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EDUARD von HARTMANN
Neukantianismus, Schopenhauerianismus
und Hegelianismus

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"Was von Kants Lehren bei Lange bestehen bleibt, ist lediglich die Apriorität der Anschauungs- und Denkformen, und der hieraus gezogene falsche Schluß, daß dieselben bloß subjektiv sind und keine transzendentale Bedeutung haben."

"Nur die Kritik ist negativ zerstörend und führt zum Skeptizismus; der Kritizismus aber ist ein auf Erfahrung begründetes, durch synthetisches Denken errichtetes, aber durch Kritik in allen Punkten geprüftes und korrigiertes positives System der Philosophie."


6. Langes philosophischer Standpunkt

LANGE hatte sich, wie erwähnt, die Aufgabe gestellt, den Materialismus mit Hilfe des erkenntnistheoretischen Idealismus aus der metaphysischen Sphäre in diejenige der subjektiven Erscheinung zu versetzen, ihn dadurch aus einem dogmatischen Irrtum zu einer kritisch begründeten Wahrheit zu erheben, und ihn so als bleibenden Bestandteil in die Philosophie aufzunehmen. Indem er diese Umwandlung mit Hilfe der kantischen Erkenntnistheorie vorgenommen hat, stützte er sich allerdings auf KANT; aber da er zugleich eine geschichtliche Behandlung anstrebte, so wäre es doch seine dringendste Pflicht als Geschichtsschreiber gewesen, seine Entwicklung in der Darstellung desjenigen Philosophen gipfeln zu lassen, der vor ihm dieselbe Aufgabe mit denselben Mitteln und im gleichen Sinn zu lösen versucht hatte, nämlich SCHOPENHAUER. Indem er diesen schlechtweg ignorierte, glich er einem Koch, welcher ein Dinner mit reichlich bedachten Vorspeisen und Nachtisch serviert, und nur die Hauptsache, den Braten, vergißt.

Auch SCHOPENHAUER betrachtet die idealistischen Grundsätze der kantischen Erkenntnistheorie als das unerschütterliche Fundament aller künftigen Philosophie; auch er sucht, was KANT noch gar nicht eingefallen ist, den naturwissenschaftlichen Materialismus voll und ganz in sein System aufzunehmen. Durch seine Synthese des subjektiven Idealismus mit dem Materialismus ist LANGEs ganzes Denken unweigerlich als ein unmittelbarer Ausfluß von SCHOPENHAUERs System gekennzeichnet; es bedürfte dazu gar nicht der weiteren Bemerkung, daß er auch den objektiven Idealismus SCHOPENHAUERs mit einer durch den Einfluß von SCHILLER und FICHTE bedingten Modifikation festhält und umbildet, und daß er auch dem Pessimismus SCHOPENHAUERs für die Welt der empirischen Wirklichkeit Recht gibt. Von den fünf Elementen von SCHOPENHAUERs System sind hiernach zwei in unveränderter, zwei in abweichender Gestalt festgehalten, und nur das fünfte, der metaphysische Realismus und Monismus des Willens ist, als ins Gebiet des Unerkennbaren gehörig, ausgeschieden worden. LANGEs ganzer Gedankenkreis bildet somit nur eine einseitige Fortsetzung und Ausgestaltung des Schopenhauerianismus, und es ist für diese Tatsache ganz gleichgültig, in welchem Grad LANGE selbst sich dieses Zusammenhangs bewußt gewesen sein mag. Man kann LANGE als die subjektivistische Seite der Schule SCHOPENHAUERs charakterisieren, welcher FRAUENSTÄDT, BAHNSEN und ich gemeinsam als Vertreter eines transzendentalen Realismus gegenüberstehen.

VAIHINGER selbst sagt (Seite 210):
    "Es wäre doch merkwürdig, wenn Lange, dessen geistige Entwicklung in die Zeit fiel, in welcher Schopenhauer Mode war, nicht dadurch irgendwie influiert worden wäre; und wenn er (Geschichte des Materialismus II, 2) davon spricht, daß die Schopenhauersche Philosophie für viele gründlicheren Köpfe einen Übergang zu Kant gebildet habe, so dürfen wir vermuten, daß dies auch für Lange selbst der Fall gewesen ist."
Da hiernach wenigstens die Bekanntschaft LANGEs mit SCHOPENHAUERs Werken als zweifellos gelten muß, und da bei einem so sorgsamen Historiographen wie LANGE nur noch ein absichtliches Ignorieren eines so wichtigen Vorgängers angenommen werden kann, so wird Letzteres geradezu zu einem psychologischen Problem, das zu Vermutungen über die Motive einer so unbegreiflichen Zurücksetzung und eines so starken Verstoßes gegen die Pflicht des Geschichtsschreibers herausfordert. Es muß nun zunächst dieses Ignorieren als ein starkes Symptom für die Antipathie und Geringschätzung aufgefaßt werden, mit welcher LANGE auf SCHOPENHAUER als auf einen spekulativen Philosophen herabblicken mußte; aber dies allein kann nichts erklären, da er z. B. ARISTOTELES und mich mindestens mit demselben Widerwillen und derselben Verachtung betrachtet und doch eingehend berücksichtigt, obwohl seine Polemik gegen mich mit dem Inhalt des Buches kaum etwas zu schaffen hat. Ich kann nicht umhin, aus der Antipathie LANGEs gegen SCHOPENHAUER den Schluß zu ziehen, daß ihm der Gedanke höchst widerwärtig und peinlich sein mußte, daß Andere ihn als einen bloßen Ausläufer des Schopenhauerianismus betrachten könnten, und daß er deshalb bemüht sein mußte, den Einfluß, den das System SCHOPENHAUERs, gleichviel ob direkt oder indirekt, auf ihn gehabt hatte, möglichst zu verheimlichen. Er schämte sich seiner Abkunft, dachte nach SCHOPENHAUERs Anweisung: pereant, qui nostra ante nos dixerunt [Möge zugrunde gehen, wer vor uns schon das Gleiche gesagt hat. - wp] und vermied deshalb jede Darstellung von SCHOPENHAUERs Standpunkt, aus welcher jedem Leser sofort die intime Verwandtschaft mit dem seinigen entgegengeleuchtet hätte. Ist dieses hypothetische Motiv die einzig denkbare Lösung für jenes psychologische Rätsel, so muß diese Lösung rückwärts den Verdacht verstärken, daß der Einfluß SCHOPENHAUERs auf LANGE ein direkter und bedeutender gewesen ist; er hat also mit seinem auffälligen historiographischen Mangel das Geheimnis, das er dadurch verhüllen wollte, gerade erst recht verraten.

Wie SCHOPENHAUER SCHELLING verleugnet, so LANGE wiederum SCHOPENHAUER; wie jener direkt auf PLATO zurückgegangen ist, so dieser auf KANT. Für KANT hat LANGE eine ganz besondere Vorliebe, einerseits weil KANT für SCHOPENHAUER und ihn selbst die Grundsätze des transzendentalen Idealismus geliefert hat, andererseits weil derselbe keinen Anspruch darauf erhebt, Metaphysiker zu sein. Daß KANT den Idealismus BERKELEYs und FICHTEs auf das Entschiedenste perhorresziert [ablehnt - wp] und jederzeit auf einen transzendentalen Realismus als sein eigentliches Ziel hingearbeitet hat, ist dabei in ersterer Hinischt ebenso übersehen worden, wie in letzterer Beziehung der Umstand, daß KANT seinen idealistischen Grundsätzen zum Trotz durch und durch ein unbewußter Metaphysiker war. Aber die metaphysischen Anläufe KANTs werden teils als nebensächliche Auswüchse ignoriert, teils als senile Abirrungen mit freundlicher Nachsicht entschuldigt. So bleibt KANT für LANGE trotz aller Ausstellungen im Einzelnen der Musterphilosoph, auf dessen Boden man sich zu stellen hat, und "um den nicht herum zu kommen" ist. LANGE geriert sich selbst durchaus als Kantianer, und VAIHINGER feiert ihn als das Haupt und den Führer des im letzten Jahrzehnt entstandenen Neukantianismus, und nicht mit Unrecht, wenn man bei einer solchen Schätzung nicht die prinzipielle Klarheit und historische Treue als maßgebend erachtet. Die kantische Philosophie ist nämlich ein Gemenge von subjektivem Idealismus und transzendentalen Realismus; die Elemente beider Richtungen laufen wunderlich verschlungen durcheinander. Gleichviel, ob die zwischen beiden stehenden Widersprüche, wie ich behaupte, Fehler KANTs, oder wie VAIHINGER (Seite 35) behauptet notwendige fundamentale Widersprüche in unserer geistigen Organisation anzeigen, - soviel steht fest: daß nur die Verbindung beider Seiten den Anspruch auf eine historisch treue Wiedergabe der kantischen Lehre machen kann.

