p-4H. SchmidkunzG. KnauerStörringW. Ostwald     
 
OTTO BÜTSCHLI
Gedanken
über Begriffsbildung

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"Der Begriff als solcher ist nicht vorstellbar, da er eine Summe von Einzelnem umfaßt, dessen Umfang ich nie genau kennen werde und die ich auch, wie jede Vielheit, nicht gemeinsam vorstellen kann. In diesem Sinne muß daher dem Begriff stets etwas unscharfes, im Gegensatz zum Einzelding anhaften."

Im Anschluß an gewissen philosophische Betrachtungen, zu welchen mir die Beschäftigung mit dem Problem des "Mechanismus und Vitalismus" vor einigen Jahren Veranlassung gab, habe ich über mancherlei bei dieser Gelegenheit erwogene allgemeinere Fragen häufiger nachgedacht. Insbesondere die Natur und Auffassung der Begriffe im allgemeinen und im Anschluß daran die Natur und Bedeutung der allgemeinsten Begriffe, welche für Natur- wie Geisteswissenschaften Fundamente bilden, forderten mein Nachdenken heraus. Mancherlei, was sich dabei ergab, schien mir einige Beachtung zu verdienen und die Grundauffassung der Begriffe, welche mir am naturgemäßesten schien, des Versuches einer Durchführung wert. Da es sich hierbei um Fragen und Erörterungen handelt, mit denen sich die denkende Menschheit schon immer beschäftigte, so ist es sehr wahrscheinlich, wenn nicht gewiß, daß die Ergebnisse, zu welchen meine Überlegungen und Analysen micht führten, auch schon aus denen anderer in gleicher oder ähnlicher Weise folgten. Hierin würde ich weder eine Gewähr für die Richtigkeit meiner Betrachtungen erkennen, noch einen besonderen Vorwurf für mich, daß ich diese Übereinstimmungen nicht festzustellen suchte und daher in meinen Erörterungen darauf nicht hinweise. Bei meiner Stellung und den von ihr bedingten sonstigen Aufgaben kann die Beschäftigung mit solch philosophischen Fragen, die ja für jede Wissenschaft von besonderer Bedeutung sind, nur eine Nebenbeschäftigung sein, die notgedrungen dilettantisch ausfallen muß, insofern der Verfasser ganz außer stande ist, da ihm Zeit und Kraft dazu fehlen, sich mit dem Gesamtumfang des schon über diese Fragen Nachgedachten und Mitgeteilten vertraut zu machen. - Natürlich liegt unter diesen Verhältnissen die Frage sehr nahe, warum der Verfasser diese Denkfrüchte auf einem Gebiet, das er nach eigener Überzeugung nur sehr ungenügend beherrscht und beherrschen kann, nicht lieber als eine private Denkübung ungedruckt läßt. Wenn auf diesen nicht unberechtigen Vorwurf einige entschuldigende Worte gestattet sind, so dürfte ich vielleicht sagen, daß es möglicherweise doch für den einen oder anderen, der sich eingehender und besser ausgerüstet, mit ähnlichen Fragen beschäftigen wird, von Interesse sein mag, zu sehen, wie sich das Nachdenken über dergleichen in einem Kopf gestaltete, der von seinem besonderen Standpunkt aus an derartige Erwägungen heranging. Möglich wäre es ja doch immerhin, daß in dem einen oder anderen vorgetragenen etwas enthalten sei, was die Probleme zu fördern vermöchte. Wenn ich mich daher, obgleich nur schwer, dazu entschließe, das Niedergeschriebene zum Druck zu geben, so darf ich auch darin eine Entschuldigung finden, daß ja mit dem Druck kein Lesezwang verbunden ist und es daher jedermann frei steht, unter den angeführten Verhältnissen das Lesen des Nachfolgenden zu unterlassen.



Das deutsche Wort "Begriff" leitet sich von "Begreifen" her und zwar zweifellos nicht von Begreifen im Sinne von "Verstehen" oder "Klarmachen des Entstehens", sondern in dem von "Umgreifen, Umfassen oder Umschließen". Die deutsche Bezeichnung erscheint daher zutreffender für das damit Gemeinte, als die gleichsinnigen Bezeichnungen anderer moderner Sprachen. (1)

Wenn wir nämlich zusehen, was mit diesem Wort benannt wird, so finden wir, daß es die Bezeichnung (Wortsymbol) für eine Mehrheit oder Vielheit von Einzelnem ist, seien dies nun Dinge der Außenwelt oder Erlebnisse der Innenwelt, Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle oder einzelnes aus beiden Bereichen zusammengenommen. So ist der Begriff "Gold" die Bezeichnung für alle goldenen Dinge, die existieren, existiert haben und existieren werden, (2) also eine Sammelbezeichnung oder ein Sammelwort (Wortsymbol) für die Gesamtheit aller dieser Einzeldinge. Der Begriff des  Schönen  ist in gleicher Weise eine Sammelbezeichnung für alle Dinge sowohl als auch inneren Erlebnisse, die schön sind, gewesen sind oder sein werden, d. h. für alles, was die Eigenschaft besitzt, in mir und anderen das eigentümliche Gefühl hervorzurufen, das wir als schön bezeichnen; ebenso wie die Wahrnehmung der goldenen Dinge von bestimmten Empfindungen begleitet ist.

Begriffe in dieser Auffassung sind daher Umgreifungen oder Zusammenfassungen einer Mehrheit von Einzelnen, die gewisse gemeinsame oder gleiche Eigenschaften besitzen. Was daher vom Begriff in richtiger Weise ausgesagt wird, was in richtiger Einschränkung auf das Gemeinsame des Einzelnen, das im Begriff vereinigt ist, gesagt wird, gilt von jedem Einzelnen, das im Begriff enthalten ist; und nur dieses kann vom Begriff ausgesagt werden, da es ja dessen Natur ist, daß er alles Einzelne umfaßt und daher das Ausgesagte auch für jedes Einzelne gelten muß. - Es ist klar, daß ein Begriff, als solcher, nie vorgestellt werden kann. (3) Vorstellbar ist nur Einzelnes; und wenn ich noch so viel Einzelnes nacheinander vorstelle, so wird daraus doch niemals die Gesamtheit des gleichen  Einzelnen.  Ich kann mir viele goldene Dinge nacheinander vorstellen, doch nicht alle, welche ich je wahrgenommen habe und nicht die, von welchen andere berichteten, ebenso auch nicht die, von denen ich Grund habe, vorauszusetzen, daß sie existieren und existieren werden, ohne daß ich sie je wahrnehmen kann. Der Begriff ist daher, wie schon häufig hervorgehoben wurde, nicht vorstellbar; vorstellbar ist nur Einzelnes von dem zahlreichen, was der Begriff umgreift. Vorstellbar am Begriff ist nur das Wortzeichen als Klang- oder Gesichtsvorstellung. Vorstellbar ist aber der Begriff nicht seinem Inhalt nach, d. h. allen jenen Eigenschaften, welche den Einzelnen (Einzelerlebnissen), die den Umfang des Begriffes bilden, gemeinsam sind. Denn da ich mir diese Eigenschaften nicht ohne gewisse andere, wie Form, Größe, Zeit, Ort usf. vorstellen kann, so folgt daraus das Gesagte.

