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JULIUS BAHNSEN
Zur Kritik des Kritizismus
[Ein Wort wider die überspannten Kritizisten]

"Überhaupt jeder kritisch-idealen Metaphysik ist eine Beimischung von Jünglingsenthusiasmus unentbehrlich. Selbst die Beschäftigung mit den reinen Denkformen der Logik scheint bei allen nicht ganz herztrockenen Philosophen mit den Jahren immer mehr und mehr den Beschäftigungen mit den Problemen des natürlichen und sittlichen Lebens zu weichen."

"Ein Wille ohne alles Charakteristische ist genau dasselbe wie eine Kraft ohne Materie, - und ein Wille, der es nirgends zum Charaktersein bringt, ist auf ethischem Gebiet ganz genau das parallele Spiegelphantom zu jenen Kraftsystemen, die als bloße Schemen durch das All huschen, ohne es je zur Körperlichkeit zu bringen."

"Dem wahrhaft unabhängigen Denker geziemt es, auch vom Fanatismus der reinen Vernunft sich nicht terrorisieren zu lassen, - er kann sich nie und nirgends seines Urrechts der Kompetenz zur Prüfung entledigen, für ihn gibt es nicht, wie für den angestellten Richter, derartige Normen, nach denen er von amtswegen, bloß weil sie einmal da sind und bestehen, sich zu richten hätte, - denn der Philosoph gehört ein für allemal der legislativen, nicht der an hergebrachtes Recht sklavisch gebundenden richterlichen und exekutiven Gewalt an."

"- - - Wie ich beharre, bin ich Knecht,
Ob Dein, was frag' ich, oder wessen."

blindfish - Goethe, Faust


Unter den Anhängern KANTs gibt es so viel dogmatistische Nachsprecher, daß es sich der Mühe verlohnen dürfte, einmal zu einer Revision dessen anzuregen, was einer dem andern gläubig nachtretend für das unterscheidende Fundament der jüngsten Philosophenepoche auszugeben pflegt. Oder fehlt es etwa an einem verketzernden Fanatismus, der Jeden einen Dummkopf schilt, welcher sich nur untersteht, die eigene Vernunft nicht gefangen zu nehmen unter die Autorität der Kritik der reinen? Soll nicht die "transzendentale Ästhetik" jeder kritischen Besprechung so gänzlich entrückt sein, daß es zum crimen laesae majetatis [Majestätsbeleidigung - wp] möchte gestempelt werden, wenn einer sich nur herausnimmt, sie einer abermaligen Prüfung zu unterziehen? Heißt nicht in gewissen - zumal durch SCHOPENHAUERs Auftrumpfen eingeängstigt - Kreisen an der Bündigkeit der Argumentationen KANTs zweifeln soviel, wie seinen eigenen Kopf dem Verdacht der Imbezillität [geistige Behinderung mittleren Grades, Intelligenzquotient 20-49 | wp] bloßstellen? Kaum daß schüchtern hie und da solche "Vermittlungsversuche" sich hervorwagen, wie FRAUENSTÄDT sie liebt, - zum offenen, entschiedenen Abfall bekennt sich keiner, - vielleicht weil jeder sich scheut, irgendeiner der bestehenden gegnerischen Schulrichtungen sich einreihen zu lassen, um deren Ehre auf dem Feld des wissenschaftlichen Kampfes es allerdings noch schwächer bestellt ist.

Viel gewöhnlicher als so ein verschämtes Transigieren [einen Vergleich abschließen - wp] ist deshalb auch das Vorrücken der auf ihre feine Urteilskraft sich viel zugute haltenden Konsequenzenmacher auf dem Boden von FICHTEs Standpunkt und, wenn man will, der Rücktritt zum Idealismus BERKELEYs. Wer das "Ding-ansich" aus dem Denken wegeskamotiert [durch einen Taschenspielertrick wegzaubern - wp] und den Unterschied zwischen bloßem Schein und Erscheinung aufheben will, oder wer an dies Beides erst erinnert werden muß, der hat im Grunde schon kein Recht mehr, sich für einen strikten Kantianer auszugeben. Sie überkanten noch KANT und überschlagen sich auf ihrem hypertranszendentalen Standpunkt in das Extrem eines selbständigkeitslosen jurare in verba magistri [auf die Worte des Meisters schwören - wp]. Ihre Verstocktheit ist ärger und unterträglicher, als die der weiland Dogmatisten, - dünken sie sich doch was Besseres zu sein und weit hinaus über die Befangenheit der blinden Menge.

Es ist schon angedeutet, daß SCHOPENHAUER keine geringe Schuld trägt an solchen Übertreibungen - und insofern dürfte es angemessen sein, zunächst mittels einer argumentatio ad hominem [Argument auf die Person bezogen - wp], die sich auf die Grundlagen seines Systems stützt, der Unhaltbarkeit seitabliegender Inkonsequenzen zu Leibe zu gehen. Schon früher aber habe ich (in meiner metaphysischen Voruntersuchung zur Charakteriologie, Seite 3f) für jeden, der sich seinen Schüler nennt, das Recht in Anspruch genommen, in völliger Freiheit sich darüber zu entscheiden, auf welches der beiden unleugbar vorhandenen Fundamente seines Systems er mit ihm treten will, um, wenn es sein muß, von diesem aus das auf dem anderen Stück der Doppelbasis aufgeführte Luft- und Scheingebäude einreißen zu helfen. Denn ich bin überzeugt, daß man einem dankbar verehrten Meister keinen schlechteren Dienst erweisen kann, als mit so einer konziliatorischen Irenik [versöhnlerischer Frieden - wp] des Halb und Halb, welche Widersprüche beseitigt zu haben wähnt, indem sie deren Nebeneinanderbestehen nur desto offener aufgedeckt in der Hoffnung, eine erbitterte Polemik werde sich zum Schweigen bringen lassen durch die bloße Versicherung: das Unvereinbare stelle nur die verschiedenen Betrachtungsweisen dar - als ob eine Münze reiner Dukaten bliebe, wenn auf dem Revers Silber mit Groschengepräge sich präsentiert. In der Tat eine Naivität, die einem richtigen Hegelianer alle Ehre machen könnte, nach dem Schema zu folgern: Widersprüche können nicht nebeneinander bestehen - dies besteht bei Schopenhauer nebeneinander, also kann es kein Widerspruch sein (vgl. insbesondere die beiden Artikel "Schopenhauer und seine Gegner" in "Unsere Zeit", November 1869). - Eine solche Verteidigung schlägt, wie ich fürchte, eher in einen neuen Triumph höhnischer und hämischer Antagonisten aus.

