L. Bussevon RümelinM. SchlickB. Erdmann | |||
Zum Begriff des Wesens [2/2]
III. Das Motiv der philosophischen Lehren der letzten Jahrzehnte war eine Neubesinnung auf die alte Sorge des bürgerlichen Denkens um absolut gewisse, voraussetzungslose, allgemeingültige Erkenntnis. In dieses erkenntnistheoretische Ideal hatte sich die Sorge um die selbstgewisse kritische Freiheit des Individuums verwandelt; die verschiedenen Formen der transzendentalen Reduktionen spiegelten die verschiedenen Stadien der geschichtlichen Entwicklung dieses Denkens bis zur Anpassung an die anti-individualistische und anti-rationalistische Ideologie der Gegenwart. Aus ihr ist das "Interesse der Freiheit" ebenso wie das Interesse am wirklichen Glück des Individuums verschwunden. Die gesellschaftlichen Gruppen, welche sich während ihres Aufstiegs zu den Trägern solcher positiver Tendenzen gemacht hatten, stehen ihnen unter den gegenwärtigen Herrschaftsformen feindlich gegenüber. Die kritischen Antriebe der Wesenslehre, welche sowohl die Eidetik wie der Positivismus fallen gelassen hatte, gehen in die materialistische Theorie ein, - aber der Wesensbegriff erhält in ihr eine neue Gestalt. Diese Theorie begreift die Sorge um das Wesen des Menschen durch ihre gegenwärtige Form verändernde Praxis. Sie transzendiert also die gegebene Tatsächlichkeit auf eine andere Möglichkeit, die unmittelbare Erscheinung auf das in ihr erscheinende Wesen. Aber Wesen und Erscheinung werden hier zu Gliedern eines realen Gegensatzes, der aus der bestimmten geschichtliche Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses entspringt. In ihr erscheint das Wesen des Menschen und der Dinge: das, was der Mensch und die Dinge eigentlich sein können, in einer "schlechten", "verkehrten" Form; zugleich jedoch auch die Möglichkeit, eine solche Verkehrung aufzuheben und das, was sein kann, in der Geschichte zu verwirklichen. Dieser antagonistische Charakter des Lebensprozesses in seiner heutigen Situation macht den Gegensatz von Wesen und Erscheinung zu einem dialektischen Verhältnis und dieses Verhältnis zu einem Gegenstand der Dialektik. Die materialistische Theorie nimmt den Wesensbegriff dort auf, wo er zum letztenmal in der Philosophie als ein dialektischer Begriff behandelt worden ist: in HEGELs "Logik". Wesen und Erscheinung sind für Hegel zwei Weisen des Seins, die untereinander in einem Wirkungszusammenhang stehen, so daß die Existenz der Erscheinung die Aufhebung des bloß ansichseienden Wesens voraussetzt. Das Wesen ist nur Wesen, indem es erscheint, also aus seinem bloßen Ansichsein heraustritt: "das Wesen muß erscheinen". Und die Erscheinung wird als das Erscheinen des Ansichseienden "das, was das Ding ansich ist oder seine Wahrheit." (41) "Das Wesen ist daher nicht hinter oder jenseits der Erscheinung, sondern dadurch, daß das Wesen es ist, welches existiert, ist die Existenz Erscheinung." (42) HEGEL faßt das Wesen als einen Prozeß, in dem durch Aufhebung des "unmittelbaren Seins" "vermittelbares Sein" gesetzt wird: das Wesen hat Geschichte. Und im Sinn dieser Geschichte, in dieser Bewegung vom unmittelbaren "Sein" durch das "Wesen" zur vermittelten "Existenz" kommt wieder das kritische Motiv der Wesenslehre zur Wirkung. "Wenn dann ferner gesagt wird: Alle Dinge haben ein Wesen, so wird damit ausgesprochen, daß sie wahrhaft nicht das sind, als wie sie sich unmittelbar erweisen", "daß ihr unmittelbares Dasein nicht dem entspricht, was sie ansich sind." (43) Die Bewegung des Wesens steht unter der Aufgabe, diese schlechte Unmittelbarkeit aufzuheben und das Seiende als das zu setzen, was es ansich ist: "Von solcher Art ist nun überhaupt der Prozeß der Wirklichkeit. Diese ist nicht bloß ein unmittelbar Seiendes, sondern, als das wesentliche Sein, Aufhebung ihrer eigenen Unmittelbarkeit und dadurch sich mit sich selbst vermittelnd." (44) Indem das Wesen als ein "gewordenes", als ein "Resultat" begriffen wird, das selbst wieder als Resultat zu erscheinen hat und zu den dynamischen Kategorien des Unwesentlichen, des Scheins und der Erscheinung in Beziehung tritt, wird es als das Glied eines Prozesses gefaßt, der zwischen dem unmittelbaren Sein, seiner Aufhebung zum Wesen (als seinem Ansichsein) und der Verwirklichung dieses Wesens statthat. Aber bei HEGEL bleibt der Prozeß ein ontologischer: es ist das Sein des Seienden, das ihn durchmacht und sein Subjekt ist. Es erweist sich eben dadurch als Logos, als "Vernunft". Die Bewegung, in der das unmittelbare Sein zum Wesen als zu seinem Ansichsein "erinnert" wird, die "Reflexion", in der die Unmittelbarkeit aufgehoben und als vermittelte Existenz wieder gesetzt wird, ist eine Bestimmung des Seins selbst, eben des Seins als Wesen. "Das Wesen als solches ist eins mit seiner Reflexion, und ununterschieden ihre Bewegung selbst." (45) Es ist nicht der Mensch, der sich des Wesens erinnert, das ihm entgegenstehende Seiende ergreift, seine schlechte Unmittelbarkeit aufhebt und aus der Erkenntnis des Wesens heraus neu setzt; vielmehr geschieht bei HEGEL all dies im vernünftigen Sein selbst, und der Mensch nimmt an diesem Prozeß nur als erkennendes Subjekt teil, sofern er selbst vernünftiges Sein ist. HEGELs Lehre vom Wesen enthält schon alle Momente einer geschichtlich-dynamischen Theorie des Wesens, aber in einer Dimension, in der sie überhaupt nicht zur Wirkung kommen. Das Wesen ist eine Bewegung, eine Bewegung jedoch, in der es keine faktische Veränderung mehr gibt, die schon ganz in sich selbst und bei sich selbst bleibt. "Das Wesen ist absolute Einheit des An- und Fürsichseins; sein Bestimmen bleibt daher innerhalb dieser Einheit und ist kein Werden noch Übergehen"; es ist "die Bewegung des Werdens und Übergehens, das in sich selbst bleibt." (46) Die Spannung zwischen Seinkönnendem