Aus dem Hervorgehobenen ergibt sich jedoch keineswegs, wie gelegentlich behauptet wurde, daß diejenigen Wissenschaften, welche sich vorzugsweise oder ausschließlich mit Begriffen beschäftigen, wie z. B. die nichthistorischen Naturwissenschaften, sich von der Wirklichkeit, d. h. dem tatsächlichen natürlichen Geschehen, durch Abstraktion umso mehr entfernen, je umfassender und allgemeiner ihre Begriffe sind. Diese Meinung beruth, so wie ich die Frage ansehe, auf einer fälschlichen Auffassung der Bedeutung des Begriffes. Derselbe wird, dieser Ansicht zufolge, durch Abstraktion gebildet, indem ich von der Vielheit der Eigenschaften des Einzelnen gewisse hinwegnehme, von ihnen abstrahiere, dagegen nur einzelne Eigenschaften, die bei verschiedenen Einzeldingen gleich sind, beachte und sie als Begriffe bezeichne. In dieser Weise verflüchtigten sich also die Einzeldinge bei der Begriffsbildung immer mehr zu nicht existierenden Schemen und die Wissenschaften, welche sich mit solchen Begriffen beschäftigten, handelten gewissermaßen von lauter schematischen, nicht existierenden Abstraktionen. Wie gesagt, trifft jedoch, meiner Meinung nach, diese Auffassung des Begriffs und der Begriffsbildung nicht zu. Der Begriff als solcher ist nicht vorstellbar, da er eine Summe von Einzelnem umfaßt, dessen Umfang ich nie genau kennen werde und die ich auch, wie jede Vielheit, nicht gemeinsam vorstellen kann. In diesem Sinne muß daher dem Begriff stets etwas unscharfes, im Gegensatz zum Einzelding anhaften. Der Begriff ist aber doch keine wesenlose schematische Abstraktion, nicht etwa nur die Empfindung oder das Gefühl, welche ich bei der Wahrnehmung gewisser Eigenschaften erlebe, sondern eben die Gesamtheit aller mir bekannten, in der Begriffsbestimmung übereinstimmenden Einzeldinge oder -Erlebnisse und auch aller derjenigen, von welchen ich Grund habe vorauszusetzen, daß sie bei gleicher Begriffsbestimmung zu dieser Gesamtheit gehören. Wenn ich daher mittels dieses Begriffes etwas schließe, so heißt das nicht, daß ich schematische, von der Wirklichkeit weit abliegende Schlüsse ziehe, welche in der tatsächlichen Welt kaum realisierbar sind, sondern daß ich schließe: alle diese durch den Begriff bezeichneten Einzeldinge werden sich so verhalten, wenn nur die Voraussetzungen des Schlusses gegeben sind.

Wir haben den Begriff als eine Bezeichnung für die Gesamtheit des durch die Begriffsbestimmung festgestellten Einzelnen bezeichnet, also in ihm stets die Bezeichnung für eine Vielheit erblickt. Man hat jedoch auch Einzeldinge gelegentlich als Begriffe bezeichnet; meiner Meinung nach jedoch mit Unrecht.

Man hat z. B. gesagt: "Goethe" sei ein Begriff. GOETHE als veränderliches Einzelding in seiner fortschreitenden Veränderlichkeit von der Geburt bis zum Tod, enthalte den Begriff "Goethe", gewissermaßen das Gemeinsame, was dieser veränderlichen Größe zukommt. Wie gesagt, kann ich mich dieser Auffassung nicht anschließen. Veränderlich sind alle Einzeldinge, ist alles Einzelne mehr oder weniger, rascher oder langsamer. Demnach würden alle Einzeldinge zu Begriffen. Das Einzelding reduzierte sich auf das momentane Einzelding, von dem wir allen Grund haben, vorauszusetzen, daß es sogar in dem Moment, in welchem es uns unveränderlich erscheint, doch schon, wenn auch sehr geringfügige Veränderungen erleidet. Wie gesagt, scheint mir auf diese Weise der Unterschied zwischen Begriff und Einzelnem verflüchtig zu werden. Zumindest müßte man dann zwei Arten von Begriffen unterscheiden, die prinzipiell verschieden wären; dann würde man aber für die zweite Art besser eine besondere Bezeichnung aufstellen, wie "Wesenheit, Charakter" oder dergleichen.

Die Erhebung des menschlichen Geistes zur Begriffsbildung mit Hilfe der Sprache ist es, welche ihn zum Denken im eigentlichen Sinn befähigte. Die Erhebung von den Einzelvorstellungen zu Gesamtvorstellungen des übereinstimmenden und unterschiedenen Einzelnen, für welche Gesamtvorstellungen, als tatsächlich nicht vorstellbar, doch in den Wortzeichen vorstellbare Objekte geschaffen wurden, mit denen dann - vorausgesetzt, daß ihre Bedeutung richtig festgestellt war - ähnlich operiert werden konnte wie mit vorstellbarem Einzelnen, bildet die Grundlage allen Erkennens. Denn ohne solche Zeichen für das Gemeinsame und das Verschiedene wäre jede Ordnung des Wahrgenommenen unmöglich und der menschliche Geist nicht imstande, über die Einzelvorstellungen hinaus zu gelangen.

Könnten wir die historische Entwicklung eines Begriffes verfolgen, was ja mittels der vergleichenden Sprachkunde in gewissem Grade möglich sein dürfte, so würde sich wohl ergeben, daß die obige Auffassung der Bedeutung des Begriffes die richtige ist.

Ich kann hier nur angeben, wie ich mir etwa den historischen Gang der Begriffsbildung denke, als hypothetisch vorstelle.

