser Zone liegen auch diejenigen Reflex-, Trieb- und instinktiven Handlungen, die mit einem oberflächlichen Bewußtsein einhergehen. Dazu treten ferner noch diejenigen Handlungen von verwickelterem INhalt, welche auf der Grundlage von Vererbung und von Einübung automatisch geworden sind und sich nur mit dem denkbar geringsten Grad von Bewußtsein vollziehen.

Oberhalb des Gebiets, in welchem das räumliche Begriffssystem noch verwertbar ist, liegen aber bereits alle Bewußtseinsvorgänge, die mit einer gewissen Aufmerksamkeit verbunden sind, also eine breitere Beteiligung von Rindenbahnen voraussetzen lassen, jedenfalls die ausgesprochenen Sinneswahrnehmungen, die kombinierten Vorstellungen, die höheren Gefühle, die eigentlichen Denkvorgänge und motivierten Handungen. Aber nicht also ob diese Vorgänge der psychophysischen Identität entzogen wären; im Gegenteil, ich glaube mit ausreichenden Beweisgründen dargetan zu haben, daß auch alle diese, daß die gesamten geistigen Vorgänge sich grundsätzlich auch in einer idealen Physiologie des Gehirns müßten wiedergeben und durch entsprechende materielle Vorgänge darlegen lassen. Nur reicht unser Fassungs- und Darstellungsvermögen nicht aus, um in Anbetracht des Umfangs dieser Aufgabe sie zu bewältigen.

Unterhalb des Gebiets, in welchem das psychische Begriffssystem noch zulässig ist, liegen alle diejenigen Vorgänge, die sich ohne Bewußtsein vollziehen, also auch schon die vegetativen Lebensvorgänge des menschlichen Körpers, trotzdem sie durchaus innerhalb des nervösen Zusammenhangs stehen. Hier ist allerdings der Grund ein anderer. Denn hierfür fehlen uns tatsächlich die erforderlichen Begriffe. Wir sind nun einmal auf den historischen Bestand von Begriffen und auf deren historische Weiterentwicklung angewiesen, die sich durchgehends mit außerordentlicher Langsamkeit vollzieht. Selbst in der Wissenschaft sind ja neugebildete Begriffe in der Regel nicht dauerfähig, noch weniger in der breiten Massen des Volkes und der Völker. Ich habe erwähnt, wie schon bei den niederen Tieren und den Pflanzen es uns an geeigneten Begriffen zu einer psychologischen Deutung gewisser, hier etwa in Betracht kommender Lebensvorgänge fehlt. Gehen wir aber in die unorganische Natur herab, so tritt ein zweiter Grund gegen jegliche Versuche einer psychischen Deutung von Naturvorgängen hinzu. Es fehlt uns hier das einheitliche Ich und mit ihm die Bedingung jeder Möglichkeit eines raumlosen Denkens. Die lebenden Organismen sind in sich geschlossene Systeme mit einem einheitlichen inneren Zusammenhang und als solche unzerreißbar und unteilbar. Bei jedem anorganischen Körper aber - die mechanischen Maschinen lasse ich als nebensächlichen Anhaltspunkt für spekulative Phantasmen außer Betracht - könnnen wir die Teilung bis in die letzten Spuren durchführen, ohne sein Wesen aufzuheben; ihr Zusammenhang ist kein einheitlicher. Jede Art von panpsychischten Neigungen muß am logischen Widerspruch scheitern, der in der Beziehung raumloser Begriffe auf räumlich ausgedehnte Gebilde liegt, ohne daß diese zugleich als unteilbares, in sich selbst geschlossenes System gedacht und auf dieser Grundbedingung in ein psychisches Ich übersetzt werden können.