Schon SCHOPENHAUER hatte KANTs Ableitung des Dings-ansich mittels der Kategorie der Kausalität als unvereinbar mit den idealistischen Grundsätzen KANTs verworfen, und LANGE folgt ihm hierin in seiner ersten Auflage, indem er in diesem Punkt eine Korrektur KANTs für nötig erachtet. Der Unterschied beider ist nur der, daß SCHOPENHAUER mit Hilfe eines metaphysischen Willensrealismus einen transzendentalen Realismus unter Umgehung der transzendenten Kausalität zu errichten sucht, während LANGE diese Metaphysik wie jede andere als bloße Begriffsdichtung verwirft. SCHOPENHAUER lehnt sich dabei an KANTs Lehre vom intelligiblen Charakter an; LANGE hingegen lehrt, daß man ebensowenig durch das Subjekt als durch das Objekt zum Ding-ansich durchdringen kann (VAIHINGER, Hartmann, Dühring, Lange, Seite 56), und daß der Glaube an eine transzendentale Freiheit ganz ebenso eine notwendige Jllusion ist wie der an ein "Ding-ansich" hinter dem Objekt (VAIHINGER, Seite 185). Hiermit entfernt er sich von KANT viel weiter als SCHOPENHAUER, welcher zumindest dieser wichtigsten unter den kantischen Vernunftideen noch eine objektive Wahrheit zugeschrieben hat, währen LANGE in ihnen nur ein praktisch wertvolles Spiel der Phantasie ohne alle objektive Gültigkeit sehen will (ebd. 109). Ferner hält SCHOPENHAUER noch daran fest, daß KANT durch seinen transzendentalen Idealismus die von ihm aufgesuchten und dargestellten Paralogismen und Antinomien gelöst und wirklich überwunden hat; LANGE aber, der sich natürlich mit seinem einseitigen Idealismus in die schlimmsten Widersprüche verrennt, muß den kantischen Ausspruch einer vollbrachten Lösung der Antinomien ignorieren, und stattdessen ihre bloße Aufstellung betonen, - als ob es demselben jemals eingefallen wäre, seinen Schlüssel für die Lösung der Kategorien (den Begriff des Noumenon) als eine bloße logische Fiktion zu betrachten (VAIHINGER, Seite 35). Schwindet sonach der haltbare Teil des umfassenden kantischen Systems schon in der Kritik SCHOPENHAUERs auf einzelne Fundamentallehren zusammen, so reduziert sich bei LANGE der bestehen bleibende Rest auf ein solches Minimum, daß sein Anspruch, ein moderner Vertreter des Kantianismus zu sein, kaum noch im Ernst haltbar erscheint, auch ganz abgesehen davon, daß er entschieden unkantische Gedankenelemente hereinnimmt.

Was von KANTs Lehren bei LANGE bestehen bleibt, ist lediglich die Apriorität der Anschauungs- und Denkformen, und der hieraus gezogene falsche Schluß, daß dieselben "bloß" subjektiv sind und keine transzendentale Bedeutung haben. Da LANGE somit insbesondere die transzendente Kausalität leugnet, so leugnet er, daß unsere Wahrnehmungen durch eine Affektion der Sinnlichkeit von Seiten transzendenter "Dinge-ansich" zustande kommen, und gibt nur zu, daß unsere geistige Organisation eine solche ist, daß uns dies so zu sein scheint. Hiernach muß er annehmen, daß die Materie der Anschauung ganz in demselben Sinn a priori [von vornherein - wp] gesetzt ist, wie ihre Form; damit verliert aber jeder Unterschied von a priori und a posteriori [im Nachhinein - wp] und die ganze von KANT auf diese Unterscheidung gebautet Konsequenzreihe ihre Bedeutung, und LANGE steht auch in dieser Hinsicht vielmehr auf dem Standpunkt FICHTEs, bei dem das Ich Alles ohne Unterschied selbsttätig aus sich produziert.

Dasselbe gilt von der Auffassung des Dings-ansich. Obgleich KANT dessen Beschaffenheit als unerkennbar bezeichnet, so hält er doch dessen positive Existenz für ebenso zweifellos wie die Affektion unserer Sinnlichkeit durch das Ding-ansich, (d. h. die transzendente Kausalität), und urgiert eben dies als den Unterschied seines kritischen Standpunkts von allem bloßen Idealismus, und speziell dem BERKELEYs. LANGE dagegen leugnet nicht nur die positive Existenz des Dings-ansich und erklärt dasselbe für einen rein negativen Grenzbegriff unseres Denkens, sondern er versteigt sich in der zweiten Auflage sogar zu der Behauptung, daß dies KANT wahre Meinung gewesen ist, und stützt diese Behauptung auf die einseitige Darstellung COHENs, in welcher eben die zahlreichen realistischen Stellen der kantischen Schriften einfach ignoriert sind. So aber ist das "Ding ansich" zu einer "erkenntnistheoretischen Kategorie" herabgesetzt, und der Glaube an die transzendentale Bedeutung dieser Kategorie für eine bloße Jllusion erklärt, welche aus unserer gegebenen geistigen Organisation mit Notwendigkeit folgt. Dieser Punkt aber ist der Rubikon, der zwischen KANT und FICHTE liegt. Ist dieser Schritt einmal getan, ist das Ding-ansich (oder Nicht-Ich) zu einer bloßen Vorstellung (d. h. zu einem Produkt des Ich) herabgesetzt, dann kann eine solche Erkenntnistheorie sich nicht mehr Neukantianismus, sondern muß sich Neufichteanismus nennen. LANGE tut dies nur deshalb nicht, weil die Synthese SCHOPENHAUERs von subjektivem Idealismus und Materialismus festhalten will, und wie SCHOPENHAUER die Fühlung mit der Naturwissenschaft nicht verlieren mag. Er bleibt deshalb in einem Konfusionismus stecken, über den FICHTE weit hinaus ist; und dies allein der Grund, daß er sich Kantianer zu nennen versucht, da er sich Schopenhauerianer nun einmal nicht nennen will.


7. Vaihingers philosophischer Standpunkt

Während LANGE sich so zwischen zwei Stühle (SCHOPENHAUER und FICHTE) setzt, die er beide nicht zu bemerken scheinen will, bildet VAIHINGER diesen subjektiven Idealismus zu dem einzigen Ziel fort, zu dem er führen kann, wenn er nicht wieder in eine der geschichtlich bereits durchmessenen Bahnen einlenken will, zum Skeptizismus. Er zeigt, daß die "physisch-psychische Organisation" LANGEs, d. h. das der physischen Organisation und ihren psychischen Funktionen zugrunde liegende Unbekannte, ein ebenso negativer Grenzbegriff nach der subjektiven Seite ist, wie das Ding-ansich nach der objektiven (Seite 57), - daß alle diese Kategorien bloße Notbehelfe des Denkens, bloße Verlegenheitsbezeichnungen unserer Unwissenheit, eigentlich also "Begriffe der Ignoranz" sind (Seite 62), daß mit einem Wort unser Erkennen ausschließlich auf die Sphäre der subjektiven Erscheinung beschränkt ist. Hiernach ist das Resultat des Kritizismus ein rein negatives, und es kommt darauf an, es als solches rein festzuhalten und nicht wieder aus menschlicher Schwäche der Null eine Zahl unterzuschieben. Der Kritizismus könne nur zerstören, nicht aufbauen, er sei die "Selbstzersetzung der Spekulation", und Philosophie nur insoweit möglich, als das Geständnis, nichts zu wissen - eben auch Philosophie ist (Seite 67). Der Standpunkt des Kritizismus entspricht in theoretischer Beziehung dem Standpunkt der Resignation in praktischer Hinsicht (Seite 219). Selbst das kann der Kritizismus nicht mehr behaupten, daß unsere Welt Erscheinung ist; denn "Erscheinung" hat ja nur als Gegensatz zu "Ding-ansich" einen Sinn, ist also selbst eine erkenntnistheoretische Kategorie, so gut wie dieses (Seite 65-66).

Innerhalb der Welt der subjektiven Erscheinung treffen wir auf lauter Antinomien (z. B. Kraft und Stoff, Kausalität und Teleologie, Wirklichkeit und Ideal, Freiheit und Notwendigkeit, Optimismus und Pessimismus), die deshalb unlösbar sind, weil es kein Mittel gibt, um uns einen transsubjektiven Standpunkt der Betrachtung derselben zu erobern. Nun sind aber beide Seiten der Antinomien gleichmäßig als notwendige Folgen unserer Organisation zu betrachten, als führen alle solche Antinomien auf fundamentale Widersprüche in unserer Organisation zurück, und die Einsicht in diese Fundamentalwidersprüche und die aus ihr folgende widerspruchsvolle Beschaffenheit der ganzen Wirklichkeit und all unseres Denkens ist das Letzte und Höchste, wozu die menschliche Erkenntnis gelangen kann. Mit Widersprüchen beginnt unser Denken, in Widersprüche läuft es aus (Seite 6), das ist der "ewige Zirkel", in dem es sich bewegt (Seite 54).
    "Unser Denken gibt uns keine Wahrheit, nicht einmal Wahrscheinlichkeit, nur Widersprüche, Antinomien und antithetische Probleme, die unlösbar sind."