Er begann meines Erachtens mit der Begabung der Vorstellung eines dem Menschen wichtigen Dinges mit einem Wortzeichen. Das gehörte Wortzeichen hatte die Vorstellung des Dinges zur Folge, das angeschaute Ding die des Wortzeichens. Ebenso folgte auf die Vorstellung des Wortzeichens, wenigsten bei Aufmerksamkeit, die Vorstellung des Dinges. Ein solches, für ein Einzelding entstandenes Wortzeichen wurde nun dadurch zu einem Begriffzeichen, daß aufgrund einer gewissen hervorstechenden Eigenschaft dieses Einzeldings auch andere, ihm wirklich identische oder nur in diesem Punkt ihm gleichende Einzeldinge mit demselben Wortzeichen benannt wurden. Dies geschah ursprünglich nur zu praktischem Gebrauch, ohne Absicht wissenschaftlicher Erkenntnisse, so daß hierfür in vielen Fällen wohl durchaus unbegründete Analogie maßgebend waren. Gleichzeitig mit der Erhebung des Wortzeichens zu einem Begriffszeichen mußte jdoch auch das hinweisende Fürwort entstanden sein, welches es ermöglichte, die in einem Begriffszwischen vereinigten Einzeldinge im besonderen Fall als solche Einzeldinge kenntlich zu machen. Das Begriffszeichen erhielt so, ohne ein hinweisendes Fürwort die Bedeutung von "alle Dinge dieser Art" oder "jedes Ding dieser Art", was eigentlich identische Sätze sind; denn was ich von jedem Ding dieser Art aussagen kann, gilt auch von allen Dingen dieser Art. Der weitere praktische Gebrauch führte bald zu schärferer Scheidung des Zusammengefaßten in Unterbegriffe oder zur Einschränkung des Begriffszeichens auf einen Teil des Zusammengefaßten; oder auch umgekehrt zur Ausdehnung des Begriffszeichens auf einen größeren Kreis von Einzelnen und zur Schaffung weiterer Unterbegriffe. In dieser Weise ist ja die eine Seite der wissenschaftlichen Tätigkeit auch jetzt noch wesentlich Reinigung, Präzisierung, Neuschaffung von Begriffen.

Betrachten wir z. B. die Entstehung des heutigen Begriffes der Protozoen oder einzelligen Tiere. Er entstand mit der Entdeckung einiger mikroskopisch kleiner beweglicher Organismen, die als "animalcula" bezeichnet wurden. Als begriffsbestimmende Eigenschaften waren maßgebend: 1. Kleinheit, 2. Beweglichkeit. - Die Betonung einer dritten, jedoch keineswegs allgemeinen Eigentümlichkeit dieser Animalcula, nämlich ihres häufigen Auftretens in Infusionen, führte zur Bezeichnung  Animalcula infusoria  und vereinfacht endlich zu  Infusoria". 

Die spätere Feststellung, daß Kleinheit und Beweglichkeit mit großer Verschiedenheit im Körperbau und den Lebensverhältnissen vereint sein können, machte die Errichtung einiger Unterbegriffe (Gruppen) notwendig und führte endlich zur Überzeugung, daß einige dieser Gruppen, wie z. B. die "Infusoria rotatoria", viel größere Übereinstimmung mit anderen Tiergruppen besitzen, als mit den übrigen Infusoria. Ebenso ergab sich, daß gewisse andere Gruppen (Unterbegriffe), obgleich in ihrem Bau den übrigen Infusorien nicht unähnlich, doch in ihren gesamten Lebensverhältnissen große Übereinstimmung mit niederen pflanzlichen Organismen zeigten. Man war daher endlich genötigt, den Begriff der Infusorie auf die tierähnlichen, sehr einfach gebauten Organismen einzuschränken, unter Aussonderung der oben erwähnten Gruppen (Unterbegriffe).

Die fortschreitende Erfahrung führte dann zu der Erkenntnis, daß der so eingeschränkte Begriff der Infusoria mit dem Begriff der elementaren Bestandteile, aus denen sich die höheren Tiere aufbauen, wesentliche Übereinstimmung zeigt, daß die Bauverhältnisse der Infusorien daher ihre Einreihung unter jenen Begriff erlauben oder erfordern; bzw. daß sie als Unterbegriff unter den der "Zelle" fallen. Das sie sich hiermit gegenüber den vielzelligen Tieren, als die einfachsten und ursprünglichsten ergaben, so war es natürlich, daß statt der wenig besagenden und dazu noch auf eine keineswegs allgemeine Eigenschaft begründeten Bezeichnung "Infusoria" eine neue geschaffen wurde, die der  Protozoa,  währe die ursprüngliche Bezeichnung Infusoria sich zu einem Unterbegriff einschränkte, der nur einen kleinen Teil der Protozoa umfaßt.

Die typische Begriffsbestimmung der Protozoa aber änderte sich dahin, daß jetzt: 1. Einzelligkeit und 2. allgemeine Tierähnlichkeit der Lebensverhältnisse als maßgebend erachtet werden.



Begriffe sind die Elemente oder die Grundlage jeder Aussage, jedes Urteils. Urteilen ist Aussage über die Beziehungen eines Einzeldinges oder mehrerer zu einem Begriff oder von Begriffen zueinander. Jedes Urteil und jedes Erkennen ist in letzter Instanz ein Erkennen von Gleich und Ungleich, eine Aussage über die Gleichheit oder Ungleichheit meiner Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle. Überall muß daher der Satz der Identität und der des Widerspruchs zugrunde liegen. Man hat auch bemerkt, daß der Identitätssatz  A = A, A ist A,  eigentlich nichts besage. Dennoch ist er, samt seinem Gegenpartner:  A ist nicht B,  die Grundlage allen Urteilens. Er enthält eben das, was wir als denknotwendig, als nicht anders denkbar, bezeichnen, worauf sich alles Denken und die Gewähr für dessen Richtigkeit gründet. (4)

Der Identitätssatz erhält sofort einen tieferen Sinn, wenn ich ihn folgendermaßen ausdrücke: Wenn ich etwas wahrnehme, das in allen seinen Eigenschaften gleich  A  ist, so ist es eben für mich dieses  A.  Es ist denknotwendig, daß es für mich  A  ist, es mangelt jeder Grund, daß es nicht  A  wäre. Oder ich sage, "dieses Ding ist schwarz." Meine Empfindung dieses Dinges ist identisch mit meiner Vorstellung "schwarz", ich fühle keinen Unterschied zwischen beiden, keinen Grund zu einer anderen Aussage. Die Denknotwendigkeit, welche im Satz der Identität ausgesprochen ist und welche, meiner Meinung nach, gleichzeitig die einzige Denknotwendigkeit ist, läßt sich aber auch folgendermaßen ausdrücken: Undenkbar und daher notwendig anders denkbar ist, daß etwas so ist und gleichzeitig anders ist, d. h. ich kann gleichzeitig und gleichörtlich nicht verschiedenes empfinden. Daraus abzuleiten sind die weiteren nicht denkbaren Sätze:
    1) daß etwas ist und zugleich nicht ist;
    2) daß  ein  Etwas gleichzeitig an  zwei  verschiedenen Orten ist;
    3) daß zwei Etwas gleichzeitig an ein und demselben Ort sind;
    4) daß etwas sich gleichzeitig nach zwei oder mehreren Orten bewege.
Denn in allen diesen Sätzen würde ausgesprochen, daß etwas gleichzeitig so und anders sein könnte.