Das Recht aber, uns über eine Anmaßung seitens Derer zu beklagen, welche die einzig echten Jünger SCHOPENHAUERs zu sein behaupten, weil sie mit ihm bedingungslos zur bloßen Subjektivität der Anschauungsformen schwören, dieses Recht leite ich vorzugsweise aus einer Unbefangenheit her, welche uns befähigt, sie neben uns als eine Abzweigung vom selben Stamm anzuerkennen und gelten zu lassen, während jene ihrerseits uns als Abtrünnige behandeln und am liebsten mit dem Makel der Apostasie [Abfall vom Glauben - wp] behaften, um nicht zu sagen: schänden möchten - und ihrem Absprechen gegenüber ist es erst recht als die einzige wirksame Methode für unsere Polemik indiziert, den Beweis anzutreten, wie gewisse unausweichbare und unaufgebbare Anschauungen des reinen Willenssystems (um diesen, das zwischen uns neutrale Gebiet kennzeichnenden Namen zu wählen) mit einem konsequenten Festhalten an den Ergebnissen der transzendentalen Ästhetik in keiner Weise sich in Einklang bringen lassen.

Doch genug des Prämbulierens! [feierliche Erklärung als Einleitung - wp]

Der erste Vorwurf, den ich gegen den Kritizismus erhebe, ist der: er macht sich in einem Stück ganz des Fehlers des urältesten, unbesonnenen Skeptizismus schuldig: wie dieser leugnet er, etwas aussagen zu können, und sagt doch dreist eben dies aus, daß er nichts aussagen kann, - während wir die korrekte Formel für den echten und wahrhaft kritischen Skeptizismus in dem finden, was mit engstem Anschluß an den Wortlaut einer späteren, vorsichtigeren Fassung der antiken Skepsis selber, von HARTMANN (Über die dialektische Methode, Seite 11, mit Berufung auf KANTs eigenes Wissen darum) so ausdrückt: "daß man niemals wissen kann, ob man weiß oder nicht weiß", und demgemäß "die Behauptung, zu wissen, daß man nicht wissen kann, für ebenso ungerechtfertigt zu halten als die, daß man wissen kann". Hätten sich KANT und die sich ihm angeschlossen haben bescheidentlich innerhalb dieser Grenzen gehalten, so wären sie nicht in die mißliche Doppelstellung hineingeraten, welche wir sie jetzt einnehmen sehen. Auf was in aller Welt stützt sich denn einerseits dieses keck behauptete Dogma von der absoluten Unerkennbarkeit des Dings-ansich und andererseits der verwegene Anlauf SCHOPENHAUERs zu einem Rücksprung mitten in die Realität hinein auf dem schlüpfrigen Abhang eines bloßen Analogieschlusses? Wer darüber aburteilen will, ob etwas erkennbar oder erkannt worden ist, muß doch zuvor selber es erkannt haben. Ob und wie weit Denken und Sein, Vorstellung und Ding-ansich einander entsprechen oder nicht, darüber vermöchte mit Sicherheit nur ein unparteiischer Dritter zu befinden, der beide kennen müßte. Von vornherein behaupten: sie entsprechen sich nicht, oder gar: sie können sich gar nicht entsprechen, ist reine Vermessenheit. Denn selbst wenn wir befähigt wären, das einemal die Dinge ohne die Vermittlung der Formen sinnlicher Anschauung, in der angeblich raum-, zeit- und kausalitätslosen Intuition des Mystikers, das anderemal durch dieses Medium hindurch, nach dem beliebten Bild: "wie durch eine gefärbte Brille", zu sehen, so würden wir keinen Maßstab, keinen Kanon, kein Kriterium oder auch nur Kennzeichen besitzen, das uns einen Anhaltspunkt geben könnte für die Entscheidung der Frage und zur Beseitigung jeden Zweifels, welches nun mal als Erkenntnisweise (modus cognoscendi) die richtigere gewesen wäre; denn der Besitz eines solchen Probiersteins für die sogenannte objektive Wahrheit würde voraussetzen, daß zuvor irgendein Subjekt vorhanden gewesen ist, das, selber im Besitz der absoluten Wahrheit, jenen Maßstab geeicht und so mit einschränkungsloser Autorität beglaubigt hat - ein Ausweg, welcher bekanntlich von jedem konsequenten Offenbarungsglauben betreten wird, aber ungangbar und unzugänglich bleibt für jedes kritische Gewissen, das sich gedrungen fühlt, weiter hinauf nach der Beglaubigung jener mit dem Anspruch der Grundlosigkeit (nämlich der absoluten Selbstgeltung oder des Geltens rein durch sich selbst) auftretenden Legitimation zu forschen. - Den Kantianern reinsten Glaubens aber ersetzt das Ansehen, welches KANT in der philosophischen Welt genießt, eine solche absolute Autorität.

Wenn sich jemand auf die Hypothese kapriziert, es könnte ja Jehovah oder der Zufall oder sonst irgendein Gott dafür gesorgt haben, daß eine harmonia praestabilita zwischen Erscheinung und Ding-ansich ihr Spiel und Wesen treibt, und uns trotz jener Brille mit ihrem entstellenden Gläserschliff (oder wie SCHOPENHAUER es auch bezeichnet: trotz unserem, den Schein der Individuation herbeiführenden, Facettenauge) eine adäquate Vorstellung verschafft wäre: so bliebe der starrste Kritizismus wehrlos gegen eine solche Einrede. Denn wie wollte man beweisen, daß dem nicht so ist? er könnte sich höchstens auf den geringen Grad von Wahrscheinlichkeit berufen - ein lahmstes Argument vis-á-vis den viel weiter gehenden Ansprüchen herzhafter Skepsis. Wer behaupten will, wir würden durch den Schleier der Magie getäuscht, der muß doch selber wissen, wie die Dinge ohne diesen gesehen sich ausnehmen, der muß doch den Unterschied zwischen der Wahrheit und unserem Irrtum, zwischen dem Ding-ansich und unserer Vorstellung kennen, um uns denselben auch angeben zu können.