und Daseiendem, zwischen Ansichsein (Wesen) und Erscheinung ist in die Struktur des Seins selbst verlegt und geht als solche allem faktisch Seienden immer schon voran. HEGELs Wesenslehre bleibt eine transzendentale Theorie. Wenn die materialistische Dialektik als Theorie der Gesellschaft wieder vor den Gegensatz von Wesen und Erscheinung gestellt ist, so gewinnt jetzt - gemäß der diese Theorie führenden Sorge um den Menschen - das kritische Motiv der Wesenslehre eine bisher unbekannte Schärfe. Die Spannung zwischen dem Seinkönnenden und dem Daseienden, zwischen dem, was der Mensch und die Dinge sein können, und dem, was sie faktisch sind, ist einer der zentralen Hebel der Theorie. Sie sieht in ihr keine transzendentale Struktur des Seins und eine unveränderliche ontologische Differenz, sondern ein geschichtliches Verhältnis, das auf dieser Erde und von diesen Menschen aufzuheben ist: einen Stachel für die Erkenntnis, zum Moment der verändernden Praxis zu werden. Daß die Erscheinung nicht unmittelbar mit dem Wesen zusammenfällt, daß die ansichseienden Möglichkeiten nicht verwirklicht sind, daß das Besondere zum Allgemeinen im Gegensatz steht, daß einerseits der Zufall und andererseits die blinde Notwendigkeit herrscht: in diesen Sachverhalten liegen Aufgaben, die der erkennenden Praxis der Menschen gestellt sind. Für die mit ihr verbundene Theorie hat der Satz, daß alle Wissenschaft überflüssig wäre, wenn "die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen" (47), einen neuen Sinn. Was bedeutet hier das Auseinanderfallen von Wesen und Erscheinung, und welcher Art ist hier die Transzendenz von der Erscheinung zum Wesen? Dem die materialistische Dialektik leitenden Interesse erscheint ihr Gegenstand: die Totalität des gesellschaftlichen Lebensprozesses, als eine in sich vieldimensionale, gegliederte Struktur, in der keineswegs alle Gegebenheiten dieselbe Relevanz, dieselbe Art von "Tatsächlichkeit" haben. Es gibt Phänomene, die mehr auf der Oberfläche liegen, und solche, die zum zentralen Mechanismus gehören. So ergibt sich eine erste, noch ganz formale Ausgliederung des Wesens als des Wesentlichen: in einem allgemeinsten Sinn ist das Wesen die Totalität des gesellschaftlichen Prozesses, wie er in einer bestimmten historischen Epoche organisiert ist. In Relation zu ihm ist jedes einzelne Moment, als isoliert Einzelnes genommen, insofern "unwesentlich", als erst seine Beziehung zum Ganzen des Prozesses sein "Wesen" einsehen läßt, d. h. den Begriff des wirklichen Inhalts einer Erscheinung gibt. Innerhalb des Ganzen dieses Prozesses zeigt sich nun eine zweite Strukturgliederung derart, daß die verschiedenen Schichten der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wenn auch miteinander in Wechselwirkung, doch auf einer Grundschicht fundiert sind. Die Weise dieser Fundierung entscheidet über den Lebensprozeß. In der gegenwärtigen Epoche der Menschheit ist die Ökonomie als die fundierende Schicht derart zum "Wesentlichen" geworden, daß alle anderen Schichten zu ihrer "Erscheinungsform" geworden sind. - Eine dritte Bedeutung der Differenz von Erscheinungsform und Wesen innerhalb der materialistischen Theorie führt weiter in die Konkretion ihres Gegenstandes hinein. In der historischen Gestalt, in der der gesellschaftliche Prozeß organisiert ist: in den Antagonismen des kapitalistischen Produktionsprozesses ist es begründet, daß die zentralen mit diesem Prozeß verknüpften Phänomene den Menschen nicht unmittelbar als das erscheinen, was sie "in Wirklichkeit" sind, daß sie sich vielmehr verdeckt, in einer "verkehrten" Form darstellen. So die Arbeitsverhältnisse, die Formen der politischen und sozialen Hierarchie, die Institutionen des Rechts, der Erziehung, der Wissenschaft: ihre Erscheinungsform verbirgt sowohl ihren Ursprung wie ihre wahre Funktion im Gesamtprozeß der Gesellschaft. Sofern die Individuen und Gruppen in ihrem Handeln und Denken durch die unmittelbare Erscheinung dieser Gegenstände bestimmt werden, sind sie nicht etwa bloße Erscheinungen, sondern selbst wesentliche Faktoren für den Ablauf des Prozesses und für die Aufrechterhaltung seiner Organisation. Aber in diesem Ablauf wird ein Stadium erreicht, wo es möglich ist, in der Erscheinungsform das Wesen zu begreifen und die Differenz von Wesen und Erscheinung als eine geschichtliche Gestalt der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen. Die Weise dieser Differenz und die in ihr gründende doppelte Begrifflichkeit der materialistischen Theorie wird später noch zu umschreiben sein. Die drei hier vorläufig aufgestellten Bedeutungen der Differenz von Wesen und Erscheinung in der materialistischen Theorie lassen schon auf eine erste Art die Grundcharaktere des dialektischen Wesensbegriffs erkennen: die Transzendierung der Tatsachen zum Wesen ist eine geschichtliche: sie versteht die gegebenen Tatsachen als Erscheinungen, deren Wesen nur im Zusammenhang bestimmter historischer Tendenzen zu begreifen ist, die auf eine andere Gestalt der Wirklichkeit abzielen. Das geschichtliche Interesse der Theorie geht konstitutiv in die Begriffsbildung ein und macht die Transzendenz der "Tatsachen" zum Wesen zu einer kritisch-polemischen: die Tatsachen werden an ihren realen Möglichkeiten gemessen und enthüllen sich als die "schlechte" Erscheinungsform eines Inhalts, der durch Aufhebung dieser Erscheinungsform gegen die mir ihr verbundenen Interessen und Kräfte zu verwirklichen ist. So unterscheidet sich dieser Wesensbegriff schon im ersten Zugang sowohl von den neutralen Wesenheit der Phänomenologie wie von der neutralen Nivellierung des Positivismus. Anstelle des erkenntnistheoretisch-statischen Verhältnisses von Wesen und Tatsache tritt das kritisch-dynamische Verhältnis von Wesen und Erscheinung als Glieder eines