Der Satz des Widerspruches:  A nicht B,  sagt: ich fühle einen Unterschied zwischen  A  und  B  gleichzeitig und gleichörtlich vorzustellen; ich habe einen Grund, der mich zwingt,  B  anders vorzustellen als  A.  (5)

Urteile basieren daher stets auf dem Mangel oder der Gegenwart von Unterschieds- oder Kontrastgefühlen (Fühlungen) in letzter Instanz.

Urteile ich: "Dieser Mensch hat weiße Haare", so gebe ich an, daß die Empfindung, welche die Haare dieses Menschen mir hervorrufen, von meiner Vorstellung (Begriff) "weiß" nicht verschieden ist. Urteile ich weiter: "Einzelne Menschen haben weiße Haare", so gebe ich an, daß die Vorstellung von Menschen mit weißen Haaren mit dem Begriff Mensch (d. h. der Gesamtheit mir bekannter Einzelmenschen) nicht im Kontrast, im Widerspruch steht, nämlich, daß die Vorstellung eines menschen mit weißen Haaren in mir kein Kontrast- oder Widerspruchsgefühl hervorruft. - Urteile ich: "Dieser weißhaarige Mensch ist alt", so gebe ich an, daß mein erfahrungsgefmäß festgestellter Begriff  Mensch  die Erfahrung einschließt, daß alte Menschen weiße Haare haben.

In diesen Urteilen finden wir  Gründe,  d. h. dasjenige, auf welches ich meine Aussage oder mein Urteil gründe, basiere. Diese Gründe sind stets Erfahrungen, d. h. erfahrene Eigenschaften der Dinge (bzw. auch Dinge selbst in Beziehung zu anderen), über die geurteilt wird; seien es Eigenschaften, die ich bei Abgabe des Urteils direkt wahrnehme und die mich bestimmen, die betreffenden Dinge einem gewissen Begriff einzureihen oder seien es Eigenschaften, welche erfahrungsgemäß zu dem Begriff gehören, über den ein Urteil gefällt wird.

Gründe von Urteilen sind daher die Angabe empirischer Daten für die Wahrheit (empirische oder erfahrungsgemäße Denknötigung) meiner Urteile über Seiendes. Indem ich die Summe der empirischen Daten durch genauere Erforschung des Bestehenden fortgesetzt vermehre, erweitere ich den Kreis der möglichen Urteile fortgesetzt; vor allem jedoch dadurch, daß die Erweiterung der empirischen Erfahrungen mich in die Lage setzt, die Übereinstimmungen und die Verschiedenheiten des Einzelnen immer sorgfältiger zu erkennen und daher  das,  was durch einen Begriff bezeichenbar ist und diese Bezeichnung verdient, immer schärfer zu erfassen.

Alle genannten Urteile sind nach KANTs Anschauungen sogenannte  synthetische Urteile,  d. h. solche, zu denen ich nie a priori, sondern nur mittels Erfahrung gelangen kann. Oder, wie KANT sich ausdrückt: "Das ausgesagte  B  ganz außer dem Begriffe  A  liegt."  Analytische  Urteile dagegen sind nach ihm diejenigen, welche das Ausgesagte versteckt enthalten; so z. B. der Satz: "alle Körper sind ausgedehnt", welcher a priori feststehe, wogegen der Satz: "alle Körper sind schwer", ein sogenanntes synthetisches, ein Erweiterungs- oder Erfahrungsurteil sei. Das Kriterium aber dafür, ob ein Urteil a priori vorliege, sei seine "Notwendigkeit und Allgemeinheit", d. h. also seine Denknotwendigkeit.

Nun vermag ich mich nicht zu überzeugen, daß die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile im kantischen Sinne zutrifft; ich kann einen solch prinzipiellen Unterschied jener beiden Urteile nicht finden. Der Satz: "alle Körper sind schwer", ist ein Erfahrungssatz; sollte dagegen der Satz: "alle Körper sind ausgedehnt", ganz anderer Art sein? Alle Erkenntnis hebt doch auch nach KANT mit der Erfahrung an. Ich sehe hier ganz davon ab, ob, wie KANT meint, das Räumliche der Anschauungen nicht zur Erfahrung gehöre, sondern eine "Form des äußeren Sinnes" sei, indem ich darauf erst später eingehen werde. Den Beweis der Notwendigkeit und Allgemeinheit, als Kriterium des analytischen aprioristischen Urteils: "alle Körper sind ausgedehnt", kann KANT nur durch die Methode des "Wegdenkens" erbringen; d. h., ich kann mir von einem Körper alle Eigenschaften wegdenken, nur nicht seine Ausdehnung (inklusive irgendeiner Gestalt, denn diese ist für räumlich zu Denkendes als Grenze notwendig). Nun kann ich mir von einem Begrff alles Einzelbestimmende wegdenken, aber ich kann mir doch nicht das letzte begriffsbestimmende, die letzte allgemeinste Eigenschaft wegdenken, denn dann denke ich überhaupt nichts mehr. Wenn ich überhaupt etwas denken (vorstellen) soll, nicht nur etwa das hohle Wortzeichen, aus dem ich jeden Inhalt wegnehme, so muß ich etwas denken (vorstellen). Es muß also jedem Begriff zumindest  eine  Bestimmung bleiben, die ich  nicht  wegdenken kann, da er sich sonst in nichts auflösen würde. In meiner Erfahrung, möge dieselbe nun auch durch die "Form des äußeren Sinnes" bedingt werden, sind nun räumliche, d. h. ausgedehnte Anschauungen und diese bezeichne ich eben als Körper. Der allgemeinste Begriff Körper ist eben: Alles Wahrnehmbare (Anschaubare), das einen Raum einnimmt, in seiner Eigenschaft als wahrnehmbare Teile des Raumes betrachtet. Daß ich Unterschiedenes räumlich wahrnehme, ist eben doch Erfahrung, wenn auch allgemeinste und indem ich für das Unterschiedene im Raum den Begriff "Körper" bilde, fasse ich eben das zusammen, was in einer Eigenschaft übereinstimmt, eben  der,  etwas im Raum zu sein und diese kann ich ihm nicht rauben oder von ihm wegdenken, ohne den Begriff überhaupt aufzuheben. Ich finde daher keinen Wesensunterschied zwischen diesem sogenannten analytischen Urteil a priori und dem synthetischen Erfahrungsurteil.