Und wer soll denn getäuscht werden? Der Wille, das ontos on [wirklich Seiende - wp] selber? und über was? über sein eigenes Wesen? aber dann weiß es ja auch nicht, daß oder ob es denn auch wirklich das ontos on ist und über sein eigenes Wesen getäuscht wird. Oder ist das "reine Subjekt" das bedauernswerte Opfer (um nicht zu sagen "Objekt oder gar Gegenstand") dieses Betruges? aber dessen Wesen soll ja eben darin bestehen, in den Ideen eine adäquate Erkenntnisform zu besitzen - die intuitive - und doch nicht objektlose!

Aus all dieser Wirrsal, wo ein circulus vitiosus [Teufelskreis - wp] an den andern sich schlingt wie die tanzenden Kreise chromatropischer [zwei bemalte Glasscheiben, die in entgegengesetzter Richtung rotieren - wp] Farbenspiele, gibt es keine andere Rettung als einerseits das Preisgeben der ganzen zweideutigen Phantasie von den Ideen und andererseits den offenen Rücktritt auf jenes dogmatische pou sto [Archimedes: Gib mir einen Punkt, wo ich hintreten kann, und ich bewege die Erde - wp], wo SCHOPENHAUER bekennt, er packe den Willen am festen empirischen Schopf.

Wo wir den Willen so in die Hand nehmen, um ihn uns näher anzusehen, da präsentiert er uns ja schon sein schelmisches Doppelgesicht, im Bewußtsein fassen, ergreifen wir ihn als selbstbewußten, ins Bewußtsein vordringenden: sibi conscium [sich seiner selbst bewußt - wp] und consciturientem [Bewußtsein - wp], - mit anderen Worten: als Willen zum Wissen. Der Wille ist wesentlich Erkenntniswille. Nicht als ein Zufälliges, ein Akzidenz trifft er neben und außer sich auf ein principium cognoscendi [Wissensprinzip - wp], dem er ursprünglich gegenübersteht als das principium essendi [Seinsprinzip - wp], - nein: er selber ist urwesentlich beides zumal, und wer sich überhaupt auf das Philosophieren einlassen will, muß meines Erachtens auch den Mut haben, alle Prolegomenis KANTs zum Trotz von diesem Urphänomen aus den Versuch einer Metaphysik anzuheben. Aber wie überall, so setzt der Wille auch hierin sein Wollen nur durch, soweit sein Vermögen, d. h. seine Potenz verleihende Essentia, sein Wesen, reicht, - der absolut allmächtige ist auch er nicht - hat seine Schranke wesentlich an sich selber und muß diese Schranke genauso wie alle seine sterblichen Kinder auf dem Weg der Übung erst überwinden lernen - sich selbst sozusagen überlisten, wie Einer, der sich mit Arbeit über das Hunger- oder ein Ärgergefühl hinwegtäuscht. Neuere Beobachtungen haben gezeigt, daß trotz all seiner vielbewunderten Einrichtungen das menschliche Auge noch keineswegs ein Werk absoluter teleologischer Vollkommenheit ist. Der Darwinismus führt uns die Stufen des allmählichen Perfektionierens seitens des experimentierenden Willens vor: nicht anders steht es um das Erkennen überhaupt: das Subjekt - gleichviel: das reine oder das wollende - bleibt der Täuschung ausgesetzt und dem Irrtum unterworfen, weil der Wille noch nicht völlig Herr geworden ist über sein eigenes Wesen. Wie ein Stotternder seiner Zunge, ein Schlotternder seiner Beine, ein Trunkener oder ein neugeborenes Kind seiner Glieder nicht mächtig ist, so der Erkenntniswille nicht der Vollkommenheit oder des Vollgebrauchs seiner Erkenntnisorgane - das ist das ganze Geheimnis, das SCHOPENHAUER und von HARTMANN nur deshalb nicht durchschauen, weil sie sich in den Gedanken verrannt haben: ein über alle Endlichkeit der angeblich transzendentalen Wesensformen hinausgerücktes Urwesen könnte nicht begrenzt sein in seiner Macht und Weisheit, - daher das Märchen des Willens mitten in seiner Blindheit.

Es geschieht in der Unzulänglichkeit seines eigenen Könnens, daß der Wille sich seinen Spiegel so uneben geschliffen, so fleckenreich belegt hat - und die aus Leiden hervorgehende Trübung seines Erkenntnismediums müssen wir als das hinnehmen, was sie, gleich jeder anderen Tatsache innerhalb der Kette des Geschehenden, ist: eine unabwendbare Notwendigkeit, aus dem Wesen des Seienden selber in die Existenz vorquellend. Und wenn das Zugeständnis eines allmählichen Durchbrechens dieser Schranken die Anerkennung der Möglichkeit einer historischen Gesamtentwicklung überhaupt in sich zu schließen scheint: so scheue ich vor dieser Konsequenz des Gedankens nicht zurück - und brauche es auch umso weniger, als es nicht einmal ein Abfall von SCHOPENHAUERs Auffassung sein würde. Soweit unbestreitbare Tatsachen sprechen, hat er sich ja niemals der Einsicht verschlossen, daß im Bereich des Intellektuellen heute Dinge möglich sind, die es zu PILATUS Zeiten noch nicht waren, und was von ihm und mir in Abrede gestellt wird, ist primo loco [erstplatziert - wp] immer wieder eine kernhafte Besserung der Menschheit, ein moralischer Fortschritt in einem strengen (essentiellen und nicht bloß phänomenalen) Sinn. Was sich ändert, ist nicht der Inhalt des Willens, sondern nur Umfang und Gestalt seiner Verwirklichung. In neuen Kombinationen gelingen ihm jetzt Konfigurationen, denen er sich früher noch nicht fähig gezeigt hat.