geschichtlichen Prozesses. Mit der grundsätzlichen Beziehung des Wesensproblems auf die gesellschaftliche Praxis erfolgt eine Umstrukturierung des Wesensbegriffs selbst in seiner Beziehung zu allen anderen Begriffen: eine Umstrukturieren auf das Wesen des Menschen hin. Die Sorge um den Menschen tritt in das Zentrum der Theorie; er soll aus der wirklichen Not und dem wirklichen Elend zu sich selbst befreit werden. Wenn derart nach dem Wesen des Menschen gefragt wird, so ist das Verhältnis von Wesen und Erscheinung als ein geschichtliches Miß-Verhältnis gesetzt: auf dem erreichten Stadium der Entwicklung der Menschheit sind reale Möglichkeiten einer Erfüllung des menschlichen Lebens in allen Bereichen vorhanden, die durch die gegenwärtige Form des gesellschaftlichen Lebensprozesses nicht verwirklicht werden. Der Begriff des Seinkönnenden, der ansichseienden Möglichkeiten gewinnt hier einen genau faßbaren Sinn. Was der Mensch in einer gegebenen geschichtlichen Situation sein kann, läßt sich umschreiben unter Berücksichtigung folgender Faktoren: das Maß der Verfügung über die natürlichen und gesellschaftlichen Produktivkräfte, der Stand der Organisation der Arbeit, die Entwicklung der Bedürfnisse im Verhältnis zu ihrer Erfüllbarkeit (vor allem das Verhältnis des zur Reproduktion des Lebens Notwendigen zu den "freien" Bedürfnissen nach Genuß und Freude, nach dem "Schönen" und "Guten"), der Reichtum an kulturellen Werten auf allen Lebensgebieten, der als anzueignendes Material vorliegt. Eine solche Wesensbestimmung impliziert schon die ganze Theorie der Geschichte, welche die Totalität der Lebensverhältnisse aus der Weise der gesellschaftlichen Organisation der Menschen entwickelt und zugleich das methodische und begriffliche Werkzeug bereitstellt, das die Erkenntnis der jeweils wirksamen geschichtlichen Tendenzen ermöglicht. Auf dem Boden dieser Theorie wird das Wesen des Menschen im Zusammenhang mit den Tendenzen begriffen, die auf eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens abzielen: als die "Idee" dessen, was die Praxis verwirklichen soll. Das so gesehene Bild des Menschen stellt nicht nur das dar, was heute schon aus dem Menschen gemacht werden kann, was "ansich" heute schon sein kann, sondern es entspricht auch - das ist der polemische Anspruch, den die Theorie mit einem solchen Wesensbegriff erhebt - der realen Erfüllung all dessen, was der Mensch selbst sein will, wenn er sich in seinen Möglichkeiten begreift. Mit diesem Anspruch an das Wesen des Menschen weist die Theorie von seiner gegenwärtigen schlechten Erscheinungsform auf eine Menschheit, welche über die ihr vorliegenden Güter so verfügt, daß sie nach den wirklichen Bedürfnissen der Allgemeinheit verteilt werden. Eine Menschheit, welche die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebensprozesses planmäßig selbst in die Hand nimmt und nicht dem Zufall der Konkurrenz und der blinden Notwendigkeit verdinglichter ökonomischer Verhältnisse überläßt. Eine Menschheit, welche die Macht der Arbeitsbedingungen über das Leben, die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Arbeitsmitteln aufhebt und die Arbeit zu einem Mittel des Lebens macht, statt das Leben in den Dienst der Arbeit zu stellen. Eine Menschheit, welche die kulturellen Werte nicht zu einem Privileg und zu einem Gegenstand der "Freizeit" herabwürdigt, sondern sie wirklich mit dem allgemeinen Dasein verbindet. Von der Utopie unterscheiden sich solche Wesensbestimmungen dadurch, daß die Theorie die konkreten Wege ihrer Realisierung aufzeigen und auf die heute schon bestehenden Versuche ihrer Verwirklichung hinweisen kann. Diese Einsichten können allerdings nicht in kontemplativer Haltung gewonnen werden, und die sie aufnehmende Erkenntnis beruft sich, um sie zu rechtfertigen, auf keine Evidenz der bloßen Anschauung, ebensowenig auf ein allgemeingültiges Wertesystem, in dem sie verankert seien. Die Wahrheit dieses Wesensbildes ist in der Not und im Leiden der Menschheit, in ihrem Kampf um seine Überwindung, in dem es zuerst sichtbar wurde, besser aufgehoben als in den Formen und Begriffen des reinen Denkens. Sie ist "unbestimmt" und bleibt notwendig unbestimmt, sofern sie an der Idee der unbedingt gewissen Erkenntnis gemessen wird. Denn sie wird nur durch die geschichtliche Tat erfüllt, und ihre Konkretion kann immer erst "post festum" [im Nachhinein - wp] erfolgen. Indem anstelle der Sorge um die absolute Gewißheit und Allgemeingültigkeit der Erkenntnis, die in der traditionellen Lehre vom Wesen herrschend war, die Sorge um die geschichtliche Praxis tritt, hört der Wesensbegriff auf, ein Begriff der reinen Theorie zu sein; er kann daher auch nicht mehr im bloßen Denken und in der bloßen Anschauung Erfüllung finden. Das heißt nicht, daß er auf Wahrheit verzichtet oder sich mit einer "Wahrheit" begnügt, die nur für bestimmte Individuen und Gruppen gültig wäre. (48) Aber seine Ausweisung geschieht nur innerhalb des ganzen Begründungszusammenhangs der Theorie, in der er seine Stelle hat und selbst wieder durch alle anderen Begriffe gestützt wird. Ein erstes Kriterium für die objektive Wahrheit der innerhalb der dialektischen Theorie vorgenommenen Trennung von Wesen und Erscheinung ist die Eignung des jeweiligen Wesensbegriffs, als Leitidee für die Erklärung eines gegebenen Zusammenhangs von Erscheinungen zu dienen. Wenn der zur Erklärung eines solchen Zusammenhangs (z. B. der politischen Machtkonstellation von Staaten in einer bestimmten Epoche, ihrer Bedürfnisse und Gegensätze) als "wesentlich" in Anspruch genommene Sachverhalt (z. B. der "Imperialismus") es ermöglicht, sowohl die Situation in ihren einzelnen Phasen wie die in ihr wirksamen Tendenzen kausal zu begreifen, dann ist er wirklich das Wesentliche in jener Mannigfaltigkeit