Eine besonders wichtige Rolle spielen bei KANT die sogenannten  synthetischen Urteile a priori,  d. h. Erweiterungsurteile, durch welche meine Kenntnisse vermehrt werden, die aber wegen ihrer "Notwendigkeit und Allgemeinheit" den Charakter aprioristischer Urteile besitzen sollen. Dies sind die mathematischen Urteile, welche nach KANT sämtlich synthetisch sind und auf welche er vor allem die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori gründet. Auch hinsichtlich dieser Urteile bin ich von ihm nicht überzeugt worden. Da sie synthetisch sind, so basieren sie nach KANT auf Anschauung (Erfahrung); sie sind nicht einfach aus dem Begriffsinhalt, über den geurteilt wird, abzuleiten, in ihm schon versteckt enthalten. Ihre Apriorität liegt daher in ihrer Allgemeinheit, d. h. in der offenbaren Allgemeingültigkeit des Ausgesagten für sämtliche Einzelfälle, welche zum Begriff, über den ausgesagt wird, gehören, und dann in ihrer Notwendigkeit. Letztere fällt jedoch für diese Art von Urteilen eigentlich weg, denn das, was auf Anschauung basiert, ist nicht notwendig im Sinne von denknotwendig. Daß die gerade Linie die kürzeste Linie zwischen zwei Punkte ist, ist keine Denknotwendigkeit, sondern Erfahrung, wei es auch KANT sieht. Der aprioristische Charakter dieses Urteils kann daher nur darin liegen, daß es für alle möglichen geraden Linien von vornherein einleuchtende Gültigkeit besitzt.

Betrachten wir nun zunächst ein synthetisches Urteil: "Wasser erstarrt bei Null-Grad", so bin ich der Meinung, daß diesem Urteil streng genommen derselbe allgemeingültige Charakter zukommt, wie dem sogenannten synthetischen Urteil a priori der Mathematik. Daß die Erfahrung: "Wasser erstarrt bei Null-Grad zu Eis" ganz allgemein für jedes Wasser gilt, welches genau dieselbe Beschaffenheit hat wie dasjenige, an welchem ich diese Erfahrung zuerst machte und unter genau denselben äußeren Bedingungen, welche in dem Falle vorhanden waren, als ich diese Beobachtung machte, daran, glaube ich, zweifelt niemand. Denn es ist für mich denknotwendig auf Grundlage des Identitätssatzes so zu denken. Ist das Wasser in jeder Eigenschaft dasselbe, wie das, an welchem ich diese Beobachtung machte, so fehlt mir jeder Grund, zu denken, es könne ihm die beobachtete Eigenschaft mangeln und ohne einen Grund habe ich keine logische Nötigung, etwas für verschieden zu halten, was in allen sinen mir bekannten Eigenschaften gleich ist. Vielmehr ist gerade die Gleichheit der übrigen Eigenschaften für mich zwingender Grund, auch die allgemeine Verbindung der neu festgestellten Eigenschaft damit zu denken. Daß nun aber mein Urteil: "Wasser erstarrt bei Null-Grad" nicht den aprioristischen allgemeinen Charakter hat, wie das mathematische, liegt meiner Meinung nach darin, daß ich hier über einen Begriff (Wasser) urteile, von dem ich erfahrungsgemäß weiß, daß er in den Einzelfällen stets zahlreiche kleine Verschiedenheiten seiner Eigenschaften zeigt und daß seine Eigenschaften auch in hohem Grad von den wechselnden Eigenschaften seiner Umgebung abhängig sind. Ich kann daher zunächst nur urteilen, dieses Wasser erstarrt bei Null-Grad und bei den gegebenen Verhältnissen der Umgebung. Die Eigenschaften des Wassers können eine sehr beträchtliche Breite der Variation haben und diese Variationen sind mir Gründe, daß ich die Einzelerfahrung an einem bestimmten Wasser nicht als allgemeingültig ansehe.

Der Begriff der Linie und vor allem der der mathematischen Linie, d. h. einer Linie von unendlich (darüber später) geringer Querdimension - deren Querdimension oder Dicke daher bei allen tatsächlichen Operationen außerhalb der Möglichkeit des Feststellbaren (Erkennbaren) fällt - eine solche Linie hat nur zwei Eigenschaften, die Richtung, auf einen Spezialfall festgelegt und alle geraden Linien sind (abgesehen von ihrer Länge) begrifflich vollständig gleich. Sie haben eben nur die eine Eigenschaft der Geradheit. Unterschiede der Geradheit gibt es nicht bei den mathematischen Linien und Einflüsse der Umgebung und der Lage im Raum können nicht bestehen, da es sich ja nicht um natürliche Linien handelt, sondern um vorgestellte Linien, von denen von vornherein vorausgesetzt wird, daß sie keinerlei solchen Einflüssen unterliegen.

Das Urteil: "Die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei Punkten" gibt daher eine Beziehung zwischen der Richtunseigenschaft einer Linie und ihrer Längeneigenschaft an. Da nun alle geraden Linien außer ihrer Eigenschaft der Geradheit keinerlei andere besitzen, welche als Grund dafür gelten könnten, daß mein Erfahrungsurteil an  einer  geraden Linie bei anderen geraden Linien nicht zutreffen könnte - denn die gerade Linie hat eben nur eine Eigenschaft, welche als Grund für ihre zweite dienen kann - so ist meiner Meinung nach klar, daß ich die Erfahrung an der einen geraden Linie sofort verallgemeinere für alle solchen Linien; daß ich, wenn mir diese Erfahrung mitgeteilt wird, sofort einsehe, daß diese Beziehung zwischen Geradheit und Kürze für alle geraden Linien gelten muß. Denn es fehlt mir, wie gesagt, jeglicher Grund für das Urteil, daß für gewisse gerade Linien dieser Satz nicht gelten könne. Nach dem Dargelegten vermag ich daher diese mathematischen Urteile nicht als prinzipiell von den gewöhnlichen synthetischen verschieden zu erkennen. Es sind Urteile über Begriffe, deren bestimmende Eigenschaften für alle unter sie fallende Einzelne als völlig gleich vorausgesetzt werden und wo demnach kein Grund vorhanden ist, auf welchem gestützt die Gültigkeit des Urteils für gewisses Einzelnes bezweifelt werden könnte. - Wenn heute eine neue Beziehung der Schwere zu einer Naturerscheinung entdeckt würde, natürlich zunächst an einzelnen schweren Körpern, so würde diese Erfahrung sofort für alle schweren Körper verallgemeinert werden, vorausgesetzt, daß diese Beziehung als eine solche erkannt wäre, welche nur von der Schwerebeschleunigung abhängig ist, von den übrigen Eigenschaften der Körper dagegen unabhängig erscheint.