Aber ich darf mich hier nicht in apologetisches [rechtfertigendes - wp] Detail verlieren - für das an diesem Punkt Vorliegende genügt es zu konstatieren, daß der Wille selber es ist, der Verlangen trägt, sich selber zu erkennen, - der, natürlich zunächst unbewußt, seiner selber nicht sicher noch gewiß, ins Bewußtsein dringt. Wozu? und warum? da es ihm doch schließlich kein Vergnügen machen kann, in sein eigenes Jammerbild zu starren, - danach haben wir nicht zu fragen - denn in diesem Sinn gibt es wirklich für das schlechthin sein eigenes Sein seiende Sein keinen über es hinaus liegenden Grund, genug, daß es so ist - so ist vermöge einer ewigen Natur, an der nichts zu ändern steht. Und wie wir diese Aseität gelten lassen müssen, ohne daran zu drehn und deuteln, so ist es auch ein weiter nicht Erklärliches, daß der Wille vermöge einer gewissen (nicht bloß: quadam [gewissermaßen - wp], sondern auch certa [sicher - wp], weil in sich selber fest beschlossenen) generellen Homogenität, welche seine Vielheit durchwaltet, ohne diese zur bloß phänomenalen Zerspaltung eines numerisch Einen und Identischen heranzusetzen, sich überall in der Weise gleichartige Dogmen schafft, daß die Konstanz ihrer Funktionierungsform in gewissen Grundzügen nicht einmal von tiefstzerrüttenden Krankheitsprozessen affiziert [gereizt - wp] werden kann, wie sich überall da zeigt, wo selbst die andauerndste Geisteskrankheit das Schema der sogenannten Denkgesetze nicht zu zerbrechen vermag. Was in seiner "Apriorität" mit seinem Anfang über alle Erfahrung hinaus zurückweist, das scheint in seiner Unerschütterlichkeit auch erst mit dem Bewußtsein selber zu verschwinden, und erst, wenn dessen Gefäß - das Gehirn - vollständig zertrümmert ist, selber in Stücke zu gehen, - ist es doch ein unbewußter Bestandteil auch des in das Gemeingefühl des Schlafes hinabgesunkenen, also des intermittierenden [unterbrechenden - wp] Bewußtseins, wie allen Traumlebens, - erst wo alle Erfahrung und ihre letzte Spur endet, hören auch diese Voraussetzungen aller Erfahrung auf, das was die Alten die prolepsis [aus der Wahrnehmung entwickelter oder angeborener Allgemeinbegriff - wp] nannten.

Dieselbe Homogenität, vermöge welcher auch wir unter dem angegebenen Vorbehalt ein "in allen Welten Eines nur" anerkennen und verkünden mögen, mach die Gleichheit auf der Kehrseite begreiflich: wie der Wille sich überall gleichbleibt in seinem Erkenntnisdrang, so auch in seiner Selbstentzweiung, die ihn jeder finalen Befriedigung unfähig läßt: derselbe Wille, der sich Augen an-schafft, schließt diese Augen auch wieder im Tod, "wenn sie des Sehens müde", und gibt so die im Individuum erreichte Erkenntnis im Individuum auch wieder auf.

Mit dieser - allerdings durch nichts als die Bescheidenheit des in ihr Erkannten sich auszeichnenden - Auffassung erledigt sich eine ganze Reihe von Problemen auf einmal, die KANT, SCHOPENHAUER und von HARTMANN ungelöst lassen. Ihre Formulierung umfaßt ebensosehr das Woher? des Apriori, wie das Rätsel des Bewußtseinsuntergangs im Sterben.

Wie kläglich ist doch die Ausrede: die Frage nach dem Warum? sei eingeschlossen in das Apriori selber und darf deshalb nicht über dieses hinaus auf es selber ausgedehnt und angewendet werden - und doch versucht im Grunde die ganze Dianoiologie [basale Gesetze des Denkens - wp] des Satzes vom zureichenden Grund nichts anderes als Antwort auf die berühmte Frage von LEIBNIZ nach dem Warum des Warum (1) zu finden; - warum fragen wir nach einem Warum? - so zu fragen müßte konsequenterweise dann auch schon verpönt sein und damit wäre allerdings jeder Metaphysik der Ausgangspunkt verrammelt.

Was aber SCHOPENHAUER und von HARTMANN in unverhülltem Dualismus von dem aus dem "reinen Subjekt" still und willenlos blickenden "ewigen Weltauge" und von der den Willen erst zum erfüllten machenden "Idee" zu sagen wissen, dabei kann ich mir nur dann etwas denken, wenn ich es von einem dem Willen an Ewigkeit ebenbürtigen Erkennen und zugleich von einer dem ewigen Willen gleichwertigen Weltmacht verstehen darf - als ein so angetanes aber wüßte ich es von dem seitens SCHOPENHAUERs so eifrig perhorreszierten [abgelehnten - wp] nous des ANAXAGORAS nicht mehr zu unterscheiden und noch weniger mit dem immer von frischem belegten "Primat des Willens im Selbstbewußtsein" zusammenzureimen. Wozu denn überhaupt erst der ganze umständliche Apparat der individuellen Organisation und vollends gar der noch unendlich kompliziertere des welthistorischen Prozesses? HARTMANN antwortet: Damit aus dem unbewußten Erkennen ein bewußtes wird, und preist doch zugleich die höhere Vollkommenheit, welche jenes vor diesem voraus hat, soweit es eben das Erkennen ansich und um seiner selbst willen angeht, - nur für die (leider allzu wenig wahrscheinlichen und schon insofern nicht recht garantiefähigen) Zwecke der Welterlösung soll es sich anders verhalten.

Das sind meta physika (im Sinne jener mit Unrecht als altfränkisch bespöttelten, weil in ihrer Naivität tiefsinnigen Etymologie, die sich nicht mit einem Philologendünkel bei einer Erläuterung aus der - doch auch nicht rein zufälligen - Reihenfolge aristotelischer Schriften beruhigen möchte), denen schon ihr mystischer Charakter alle zwingende Gewalt raubt - und doch drängen die Ergebnisse der kantischen Kritik unabweisbar weiter auf ein Fragen in der Richtung hin, wo sich solche Antworten als die einzigen Auswege anbieten. -