Bei alledem rede ich übrigens nicht von absoluten Unmöglichkeiten. Im Gegenteil will ich durchaus zugeben, daß unserer Begriffsbildung eine unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit und vielleicht sogar Umgestaltung in fernliegener Zukunft vorbehalten und ihr durch die Gewalt der Tatsachen aufgezwungen werden könnte. Das, wovon ich ausgehe, ist auch hier lediglich die Erfahrung. An ihrer Hand hat sich unser Begriffssystem entwickelt als Erzeugnis des Objekts, nicht als subjektives, das Objekt bezwingendes und zur Erscheinung umstempelndes Phantasma. Erfahrungstatsache ist auch dieses Begriffssystem selber. Was bei seiner Erörterung für mich in Frage komme, ist nur die erkenntnisgemäße Darlegung dieses Begriffssystems, seine kritische Beleuchtung und die Feststellung derjenigen Anwendungsweise, die ihm den Charakter eines mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Erkenntnismittels wahrt. Unser Begriffssystem gilt mir als historische Tatsache, unsere Begriffe und deren Wortsymbole als feststehende Unterlagen der Erkenntnis. Nicht der Wert all dessen und nicht irgendwelche Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten stehen dabei in Frage, sondern lediglich die richtige Erkenntnis der Begriffe selbst, ihres Inhalts und ihrer gegenseitigen Beziehungen. Daraus ergibt sich notgedrungen auch die Ausschaltung von Mißbräuchen und Fehlern im Gebrauch der Begriffe. Es ist grundsätzlich notwendig, daran zu erinnern, daß wir nicht aus den Begriffen eine Erkenntnis der Wirklichkeit schöpfen können, sondern umgekehrt unter steter Kritik die Begriffe immer von Neuem auf die Wirklichkeit einzustellen und ihren Inhalt mit der letzteren in Übereinstimmung zu halten haben.

Von diesem Gesichtspunkt aus fällt der letzte Rest einer Berechtigung zur Ausdehnung der psychischen Auffassungsweise auf Objekte, die weit ab vom Menschen liegen. Nur aus der raumlosen Auffassung des eigenen Ich stammt der Besitz psychischer Begriffe. Ob und inwieweit wir sie auch auf andere Gegenstände anwenden dürfen, ist lediglich Sache der Erfahrung. Diese läßt uns aus der körperlichen Organisation, den Ausdrucksbewegungen und den Handlungen darauf schließen, daß wir auch für gleich und ähnlich organisierte Lebewesen die psychische Auffassung verwenden können. Nur die Erfahrung könnte uns sagen, ob oberhalb und unterhalb dieser nächstliegenden Umgebung die psychischen Begriffe verwendbar sind. Solange Erfahrung uns dies nicht anders und nicht glaubwürdiger beweist als bisher, haben wir nicht das Recht, diese Auffassungsweise auch auf einzelne Körperorgane, auf die einzelnen Körperzellen, auf unorganische Gebilde, auf Moleküle, Atome usw. zu übertragen und ebensowenig das Reht, sie auf den Erdkörper, auf Gestirne oder das Weltall anzuwenden. Ja, wir müssen sie sogar noch mehr einschränken und dürfen nicht einmal uns selbst, nicht unser ganzes Wesen dem psychischen Begriffssystem unterstellen, sondern lediglich unser Gehirn und auch von diesem wiederum nur einen kleinen Teil mit seinen Funktionen. Unser psychisches Ich, als Seele gedacht, hat seinen Sitz im Gehirn, sagt seit einigen Jahrhunderten die öffentliche Meinung, und sie hat Recht, solange uns nicht die Erfahrung eines anderen belehrt. Bis dahin müssen wir eben dabei bleiben, alles andere Sein und Geschehen mittels des Raumbegriffs aufzufassen und in der Ausdehnung der psychischen Auffassungsweise Vorsicht zu üben, jedenfalls uns hüten, in verkehrten Schlußfolgerungen aus den Begriffen auf die Wirklichkeit zu schließen, d. h. aus der logischen Möglichkeit einer Übertragung unseres Begriffssystems auf allerlei andere Erfahrungsinhalte eine Wirklichkeit dieses Verhältnisses in spekulativen Wendungen erschließen zu wollen. Das gilt ebenso für panpsychistische Ausschreitungen wie für poetische Begriffsspiele und für religiöse Dogmen. In ihnen spricht sich nur das Einheitsbedürfnis unseres Denkens aus, das der Erfahrung vorauseilt, aber sich meist dabei verirrt und dann schwer wieder auf den Weg der Erfahrung zurückzuführen ist.