    "Der kritische Skeptizismus ist das eigentliche Resultat der kantischen Erkenntnistheorie, und Lange, wenn er es auch nicht recht Wort haben will, hebt den Widerspruch auf den Thron, d. h. er weist nach, daß alle unsere Erkenntnisse zuletzt in Widersprüche auslaufen." (Seite 72)
Solange dieser kritische Skeptizismus nicht sich selbst vergißt und in dogmatische Aufstellungen verfällt, kann er nach VAIHINGER jedem Einwand entschlüpfen (Seite 67); es ist ihm eben deshalb mit den gewöhnlichen Mitteln der Kritik gar nicht beizukommen (Seite 35), weil diese auf der reductio ad absurdum [die Annahme des Gegenteils würde zur Absurdität werden - wp] fußen, und ein Standpunkt, der sich zum Widerspruch als letzter Wahrheit offen bekennt, nicht mehr ad absurdum zu führen ist.

In dieser Umbildung von LANGEs Standpunkt durch VAIHINGER vermag ich nur die heute mögliche Gestalt des nach allen großen spekulativen Perioden sein Haupt erhebenden Skeptizismus zu sehen. Weder der antike, gegen die Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahrnehmung gerichtete, noch der HUMEs gegen den Rationalismus gekehrte Skeptizismus konnte heute erneuert werden; denn beide gehörten wesentlich der erkenntnistheoretischen Phase des naiven Realismus an. Wohl aber konnte aufgrund einer konsequenten Durchbildung des subjektiven Idealismus ein gegen alle transsubjektiven Positionen gerichteter Skeptizismus erstehen, und sich als den Abschluß aller Metaphysik überhaupt, als Gipfel und Grab der Philosophie zugleich betrachten. Schon in der ersten Auflage der "Philosophie des Unbewußten" habe ich am Schluß darauf hingewiesen, daß eigentlich ein solcher Skeptizismus hinter HEGEL, SCHOPENHAUER und SCHELLING hätte kommen müssen, und ich kann LANGE nur die einzige geschichtliche Bedeutung zuerkennen, daß er diesen Skeptizismus vorbereitet hat, der in VAIHINGERs Schrift eine immerhin noch aphoristische und nicht völlig konsequente Vertretung gefunden hat. Aphoristisch ist letztere, weil sie in einer halbpopulären Studie über mehrere neuere Philosophen in mehr andeutungsweise Kürze dargestellt, statt in einer systematischen Arbeit entwickelt ist; die volle Konsequenz aber läßt VAIHINGER wiederum in zweifacher Hinsicht vermissen. Erstens fällt er, ebenso wie LANGE, bei seiner Polemik gegen eine positiven Dogmatismus in Hauptpunkten in das entgegengesetzte Extrem eines negativen Dogmatismus, der nicht minder dogmatisch und unkritisch ist wie jener; und zweitens haftet er noch immer an gewissen Resten des positiven Dogmatismus, die sich auch bei ihm noch der kritischen Zersetzung und Zerstörung entzogen haben.

Sehen wir von diesen Unzulänglichkeiten ab, oder nehmen wir an, daß VAIHINGER in seiner weiteren Entwicklung dieselben beseitigen wird, so haben wir einen subjektivistischen Skeptizismus vor uns, der alle bisher versuchten Lösungen des Erkenntnisproblems verwirft, weder Idealismus noch Realismus sein will, und den absoluten Jllusionismus als ebenso dogmatisch perhorresziert wie den Glauben an eine transzendente Wahrheit. Dieser Skeptizismus ist eine völlig berechtigte Reaktion gegen jeden Dogmatismus, der wie der Idealismus HEGELs oder der moderne Materialismus sich für absolutes Wissen hält; aber er ist ein in sich unmöglicher Standpunkt, der in keiner Weise haltbar ist, und deshalb nur den Übergang zu einer zugleich kritischen und positiven Philosophie bilden kann. Solange der Skeptizismus skeptisch bleiben will, ist es eine Verkennung des Möglichen, wenn er eine Idealwelt als Grundlage des religiösen und ethischen Lebens festhalten zu können glaubt; denn die als solche unerkannte Wahrheit festhalten zu wollen, ist eine Lüge, und Religion und Sittlichkeit auf die Lüge bauen wollen, ist Wahnwitz. Sobald hingegen der Skeptizismus seinen aus dem Realismus stammenden Wahrheitsbegriff in einem immanenten Sinn umbildet, tritt Idee und Erfahrung wieder in ein gleiches Verhältnis zur Wahrheit und hört der Skeptizismus auf, skeptisch zu sein, indem er vollständig in FICHTEs Idealismus umschlägt. Im ersteren Fall führt der theoretische Skeptizismus zu einem praktischen Nihilismus, im letzteren Fall mündet die anti-philosophische Strömung wieder in den Hauptstrom der deutschen Spekulation ein und muß notwendig ebenso von FICHTE zu HEGEL gelangen, wie er von KANT zu FICHTE gelangt ist. Drittens aber muß die Aufräumung mit allem Dogmatismus Platz machen für neue positive Aufstellungen des synthetischen Denkens, die nicht mehr den Anspruch auf eine apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp] Gewißheit, sondern nur auf eine hypothetische Gültigkeit von größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit machen; es muß eben zwischen den verschiedenen Philosophien ein Unterschied im Wert gemacht werden, der auf der relativen Größe ihrer Wahrscheinlichkeit beruth. In diesem Sinn macht der Skeptizismus VAIHINGERs reinen Tisch mit allen Systemen eines angeblichen absoluten Wissens und arbeitet dadurch direkt meiner Philosophie des Wahrscheinlichen (1) in die Hände, welche mit der induktiven Naturwissenschaft in der Methode wie im Resultat (dem transzendentalen Realismus) übereinstimmt.

Den geschichtlichen Wert eines bloßen Übergangsstandpunktes kann man nur nach dem Wert der Standpunkte beurteilen, zu denen er hinüberleitet. Da müssen dann die beiden letzteren Perspektiven die erstere wieder gut machen, die in der Tat bedenklich genug, und umso bedenklicher ist, als der Fortgang zur Unphilosophie eines skeptischen Nihilismus der am leichtesten zu vollziehende und namentlich für junge Leute ohne spekulative Anlagen der verlockendste ist. Man kommt damit zu einem unphilosophischen vulgären Skeptizismus und praktischen Materialismus, in welchem der Geist in der Leugnung und Verhöhnung seiner selbst seine Triumphe feiert (2), zu einem philosophischen marasmus senilis [Altersschwäche - wp] mit jener facies hippocratica [Gesichtsausdruck eines Sterbenden - wp], wie sie uns aus dem Standpunkt des gebildeten Japanesentums oder der Sozialdemokratie anstarrt (3). So gewendet erscheint dieser Skeptizismus als ein modernes Lotterbett der faulen Vernunft, von dem herab jeder Student nach einem Semester die armen Teufel von Philosophen vornehm und spöttisch belächeln kann, in dem behaglichen Glauben, in dieser so leicht zu begreifenden Skepsis der Weisheit letzten Schluß und namentlich die Quintessenz des hochgepriesenen KANT in sich aufgenommen zu haben, der doch nun einmal heutzutage Mode ist.

Der im Schwange gehenden Kantomanie huldigt auch VAIHINGER, obgleich er den Kritizismus KANTs, der die höhere spekulative Synthese von Dogmatismus (WOLFF) und Skeptizismus (HUME) sein will, wieder zu dem eines dieser Extreme entstellt und verzerrt. Diese Kantvergötterung unserer Zeit neben der bedauerlichsten Verkennung der ungleich größeren Leistungen seiner Nachfolger muß demjenigen ganz unbegreiflich scheinen, der die historische Bedeutung dieser Repristination [Wiederbelebung von etwas Früherem - wp] nicht versteht. KANTs Ethik, Religionsphilosophie und Ästhetik war genügend vom deutschen Volksgeist verdaut und assimiliert worden, nicht so aber seine Erkenntnistheorie, die ebenso wie die rein theoretischen Leistungen FICHTEs, SCHELLINGs und HEGELs der Nation als solcher (selbst in ihren gebildeten Schichten) fast unbekannt und zumindest unverstanden geblieben waren. SCHOPENHAUER war der einzige, der die Erkenntnistheorie als solche weiter bearbeitet hatte, und darum war es vorzugsweise das Bekanntwerden seiner Werke, welches uns auf KANT zurückgeführt hat. Die großartige Entwicklung der deutschen Philosophie war eben der nationalen Bildung um zwei bis drei Menschenalter vorausgeeilt, und als die deutsche Nation anfing, sich auf ihre großen Denker zu besinnen, mußte sie die Assimilation ihrer Geistestaten notwendig beim Ausgangspunkt der Bewegung, bei KANT, beginnen, mit dessen Verdauung sie jetzt seit einem Jahrzehnt beschäftigt ist. Diese Arbeit wird nur dann intensiv genug vollzogen, wenn sie sich auf ihr Objekt konzentriert, also ihre Augen vorläufig bis zur vollbrachten Verdauung KANTs gegen die Leistungen seiner Nachfolger verschließt. Daraus erklärt sich der bornierte Hochmut der Neukantianer gegen FICHTE, SCHELLING und HEGEL.