Das Geflecht des kritischen Netzes aber, in dessen Schlingen KANT allen Dogmatismus erwürgen will, geht vollständig auseinander, sobald die Anfangsmaschen, die transzendentale Ästhetik, nicht mehr festhalten - der Rest wäre höchstens noch als Ferment für die Scheidekunst echtesten Skeptizismus verwendbar. Wo KANT sich auf Beweisführungen einläßt, rekurriert er auf die Sätze, welche jener grundlegende Abschnitt zu unangreifbaren Positionen soll gemacht haben - und wenn es wirklich einem gelungen ist, jenes vielbestrittene Wörtchen "bloß" in der dreifachen Beziehung, in welcher SCHOPENHAUER es festhält, zu eliminieren, so ist damit die einzig zuverlässige Bollwerkspforte nicht etwa bloß geöffnet oder eingeschlagen, sondern vollständig aus den Angeln gehoben. - Wem dagegen jene "bloße" Idealität mehr ist als eine paradoxe Redensart, dem muß der Begriff eines Dings überhaupt total evaneszieren [verschwinden - wp] und sofern er demselben noch eine "subjektive Gültigkeit" belassen will, versetzt er ihn in die Kategorientafel selber, wohin ihn schon mehr als ein Kenner KANTs verwiesen hat, der allen Ernstes sofort hinter der transzendentalen Ästhetik den Halt einer skeptischen absoluten "epoche" [Urteilsenthaltung - wp] genommen hat, in der Erkenntnis, gar nichts wissen zu können, also auch nichts über die Realität oder Idealität unseres Denkinhaltes, weil beides gleich möglich ist. - Anders jene Fanatiker kantischer Halbheit, die sich den Rücken gedeckt halten und wie ein jubelndes Kind auf einem Bein hüpfen, nicht vom Fleck rücken und ihr Verschen als Chorlied herleiern: was subjektiv, das ist nicht objektiv und kann es nicht sein und darf es nicht sein, und wer anders denkt, der ist ein Esel. - Das ist ihr ganzer und einziger nervus probandi [entscheidender Beweisgrund - wp] und an diese Strähne zerren sie uns hin und her, wie an das Wort gekettete Sklaven, im alten Triktrakspiel mit der schikanösen Zwickmühle. Denn wollen wir zur Rechten ausweichen, um uns zu betten auf dem sanften Pfuhl des Quietismus, so starren uns die für den "kategorischen Imperativ" eingelegten Lanzen entgegen; möchten wir zur Linken in den stillen Frieden eines Ideal-Nihilismus uns von dannen schleichen, so stört uns der "Wille" mit seiner unleugbaren Realität aus weltvergessenen Träumen auf. Drüben ein rein willkürliches Dekret nach der Weise des "car tel est notre plaisir" "Denn so gefällt es uns wohl!" Schlußformel der Verordnungen der franz. Könige. - wp], weil wir sonst ja keine Kritik der praktischen Vernunft hätten schreiben können, wir Immanuel Kant, Dei gratia summus philosophus [großer Philosoph durch Gottes Gnaden - wp] - hüben das noch ungestüme Postulat einer Selbstbehauptung des wollenden Teils am Einzel-Ich mit dem bedenklichen Möglichkeitstrost einer weltschweren Selbstverneinung. Oder gehen wir mit dem Einen der Konsequenz der Realität der Vielheit nach, so präsentiert uns der Andere sein differenzloses All-Eines - und wollen wir diesem ins verhüllte Angesicht schauen, so prickelt uns der Andere von hinten (a posteriori) mit den unauszählbaren Nadelstichen der "realen Verhältnisse"; es gibt aber keinerlei Schmerz, der ohne Vielheit begreiflich wäre. Was hat denn der Kritizismus gegen die Realität der Vielheit einzuwenden? Im Grunde nur eine neue Applikation seiner alten plumpen petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre - wp], nach welcher wir die Vielheit, bloß weil sie zufällig auch "gegeben", also vorgestellt ist, nicht für etwas sollen halten dürfen, was auch außerhalb unserer Vorstellung Existenz haben kann - und wenn wir dagegen einwenden: aber dem Willen dürfen wir doch trotz seiner Gegebenheit, trotzdem, daß er gleichfalls "gegeben" ist, ein Sein ansich zuschreiben, - so will man uns abfertigen mit einem wenig motivierten: ja, bei dem ist es auch was anderes!

Sofern wir es aber hier zunächst mit den Inkonsequenzen SCHOPENHAUERs zu tun haben, steht auf der einen Seite sein ungleich tiefer greifender Beweis für die Idealität des kausalen Elements schon in der einfachsten Sinnesempfindung, und auf der anderen sein Nichtentbehrenkönnen des objektiven Faktors bei der Konstruktion der Intellektualität aller Anschauung.

Seinem Prinzipalsatz: "Die Welt ist meine Vorstellung" sollen wir nicht einmal, das "meine" betonend, soviel entnehmen dürfen, daß jede Erweiterung auf andere Subjekte eine Anerkennung der Vielheit erkennender Wesen in sich schließt - sonst müßte es ja allgemein hier heißen: "eine Vorstellung", - diese Fassung aber ist unzulässig, weil ich von anderer Vorstellung nach den Konsequenzen jenes subjektiven Idealismus nichts wissen und auch niemals etwas erfahren kann, weil die fremde Vorstellung, als von mir vorgestellt, wiederum ausschließlich meine eigene Vorstellung ist. Andererseits aber hat jedes "mein" an einem, das einem Andern gehört - alienum [Fremdes - wp] - sein unentbehrliches dialektisches Korrelat - und die bloße Ich-Nennung impliziert schon jene Selbstunterscheidung, welche ohne eine mitgesetzte Anerkennung dessen, was außer (extra und praeter) mir vorhanden ist, sich nicht denken läßt - Selbst- und Weltbewußtsein haben gegenseitig einander zur Voraussetzung - oder, wenn man nicht ein Verhältnis vollständiger Wechselbedingung zwischen ihnen anerkennen will, so kann das Weltbewußtsein noch eher des (zumindest des hellen und klaren) Selbstbewußtseins entbehren, als wie das Selbstbewußtsein der Basis des Bewußtseins von anderen Dingen. Wollen wir auf diesen Urschluß des Verstandes verzichten, dann sind wir eben sogleich am Ende, und wollen wir ihm eine "bloß subjektive" Bedeutung beilegen, so schließen wir damit zwar jeden Glauben von uns aus, aber eo ipso [schlechthin - wp] uns selber in jenen Zauberkreis des reinen Ich ein, innerhalb dessen es rein und nur ein Ich und seine Vorstellungen gibt - aber ein Nicht-Ich auch nicht einmal als bloß vorgestelltes, da die Vorstellung ein integrierender Teil des Ich selber bleibt.

Hier ist der Punkt, auf welchem alle neueren Logiker sich zur Annahme eines Urdogma haben gedrängt gesehen, des Inhalts: mit dem Wissen um mich selber weiß ich auch mit einem Schlag um andere Dinge, und jenes Wissen ist nicht sicherer als dieses - denn was es scheinbar ihm voraus hat: die vermeintliche Selbstgewißheit, stützt sich in einem dem Kritizisten verhüllten Hintergrund selber wieder auf die präsumierte [vorausgesetzte - wp] Gewißheit des Daseins anderer Dinge, wie - um ein vielleicht schon von anderen gebrauchtes Bild nicht zu verschmähen - eine rückwärts geneigte Statue eines angeblich selbstgenügsamen Gottes an einen Baumstumpf sich lehnen mag.