Die Notwendigkeit, zur Erforschung der Wirklichkeit unsere beiden Begriffssysteme, das raumlos psychische und das räumlich materielle, zu verwenden, habe ich bisher nur daraus erwiesen, daß jedes seine Grenzen hat, das eine nach unten hin, das andere nach oben. Aber auch innerhalb derjenigen Erkenntniszone, in welcher beide verwendbar sind, ist uns keines entbehrlich, wird keines durch das andere überflüssig gemacht. Denn jedes hat seine besondere Eigenart und führt zu Erkenntnisqualitäten, welche dem anderen fehlen. Nur die psychische Auffassungsweise läßt uns den Begriff des Bewußtseins erfassen. Nur in diesem und vermöge seiner bilden wir den Ichbegriff, beziehen wir Vorgänge auf dieses Ich, bewerten sie gefühlsmäßig in Bezug auf das Ich und setzen Zwecke für dasselbe Ich. Im psychischen Begriffssystem liegt eine Unmittelbarkeit der Auffassung und eine Macht der Vereinheitlichung eines weitumfassenden Inhalts, welche uns Einblicke in den Zusammenhang der Vorgänge gewährt, die mit dem räumlichen Begriffssystem nicht erreichbar sind. Die Beziehung des Weltgeschehens zum Ich, das ist der Punkt, um den es sich hier handelt. Diese Subjektivität in der Beurteilung des Weltgeschehens ist die Eigenart und der unersetzliche Sonderwert der psychischen Bearbeitung. Im physischen Begriffssystem dagegen tritt die Objektivität der Beurteilung in den Vordergrund, die Beziehung der Weltvorgänge aufeinander und die Erkenntnis unserer eigenen Abhängigkeit vom Objekt. In der psychischen Auffassung gehen wir vom individuellen Ich aus, erkennen wir unsere Aktivität und versteigen uns bis zu der Vorstellung, daß unser eigener Bewußtseinsinhalt die Welt enthält und die Welt bedeutet. In der physischen Auffassung schrumpfen wir zusammen zu einem Differential des Weltgeschehens, erkennen wir uns als ein passives, von der Natur erzeugtes und bestimmtes Etwas und fühlen uns als Spielball der Natur. In jener Auffassung glauben wir an die subjektive Freiheit unseres Denkens und Handelns, in dieser an einen fatalistischen Determinismus. In jener beschreiben wir die Natur als ein zumindest der Form nach von uns erzeugtes Einheitssystem, in dieser erkennen wir die Abhängigkeit aller unserer Erkenntnis vom bestimmenden Objekt. Beide zusammen erst in ihrer wechselseitigen Ergänzung führen uns auf den richtigen Standpunkt zwischen den Extremen und lassen uns die Relativität unserer Erkenntnisbegriffe verstehen.