von Erscheinungen. Diese Wesenbestimmung ist wahr: sie hat sich innerhalb der Theorie "bewährt". Doch die sie tragenden Theorie ist ihrerseits wieder ein Faktor in den geschichtlichen Kämpfen: nur in ihnen kann die endgültige Ausweisung ihrer wesentlichen Wahrheiten statthaben. (49) Und gerade aus der Geschichtlichkeit der dialektischen Begriffe erwächst eine neue Art von "Allgemeingültigkeit" und Objektivität. Der materialistische Wesensbegriff ist ein geschichtlicher Begriff. Das Wesen wird nur faßbar als das Wesen einer bestimmten "Erscheinung", im Hinblick von ihr, von ihrer faktischen Gestalt, auf das, was sie ansich ist und sein könnte (aber faktisch nicht ist). Dieses Verhältnis aber entsteht in der Geschichte und ändert sich in der Geschichte. Die traditionelle Wesenslehre hat gegen jeden Versuch einer "Historisierung" des Wesensbegriffs eingewandt, daß der Hinblick von der faktisch gegebenen Erscheinung auf ihr Ansichsein schon vom "Haben" dieses Ansichseins geleitet sein muß, daß im "Messen" der Erscheinung an ihrem Wesen, ja im bloßen Ansprechen eines Seienden als "Erscheinung", die nicht mit ihrem Ansichsein unmittelbar zusammenfällt, das Bild des Wesens immer schon gesehen sein muß. Hier liegt seit PLATOs Ideenlehre ein Hauptmotiv für die Ansetzung des Wesensbegriffs als eines apriorischen. - Ein Apriori ist hier in der Tat wirksam, aber es ist selbst ein Index für die Geschichtlichkeit des Wesensbegriffs: er führt in die Geschichte zurück, nicht aus ihr hinaus. Das je schon gehabte Bild des Wesens ist gestaltet durch die Erfahrung, welche die Menschheit in ihrer Geschichte gemacht hat und welche in der vorliegenden Gestalt der Wirklichkeit aufbewahrt ist, so daß sie "erinnert" und zum Wesen "gereinigt" werden kann. Alle geschichtlichen Kämpfe um eine bessere Gestaltung der elenden Daseinsverhältnisse, aber auch alle religiösen und ethischen Idealvorstellungen, welche die leidende Menschheit sich von einer gerechteren Ordnung der Dinge gemacht hat, sind im dialektischen Wesensbegriff des Menschen aufbewahrt und zu Momenten der gesellschaftlichen Praxis geworden, die mit ihm verbunden ist. Auch noch nie realisierte Möglichkeiten können erfahren werden: sie lassen sich als Kräfte und Tendenzen aus der Wirklichkeit ablesen. Das Apriori des Wesensbegriffs ist keineswegs immer als ein transzendental-übergeschichtliches aufgefaßt worden, und die Anzeige der Vergangenheit (des Gewesenen) im Wesensbegriff kann als Hinweis auf ein geschichtliches Verhältnis verstanden werden. (50) ARISTOTELES' Bestimmung des ti en einai [des Wesenswas - wp], HEGELs "Erinnerung" des Seins zum Wesen (51) deuten auf diesen Sachverhalt. HEGEL spricht vom Wesen als vom "zeitlos vergangenen" Sein. Vergangen: denn es ist ein Bild des Ansichseins, dem das unmittelbare Dasein nicht mehr entspricht; zeitlos: denn die Erinnerung hat es aufbewahrt und dem Vergehen entrissen. In der idealistischen Philosophie behält die zeitlose Vergangenheit die Herrschaft über den Wesensbegriff. Wenn aber die Theorie sich mit den vorwärts gerichteten Kräften der Geschichte verbindet, wird die Erinnerung an das, was eigentlich sein kann, zu einer zukunftsgestaltenden Macht. Die Aufzeigung und Festhaltung des Wesens wird zur Leitidee der verändernden Praxis. Hier erst wird der ganze Unterschied des materialistischen Wesensbegriffs zu den Wesensbegriffen der idealistischen Philosophie deutlich. Wie sein Inhalt ein geschichtlich-praktischer ist, so steht auch die Weise seiner Erfassung unter geschichtlich-praktischen Voraussetzungen. Er wird nicht zum Gegenstand in der kontemplativen Rezeptivität der Anschauung; er ist aber auch nicht eine Synthesis der Spontaneität des reinen Verstandes. Seine Bestimmung geschieht im Zusammenhang der historischen Zielsetzungen, mit denen die materialistische Theorie verbunden ist. Die aus ihnen sich ergebenden Interessen spielen nicht nur bei der Festhaltung des Wesens und des Wesentlichen mit, - sie gehen vielmher in den Inhalt des Wesensbegriffs ein. Und doch erfüllen sich die besonderen Interessen der Theorie in einer wirklichen "Allgemeinheit", deren materiale Objektivität anstelle der formalen Allgemeingültigkeit des idealistischen Wesensbegriffs schließlich die Ausweisung des Wesens als Wesens leistet. Die Interessenbestimmtheit der Theorie hat auch der Positivismus zugegeben: "wissenschaftliche Forschungsrichtungen sind ... gesellschaftlich niemals neutral, wenn sie auch nicht immer im Mittelpunkt sozialer Kämpfe stehen"; die Art der "Aussagesysteme", die aufgestellt werden, hänge von der "sozialen Lage" ab, "in der sich die Gruppe befindet, von der diese Forschung gefördert oder geduldet wird." (52) Aber der Positivismus schließt daraus nur, daß die aufzustellenden Hypothesensysteme auf mehr als eine Art möglich sind und daß alle solche Arten der Forderung der Widerspruchsfreiheit und Vereinbarkeit mit den "Beobachtungsaussagen" genügen können. Für ihn sind die verschiedenen Interessen der Theorien entweder gegenüber der Erkenntnis gleich-gültig (wie die "Tatsachen"), oder sie werden als die "persönlichen" Wertungen des Forschers zur Ausgleichung des Unbestimmtheitsfaktors in die Aussagensysteme hineingenommen. Die materialistische Theorie hingegen tritt gerade kraft des sie leitenden besonderen Interesses allen anderen Theorien gegenüber mit einem Wahrheitsanspruch auf, für den der wertfreie Positivismus überhaupt keinen Boden hat. Sie vertritt unter den vielen gesellschaftlichen Interessen ein und nur ein Interesse, und dieses eine Interesse soll sich als "allgemeines" bewähren. Der hier auftretende Anspruch auf Allgemeinheit und Objektivität ist total verschieden von allen ähnlichen Ansprüchen der philosophischen Theorie. Er ist logisch und erkenntnistheoretisch vorher