Es ist geschichtlich ganz folgerichtig, daß der Neukantianismus im Ganzen um ebenso viel skeptischer als KANT ist, wie die genannten Nachfolger dogmatischer als KANT waren; in LANGE und VAIHINGER aber wird es schon heute klar, daß derselbe damit nichts erreicht als die Beschleunigung des Fortgangs von KANT zu FICHTE und seinen Nachfolgern. Der Neukantianismus muß vom Neufichteanismus und dieser vom Neuhegelianismus abgelöst werden, damit die Gedankenkreise all dieser Denker der deutschen Bildung in derselben Weise zu eigen werden, wie der SCHOPENHAUERs es Dank seiner klaren und anziehenden Darstellung bereits ist. Dabei handelt es sich wohlverstanden nur um eine Wiederbelebung des wahren und wertvollen Kerns ihrer Gedanken, nicht der vergänglichen und zum Teil abschreckenden Schale, in welche sie denselben verhüllt haben. Wie die zahlreichen neukantischen Schriften, die heute den Büchermarkt überschwemen, sich ganz anders lesen als die "Kritik der reinen Vernunft" mit ihrer pedantisch-zopfigen Scholastik, so werden auch die neufichteschen Schriften dereinst sich anders lesen als die "Wissenschaftslehre", und die neuhegelschen anders als HEGELs "Logik". Die Wiedererweckung betrifft nur den Geist, nicht den Buchstaben, denn nur der Geist ist es, der lebendig macht. Auch werden der Neufichteanismus und der Neuhegelianismus in weit geringerem Grad ein Dogmatismus sein müssen, als ihre Urbilder; dafür sorgt schon die skeptische Gestalt unseres Neukantianismus und auch dieses Verdienst soll ihm nicht vergessen sein.

Ein solcher Skeptizismus verkennt nun aber vollständig seine geschichtliche Stellung und seine philosophische Bedeutung, wenn er sich an die Aufgabe macht, sich als das Höhere einer Philosophie zu erweisen, die Dogmatismus und Skeptizismus in gleicher Weise durch eine systematische Ausbildung des Kritizismus überwunden, und eben darum FICHTE und SCHOPENHAUER, LANGE und VAIHINGER in gleichem Sinn wie KANT selbst hinter sich hat. Nur die Kritik ist negativ zerstörend und führt zum Skeptizismus; der Kritizismus aber ist ein auf Erfahrung begründetes, durch synthetisches Denken errichtetes, aber durch Kritik in allen Punkten geprüftes und korrigiertes positives System der Philosophie. Nichts anderes hat KANT in seinem Kritizismus beabsichtigt, und wenn LANGE sich gescheut hat, in VAIHINGERs Konsequenz des Skeptizismus hineinzusegeln, so war es gewiß hauptsächlich deshalb, weil er damit den kantischen Begriff des Kritizismus verlassen hätte, und in das eine der Extreme zurückgefallen wäre, deren höhere Synthese eben der Kritizismus bilden soll.

VAIHINGERs vergebliches Bemühen wird dadurch um nichts gebessert, daß er der "Philosophie des Unbewußten" eine ungeschickt gewählte Antithese beigesellt, und seinen Skeptizismus als die Synthese beider zu erweisen sucht. Der Skeptizismus kann überhaupt niemals eine positive, sondern nur eine negative Synthese liefern; er kann seiner Natur nach niemals zeigen, inwiefern beide Gegensätz im Recht, sondern nur inwiefern beide im Unrecht sind. Eine negative Synthese ist aber so wenig eine Synthese oder Versöhnung der Gegensätze, wie es eine Versöhnung streitender Parteien wäre, wenn der Richter beide hinauswerfen läßt. Die Synthese hätte also VAIHINGER auch dann noch mißlingen müssen, wenn ihm die Anti-These geglückt wäre. Letzteres wäre etwa der Fall gewesen, wenn HEGEL und BÜCHNER einander gegenübergestellt hätte, als den Dogmatismus der Idee und der Materie. Mich konnte er schon deshalb nicht nehmen, weil meine Philosophie gar kein Dogmatismus ist, sondern Kritizismus oder "Philosophie des Wahrscheinlichen", deren Unmöglichkeit er nur ein einziges Mal behauptet, ohne irgendeinen Grund dafür anzugeben. Er setzt meine Philosophie als Idealismus einem Realismus gegenüber, während mein Standpunkt in der Erkenntnistheorie selbst ein reiner Realismus (obgleich kein naiver), in der Metaphysik aber weder Idealismus noch Realismus, sondern die höhere Synthese beider, nämlich Idealrealismus oder Realidealismus ist. Er setzt ferner meine Philosophie als einseitigen Spiritualismus (oder gar Spiritismus) einem einseitigen Materialismus gegenüber, während nach meiner Ansicht der absolute oder unbewußte Geist gar nicht aktuell sein kann, ohne sich zu materialisieren, und selbst das unbekannte Dritte oder die gemeinsame metaphysische Wurzel von bewußtem Geist und Materie, von innerer und äußerer Erscheinung bildet. Wie mein Standpunkt in methodologischer Hinsicht als Kritizismus die Synthese von Dogmatismus und Skeptizismus darstellt, so bildet er in metaphysischer Hinsicht als "Philosophie des Unbewußten" die Synthese von blindem Naturalismus und dem bisherigen anthropomorphischen Spiritualismus. So ist VAIHINGERs prinzipielle Stellungnahme zu mir in jeder Hinsicht eine verkehrte, und es würde nicht lohnen, eine auf dieselbe gestützte Kritik im Einzelnen zu verfolgen, wenn nicht zu hoffen wäre, daß gerade bei der heutigen Verbreitung des Neukantianismus namentlich unter der akademischen Jugend eine weitere Erörterung von LANGEs und VAIHINGERs Standpunkt für manch Einen lehrreich und nützlich werden könnte. Denn bei der schillernden Haltung von VAIHINGERs Skeptizismus werden mannigfache Seitenblicke unumgänglich sein, so daß meine ganze Erörterung nicht bloß die persönliche Ansicht VAIHINGERs, sondern den Typus des Neukantianismus (zumindest die in ihm überwiegende subjektivistische Richtung) erschöpfend behandeln wird, in demselben Sinn, wie VAIHINGERs Kritik meines Standpunktes als typisch für die Stellungnahme des ganze Neukantianismus zu mir gelten kann.


8. Frauenstädts philosophischer Standpunkt

FRAUENSTÄDT bezeichnet in seiner Kritik der ersten Auflage der "Philosophie des Unbewußten" (4) die Lehren FICHTEs, SCHELLINGs und HEGELs in SCHOPENHAUERscher Manier ohne Weiteres als eine falsche Philosophie, die mit Recht im Verfall ist, und stellt derselben die Philosophie SCHOPENHAUERs als die wahre gegenüber. Er erklärt eben daselbst, mit keinen Vorwurf daraus machen zu können, daß ich mich durch den scheinbaren Widerspruch des Begriffs "unbewußte Vorstellung" nicht habe abhalten lassen, jenen Begriff aufzunehmen und dessen Bedeutung nachzuweisen. Er zeigt, daß die Verallgemeinerung der Vorstellungsfähigkeit und die Anerkennung einer hellsehenden, über Raum und Zeit erhabenen unbewußten Naturweisheit nicht von der Hand zu weisende Konsequenzen des SCHOPENHAUERschen Systems sind (5) und verwahrt sich nur dagegen, daß ich mit SCHELLING die Stellung der Prinzipien Wille und Vorstellung als eine koordinierte, anstatt mit SCHOPENHAUER als eine subordinierte auffasse.