Etwas anders liegt der Fall für das arithmetische aprioristische Urteil, welches KANT in der Aussage 5 + 7 = 12 erblickt. KANT bemerkt, daß aus dem Begriff der Summe von 5 und 7 nie ohne Anschauung abzuleiten wäre, daß dieser Begriff identisch sei mit dem Begriff von  Zwölf.  Fragen wir nun zunächst, was ist der Begriff 5? Doch nichts anderes, als der einer gewissen (besonderen) Summe und es besitzen die Einzelfälle, welche wir unter diesem Begriff zusammenfassen, nur diese gemeinsame Eigenschaft. Oder vielleicht richtiger gesagt, da wir den Begriff Fünf aus Einheiten zusammengesetzt denken, welche eben außer ihrer Einheitlichkeit oder Individualität keinerlei weitere Eigenschaften besitzen, so gibt es in diesem Begriff 5 keine vielfachen Einzelfälle, sondern, wenn es sich um reine Zahlen handelt, nur einen einzigen Fall 5. Daß nun eine Summe von Einheiten (5) und eine Summen von Einheiten (7) eine Summe von Einheiten und nichts anderes sein kann, ist denknotwendig, denn viele Einheiten repräsentieren eben den Begriff Summe und ebenso notwendig ist, daß in dieser Summe nichts anderes enthalten sein kann, als die Einheiten der 5 und der 7 zusammen. - Daß ich nun diese Summe der 5 Einheiten und der 7 Einheiten nicht einfach mit dieser Bezeichnung 5 + 7 stehen lasse, sondern eine besondere Bezeichnung für sie habe, ist eine Doppelbezeichnung desselben Begriffes, die ich natürlich erst erfahren muß, aber nicht eigentlich eine Vermehrung meiner empirischen Naturerfahrung. Hätte KANT als Beispiel gewählt: acht + zehn = achtzehn, so wäre das wohl recht einleuchtend. Man könnte ja alle Zahlen auch mit der Einheit ausdrücken und statt 5 sagen: 1 + 1 + 1 + 1 + 1 und entsprechend statt 7; dann würde sich doch ergeben, daß dieses Urteil nur der Satz der Identität ist und nicht mehr besagt, als das Urteil: "Der Vater, die Mutter und die Kinder sind zusammen eine Familie"; d. h. also, der Begriff der Familie enthält eben als begriffsbestimmende Eigenschaften das Bestehen aus diesen untergeordneten Teilen. Ebenso enthält der Begriff 12 als seine einzige begriffsbestimmende Eigenschaft das Bestehen aus einer bestimmten Anschauung von zusammensetzenden Einheiten. Da ich nun diese untergeordneten Einheiten in Unteranschauungen (Teilanschauungen) betrachten kann und diese (der leichteren Verständigung wegen) mit besonderen Begriffszeichen belege, so geht hieraus hervor, daß eben diese Eigenschaften des Begriffes Zwölf es sind, welche ich in diesem Urteil aussage. Daß ich sie aus der Anschauung erfahre, das teilen sie mit jeder Erkenntnis begriffsbestimmender Eigenschaften, damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Aufzählung dieser Eigenschaften etwas anderes sei, wie das Begriffswort selbst. Das letztere hat für mich nun die Eigenschaften eines gewissen Klanges; was dieser symbolische Klang dagegen bedeuten soll, erfahre ich erst aus der Aufzählung der begriffsbestimmenden Eigenschaften und in letzter Instanz durch Anschauung. Da nun die Eigenschaften des Begriffes Zwölf keinerlei andere sind, als die einer bestimmten Summe von Einheiten (Einzelanschauungen, Vorstellungen), sonstige und namentlich variierende Eigenschaften fehlen durchaus und eine Abhängigkeit dieses Begriffes von den sonstigen Eigenschaften der Einzelfälle ist ausgeschlossen, da ja diese bei der Begriffsbildung bewußt ausgeschlossen werden und auch der Erfahrung keinerlei solche Beeinflußung lehrt, so folgt hieraus, wie für die gerade Linie, daß jede Eigenschaft, die ich am Begriff Zwölf durch Anschauung erkenne, als allgemeingültig erscheinen muß, da jeder Grund dafür mangelt, daß in einem Einzelfall von Zwölf diese Erfahrung ungültig sein könnte. Wenn der Begriff Zwölf eine gewisse Anschauung von mehreren Einheiten ist, so müssen auch alle Zahlbegriffe, welche zusammen die gleiche Anschauung geben, Zwölf sein. Denn wären sie das nicht, so müßten sie außer ihren Einheiten noch etwas anderes enthalten, es müßte ein Grund dafür angebbar sein, daß 5 + 7 = 12 und etwa 6 + 6 nicht gleich zwölf ist. Wir finden also hier dieselbe Art scheinbar aprioristischer allgemeiner und notwendiger Urteile, die wir schon bei der geraden Linie darzustellen versuchten.
LITERATUR - Otto Bütschli, Gedanken über Begriffsbildung und einige Grundbegriffe, Annalen der Naturphilosophie, Bd.3, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Englisch: idea, notion, apprehension, conception; Französisch: notion, idée

    2) Daß es sich bei der Bildung der Begriffe natürlich nicht um die Dinge etc. als solche handeln kann, sondern nur um Vorstellungen derselben, bedarf wohl kaum der Betonung. Die Heranziehung der möglichen zukünftigen Dinge zu den Begriffselementen rechtfertigt sich ja auch in diesem Sinne, als meine Vorstellungen derselben ebenso reell sind, wie die der augenblicklich existierenden und der existiert habenden. Da ich jedoch, wenn ich etwas über Dinge aussage, stets mit meinen Vorstellungen operiere, das Ausgesagte jedoch auf die Dinge selbst beziehe, so rechtfertigt sich auch unsere obige Übertragung der Begriffe auf die Dinge etc., als dasjenige, von denen unsere Anschauungen und Vorstellungen Folgen sind. Die Richtigkeit der obigen Auffassung der Begriffe als Sammelbezeichnungen für die Gesamtheit von Vorstellungen von Dingen, die in gewissen Eigenschaften als gleich erachtet werden, folgt, meiner Meinung nach, auch aus der Identität der Urteile. "Gold ist gelb = Alle goldenen Dinge sind gelb." "Das Schöne gefällt mir = Alle schönen Dinge und sonstigen schönen Erlebnisse gefallen mir."

    3) Der Begriff "Vorstellen" kann als ursprüngliche Bedeutung nur die gehabt haben, etwas Angeschautes, Gesehenes, Gefühltes, Erlebtes, geistig zu reproduzieren. Im weiteren ist er jedoch auch häufig auf Denken überhaupt ausgedehnt und denkbar und vorstellbar zusammengeworfen worden. Denkbar im gewissen Sinne wäre ein Raum mit mehr als drei Dimensionen, vorstellbar dagegen nicht. Denkbar ist ein sogenannter mathematischer Punkt, vorstellbar ist er nicht. Die obige Anwendung von "Vorstellen" umfaßt eigentlich beides; der Begriff ist seinem Umfang nach weder vorstellbar noch ausdenkbar.