Nur auf dem Grund einer solchen Antizipation ist auch der Analogieschluß vollziehbar, welcher SCHOPENHAUER dem Willen als Ding-ansich zuführt. Ehe ich nicht das in "meiner" Vorstellung qua "meiner" mit enthaltene "Ich" gepackt und gefaßt habe, darf ich überhaupt von "meiner" Vorstellung nicht reden - dann aber muß ich mich auch bescheiden, daß ich ein Subjekt qua Träger einer Vorstellung und qua Korrelat des Objekts nur kenne in der individuellen Existenzweise eines Einzelwesens unter und zwischen anderen Einzelwesen, als Objekt zwischen Objekten, und daß ich kein Recht habe, das, was in mir das Erkennende ist, als ein individualitätsloses Allgemeines mit allem Erkennenden überhaupt schlechthin zu identifizieren, so wenig wie es berechtigt ist (auch nicht auf der angeblichen Grundlage der bloßen Subjektivität aller Vielheit) den zur Realität der Außenwelt hinüberführenden Analogieschluß zu einem Identitätsschluß zu verengen: weil ich als Einzelner Wille bin, wird es vermutlich in anderen auch Wille sein, und zwar ein Wille nich bloß ejusdem generis [von derselben Art - wp], sondern ein numerisch mit dem meinigen identischer Wille.

Sowie ein kritischer Idealist sich zu dem Satz vorwagt: die Welt ist noch etwas außer dem, daß sie meine Vorstellung ist, d. h.: sie ist nicht bloß Vorstellung, begibt er sich des Rechtes, von dem, was sie außer und außerhalb des Vorstellungsseins ist, auch nur eine negatie Behauptung auszusprechen, die auf nichts gegründet ist auf auf die willkürliche Präsumtion: was die Welt als Vorstellung ist (räumlich, zeitlich, kausalitätsdurchflochten), kann sie nicht auch an und für sich sein. Wer einmal jenes über das bloße Vorstellungsein hinausgehende Plus anerkennt, hat es nicht mehr in seiner Hand, von der Natur dieses Plus beliebige Bestimmungen der Welt qua vorgestellten sind - sonst müßte er auch die Urbestimmung des Seienden zu sein, davon verneinen (wie ja dann konsequente Denker von einem Übersein geredet haben). Wer ein Ansichseiendes gelten läßt, der muß in völliger Unbefangenheit ohne alle Voreingenommenheit durch ein ganz willkürliches Vorurteil, die Doppelmöglichkeit offenhalten, daß das Sein ansich sowohl jene Formen der apriorischen Anschauung an sich tragen, als von ihnen gänzlich frei sein kann. In abstracto ist die Wahrscheinlichkeit für jede dieser beiden Möglichkeiten eine völlig gleichwiegende. - Wer aber schon mit dem ersten Schritt auf einen realistischen Boden dieser absoluten Neutralität sich begeben, und wer vollends, wie SCHOPENHAUER, das Ding-ansich im Kern eines Wesens sucht, von welchem er die eine jener Anschauungsformen - die Zeit - gänzlich fernzuhalten sich selber außer Stande bekennen muß: von dem erscheint es als eine durch und durch grundlose Caprice [leichte Überspanntheit - wp], nun in Betreff der beiden übrigen Anschauungsformen nicht etwa in reservierter epoche sich zu halten, sondern gewissermaßen schon das Zugeständnis, wir könnten ebensowenig mit Sicherheit sagen, der Willen sind viele, als er ist einer, für ein supererogativum [Übererfüllung - wp] übermäßiger Selbstbescheidung ausgeben zu wollen, und lieber das schwerbedenkliche Paradoxon auf sich zu nehmen, daß sein Wille als Ding-ansich dies nur in einem relativen Sinn sein soll, als, von allen kantischen Skrupeln ungeniert, freioffen die Erklärung abzugeben: das Verhältnis des Dings-ansich zu den a priori im erkennenden Subjekt sich vorfindenden Anschauungsformen bliebe einstweilen eine offene Frage, bis eine auf empirischer Grundlage anzustellende Untersuchung das nötige Material herbeigeschafft hat, um darüber zu entscheiden, ob sich von den in thesi gleichschwebenden Waagschalen der Wahrscheinlichkeit die eine oder die andere unter schwereren Probabilitätsgründen neigt. Wie nun aber, wenn das hierbei geforderte Material bereits reichlichst parat liegt, in seinen besten Stücken zusammengetragen vom Urheber der Willenshypothese selber? - wie, wenn sich bei näherem Zusehen ergibt, daß man denen nicht ganz Unrecht geben kann, die längst behauptet haben: SCHOPENHAUER hat in seiner Metaphysik und Ethik (von der Ästhetik ganz zu schweigen) eigentlich die Ergebnisse seiner dianoiologischen Voruntersuchungen, wenn nicht vergessen, so doch außer Acht gelassen - und die für feine Köpfe gehalten werden möchte, sollten sich zu gut dünken für die klägliche Ausrede, es geschehe nur von der empirischen Seite betrachtet, wenn SCHOPENHAUER das Vorstellen eine Funktion des Gehirns nennt und darin mit den Materialisten [schwarz] zu gehen scheint.