Es scheint, als ob FRAUENSTÄDT sich durch weiteres Nachdenken überzeugt hat, daß die Stellung einer vor aller Organisation vorhergehenden, unbewußten, überbewußten und höchst weisen Intuition doch nicht füglich als eine dem blinden Naturwillen subordinierte festzuhalten ist, und daß er aus diesem Grund in seinen "Neuen Briefen" diese unbewußte Weisheit des Naturwillens, wie er selbst sie als bei SCHOPENHAUER gefordert nachgewiesen hatte, ignoriert, den angeblichen inneren Widerspruch einer absolut unbewußten Vorstellung nun seinerseits betont und sich mit der Generalisierung des Bewußtwerdens oder Empfindens für alle Stufen der Willensobjektivation begnügt, - eine Form der Vorstellung, für welche selbstverständlich die Subordination unter den Naturwillen nicht zweifelhaft sein kann. FRAUENSTÄDT hat folglich vor seinem eigenen Zugeständnis an mich Angst bekommen und dasselbe, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch stillschweigend zurückzunehmen versucht.

Dieser Versuch mußte aber so lange ein vergeblicher bleiben, als er die metaphysischen Grundlagen von SCHOPENHAUERs System bestehen ließ, aus welchen die unbewußte überbewußte Intuition als notwendige Konsequenz hervorgegangen ist, und als er an der Erklärung der Entstehung der zweckmäßigen Organismen aus einer "Idee" festgehalten hat. Dadurch wird der Standpunkt, den er in seiner letzten Schrift einzunehmen bemüht ist, ein in sich haltloser und zerfahrener, der nur durch die Wiederaufnahme seines früheren Zugeständnisses Geschlossenheit und Konsequenz erhalten kann. Eine unabweisliche Folgerung aus der Einräumung der unbewußten intuitiven Weisheit des Naturwillens ist aber wiederum der Verzicht auf die Behauptung der Subordination dieser Idee unter den blinden Willen und die Anerkennung ihrer Koordination, d. h. aber der vollständige Übertritt auf den Standpunkt der Philosophie des Unbewußten. Mit dieser Anerkennung der "Idee" als der "absolut unbewußten Vorstellung" im Sinne SCHOPENHAUERs und mit der Anerkennung, daß das Subordinationsverhältnis des bewußten diskursiven Gehirnintellekts zum konkreten (d. h. ideenerfüllten) Naturwillen nicht auf das Verhältnis der absoluten Idee zum Allwillen übertragen werden darf, werden aber die beiden Hauptvorwürfe, die FRAUENSTÄDT in seiner neuesten Schrift (Seite 38) gegen mich erhebt, hinfällig, und damit schwindet auch der Grund, weshalb er meinen Fortbildungsversuch der Philosophie SCHOPENHAUERs im Vergleich mit dem seinigen als eine "Verschlechterung" derselben verwerfen zu sollen glaubt (ebd. im Vorwort Seite 6). Den Nachweis im Einzelnen darüber beizubringen, daß FRAUENSTÄDT bei dem von ihm prinzipiell eingeschlagenen Weg sich nur durch eine logische Inkonsequenz vor dem Aufgehen in den Standpunkt der Philosophie des Unbewußten zu retten weiß, würde hier zu weit führen. Es würde sich dabei sogar zeigen, daß er durch ein Verwerfen des negativen Endzwecks SCHOPENHAUERs und der Annahme eines Weltenplans für die Weltentwicklung im positiven Sinn dem Hegelianismus, ohne es zu wissen, noch näher gerückt ist als ich.


9. Bahnsens philosophischer Standpunkt

BAHNSEN gelangt in der letzten von ihm veröffentlichten Schrift ("Zur Philosophie der Geschichte") zu folgendem Endurteil:
    "Wer also auf der Seite Schopenhauers steht und stehen bleiben will, der wird dem System Hartmanns auch nur so weit folgen, als er mit der induktiven Klarheit des Urhebers der Willensmetaphysik der eigenen, in der Tat imposanten, weil von keinerlei irgendwie subjektivistischen Anwandlungen beirrten, Nüchternheit treu bleibt, und als Prophet des faßbarsten und gesündesten Verstandes jedes unbefangene Denken mit sich fortreißt; während alsbald seine Sprache eine andere wird, sowie sein Fuß den Boden betritt, auf welchem er zur spekulativen Abrundung seines Baues die Rotunde [Gebäude mit kreisrundem Grundriß - wp] seines Schlußkapitels errichtet - ein auch architektonisch durch und durch trockenes Kampanile [freistehender Glockenturm - wp] neben den Prachtkuppeln seines Markusdoms." (Seite 84)
Und auf der Seite vorher wirft er mir vor, "Schopenhauers Manen [gute Geister eines Toten - wp] gekränkt" zu haben, indem ich
    "bei Hegel eine Bettelanleihe zu Flickmaterial aufnahm, um in einem konsequenteren Ausbau zu Ende zu führen, was mit gutem Fug als ein Lückenhaftes vom Meister uns hinterlassen worden."
BAHNSEN verzichtet allerdings auf einen systematischen Ausbau und behält "mit gutem Fug" jene Lückenhaftigkeit bei, welche keineswegs dem System SCHOPENHAUERs, wie es vom Meister hinterlassen worden, vorzuwerfen ist, sondern welche erst durch jene kritischen Amputationen und Eliminationen herbeigeführt wurden, in deren Unabweislichkeit BAHNSEN mit FRAUENSTÄDT und mir großenteils übereinstimmt. Nichtsdestoweniger aber fühlt BAHNSEN sich trotz seines Verzichts auf einen konsequenten Ausbau doch auch noch veranlaßt, die Manen seines Meisters durch eine Bettelanleihe bei HEGEL zu kränken. Er sagt selbst darüber Folgendes:
    "Vielleicht könnte ein kritischer Betrachter meiner Gedanken in Mit- oder Nachwelt geneigt sein, mir die Ehre einer historischen Einreihung in der Weise anzutun, daß er mich als die dialektisch korrelativ geforderte Ergänzung Eduard von Hartmanns bezeichnet. - Immer wieder aber wird sich dies an unsere beiderseitige Position je zu Schopenhauer und Hegel anzulehnen haben und kaum vermieden werden können, unser Verhalten zu den mit diesen Namen gekennzeichneten Weltanschauungen ein in wesentlichen Beziehungen diametral entgegengesetztes zu nennen; indem ich nämlich einerseits an dem festhalte, was für Hartmann das an Beiden zu Überwindende ist, und andererseits eben das perhorresziere, was er jedem von diesen beiden Heroen am wärmsten nachrühmt, um so den von ihm angestrebten Synkretismus [Vermischung - wp] zu vermitteln. Gewissermaßen habe ja auch ich es auf eine Konsequenz dieser beiden feindlichen Lehrsysteme abgesehen und angelegt - nur eben in gerade umgekehrter Richtung wie Hartmann." (Geschichte der Philosophie, Seite 1).

    "Hartmann perhorresziert an Hegel das Dialektische, ich das Logische, und zwar dergestalt, daß mir der reale Weltprozeß durch und durch dialektischer Natur zu sein scheint, während das Logische seinen Bereich nur innerhalb des (psychologisch-) subjektiven Denkens behält, wogegen Hartmann dem Weltprozeß einen von Grund auf logischen Charakter vindizieren [beanspruchen - wp] möchte, und die dialektische Bewegung höchstens für die völlig objektivitätslosen, eigentlich fieberphantasieartigen Spielerein einer gänzlich unkontrollierten, von der intuitiven Grundlage der Anschauungswelt radikal losgerissenen Abstraktion diskursiven Denkens gelten lassen will." (Seite 2)
BAHNSEN perhorresziert also die Begriffsdialektik HEGELs und bekämpft HEGELs Behauptung, durch dialektische Denkprozesse die Wirklichkeit nachkonstruieren zu können; in dieser Hinsicht billigt er meine Kritik der HEGELschen Dialektik. Aber er geht nicht mit mir zu dem Schluß weiter, daß die logischen Gesetze in ihrer Integrität wiederhergestellt und ihre Gültigkeit nicht bloß für das Denken, sondern auch für das Sein behauptet werden muß. Vielmehr hält er die Wirklichkeit, nicht bloß der Form ihrer Existenz nach, sondern auch ihrem Inhalt nach, für unlogisch, und sieht demnach gerade in der Aufhebung der logischen Gesetze für das Sein die Großtat HEGELs. Nicht im Denken, sondern in der Realität findet er dialektische Prozesse und spricht deshalb auch nur von "Realdialektik".
    "So gipfelt die Realdialektik im Aufdrängen des Satzes, daß das logisch Unmögliche zugleich das dialektisch faktisch Mögliche, und das logisch nicht bloß Mögliche, sondern Notwendige (das vom Zwang des logischen Denkens postulierte Widerspruchslose) für den faktischen Bestand des dialektisch Wirklichen eine Unmögliches ist, d. h. daß die (ideal abstrahierte) Idee sich ewig nicht realisieren kann." (ebd. Seite 53-54)
Daß dies in der Konsequenz des einseitigen SCHOPENHAUERschen Willensprinzips gedacht ist, ist nicht zu leugnen. Denn ist der Wille, der blinde, vernunftlose Trieb, das Alles Seiende, so muß auch alles Wirkliche vernunftlos sein. Nur entsteht die Schwierigkeit, daß doch das Logische nicht ganz wegzuleugnen ist, zunächst als Subjektives, wo es doch auch erklärt sein will, und dann auch in der überall trotz BAHNSENs Verwahrung hervortretenden Harmonie des wahrgenommenen Wirklichen mit dem subjektiv Logischen. Dieses Logische, diese auch von BAHNSEN nicht bestrittene "partielle Weltvernunft" (Seite 44), muß, wenn der Wille das einzige Prinzip sein soll, aus diesem Willen, d. h. aus dem Unlogischen abgeleitet werden (Seite 38). Hiermit tritt BAHNSEN in eine Antithese - nicht mehr zu mir - sondern zu VOLKELT; dieser nämlich ist sich der Konsequenz bewußt geworden, daß wenn nach HEGEL das Logische das einzige Prinzip ist, dann auch das unleugbar vorhandene Unlogische aus dem Logischen selbst hervorgegangen sein muß.