niemals als solcher ausweisbar. Negativ läßt er sich gegen alle anti-rationalistischen Lehren dadurch abgrenzen, daß sich alle Aussagen der Theorie vor der kritischen Vernunft der Menschen rechtfertigen müssen; so bleibt auch in der Theorie das "Interesse der Freiheit", das der Vernunftphilosophie ursprünglich zugrunde lag, gewahrt. Aber das ist nicht alles. Die besonderen Interessen dieser Theorie gehen auf eine Organisation des Lebens, in der das Schicksal der Individuen nicht mehr vom Zufall und von der blinden Notwendigkeit unbeherrschter ökonomischer Verhältnisse, sondern von der planmäßigen Gestaltung der gesellschaftlichen Möglichkeiten abhängig ist. In einer solchen Gesellschaft können die besonderen Interessen in einer Allgemeinheit aufgehoben sein, die deshalb eine konkrete und nicht mehr nur eine abstrakte ist, weil nun die bisher unbewältigt liegengebliebenen materiellen Lebensverhältnisse in den allgemeinen Plan hineingenommen und aus der gesellschaftlichen Freiheit der Individuen heraus gestaltet, d. h. mit dem "Wesen" des Individuums verbunden werden können. Am Ende des Weges, wenn die bisherigen gesellschaftlichen Gegensätze in einer solchen Allgemeinheit überwunden sind, schlägt die "Subjektivität" der Theorie, in die Objektivität um: in der Gestalt eines Daseins, wo die Interessen der Einzelnen wahrhaft bei der Gesamtheit aufgehoben sind. Aber eine solche materiale Allgemeinheit der Theorie setzt einen völligen Wechsel ihres Subjekts voraus. Das Bewußtsein, auf das diese Allgemeinheit bezogen ist, ist nicht mehr das isolierte abstrakte Individuum der idealistischen Philosophie: es steht nicht mehr am Anfang des Denkens, als das fundamentum inconcussum [nicht weiter kritisierbare Grundlage - wp] der Wahrheit, und nicht mehr am Ende als Träger der Freiheit des reinen Wollens und des reinen Erkennens. Die Theorie ist auf ein anderes Subjekt übergegangen: ihre Begrifflichkeit ist getragen vom Bewußtsein bestimmter Gruppen und Individuen, die um eine vernünftigere Organisation bestimmter Gruppen und Individuen, die um eine vernünftigere Organisation der Gesellschaft im Kampf stehen. Erst von dem so veränderten geschichtlichen Standort aus kann die Theorie ein Desiderat erfüllen, um das sich die Philosophie in den letzten Jahrzehnten vergeblich bemüht hat. DILTHEYs Lebenswerk kann als der Versuch betrachtet werden, an die Stelle des abstrakten erkenntnistheoretischen Subjekts, das seit DESCARTES am Anfang des Philosophierens steht und in dessen Adern "nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit" fließt, den konkreten geschichtlichen Menschen in seinem "realen Lebensprozeß" zu setzen. (53) Seit DILTHEY haben die verschiedenen Richtungen der Lebensphilosophie und Existenzphilosophie sich um die konkrete "Geschichtlichkeit" der Theorie bemüht; auch die Phänomenologie wurde (wie schon erwähnt) als die Philosophie konkreter Sachlichkeit verstanden. Alle diese Bestrebungen mußten scheitern, weil sie (anfangs unbewußt, später bewußt) gerade mit jenen Interessen und Zielsetzungen verbunden waren, deren Theorie sie bekämpfen wollten; die Voraussetzung der Abstraktheit der bürgerlichen Philosophie: die faktische Unfreiheit und Ohnmacht des Individuums in einem anarchischen Produktionsprozeß, wurde von ihnen nicht angegriffen. So wurde der Platz der abstrakten Vernunft hier von einer ebenso abstrakten "Geschichtlichkeit" eingenommen, die bestenfalls zu einem alle gesellschaftlichen Gruppen und Ordnungen gleich-gültig ansprechenden Relativismus kam. Indem sie sich mit jenen gesellschaftlichen Kräften verbindet, die durch die geschichtliche Situation als die fortschrittlichen und wirklich "allgemeinen" ausgezeichnet sind, steht die materialistische Theorie jenseits des historischen Relativismus. Sie versteht alle Theorie als einen Faktor im gesellschaftlichen Lebensprozeß, der von bestimmten geschichtlichen Interessen getragen ist. Solche Interessen haben sich in der bisherigen Theorie meist "hinter ihrem Rücken" unbewußt durchgesetzt. Wie nun der Produktionsprozeß selbst, wenn er nicht mehr gleichsam unbewußt und zufällig und daher in einer schlechten Form die Reproduktion des Lebens leistet, sondern diese zu seiner bewußten planmäßigen Aufgabe macht, seinen ganzen Inhalt verändert und eine bessere Form der Reproduktion bewirkt, so verändert sich auch der begriffliche Inhalt der Theorie, die ihr Interesse bewußt unter diese Aufgabe stellt, derart, daß sich in ihm jetzt in wahrer Form darstellt, was früher nur unbewußt mitspielte. Solcherart ist das Verhältnis des geschichtlichen Wesensbegriffs zu den allgemeinen Wesensbegriffen der Tradition. Auch hinter ihnen stehen konkrete geschichtliche Zielsetzungen; sie sind erst im Laufe der Tradition zu formal-allgemeinen Strukturbegriffen abgeschwächt worden, wobei ihre ganze Dynamik verloren ging. Indem sie wieder als geschichtliche Begriffe verstanden werden, wird ihnen die ursprüngliche kritische Spannung zur Realität zurückgegeben. Was an ihnen wahr ist, wird im materialistischen Wesensbegriff aufgehoben und entsprechend der veränderten geschichtlichen Situation zum Ausdruck gebracht. ARISTOTELES' Lehre vom Wesen des Menschen ist nicht in seiner allgemeinen "Definition" des Menschen als zoon logon exon, zoon politikon faßbar: zu ihr gehört seine Metaphysik ebenso wie seine Ethik, Politik, Rhetorik und Psychologie, die in die Begriffe logos, politikon, zoon eingehen; zu ihr gehört seine Ansetzung von Herrschaft und Knechtschaft als Seinsverhältnissen ebenso wie seine Ansicht über die Stellung der materiellen Arbeit in der Gesamtheit der Lebensgebiete. In der spätantiken und mittelalterlichen Übersetzung von logos mit Ratio und der Bestimmung des Menschen als "rational" wird die Einordnung des Seins des Menschen