Vielmehr verliert die ganze Naturphilosophie SCHOPENHAUERs Grund und Boden, wenn er die Lehre von der "sekundären Natur" des Intellekts preisgeben sollte. Denn diese ist ganz direkt ein Stück seiner Metaphysik, ja sogar seiner Dianoiologie selber, wo diese sich freigemacht hat von den Umschnürungen kantisch-kritischer Dogmen. Nicht umsonst perhorresziert er jenen Monismus SPINOZAs, für den der Unterschied von ratio und causa keiner ist oder verschwinden soll; nicht umsonst ereifert er sich über jede derartige Vermischung in den ersten Paragraphen seiner Abhandlung vom zureichenden Grund. Und warum? - im Grunde im Interesse seines Realismus, aus realistischem Interesse, - ihm ist die causa doch gewissermaßen das Mächtigere, das metaphysische prius, weil, in ihrer Motivnatur das logische genus zur Spezies: ratio. Und dasselbe paradoxe Schauspiel paradoxer Motivierung (obgleich verschwiegener und wohl auch wenigstens halb unbewußt bleibender) eines wissenschaftlichen Standpunkts wiederholt sich in seiner Vorliebe für immer neue Belege zur Intellektualität der Anschauung. Während die meisten Anderen eher geneigt sein würden, die von ihm ebenso tief- wie scharfsinnig gedeuteten Tatsachen (die Herren Physiker wie Physiologen zehren ja längst von den Resultaten seines Denkens, nur sind die wenigsten einem ROKITANSKY gleich in dankbarer Bekennung) zu einem System der Noetik auszubeuten, dienen sie ihm, die Harmonie seiner Gedankenfolge voller austönen zu lassen, - und wenn ihm seine Abhandlung "Über das Sehen und die Farben" bis zuletzt ein Schoßkind geblieben ist, so gemahnt uns das der Zärtlichkeit eines Vaters, dessen Auge am liebsten auf den Söhnen ruht, deren Kindheit in Zeiten gefallen ist, wo ihm noch selber das Herz höher geschlagen hat bei den Idealen des Jugendalters. Die Kinder der grämlicheren Mannesjahre bereiten, selbst wenn sie besser geraten als wie jene, die ungetrübte Freude nicht mehr - und widerwilligen Herzens schließt der einstige Schwärmer seinen Frieden mit der Realität. Wir sind ja nicht die Ersten, die an SCHOPENHAUER die Entdeckung gemacht haben, daß seine Werke, je später desto deutlicher auf realistische Geleise einlenken. Aber vielleicht ist - zumal KANT im sechsten Lebensjahrzehnt dagegen zu zeugen scheint - die weitere Beobachtung weniger oft schon gemacht, daß überhaupt jeder kritisch-idealen Metaphysik eine Beimischung von Jünglingsenthusiasmus unentbehrlich ist. Selbst die Beschäftigung mit den reinen Denkformen der Logik scheint bei allen nicht ganz herztrockenen Philosophen mit den Jahren immer mehr und mehr den Beschäftigungen mit den Problemen des natürlichen und sittlichen Lebens zu weichen. Wie noch heute die deutschen Studenten (ob mit Recht, ist eine andere Frage) ihre philosophische Propädeuse [Grundstudium - wp] im collegium logicum durchzumachen pflegen, so pflegten ihre Lehrer (bis herab in die jüngsten Tage, wo von HARTMANN mit seiner Schrift "Über die dialektische Methode" debütierte) ihre Erstlingsarbeiten dem Bereich des Logischen oder Dianoiologischen zu widmen. Aber worauf ich hinaus will, ist dies: weil die Brücke zwischen Intellekt und Wille, - jener zwischen Gehirn und Rückenmark vergleichbar - den eigentlichen Lebensnerv der Lehre SCHOPENHAUERs als einer systematischen ausmacht, deshalb kann, wer die von ihm hinterlassenen Probleme aufnehmen will, nichts Besseres tun, als wie zu zeigen, daß auch sein erkenntnistheoretisches Apriori für ihn in seinem metaphysischen Prius wurzelt - und daß bei ihm alle Sinnesempfindung nur deshalb den Charakter der Intellektualität hat, weil sie mit der einfachsten Willensaffektion im identischen Grund eines homogenen Ansich wurzelt. - Was dieser Auffassung zuwiderläuft, hat sich inzwischen vor dem Forum der Empirie als unhaltbare Dilettantenhypothese zurückziehen müssen - obenan von der Farbenlehre all das, was unhaltbar geworden ist, seitdem die in einem eminenten Sinn objektiv vordringende Spektralanalyse das krampfhafte Ableugnen der FRAUENHOFERschen Linien der Lächerlichkeit preiszugeben droht.

Es ist dies ja auch nicht der einzige Fall, in welchem das antizipierende Gefühl des Instinkts seinen Triumph gerade da feiert, wo die Forschung ihren Kreis abschließt, indem sie die Peripherie in sich zurückführt und der idealistischen Einseitigkeit ebenso ihr Korrektiv entgegenhält, wie vorher der ganz kritiklosen Gläubigkeit unrevidierter Empirie. Der empirische Sinn wollte es sich nicht einreden lassen, daß die Farbenwelt etwas bloß subjektives, Produkt einer rein dynamischen Teilung sein soll (wobei allerdings das Rätsel bestehen blieb, wie denn die Retina, selber ein objektiv-materielles Organ, zu jener eigentümlichen Reaktionsfähigkeit gelängt ist) - man kam auch nicht mehr aus mit der Auffassung, daß die verschiedenen Lichtwirkungen eben verschiedene Manifestationsweise ein und desselben in sich durch und durch homogenen, weil einfachen Wesens sind - man mußte sich entschließen, einmal mit Faktoren von etwas objektiverer Geltung zu rechnen, seitdem die wärmende, chemische und (organisch-) färbende Wirkung des Lichts sich auch räumlich sondern, jede derselben wie ein isolierter und an seiner Uniform schon dem Auge von fern erkennbarer Arbeiter in seine eigene Zelle sich einschließen hat lassen. Nun war es vorbei mit dem Satz: das Auge allein besitzt, Dank seiner intellektuellen Wunderbeseelung, jenen magischen Zauberapparat, welcher das Licht zu zerlegen vermag, - nun drängte das in den empirischen Winkel geschobene Kausalitätsgesetzt sich wieder vor mit dem unabweisbaren Vestandesschluß: wo die Effekte so selbständig nebeneinander auftreten, da müssen auch die causa efficientes [wirkende Ursache - wp] in einer mehr "als bloß subjektiv bedingten" Selbständigkeit nebeneinander bestehen. (2)

Weil es aber andererseits ebenso unleugbar ist, daß es physiologische Tatsachen gibt, die ohne ein überwiegend subjektives Verhalten nicht zustande kommen können, wie die Selbsterzeugung des Komplementärfarbenbildes vor dem ermüdeten Auge, so bleit doch hier die Brücke liegen, über welche Empiriker und Aprioristen sich die Hand zur Versöhnung entgegentragen können, indem sie sich einig wissen in dem Bemühen, das in der Erscheinung Erscheinendef selber, als das hinter dem Schein vorhandene Wirkliche zu erkennen, als worauf jede zwecks einer Erklärung gegebener Fakta oder Data aufgestellte Hypothese abzielt (3).