Ich halte beides für gleich unmöglich. Wenn das Logische in den Objektivationen des Willens zu finden ist, so muß es als Logisches schon im Willen gesteckt haben, d. h. dann muß eben der Weltwille nicht bloß das Unlogische, sondern auch das Logische in sich schließen, und da die Form des Wollens ganz unlogisch ist, so kann er das Logische nich in sich (als Funktion des Wollens), sondern nur im Inhalt seiner selbst (d. h. in der Idee) getragen haben. Umgekehrt: wenn das Resultat des logischen Prozesses in der Idee das ist, daß ihre logische Idealität in den unlogischen Trieb der Selbstentäußerung und Selbstverwirklichung umschlägt, dann muß dieser unlogische Trieb schon immer neben der unlogischen Idee bestanden haben, und das Sollizitierende [Veranlassende - wp] schon für den ersten Anfang jenes angeblichen idealen Prozesses gewesen sein, der in ein so unlogisches Resultat ausmündet. Deshalb stehe ich zwischen SCHOPENHAUER und HEGEL, zwischen BAHNSEN und VOLKELT in der Mitte, und vermeide beider Ungeheuerlichkeiten, wenn ich das Logische und das Unlogische, die Idee und den Trieb ihrer Realisierung, die Weisheit und die Macht, den Weltenplan und die Weltkraft, den Willensinhalt und den Willen als zwei gleich ursprüngliche Seiten des Absoluten ansehe, von denen keine sein könnte ohne die andere, von denen aber noch weniger eine aus der anderen abgeleitet oder erzeugt werden kann.

Insofern BAHNSEN und VOLKELT beide die Notwendigkeit beider Seiten anerkennen, unterscheide ich mich von beiden nur dadurch, daß ich auf die Anmaßung einer scheinbaren Ableitung der einen Seite aus der andern bescheiden verzichte, und mich nicht vermesse, eine als gegeben hinzunehmende Zweiheit entgegengesetzter, aber voneinander untrennbarer Pole durch eine Herabdrückung des einen denselben zu einem Appendix [Anhang - wp] des anderen erklären zu wollen. Ich erkenne an, daß das All-Eine gar nicht zu einem Prozeß gelangen könnte, wenn es nicht in sich zwiespältig wäre; aber ich hüte mich vor dem Fehler, die eine Seite dieses inneren Zwiespalts auf den Thron des einen Ganzen zu erheben, und hernach die andere Seite als etwas Subordiniertes aus ihr ableiten zu wollen.

Der letzte Grund dieses Fehlers ist wohl darin zu suchen, daß der Schopenhauerianer wie der Hegelianer gewöhnt sind, ein bloßes Attribut als Substanz zu betrachten; da es nun selbstverständlich zwei Substanzen nicht geben kann, so erscheint jedem von ihnen der Gegenpol als bloße Akzidenz [Merkmal - wp] an seiner vermeintlichen Substanz. Nun kann aber weder die Idee oder Vorstellung, noch der Wille eine Substanz sein; sowohl Vorstellen wie Wollen sind bloße Funktionen, die ein Subjekt als substantiellen Träger voraussetzen. Ist diese von SCHOPENHAUER wie von HEGEL verabsäumte Wahrheit erst wieder in ihr Recht gesetzt, so ergibt es sich von selbst, daß Wille und Vorstellung nur zwei Funktionen oder zwei Attribute des All-Einen Seienden, der absoluten Substanz sind. Dann aber verschwindet auch jeder Grund, dem einen von beiden einen Vorzug vor dem anderen zuzugestehen; vereinzelt gedacht sind sie gleich nichtig, aber in ihrer Vereinigung sind sie einander gleichwertig trotz oder gerade wegen ihrer attributiven Gegensätzlichkeit.

Neben diesem Gegensatz in der Stellung des Logischen zum Unlogischen läuft ein zweiter, fast noch wichtigerer Gegensatz bei BAHNSEN einher, dieser aber ist ein solcher, der ihn mit SCHOPENHAUER, HEGEL und mir in gleicher Weise in Opposition versetzt, und ihn HERBART annähert. BAHNSEN ist nämlich in erster Reihe Individualist, und da er klar genug denkt, um die Unvereinbarkeit substantiell-selbständiger Individuen mit einem Absoluten zu erkennen, so opfert er in diesem Dilemma lieber das Sein des Absoluten als die substantielle Selbständigkeit des Individuums. Das All-Eine zerfällt ihm in ein Aggregat von Individuen, in "eine - allerdings in sich zusammenhängende und zusammengehörige, geschlossene und in dieser ihrer Geschlossenheit mit konstanten Kräften sich in sich selber wechselseitig bedingende - Summe von Individuallebensfaktoren" (Seite 64). Dabei aber verhält er sich durchaus antipathisch gegen HERBARTs Philosophieren und unterscheidet sich von HERBART wie von LEIBNIZ in gleicher Weise nicht bloß durch seine antilogische Realdialektik, sondern auch durch seinen schroffen Atheismus, der jedes, gleichviel wie bestimmte, einheitliche Absolute negiert. Eine solche unbeirrte Konsequenz verdient jedenfalls mehr Achtung als die durchweg unhaltbaren Vermittlungsversuche zwischen der Annahme einer wirklich absoluten Substanz und vieler von dieser geschaffene quasi-absoluter Substänzchen, mit welchen die christliche Theologie sich von jeher quält; die reinlich Entscheidung, auch wenn sie nach der verkehrten Seite hin ausfällt, lehrt zumindest das Problem präzise erkennen und schärft das Denken für die nachmalige Erfassung der richtigen Lösung, während die Unklarheit schiefer Vermittlungen den Verstand für die wahre Erkenntnis untüchtig macht, indem sie ihn mit Scheinlösungen benebelt und einlullt.

Außerdem aber hat der Individualismus als zeitweilige Reaktion überall da einen geschichtlichen Wert, wo der Monismus den Bogen allzu straff gespannt hat. Dies nun war in der Philosophie von SCHELLING und HEGEL ohne Zweifel der Fall; bei SCHOPENHAUER war zwar der Bedeutung des Individuums ein größerer Spielraum eingeräumt, aber dieses Zugeständnis war mit dem prinzipiellen Monismus nicht organisch vermittelt, sondern stand als eine widerspruchsvolle Inkonsequenz im System. Unter solchen Umständen erschien eine Reaktion von Seiten einer konsequenten Umbildung von SCHOPENHAUERs System aus einem individualistischen Gesichtspunkt heraus als nicht unberechtigt, wie BAHNSEN sie in seiner Charakterologie zu geben beabsichtigt hat. Als dann bald nachher die "Philosophie des Unbewußten" erschienen ist, konnte der von mir festgehaltene prinzipielle Monismus natürlich dem einmal gewählten Standpunkt BAHNSENs nicht Genüge tun, wenngleich hier zum ersten Mal versucht wurde, dem Individuum trotz seiner Phänomenalität eine würdigere Stellung als bisher in monistischen Systemen gegenüber dem absoluten oder All-Einen zu wahren, ohne doch dadurch einer Inkonsequenz in das System Eingang zu gewähren. BAHNSEN stellt mir das Zeugnis aus:
    "Mag ihm das All-Eine noch so souverän das Universum durchwalten: er behält doch das Auge zugleich offen für die Unersetzlichkeit und Unentbehrlichkeit des - auch in seiner Herrlichkeit - nur sich selber gleichen Individuellen." (Seite 3)
Wenn die individualistische Reaktion die monistische Philosophie vor einer Überschätzung und Ignorierung des Individuellen warnt und zu einer würdigen Einordnung desselben in das System zurückführt, so hat sie meines Erachtens ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt. Ein individualistischer Pluralismus als solcher kann aber gar nicht danach streben, ein konsequentes philosophisches System auszubauen; er wird sich "mit gutem Fug" darauf beschränken, den Nachkommen "ein Lückenhaftes zu hinterlassen" (Seite 83). Erst wenn der Individualismus sich selbst untreu wird, und sein Gewölbe durch einen monistischen Schlußstein zu vollenden unternimmt, wie LEIBNIZ und HERBART getan haben, erst dann kann er aus der Form des fragmentarischen Philosophierens heraustreten und sich zu einem System abrunden.