in das Weltbild der christlichen Theologie vollzogen; die aristotelische Definition erfährt eine totale Sinnveränderung, obgleich sie dem Wortlaut nach dieselbe scheint. Später dient die Inanspruchnahme der Vernunft als des Wesentlichen am Menschen dazu, die Freiheit des autonomen Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft zu proklamieren; zugleich werden damit aber auch, indem der Mensch nur als Vernunftwesen frei ist, ganze Dimensionen der Lebensverhältnisse zu "unwesentlichen" Verhältnissen, die dem menschlichen Wesen nichts anhaben können. Für KANT gehören "Herr und Knecht sein" zu den "außerwesentlichen Merkmalen" des Menschen (54), die ein nur zufälliges und "äußeres Verhältnis desselben" bezeichnen. Die bei ARISTOTELES bestehende wesentliche Verbindung von Herr- oder Knechtsein mit einem bestimmten Haben des Logos (55), der Vernunft, ist jetzt völlig gelöst. Das Außerwesentlich-werden von Beziehungen, die ursprünglich als wesentlich galten, bedeutet eine totale Veränderung des Inhalts des Wesensbegriffs, obgleich die Vernunft als Dimension der Wesensbestimmung festgehalten ist. Daß Herrschaft und Knechtschaft jetzt als zufällig und außer-wesentlich erscheinen, darin kommt die andere Gestalt der gesellschaftlichen Organisation der Menschheit zur Wirkung, der dieser Wesensbegriff zugehört. Die, vom Wesen des Menschen aus gesehen, bloße Zufälligkeit von Herr- und Knechtsein ist ein Werk der blinden Notwendigkeit, als welche die Macht der verdinglichten Arbeitsbedingungen über die Produzenten erscheint. Die Zufälligkeit ist als solche erkannt, - ihr Grund ist noch nicht eingesehen. Wie die "äußeren Verhältnisse" nicht nach den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Menschen, nicht nach seinem "Wesen" gestaltet sind, bleiben sie auch außerhalb der philosophischen Wesensbestimmung als zufällig liegen. Die Wesensbestimmung des Menschen, welche die "äußeren Verhältnisse" wie Herrschaft und Knechtschaft, die Stellung des Individuums im materiellen Produktionsprozeß nicht in die "wesentlichen Merkmale" aufnimmt, ist wahr, sofern sie den Menschen so begreift, wie er in der bürgerlichen Geschichtsepoche wirklich existiert. Darüberhinaus hat sie keine Gültigkeit. Wenn die vergesellschafteten Individuen die Gestaltung des Lebensprozesses selbst übernommen und die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse zu einem Werk ihrer Vernunft und ihrer Freiheit gemacht haben, wird das Ansichsein des Menschen mit seinem Dasein in neuer Weise verbunden sein. Was früher zufällig und außer-wesentlich war, wird jetzt die Erfüllung eigenster Möglichkeiten darstellen. Der Mensch wird nicht mehr als freies Vernunftwesen gegen die zufälligen Lebensbedingungen, sondern als der freie und vernünftige Schöpfer seiner Lebensbedingungen, als der Schöpfer seines besseren und glücklicheren Lebens "definiert" werden müssen. Die Bedeutung des Wesensproblems innerhalb einer materialistischen Theorie wurde bisher vor allem am Wesensbegriff des Menschen aufzuzeigen versucht. Er fungiert aber keineswegs nur als ein beliebiges Beispiel: gemäß der die Theorie leitenden Sorge um die wirklichen Menschen bezeichnen vielmehr die in seinem Umkreis liegenden Fragen das für die Erkenntnis schlechthin Wesentliche, auf das an jedem einzelnen Punkt der Theorie zurückzugreifen ist. Nicht in der hier vorgestellten abstrakten Form, sondern als Sachverhalte in einer gegebenen Situation der Gesamtgesellschaft, die sich in der geschichtlichen Praxis jeweils konkretisiert und verändert. Wie sich in diesem Zusammenhang auch noch eine Reihe von anderen Begriffen der Wesenslehre entfalten und einen verwandelten Sinn annehmen, soll im folgenden angedeutet werden. Das Wesen, um das es in der Begrifflichkeit der Theorie geht, erschien zunächst als die Möglichkeit des Menschen in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation, gespannt gegen sein unmittelbares Dasein. Die Verbindung des Wesensbegriffs mit dem Begriff der Möglichkeit ist so alt wie das Wesensproblem selbst: im aristotelischen Begriff der dynamis hat sie zuerst explizit eine philosophische Interpretation gefunden. In der nachmittelalterlichen Tradition wurde der Möglichkeits-Charakter des Wesens immer mehr von den Begriffen der Kraft, des Strebens, der Tendenz enfernt und zu einer Angelegenheit der (formalen und transzendentalen) Logik. HEGEL hat in der Lehre vom Wesen den Begriff der "realen Möglichkeit" restituiert: "Die formelle Möglichkeit ist die Reflexion-in-sich nur als die abstrakte Identität, daß Etwas sich in sich nicht widerspreche. Insofern man sich aber auf die Bestimmungen, Umstände, Bedingungen einer Sache einläßt, um daraus ihre Möglichkeit zu erkennen, bleibt man nicht mehr bei der formellen stehen, sondern betrachtet ihre reale Möglichkeit. Diese reale Möglichkeit ist selbst unmittelbare Existenz." (56) Die reale Möglichkeit existiert; als existierende kann sie von der Theorie erkannt, und als erkannte kann sie in der von ihr geleiteten Praxis ergriffen und zur Wirklichkeit werden. Für HEGEL besteht die Existenz der realen Möglichkeit einer Sache in der "daseienden Mannigfaltigkeit von Umständen, die sich auf sie beziehen." (57) Der idealistischen Dialektik ist diese Mannigfaltigkeit eine "gleichgültige"; in der materialistischen Dialektik ist sie gemäß den geschichtlichen Interessen der Theorie genau akzentuiert und im Handeln der Menschen und im Lauf der Dinge als Tendenz wirksam. Der Boden, auf dem sich ihre Bestimmung vollzieht, wurde schon angedeutet. Die Wirklichkeit, in der über das Wesen des Menschen entschieden wird, ist die Totalität der Produktionsverhältnisse. Sie ist keine bloße "daseiende Mannigfaltigkeit von Umständen", sie ist eine in ihrem Zusammenhang analysierbare Struktur, innerhalb