Übrigens schließt die Subjektivität der psychischen Begriffe nicht ihre objektive Betrachtungs- und Erörterungsweise aus. Die vorstehenden Untersuchungen haben ja den Beweis hierfür erbracht. Der Gegenstand der Untersuchung ist dann nicht der Inhalt der Begriffe, sondern die Begriffe selbst, nicht also der Wissensinhalt, den wir in den Begriffen niederlegen, sondern die Bedeutung der Begriffe, ihre gegenseitigen Beziehungen im Erkenntnissystem und ihre Beziehungen zu der von ihnen unabhängigen Wirklichkeit. Mag diese Wirklichkeit auch selber aus Begriffen bestehen, so sind sie deshalb doch nicht meine Begriffe, sondern Begriffe, die meinem Denken unabhängig von ihm gegenüberstehen, nicht Erkenntnisbegriffe, sondern Wirklichkeitsbegriffe, die erst durch den Akt des Erkennens in die Subjektivität des erkennenden Ichs übergehen. Wir erörtern in diesem Sinne die Begriffe als selbständige Elemente, ohne sie auf ein einzelnes Ich zu beziehen, und kehren den Gesichtspunkt um, indem wir das Ich aus ihrem Zusammentreten und Ineinanderwirken erst sekundär erstehen lassen. Dieser Gesichtspunkt hat ja z. B. bei HUME, HEGEL, CLIFFORD, MACH eine besondere Ausbildung erfahren und keineswegs unberechtigt. Nur muß seine Relativität im Auge behalten werden. Nicht daß die Begriffe ein Prius wären vor dem Ich, und nicht daß die Begriffe im Ich ihren Ursprung hätten, sondern beides bedingt sich gegenseitig und gehört begrifflich zusammen. Sobald aber das Ich der objektiven Betrachtung unterworfen wird, verschwindet es aus dem Gesichtskreis und zerfällt in seine Begriffe, deren Kombinationen und Zusammenhänge. Dann ergeben diese Begriffe und ihre Zusammenhänge das psychische Objekt, welches wir als Charakter bezeichnen (individuellen, Volks-, Menschheitscharakter). Und wenn wir die Begriffe völlig vom Substanzbegriff loslösen, als selbständig betrachten und in andersartiger Zusammenfügung nur ihren Inhalt und dessen jenseits aller Individualität liegenden Zusammenhang durchforschen und erörtern, dann ergeben sie dasjenige Gebilde, das wir Wissenschaft usw. nennen.

Diese Wissenschaft spaltet sich in Übereinstimmung mit der Doppelart unseres Begriffssystems und aufgrund dieser Doppelart in zwei große, nebeneinander stehende Wissenschaften, deren eine nur mit räumlichen Begriffen schaltet, das ist die Naturwissenschaft, und deren andere sich nur mit raumlosen Begriffen befaßt, die Philosophie. Diese beiden Wissenschaften stehen gleichberechtigt, gleichwertig und sogleich unabhängig nebeneinander. Aber es ist nach den vorher gegebenen Darlegungen von vornherein klar, daß sie nicht denselben Inhalt etwa nur in verschiedener Begriffssprache zum Gegenstand haben, sondern daß - entsprechend der Leistungsfähigkeit, dem Charakter und den Grenzen eines jeden der beiden Begriffssysteme - sich die Inhaltsgebiete jener beiden Wissenschaften gegeneinander verschieben und auseinander weichen. Beide haben zum Gegenstand den Weltinhalt ohne grundsätzliche Begrenzung. Aber die Grenze wird ihnen praktisch aufgedrungen, der einen nach oben, der andern nach unten hin. Die Naturwissenschaft reicht mit ihren räumlichen Begriffen nicht über das menschliche Gehirn hinaus, weil sie schon dessen Inhalt nicht mehr faßlich zu gestalten vermag. Die Philosophie reicht mit ihren psychischen Begriffen nicht mehr unter das Gehirn herab, nicht mehr in die übrigen organischen Funktionen und nicht mehr in die unorganische Natur herein, weil ihr hierfür die Begriffe verkümmern. Jene dringt analysierend in die Einzelheiten des Weltgeschehens und setzt synthetisch aus ihnen das Weltganze in ihrer Art wieder zusammen, diese ergreift mit den gleichen Methoden die großen Zusammenhänge des Geisteslebens und eröffnet uns von dieser Seite her den Einblick in das Weltgeschehen. Beide treffen zusammen im lebenden Organismus und überlassen dessen Erforschung einer Spezialwissenschaft, die Naturwissenschaft der Biologie, die Philosophie der Psychologie. Auch diese letzteren Wissenschaften aber verschieben sich aus den angeführten Gründen gegenseitig und behalten ihren gemeinsamen Berührungspunkt nur in der Gehirntätigkeit. Das Charakteristische der Biologie gegenüber der Naturwissenschaft und der Psychologie gegenüber der Philosophie ist der lediglich individuelle Inhalt ihres Forschungsgebiets, während jene allgemeineren Wissenschaften jenseits aller Individualität gelegen sind. In derselben Weise trennen sich die beiden geschichtlichen Wissenschaften nach den Begriffssystemen, insofern die eine die Entwicklung des Weltsystems und innerhalb seiner (als Deszendenzlehre [Abstammungslehre - wp]) die Entwicklung der Organismen, die andere die Entwicklung des geistigen Weltinhalts (als Weltgeschichte im engeren Sinne, als Geschichte der Wissenschaften und der Kultur behauptet) behandelt. Auch sie haben ihren gemeinsamen Berührungspunkt in der Anthropologie, in welcher sie sich ineinander schieben.