Einen Willensindividualismus, der ein zweites Prinzip neben dem Willen leugnen möchte, dafür aber die Aseität [Aus-sich-sein | wp] und Ewigkeit des Individualwillens behauptet, wird seinen Schwerpunkt in der Betrachtung des Individualcharakters finden müssen, daher BAHNSENs Hinwendung zur Charakterologie ganz natürlich ist. Zugleich wird er bemüht sein müssen, den Motivationsprozeß auf eine Weise zu deuten, welche das Fehlen des zweiten Prinzips möglichst wenig vermissen läßt, und diesem Zweck dient BAHNSENs erste, zur Auseinandersetzung mit der Philosophie des Unbewußten bestimmte Broschüre (6). Endlich wird er mit SCHOPENHAUER eine universelle Entwicklung der Welt leugnen müssen, aus dem doppelten Grund, weil er ein einheitliches Weltwesen als Träger, und weil er die Herrschaft des Logischen als Formalprinzip einer solchen Entwicklung leugnet. Er kann von seinem Standpunkt nur eine Individualentwicklung zugeben, aber auch nicht in dem Sinne, als ob das Wesen des Individuums von derselben berührt und verändert würde, sondern nur als eine der vielen Einzelphasen seines sich Auslebens von der phänomenalen Geburt bis zum phänomenalen Tod. Fragt man aber, was diese Entwicklungswellen des ewigen Individuums für BAHNSEN eigentlich bedeuten, so ergibt sich, daß sie nichts anderes sind, als die vom Willen gesuchten Gelegenheiten, seine ewige Selbstentzweiung und Selbstzerfleischung zu aktualisieren und zum potenzierten Ausdruck zu bringen. Man kann diese raffinierte und doch blinde Selbstquälerei des Willens das Surrogat des Weltzwecks bei BAHNSEN nennen, nur daß derselbe sich in einer zusammenhangslosen Vielheit von Einzelprozessen realisiert. Dieser Weltzweck wäre der Gegensatz aller logischen Zweck, ein positiv unlogischer Zweck, und der Widerspruch, der in dieser Wortverbindung liegt, muß BAHNSEN selbst als der real-dialektische Stempel der Wahrheit gelten. dieser positiv unlogische Zweck BAHNSENs tritt dem positiv logischen Weltzweck HEGELs entgegen (der auch von VOLKELT und FRAUENSTÄDT akzeptiert wird), während ich den ersteren wegen seiner Widersinnigkeit und seines inneren Widerspruchs, den letzteren wegen seiner Unangebbarkeit und Unmöglichkeit verwerfen, und für den Weltzweck ebenso sehr auf der reinen Logizität der Form wie auf der allein möglichen Negativität des Inhalts (als Negation des Unlogischen) bestehen muß. Ich nehme also auch in dieser Frage eine mittlere Stellung zwischen BAHNSEN und VOLKELT ein, die sich als unmittelbare Konsequenz aus meiner Mittelstellung in Betreff des Verhältnisses des Logischen und Unlogischen zueinander ergibt, und - wenn man SCHELLING außer Acht läßt - in vieler Hinsicht SCHOPENHAUER am nächsten steht.

Überhaupt kann man sagen, daß dem Standpunkt SCHOPENHAUERs derjenige der Philosophie des Unbewußten näher steht, als der von BAHNSENs Individualismus; ich habe nämlich die systematischen Prinzipien der Metaphysik SCHOPENHAUERs weiter ausgebaut, BAHNSEN hingegen die Inkonsequenzen dieses Systems. Alle Wunderlichkeiten von BAHNSENs Standpunkt entspringen daraus, daß er in einer dem Theismus wie dem Materialismus gleich feindlichen Weise, zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie, mit dem individualistischen Pluralismus Ernst macht. Dadurch begiebt er sich aber auch gleichzeitig in eine ganz isolierte Stellung, der gegenüber HEGEL, SCHOPENHAUER und ich eine geschlossene Phalanx bilden. In dieser Hinsicht ist er für mich entschieden der ungefährlichste der drei hier behandelten Gegner. - Nur in einem Hauptpunkt stimmt seine Umbildung von SCHOPENHAUERs Philosophie mit den Tendenzen von FRAUENSTÄDT und mir überein, nämlich in der Verwerfung des subjektiven Idealismus. Er hat dieser wichtigen Opposition gegen die Grundlagen von SCHOPENHAUERs System nicht nur gelegentlich in seinen angeführten Schriften, sondern auch in einem besonderen, diesem Gegenstand gewidmeten Aufsatz (7) Ausdruck gegeben, der zwar an Entschiedenheit in der Darlegung seines Standpunktes nichts zu wünschen, desto mehr aber eine Begründung desselben vermissen läßt.


10. Volkelts und Rehmkes
philosophischer Standpunkt

VOLKELT hat seinen Standpunkt mir gegenüber in seinem Hauptwerk so klar bezeichnet, daß ich am besten tue, ihm selbst das Wort zu lassen. Er sagt in "Das Unbewußte und der Pessimismus", Seite 237-238:
    "Wenn wir also zeigten, daß das Hartmannsche System durch seine inneren Widersprüche zersetzt wird, so ist dies kein Beweis gegen den Fortschritt, den wir im Hartmannschen System - und zwar nach dieser seiner mit Schopenhauer zusammenhängenden Seite - gefunden haben. Zwischen Schopenhauer und Hegel war eine klaffende Lücke; zwar kann man die positive Philosophie Schellings als eine Ausfüllung dieses Vakuums bezeichnen, allein als keine rationale; denn sie verrät überall ihre Gefangenschaft in den Ketten des christlichen Dogmas. Jene Lücke mußte rein philosophisch ausgefüllt werden. Ehe die Wahrheit sich in den Prinzipien Hegels, welche Hegel selbst in jenem Wettkampf der Geister, in jenem Sturmlauf des philosophischen Zeitgeistes, in kühner, noch allzu mystischer, und darum vielfach unvollkommener, den Keim zu Inkonsequenzen in sich tragender Weise antizipiert [vorweggenommen - wp] hat, ein gesichertes festes Bestehen erkämpfen kann, muß sie sich in allen möglichen Vermittlungen der einseitigen Standpunkte mit den Prinzipien Hegels ausleben und gleichsam erschöpfen. Es müssen Annäherungen an Hegel, Verbindungsglieder geschaffen werden, um so das Hinübertreten der Geister in den Gedankenkreis Hegels zu ermöglichen. Ein solches Verbindungsglied ist nun, wie wir zur Genüge dargelegt haben, das Hartmannsche System. Seine Widersprüche stammen daher, daß Hartmann dem spezifisch Schopenhauerschen Prinzip, dem alogischen Willen, gleichsam die Hälfte der Welt einräumt, ihm neben der unbewußten logischen Idee eine selbständige Stellung zuerkennt. Und das Produkt, das aus der Zersetzung und inneren Nichtigkeit dieser Widersprüche hervorgeht, das Resultat also der bewußten Erfassung der Widersprüche, ist - wie wir an vielen Punkten gezeigt haben - die dialektische unbewußte Idee Hegels. - Wir können diesen Fortschritt Hartmanns einen relativen nennen, zum Unterschied vom absoluten, welchen er, wie der erste Teil zeigt, in der Klarstellung und Präzisierung des Begriffs des unbewußt Logischen und in dem induktiven Nachweis der bedeutungsvollen Rolle, die er auf allen Gebieten der Natur und des Geistes spielt, vollzogen hat."
VOLKELT deklariert sich folglich als einen Hegelianer, der in der Lehre HEGELs zwar einerseits die Wahrheit enthalten findet, andererseits aber auch die Notwendigkeit eines Hinausgehens über den Hegelianismus in seiner geschichtlich gegebenen Form einsieht, und in der Philosophie des Unbewußten einen wirklichen Fortschritt in der geforderten Richtung als vollzogen anerkennt. In ersterer Hinsicht sieht er im Gegenpol des Hegelianismus, in der Philosophie SCHOPENHAUERs durchaus nur eine wahrheitslose Verirrung, und findet die angeblichen Widersprüche meines Standpunktes durch die Aufnahme SCHOPENHAUERscher Gedankenelemente bedingt. In letzterer Hinsicht dagegen erscheint der Standpunkt VOLKELTs als der Versuch einer zeitgenössischen Fortbildung des Hegelianismus mittels einer Synthese zwischen Hegelianismus und Philosophie des Unbewußten. In ersterer Hinsicht verhält er sich ungeschichtlich und reaktionär, weil der Schopenhauerianismus, wie dazu unerläßlich ist, aus der Philosophie des Unbewußten mit einsaugt, gerade so wie FRAUENSTÄDT gegen seinen Willen die unentbehrlich Zutat von Hegelianismus in sich aufgenommen hat. Von besonderem Wert sind VOLKELTs Beiträge zur "Geschichte des Begriffs des Unbewußt-Logischen" (Das Unbewußte und der Pessimismus, Seite 1- 101), insbesondere seine Darlegungen über KANT (in den "Philosophischen Monatsheften") und über HEGELs unbewußtes System des unbewußt Logischen (Seite 62-78), so wie auch über des Letzteren Stellung zum Pessimismus (Seite 246-255). Dagegen beruhen seine vermeintlichen Nachweise von Widersprüche in der "Philosophie des Unbewußten" teils auf einem Mißverständnis, teils auf mitgebrachten hegelianischen Vorurteilen und irrtümlichen Voraussetzungen seiner Kritik, wie wir dies unten sehen werden. VOLKELT wie BAHNSEN haben jeder darin Recht, daß er für sein Prinzip eine dem entgegengesetzten subordinierte Stellung zurückweist, Unrecht aber darin, daß er das Prinzip der entgegengesetzten Partei auf eine subordinierte Stellung herabzudrücken unternimmt. Ist keines der beiden Prinzipien entbehrlich, darf aber auch keines dem andern subordiniert werden, so folgt daraus, daß sie koordiniert gedacht werden müssen.