welcher Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung, Verdecktes und Offensichtliches unterscheidbar sind. Ihr Inhalt ist die Erhaltung und Erneuerung der Gesamtgesellschaft: der eigentliche Produktions- und Reproduktionsprozeß aufgrund der in ihm nutzbar gemachten Produktivkräfte, mit der von ihm erreichten Technik. Die Form, in der dieser Inhalt existiert, ist der Ablauf des Produktionsprozesses als Verwertungsprozeß des Kapitals. Diese Form ist ablösbar von ihrem Inhalt: sie ist nur eine bestimmte historische Gestalt seiner Verwirklichung, in der Tendenzen wirksam sind, die auf die Aufhebung dieser Gestalt hinzielen. Von ihnen aus betrachtet tritt der Inhalt des Produktionsprozesses, unterschieden von seiner gegebenen Form und gesehen auf eine andere Form, in der er nicht mehr als Verwertungsprozeß des Kapitals abläuft, in den Modus der realen Möglichkeit. Dabei verliert der Inhalt nichts vom Charakter der Wirklichkeit: sein ganzer Reichtum, die Fülle der eroberten Produktivkräfte, die Kraft und Weite der ausgebildeten Arbeitsmethoden bleibt erhalten, ja ist selbst eine Bedingung für den Übergang in die neue Form. Der Inhalt ist Wirklichkeit in einer "schlechten" Form; er ist Möglichkeit, sofern seine Befreiung aus dieser Form, seine Realisierung in einer neuen Form erst noch durch die gesellschaftliche Praxis der Menschen geleistet werden muß, - aber auch unter den vorliegenden Bedingungen schon geleistet werden kann (wodurch erst die Möglichkeit zur realen wird). So erfüllt sich das dialektische Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit: "In der sich aufhebenden realen Möglichkeit ist es nun ein Gedoppeltes, das aufgehoben wird; denn sie ist selbst das Gedoppelte, Wirklichkeit und Möglichkeit zu sein." (58) Aufgehoben wird die Wirklichkeit, indem sie als bloße Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit begriffen ist; aufgehoben wird die Möglichkeit, indem sie (zu dieser anderen Wirklichkeit) realisiert wird. - Es zeigt sich am Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, Inhalt und Form etwas Entscheidendes, das für alle Weisen gilt, in denen der Gegensatz von Wesen und Erscheinung in der materialistischen Dialektik sichtbar wird: beide Glieder des Verhältnisses sind wirklich im ausgezeichneten Sinn. Die Form ist nicht etwa weniger wirklich als der Inhalt, sie hat nicht etwa nur eine "subjektive" oder "ideale" Existenz. Alle diese Unterscheidungen vollziehen sich im Rahmen der Totalität der gesellschaftlichen Faktizität und verändern sich in ihr. Sie selbst wird nirgends transzendiert: auch nicht durch Begriffe wie "Wesen" und "Möglichkeit". Aber ihre geschichtliche Erscheinung ist jeweils von bestimmten Interessen und Kräften gestaltet. Sie werden transzendiert auf andere Interessen und Kräfte hin, von denen dieses Transzendieren selbst geleitet ist. Das Wesen gehört einem anderen Interessen- und Kräftebereich an als die Erscheinung, die Möglichkeit einem anderen als die Wirklichkeit, der Inhalt einem anderen als die Form. Und doch sind die Unterschiede hiermit nicht der gleichgültigen Beliebigkeit ausgeliefert. Sie sind wahr auch für die entgegenstehenden Kräfte. Die Begriffe, mit denen sie erfaßt wurden, begreifen die gesellschaftliche Totalität von einer Zielsetzung aus, welche die besonderen Ziele der Individuen in der wirklichen Allgemeinheit aufheben will. Die Begriffsbildung der materialistischen Theorie zeigt in ihrer gegenwärtigen Gestalt eine in der Struktur ihres Gegenstandes begründete dialektische Zwiespältigkeit. Diese Zwiespältigkeit entspringt aus dem antagonistischen Charakter des gesellschaftlichen Lebensprozesses: ineins Produktionsprozeß und Verwertungsprozeß des Kapitals zu sein. Von hier aus entfaltet sich der Antagonismus auf allen Gebieten des Lebens. Er bewirkt die Differenz zwischen wahrem und falschem Bewußtsein (das Bewußtsein der richtigen Theorie, welches die Form des Produktionsprozesses auf seinen Inhalt transzendiert, und das Bewußtsein diesseits einer solchen Transzendierung, das die geschichtliche Form des Produktionsprozesses für eine ewig-gültige Gestalt hält), und dieser Differenz entsprechen zwei verschiedene Erscheinungsweisen der Phänomene - je nachdem, welchem Bewußtsein sie sich darstellen, von welchem Bewußtsein aus sie betrachtet werden. Die Verselbständigung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnisse gegenüber den Individuen, welche die kapitalistische Form der Produktionsprozesses notwendig herbeiführt, ist der Grund der Verdeckungen und Verkehrungen gesellschaftlich entscheidender Sachverhalte im Bewußtsein der Subjekte dieses Prozesses. Erst jetzt kann die Notwendigkeit der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung in allen ihren Arten durchsichtig werden. Dem Bewußtsein der von den verdinglichten Beziehungen ihres Lebensprozesses beherrschten Menschen stellen sich diese Beziehungen in einer "verkehrten" Form dar, die ihrem eigentlichen Inhalt: ihrem Ursprung und ihrer faktischen Funktion in diesem Prozeß nicht entspricht. Aber sie sind deshalb nicht etwa irgendwie "unwirklich". Gerade in ihrer verkehrten Form und als Motive und "Posten" im rechnenden Bewußtsein der den Produktionsprozeß beherrschenden Gruppen sind sie sehr reale Faktoren, welche den zu Objekten gewordenen unmittelbaren Produzenten zunächst als selbständige, blind-notwendige Mächte gegenübertreten. Es ist die Aufgabe der Theorie, die auf eine Aufhebung solcher Verkehrung abzielt, die Erscheinung auf ihr Wesen zu transzendieren und den Inhalt so zu entfalten, wie er sich dem wahren Bewußtsein darstellt. Die Spannung von Wesen und Erscheinung, eigentlicher Möglichkeit und unmittelbarem Dasein spiegelt sich auf dieser Stufe neu in den konkreten Begriffen, mit denen die Theorie den