Wer in seine Etymologien den Satz aufnimmt: Verba mit der Vorsilbe er- drücken die Tätigkeit ihres Simplex "cum effectu" [mit einer Bedeutung - wp] aus, wer folglich das Erscheinen für ein Scheinen cum effectu gelten läßt, scil. [man kann wissen - wp] mit dem Erfolg des aus dem Schein Heraustretens des Zum-Vorschein-Kommens der Sache selber - der muß damit auch "anerkennen", daß er bei gehöriger Benutzung der in den Erscheinungen selber dargebotenen Hilfsmittel dasjenige wird "erkennen" können, was er vorläufig nur "kennen" lernt (noscere - cognovisse - agnoscere [wissen – gewusst haben – erkennen | wp] geben ja ganz dieselbe Reihenfolge auf dem Gebiet einer anderen Sprache in der umgekehrten Ordnung).

Die Behauptung, daß den Differenzen in der Erscheinung (als dem Produkt aus einem objektiven und einem subjektiven Faktor), wo sich keine rein subjektive Sinnestäuschung nachweisen läßt, allemal auch eine Differenzierung im Erscheinenden selber entsprechen muß, daß also diejenigen zu weit gehen, welche alle Unterschiede in der Wahrnehmung auf Unterschiede in den Organen zurückzuführen haben versuchen wollen, diese Urbehauptung des Realismus findet auch noch an anderen, den Farbenspaltungen in Farbenstrahlen analogen Tatsachen eine Stütze - nämlich an denjenigen, über welchen die absoluten Dynamiker und die starren Atomisten ihren Kompromiß abschließen müssen. Es ist ja sogar im Grunde derselbe Versuch, alles auf den bloßen modus apparendi [Art des Auftretens - wp] zurückzuführen, wenn die neuere Physik nach jener All-Einen Kraft sucht, welche der Substanz SPINOZAs und dem Absoluten HEGELs an nächtlicher Katzengrauheit durchaus nichts nachgeben würde.

Sowie diese Kraft irgendwie erscheint, will sie doch zunächst wenigstens ihren Betätigungsschauplatz haben. Immer wieder drängt sich die Frage auf, warum denn die Kräfte erscheinen? - und wenn die ganz korrekten Dynamiker, in die Enge getrieben, antworten müssen: eine an der anderen, so setzen sie damit ja schon eine Zweiheit und heben die eben zuvor behauptete Einheit wieder auf. - Auf dem Weg der rein dynamischen Konsequenzen kommen wir wirklich zu dem von Haus aus total inhalts- und darum auch qualitätslosen Willen von HARTMANNs. Daß es aber nicht auch SCHOPENHAUERs Absicht war, dieselbe Straße zu Ende zu gehen, zeigte er, als er anhielt an der elementarsten Erscheinung des Physikalischen, an der "Schwere", und an einem caput mortuum [wertloses Überbleibsel - wp] der Materie, das sich nicht als reine und lautere Kausalität wollte verblasen lassen. Verdruß genug hat er ihm gemacht "der verdammte Stoff" (wie er sich einst mündlich gegen mich ausgedrückt hat), - aber im Bad der Wiedergeburt durch den kantischen Kritizismus war dieser Rest vom alten Adam des empirischen Menschen doch an ihm haften geblieben, - und so blieb auch ihm die Ferse verwundbar, an der er sich selber festgehalten haben mochte, als er seinen übrigen Geistesorganismus von jenem Läuterungsfeuer durchglühen ließ, - in seinem Denken war sein unüberwundener Glaube an die Materie genau dasselbe caput mortuum, wie die Materie in der durchgeistigten Welt seines Willenssystems, - Eins wie das andere findet seine Lösung nur auf dem Boden eines realistischen Individualismus, denn ein Wille ohne alles Charakteristische ist genau dasselbe wie eine Kraft ohne Materie, - und ein Wille, der es nirgends zum Charaktersein bringt, ist auf ethischem Gebiet ganz genau das parallele Spiegelphantom zu jenen Kraftsystemen, die als bloße Schemen durch das All huschen, ohne es je zur Körperlichkeit zu bringen.

So läuft auch diese Betrachtung auf mein ceterum censeo [im Übrigen meine ich - wp] hinaus, auf das anti-revolutionäre Manifest, welches immer von neuem Protest erhebt gegen die Kodifikation des Prinzips der bloßen Subjektivität. Mögen Geister von juristischer Gewöhnung dem Gesetzbuch KANTs ihren unverbrüchlichen Respekt wie vor einer unantastbaren Autorität erweisen: dem wahrhaft unabhängigen Denker geziemt es, auch vom Fanatismus der "reinen Vernunft" sich nicht terrorisieren zu lassen, - er kann sich nie und nirgends seines Urrechts der Kompetenz zur Prüfung entledigen, für ihn gibt es nicht, wie für den angestellten Richter, derartige Normen, nach denen er "von amtswegen", bloß weil sie einmal da sind und bestehen, sich zu richten hätte, - denn der Philosoph gehört ein für allemal der legislativen, nicht der an leges latae [hergebrachtes Recht - wp] sklavisch gebundenden richterlichen und exekutiven Gewalt an.
LITERATUR - Julius Bahnsen, Zur Kritik des Kritizismus, Philosophische Monatshefte, Bd. 6, Wintersemester 1870/71, Berlin
    Anmerkungen
    1) Selbst noch das Pourquoi de pourquoi will Charlotte Sophie von Hannover ergründen, wirft Leibniz ihr vor - nach Böttiger, Geschichte in Biographien, Bd. VI, Seite 184. Man vergleiche auch J. C. Becker in "Schulzeitung für Schleswig-Holstein und Lauenburg, 1858, Seite 14.
    2) An der Richtigkeit dieser Auffassung wird nichts geändert, wenn wir uns der Ausdrucksweise der neueren Theorie anschließen und nur von Unterschieden in der Wellenlänge der Ätherschwingung bei den verschiedenen Strahlen sprechen, da solche Differenzen doch jedenfalls auch rein objektiven Charakters sind, - denn nur hierauf kommt es an, nicht darauf, ob die Sonderung und Verschiedenartigkeit eine von rein mechanischer oder tiefergehender wahrhaft qualitativer Natur ist.
    3) Seitdem ich Obiges geschrieben habe, hat sich der darin ausgesprochene Wunsch schon in überaus dankenswerter Weise zum Teil erfüllt: der Akademie-Vortrag Czermaks über Schopenhauers Farbentheorie verbindet auf das Ansprechendste die strenge Gerechtigkeit des verwerfenden Kritikers mit billiger Anerkennung des von Schopenhauer trotz alledem für dieses Problem wirklich Geleisteten und hat zugleich vom Schreiber dieses als eine ihm persönlich besonders wertvolle Bestärkung in längst gehegten Anschauungen freudigst bewillkommnet werden müssen.