Daß die Widersprüche, welche nach Ansicht beider Gegner aus dieser Koordination hervorgehen und dieselbe verbieten sollen, falscher Schein sind, werden die nachfolgenden Untersuchungen zu zeigen haben. Die Grundprinzipien HEGELs und SCHOPENHAUERs sind so wenig miteinander unvereinbar, daß vielmehr im System eines jeden der Beiden das Prinzip des Andern schon unvermerkt mit eingeschlossen und als notwendige Ergänzung des eigenen stillschweigend vorausgesetzt ist, wie in den neueren Vertretern dieser Richtungen mit verdoppelter Deutlichkeit hervortritt. Man sieht, daß ich mich gleichsam in der günstigen Lage eines Ministers vor dem Parlament befinde, der, von der Rechten wie von der Linken wegen derselben Maßregel angegriffen, sein Verhalten in der Hauptsache schon durch den Hinweis auf den sich gegenseitig aufhebenden Einspruch der entgegengesetzten Seiten des Hauses rechtfertigen kann, zumal beide etwas Gutes in derselben anerkennen, und sich nur über die darin enthaltenen Konzessionen and die Gegenpartei ereifern.

Über REHMKE ist an dieser Stelle am wenigsten zu sagen, weil er bisher am wenigsten seinen eigenen Standpunkt selbständig entwickelt hat, sondern denselben bei der Polemik gegen mich eher nur durchscheinen läßt. Im Allgemeinen wird man denselben als Monismus des absoluten Geistes bezeichnen dürfen, wobei als der Unterschied von dem meinigen hervorzuheben wäre, daß REHMKE mit BIEDERMANN Wesen und Aktus im Absoluten identifiziert und deshalb demselben eine aktuelle Unendlichkeit zuschreibt. Es ergibt sich hieraus ein Monismus, der weit strenger ist als der meinige, und es mir zum hauptsächlichsten Vorwurf macht, den endlichen Individuen eine zu große Selbständigkeit gegenüber dem Absoluten eingeräumt zu haben. REHMKE steht also in Bezug auf das Verhältnis des All-Einen zu den Individuen in einem ganz analogen Gegensatz zu BAHNSEN wie VOLKELT in Bezug auf das Verhältnis der Attribute unter einander. VOLKELT hält an der Wahrheit, daß das Alles seiende Absolute eines ist, in abstrakter Einseitigkeit fest, wie BAHNSEN an der Wahrheit, daß die Individuen viele sind; jeder hat nur darin Unrecht, seine Wahrheit bis zur Negation des Gegenteils zu überspannen, wodurch sie unwahr wird. Wie die entgegengesetzten Vorwürfe BAHNSENs und VOLKELTs gegen meinen Standpunkt einander aufheben, so auch diejenigen BAHNSENs und REHMKEs; beide Paare von Gegensätzen dienen in gleicher Weise zur Bestätigung meiner Aufstellungen. Wie mein Standpunkt die Wahrheit der ersteren Gegensätze als höhere Synthese unter Vermeidung ihrer Unwahrheit vereinigt, so auch die der letzteren Antithese, und er erreicht dies im letzteren Fall durch eine Sonderung der Sphäre, in welcher die Einheit gilt, von derjenigen, in welcher die Vielheit gilt. Diese Sonderung der Sphären für Einheit und Vielheit hat aber wieder die Unterscheidung von Wesen und Aktus im Absoluten zur unerläßlichen Voraussetzung, und der Mangel dieser Voraussetzung ist es gerade, an dem REHMKE gescheitert ist. Zwischen VOLKELT und REHMKE bestehen ferner erhebliche Unterschiede, in dem Sinne, daß in wichtigen Problemen, wo der eine meine Auffassung bekämpft, der andere sich ihr anschließt, und umgekehrt. So ist z. B. VOLKELT mit mir über die Unbewußtheit des Absoluten als solchem einverstanden, während REHMKE (nach BIEDERMANNs Voranschreiten), wenn auch nicht die Persönlichkeit, so doch das Bewußtsein des absoluten Geistes zu retten sucht. Ebenso stimmt VOLKELT meiner evolutionistischen Auslegung des Hegelianismus im Sinne einer historischen Weltanschauung bei, während REHMKE zu einer Interpretation des HEGELschen Prozesses im Sinne des spinozistischen ewigen Kreislaufs hinneigt. Auf der anderen Seite nimmt REHMKE keinen Anstand, meine Koordination des Willens mit der Idee zu billigen, gegen welche VOLKELT sich so entschieden sträubt. So finde ich auch in diesen Punkten jedesmal einen Verteidiger, wo mir ein Angreifer ersteht.

Diese Einleitung wird ihren Zweck erfüllt haben, wenn sie eine vorläufige Orientierung geboten und die Gesichtspunkte klar gemacht hat, aus welchen der Zusammenhang der nachfolgenden Untersuchungen zu beurteilen ist.
LITERATUR - Eduard von Hartmann, Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus, Berlin 1877
    Anmerkungen
    1) vgl. "Philosophie des Unbewußten, Bd. 1, Seite 438-441.
    2) vgl. Ernst Zitelmann, "Der Materialismus in der Geschichtsschreibung", Preussische Jahrbücher, 1876, Heft 2 und 3.
    3) George Bousquet charakterisiert die erstere (in der "Revue des deux mondes") mit den Worten: "Das Weltall ist ihm ein Traum, das Resultat einer Katastrophe, das Leben ein bedauerlicher Zufall, ohne Zweck, wie ohne vernünftige Ursache ... Alles ist eitel und das Tun und Treiben des Menschen nichts als das stupide Umhertappen des Affen im Käfig." - Dietzgen verräth die letztere im "Volksstaat" 1873, Nr. 25 (in einem Artikel: "Die Wissenschaft und die Sozialdemokratie), indem er sagt: "Der Fundamentalsatz der sozialistischen Induktion lautet: kein ideales Prinzip, keine Offenbarung, keine nationale Begeisterung, keine Schwärmerei, weder die Idee des Göttlichen, noch des Gerechten, noch die des Freien, sondern materielles Interesse regiert die Menschenwelt. - Weit entfernt, dieses Faktum zu bejammern, erkennen wir es vielmehr als absolut vernünftig und notwendig an."
    4) Frauenstädt, Vossische Zeitung, 1870, Sonntagsbeilage, Nr. 8 und 9.
    5) vgl. auch Frauenstädts Abhandlung "Schopenhauer und seine Gegner", Unsere Zeit, 1869, Heft 21, Seite 705.
    6) Bahnsen, Zum Verhältnis von Wille und Motiv, eine metaphysische Voruntersuchung zur Charakterologie, 1870.
    7) Bahnsen, Zur Kritik des Kritizismus, Philosophische Monatshefte, Bd. VI, 1871.