gesellschaftlichen Lebensprozeß in seinem antagonistischen Charakter zu erfassen versucht. Sie gehören zwei sehr verschiedenen Schichten an: die einen treffen die Phänomene in ihrer verdinglichten Gestalt, so wie sie unmittelbar erscheinen, - die anderen zielen auf ihren wirklichen Inhalt, wie er der Theorie unter Aufhebung dieser Erscheinungsform entgegentritt. So arbeitet die MARXsche Ökonomie mit zwei entsprechend den beiden Schichten verschiedenen Begriffsreihen. Die eine Reihe beschreibt den ökonomischen Prozeß so, wie er unmittelbar als Produktion und Reproduktion erscheint, d. h. sie abstrahiert von seinem Charakter als Kapitalverwertungsprozeß. Hierher gehören Begriffe wie Unternehmergewinn und Arbeitslohn, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die durch sie gekennzeichneten Verhältnisse sind, obwohl nur eine Erscheinungsform der Dinge, "wirklich"; sie bestimmen das Denken und Handeln der Menschen als der Subjekte und Objekte dieses Prozesses. - Die zweite Reihe begreift denselben Prozeß in seiner antagonistischen Einheit von Produktions- und Kapitalverwertungsprozeß und bezieht jeden einzelnen Sachverhalt auf diese Totalität. Die in der ersten Reihe durch die Begriffe Arbeitslohn, Unternehmer usw. geschilderten Verhältnisse werden hier durch Kategorien erfaßt, in denen der Klassencharakter dieser Produktionsweise zum Ausdruck kommt (z. B. Mehrwert). Beide Begriffsreihen sind zur Erkenntnis der antagonistischen Wirklichkeit gleich notwendig; sie sind jedoch nicht gleichgeordnet. Von der dialektischen Theorie aus will die zweite Begriffsreihe, welche aus der Totalität der gesellschaftlichen Dynamik gewonnen ist, das Wesen und den wahren Inhalt der in der ersten Begriffsreihe in ihrer Erscheinungsform beschriebenen Phänomene erfassen. Die dialektischen Begriffe transzendieren die gegebene gesellschaftliche Wirklichkeit auf eine andere, in ihr tendenziell angelegte geschichtliche Gestalt hin. In ihr ist der positive (im Wesensbegriff des Menschen gipfelnde) Wesensbegriff verwurzelt, der als Leitidee und Vorbild hinter allen kritisch-polemischen Unterscheidungen von Wesen und Erscheinung steht. Von ihm aus werden alle Kategorien, welche die gegebene Gestalt des Daseins als eine historisch vergängliche beschreiben, zu "ironischen" Begriffen, die ihre eigene Aufhebung enthalten. In der ökonomischen Theorie kommt eine solche Ironie in der Beziehung der beiden Begriffsreihen zum Ausdruck. Wenn z. B. gesagt wird, daß Begriffe wie Arbeitslohn, Wert der Arbeit, Unternehmergewinn nur Kategorien für Erscheinungsformen sind, hinter denen die "wesentlichen Verhältnisse" der zweiten Begriffsreihe verborgen sind, so stellen diese wesentlichen Verhältnisse erst und nur insofern die Wahrheit der Erscheinungsform dar, als in den sie erfassenden Begriffen bereits ihre Aufhebung steckt: das Bild einer mehrwertlosen gesellschaftlichen Organisation. Die materialistischen Begriffe enthalten alle eine Anklage und eine Forderung. Wenn die Forderung erfüllt ist, wenn die verändernde Praxis die neue gesellschaftliche Organisation der Menschen geschaffen hat, erscheint das neue Wesen des Menschen in der Realität. Dann ist diese geschichtliche Form des Gegensatzes von Wesen und Erscheinung verschwunden, in der sich heute vor allem die Äußerlichkeit, Planlosigkeit und blinde Notwendigkeit der materiellen Lebensverhältnisse gegenüber den wirklichen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Individuen ausgedrückt. Das bedeutet aber nicht, daß überhaupt alle Motive der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, Möglichkeit und unmittelbarem Dasein fortfallen müßten. Die Natur bleibt ein Reich der Notwendigkeit; die Überwindung der Not, die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse bleibt ein Kampf - ein Kampf, der allerdings erst dann auf menschenwürdigem Boden und in geschlossener Front geführt werden kann. In ihn werden auch diejenigen theoretischen Energien eingehen, die sich bisher in der Sorge um eine absolut gewisse und allgemeingültige Erkenntnis erschöpft haben. Die Charaktere des Wesens müssen nicht mehr in zeitlosen ewigen Formen stabilisiert werden. Die Wahrheit, daß die besonderen Interessen bei der Allgemeinheit aufgehoben sind, die hieraus entspringende objektive "Gültigkeit" dieser Allgemeinheit, die durchsichtige Vernünftigkeit des Lebensprozesses werden sich in der Praxis der vergesellschafteten Individuen und nicht mehr in einem von ihr getrennten absoluten Bewußtsein auszuweisen haben.
Anmerkungen 41) HEGEL, Wissenschaft der Logik, Werke, Originalausgabe, Band IV, Seite 119f 42) HEGEL, Enzyklopädie I, 131, a. a. O., Band VI, Seite 260 43) HEGEL, Enzyklopädie I, § 112 Zusatz und § 119, Zusatz 2, a. a. O. Bd. VI, Seite 224 und 242. 44) HEGEL, Enzyklopädie I, § 146 Zusatz, a. a. O., Seite 292 45) HEGEL, Wissenschaft der Logik, a. a. O. Band IV, Seite 79 46) HEGEL, Wissenschaft der Logik, a. a. O. Band IV, Seite 5 und 14 47) KARL MARX, Das Kapital, Hamburg 1921/22, Bd. III 2, Seite 352 48) Über den Wahrheitsbegriff der dialektischen Logik vgl. Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 1935, Seite 321f 49) Die Unterscheidung von Bewährung und Erfolg und die damit ermöglichte Abgrenzung von allem Pragmatismus a. a. O., Seite 342f 50) HEGEL, Enzyklopädie § 112, a. a. O. Band VI, Seite 225 51) HEGEL, Logik, a. a. O., Band IV, Seite 3 52) OTTO NEURATH, Empirische Soziologie, Wien 1931, Seite 128 und 132 53) WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Band 1, Leipzig 1923, Seite XVIII. 54) KANT, Logik, Werke, Ausgabe CASSIRER, Berlin 1923, Band VIII, Seite 374 55) ARISTOTELES, Politica, 1254b, Seite 20f 56) HEGEL, Logik, a. a. O. Band IV, Seite 208 57) HEGEL, Logik, ebd. Seite 209 58) HEGEL, Logik, a. a. O. Band IV, Seite 210 |