    4) Wenn ich unter Denken die Bildung von Sätzen verstehe, in denen Begriffe oder Vorstellungen in Beziehung gesetzt werden, so kann ich eigendlich von nichts Undenkbarem sprechen. Alles Unmögliche und gemeinhin Undenkbare läßt sich aussagen und also auch denken; demnach auch, daß etwas sei und gleichzeitig nicht sei. Die Unmöglichkeit tritt erst ein, wenn dieses Gedachte vorgestellt werden soll, d. h. in das Bild einer Anschauung, einer Empfindung oder eines Gefühls umgesetzt werden soll. - Ich kann mir denken: ein Mensch ist grün. Ich kann mir diesen Gedanken auch in ein Vorstellungsbild umsetzen, obgleich es erfahrungsgemäß grüne Menschen nicht gibt. Dagegen ist undenkbar oder richtiger unvorstellbar, daß ein Mensch gleichzeitig grün und schwarz ist. - Diese Erwägungen halte ich für nicht so trivial und bedeutungslos, wie sie scheinen; denn vielfach wird mit sogenanntem Denkbaren operiert, was aber nur zu einem Satz gefügte Worte sind und dieses als etwas Mögliches oder Denkmögliches behandelt. Wenn ich, wie das gelegentlich geschieht, definiere: ein mathematischer Punkt ist ein Raumgebilde ohne Dimensionen, so gehört dieser Satz als denkbar doch nur in den Bereich der Wortgedanken, denn er ist eben so undenkbar, d. h. unvorstellbar, wie der Satz: "ein Dreieck hat vier Ecken". Denn da ein Dreieck eben ein Raumgebilde ist, das nach meiner Erfahrung drei Ecken hat, so kann es nicht gleichzeitig drei und vier Ecken haben.- Ein Raumgebilde ist aber eben nur ein solches, insofern es Dimensionen hat. Nenne ich daher den mathematischen Punkt ein Raumgebilde und sage gleichzeitig von ihm aus, daß er keine Dimension hat, so widerspreche ich mir selbst und denke etwas Unvorstellbares.

    5) Über Denknotwendigkeit (nicht anders Denkarbeit) hier noch einige Worte. Es wurde schon bemerkt, daß Denken, insofern es etwa nur Vorstellungen und Begriffe (Wortzeichen) in Beziehung oder Verbindung setzt, keinerlei Notwendigkeit, Beschränkung oder Zwang unterliegt, sondern ganz beliebig sein kann, d. h. jede mögliche Beziehung oder Verbindung solcher Begriffe kann hergestellt, gedacht (gesagt) werden. Ich kann sagen: "Dieser Raumteil wird gleichzeitig von einem roten, einem gründen und einem gelben Ding eingenommen." Ich kann ebenso sagen: "Dieses Ding bewegt sich gleichzeitig gegen die Sonne und gegen die Erde." Was man Nichtdenkbarkeit dieser Aussagen nennt oder nennen kann, ist unsere Unfähigkeit, sie in anschauliche Vorstellungen umzusetzen. Von dieser allgemeinen Denknotwendigkeit, die sich gleichzeitig auf alle Begriffe erstreckt, ist jedoch diejenige zu unterscheiden, welche sich auf die erfahrungsgemäß als Komplexe einer gewissen Zahl von Eigenschaften festgestellten dinglichen Begriffe bezieht. Ich kann mir sowohl denken, als auch anschaulich vorstellen, daß der nicht unterstützte Stein nicht zur Erde fällt. Es besteht weder ein Zwang, mir ihn nur fallend zu denken oder vorzustellen, noch eine Unfähigkeit, ihn auch freischwebend vorzustellen. Wenn ich jedoch letzteres tue, so ist es nicht mehr der erfahrungsgemäß bekannte oder demgemäß vorgestellte Stein, denn zu dessen Eigenschaften gehört, wie die Erfahrung stets lehrte, das Fallen. Es mangelt daher meinem Denken und Vorstellen jeder erfahrungsgemäße Grund, den Stein anders als fallend zu denken und vorzustellen; mein Denken und Vorstellen des nicht fallenden Steines wäre ohne jeden Grund, daher völlig willkürlich und unlogisch. Der so gedachte Stein gehörte eben gar nicht mehr zum erfahrungsgemäßen Begriff "Stein" und wenn ich ihn doch darunter stellen will, so erhebt sich auch hier der Satz des Widerspruchs, daß der Begriff Stein nicht zugleich so und anders sein kann. Ich habe daher gar keinen Grund, die natürlichen Dinge anders zu denken, als die Erfahrung sie zeigt. Ich kann es zwar, aber ich fühle dann, daß ich unlogisch, d. h. grundlos oder unrichtig denke; da jedes Vorgestellte, Gedachte und Ausgesagte einen erfahrungsgemäßen (erlebten) Grund haben muß, um richtig zu sein. - Wenn ein Begriff vorliegt, dessen Inhalt ein erfahrungsgemäß bestimmter, also z. B. der der Säugetiere und ich finde als dessen wesentliche Eigenschaft (d. h. als eine Eigenschaft, die ich von allen bekannten Säugetieren aussagen kann) das Gebären lebendiger Jungen, so besteht für mich eine erfahrungsgemäße Nötigung, für jedes Säugetier diese Eigenschaft zu denken. Denn diese Eigenschaft und die übrigen der Säugetiere sind erfahrungsgemäße Gründe für einander, sowie die Gleichheit der Winkel und der Seiten im gleichseitigen Dreieck sich gegenseitig begründen. Nun sollen aber neue Tiere entdeckt werden, welche zwar die übrigen Eigenschaften der Säugetiere besitzen, jedoch Eier legen. In diesem Fall kann ich mich nun verschieden verhalten. Entweder ich erachte die Eigenschaft des Lebendiggebärens als  wesentliche  des Begriffs Säugetier und muß dann diese neugefundenen Tiere vom Begriff Säugetier ausschließen. Oder ich erachte die übrigen Eigenschaften für den Begriff Säugetier maßgebend und muß dann das Lebendiggebären als wesentliche Eigenschaft des Inhalts des Säugetierbegriffs streichen. Je mannigfaltiger die Eigenschaften (der Inhalt) eines Begriffs, desto leichter und häufiger kann ich in die Lage kommen, eine solche Berichtigung des Begriffsinhaltes vorzunehmen. Je geringer die Zahl der wesentlichen Eigenschaften eines Begriffs, je seltener ist dies der Fall und umso notwendiger (zwingender) erscheint mir die Zusammengehörigkeit dieser Eigenschaften.