Alles in allem ist hier nur nochmals zu betonen, daß sich alle unsere Erkenntnis nicht in einem der beiden Begriffssysteme erschöpft, sondern erst in ihrer gemeinsamen Ausnutzung. Jedes Begriffssystem hat seine Vorzüge und gleicht durch diese die Mängel und die Lücken des andern aus. Beide zusammen ergeben eine größere Fülle, einen größeren Umfang und eine größere Einheit in unserer Erkenntnis. So hat tatsächlich auch der Lauf der Wissenschaften geurteilt und gehandelt und ist damit im Recht gewesen. So oft auch die verschiedenen Wissenschaften zu verschiedenen Zeiten, bald die eine, bald die andere, sich voneinander getrennt und in dieser Sonderung und Beschränkung Großes geleistet haben, immer haben sie sich wieder zusammengeschlossen und in diesem Zusammenschluß neues Leben gewonnen, neue Keime zu weiteren, vorher ungeahnten Fortschritten gezeugt. Das wird auch das wissenschaftliche Bild der Zukunft bleiben. Jede Wissenschaft altert, in den befruchteten Keimen erwächst die Fülle und die Macht der niemals alternden Erkenntnis.

LITERATUR - Berthold Kern, Das Erkenntnisproblem und seine kritische Lösung, Berlin 1911
    Anmerkungen
    1) Ich verstehe hierunter keineswegs ein vollständiges logisches Begriffssystem, sondern lediglich ein System der Erkenntnisbegriffe und auch dieses stets nur unter dem Gesichtspunkt, in welcher Beziehung diese Begriffe zur Erkenntnis stehen.
    2) Bezüglich dieser Stellung des Denkens verwahre ich mich ausdrücklich gegen psychologistische oder naturwissenschaftliche Mißverständnisse und betone, daß dessen Stellung für psychologische Untersuchungen eine ganz andere ist. Auch um die übliche Einteilung der psychischen Elementarvorgänge in Empfindungen, Gefühle, Willensvorgänge und dgl. will ich hier nicht rechten und gestehe zu, daß der Begriff des Denkens gegenwärtig einer außerordentlich verschiedenartigen und schwankenden Bestimmung unterliegt. Ich halte daran, daßß unter Denken der einheitliche psychische Grundvorgang zu verstehen ist und daß die sogenannten psychischen Elementarvorgänge nur Abstraktionen aus ihm sind, die eine durchführbare Trennung gar nicht ermöglichen. - Für naturwissenschaftliche Untersuchungen ist das Denken nichts als ein psychisches Korrelat von Gehirnfunktionen. Das alles kommt ja hier gar nicht in Frage. - Im Übrigen brauche ich wegen diesbezüglicher Einzelheiten nur auf mein "Problem des Lebens", 1909, Seite 311f, 522f und 568f zu verweisen.