    Ein Dreieck hat nur folgende Eigenschaften: Konstante oder formale, - d. h. den Begriff im allgemeinen festlegende - denn ohne irgendeinen solchen konstanten Inhalt kann überhaupt kein Begriff sein. Diese konstanten Eigenschaften sind: Drei Seiten (Linien), drei Schnittpunkte derselben (drei Ecken), drei Winkel, eine Fläche. Ferner variable Eigenschaften: Größe der Seiten, der Winkel, der Fläche, Krümmung der Seiten und der Fläche. Finde ich nun zwischen der Größenbeziehung der Seiten und der der Winkel eine Beziehung, z. B. daß bei Gleichheit der Seiten auch die Winkel gleich sind, so ist das eine Beziehung, die ich für allgemeingültig erachten muß, wenn nicht irgendwelche anderen Gründe bestehen, von denen sie abhängen kann. Da nun damit nur eine Beziehung der Größen angesprochen ist, jedoch keine wirklichen Größen, so kann der Verschiedene Inhalt der Fläche keinen Grund bilden, der eine Abweichung von diesem Satz bedingte. Bei der gewöhnlichen Betrachtung des Dreiecks setze ich seine Fläche als eben voraus, eliminiere also die Verschiedenheit der Krümmung der Fläche als Grund einer Abweichung. Lasse ich jedoch die Krümmung in ihrer Allgemeinheit unbestimmt bestehen, dann ist auch die genannte Beziehung nicht mehr gültig und die Krümmungen der Fläche treten als Gründe der Abweichung auf. Ich könnte also den Begriff des Dreiecks auch so allgemein fassen, daß die obige Beziehung als allgemeine Eigenschaft nicht gelten würde oder ich kann ihn auf die Dreiecke beschränken, für die er gilt (ebene und sphärische) oder ich könnte den Begriff Dreieck auch auf ebene allein beschränken und für die auf gekrümmten Flächen besondere Begriffe aufstellen. Setzen wir nun einmal den Fall, wir würden von einem gewissen Zeitpunkt an finden, daß ein Körper, der seither gefallen ist, nicht mehr fällt. Wie würden wir uns dieser Erfahrung gegenüber verhalten? Sie muß uns als eine Änderung der Eigenschaften des Körpers erscheinen. Nun sind uns in der räumlichen Welt keine Fälle bekannt, daß ein Körper seine Eigenschaften ändert, ohne Änderung eines anderen Körpers (nur in der psychischen Welt kommt anscheinend dergleichen vor). Die Gegenwart dieses anderen Körpers ist der Grund, die Teilursache der Änderung des ersten. Wir werden daher genötigt, nach einem Grund oder einer Teilursache dieser Änderung zu forschen. Finden wir diese, so reiht sich der Fall in unsere Erfahrung widerspruchslos ist. Finden wir diese nicht, so haben wir einen Fall, den wir Wunder nennen, d. h. eine Änderung des natürlichen Geschehens ohne auffindbaren natürlichen Grund (Ursache). Unser Verhalten gegenüber einem solchen Fall, insofern er wirklich vorkäme, hängt nun von unserem Denkbedürfnis ab. Ist dieses gering, so kann der Fall so stehen bleiben, wie er ist, als eine grundlose Veränderung. Würde das Vorkommen solcher Fälle als etwas im Naturgeschehen eintretendes zugegeben, so ergäbe sich die Konsequenz, daß ein zusammenhängendes kausales Denken dieser Vorgänge, ein Begreifen oder Erklären derselben überhaupt unmöglich wäre. Empfinden wir jedoch das Bedürfnis nach einem solchen zusammenhängenden kausalen Denken, so werden wir zunächst erforschen, ob nicht doch übersehen Teilursachen zu finden sind, welche es ermöglichen, den scheinbar abweichenden Fall dem zusammenhängenden Denken einzuordnen. Das hat sich denn auch, wie die Erfahrung der denkenden Menschheit ergeben, bis jetzt immer bestätigt und daher die Überzeugung zur Folge gehabt, daß sich das stetig bewähren werde. Diese Überzeugung, nicht ein aprioristischer Zwang bildet den Antrieb zur Forschung nach der vermißten Teilursache.

    Ergäbe sich keine natürliche Teilursache der eingetretenen Änderung, so wäre für das zusammenhängende Denken noch die hypothetische Annahme einer psychischen Ursache möglich, nach Analogie mit der scheinbar selbstveränderlichen menschlichen Psyche. Das ist dann auch der Ausweg, welcher von denen eingeschlagen wird, welche zwar ein Bedürfnis haben, kausal zu denken und zu begreifen, aber nicht begreifen wollen, daß verwickelte Probleme nicht über Nacht zu lösen sind. Deshalb leugnen sie lieber ihre Begreiflichkeit auf natürlichem Weg und ziehen ein Scheinbegreifen auf übernatürlichem Weg vor, indem es ihnen angenehmer ist, eine erfundene übernatürliche Erklärung anzunehmen und unsere zeitweilige Unfähigkeit zur Lösung gewisser verwickelter Probleme zu einer bleibenden zu machen. Es wäre ihnen schmerzlich, wenn das Geschehen in der Welt nicht von einem solchen Eingreifen übernatürlicher Ursachen abhinge.

    "Aus Nichts kann nichts werden", "Alles was geschieht, muß eine Ursache haben." Diese beiden als Denknotwendigkeiten vielfach betonten Sätze bedürfen noch einer Erörterung. Es handelt sich hier um Folgen, also um Kausales. - Causa ist für Folge dasselbe wie Grund für Gleichzeitiges. Denken ohne Gründe ist phantasieren, hat also keiner Gewähr der Wahrheit, denn wahr ist erfahrungsgemäß und nur, was mit Gründen, d. h. erfahrenden Daten gestützt wird, kann wahr sein. Wird dieses auf das Gebiet der Folge übertragen, so ergibt sich auch hier: Folge ohne erfahrungsgemäße Ursache ist Phantasie ohne irgendeine Gewähr der Wahrheit. "Nichts" kann außerdem keine Ursache sein, da es die Verneinung einer solchen ist. "Alles, was geschieht, muß eine Ursache haben", ist insofern denknotwendig, weil das Geschehen nur auf diese Weise aus dem Gebiet bloßen Sprechdenkens in vorstellendes Denken erhoben wird. Alle völlig totalen Veränderungen sind kausal unvorstellbar, wie jeder absolute Anfang und jedes absolute Ende, die eben solche totale Änderungen sind. Wirklich vorstellbar sind eigenlich nur Veränderungen durch Zusammentritt (Vereinigung) und Trennung von Dingen (Anschauungen).