ra-3E. JonakLe BonK. KniesA. F. LüderA. QueteletA. Wagner    
 
GUSTAV von RÜMELIN
Zur Theorie der Statistik
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"Im Reich der Natur ist das Einzelne typische, in der Menschenwelt individuell. Unmöglich kann aber hierbei individuell so viel heißen wie indeterminiert, außerhalb des Kausalitätsgesetzes stehend, jeder Erklärung und Zurückführung auf konstante Ursachen sich entziehend. Sonst wäre auf diesem Gebiet überhaupt keine Wissenschaft denkbar und alle Erfahrung wertlos."

"Die Wissenschaften vom Menschen, soweit sie nicht bloß beschreibender oder erzählender Art sind, suchen nicht Aufschlüsse über einzelne Individuen, sondern über kollektive Begriffe, sei es von Menschen oder menschlichen Lebenskreisen, sie fragen nicht nach dem einmal Geschehenen, sondern nach den Gesetzen allen Geschehens. Dessen aber, was von allen Menschen ausnahmslos gesagt werden kann, ist sehr wenig und mußte sich schon den ersten Generationen der Menschheit. Wenn wir sagen, daß der Mensch vom Mann erzeugt, vom Weib als Kind geboren wird, mit einem tierisch organisierten Leib ausgestattet ist, der Nahrung und des Schlafes bedarf, dem Irrtum unterworfen, dem Tod und der Verwesung des Leibes verfallen ist, so müssen wir fürchten, für den Theologen bereits zu viel gesagt zu haben."

"Das methodische Mittel, das den Wissenschaften den Mangel der Instrumente und des Experiments zu ersetzen, ein vollständiges und zuverlässiges empirisches Material zu liefern hat, ist die Erweiterung der vereinzelten und zufälligen Beobachtung zur universalen und methodisch organisierten. Man kann es kurz die methodische Massenbeobachtung nennen. Sie besteht darin, daß über ganze Gruppen von Individuen ein Netz von Observatorien ausgebreitet wird, um nach einer Methode alle gleichartigen Erscheinungen zu beobachten und zu registrieren."


I.

Nachdem ROBERT von MOHL die zahlreichen und weit auseinander laufenden Definitionen der Statistik als eine "psychologische Merkwürdigkeit" und "wunderliche Literatur" bezeichnet hat, da doch die Frage ansich einfach und schon von den Gründern jener Wissenschaft gelöst worden ist, ist es eine mißliche Sache geworden, sich an jenem Problem von Neuem zu versuchen. Wenn dies nun dennoch hier und dort immer wieder geschieht, wenn also selbst die Gefahr der Lächerlichkeit nicht als hinreichendes Abschreckungsmittel wirkt, so muß doch wohl irgendein verborgener Stachel und Reiz in der Sache liegen und man möchte an die Freier in GOZZIs Märchen denken, die sich uneingeschüchtert durch die blutigen Köpfe unglücklicher Vorgänger stets von Neuem wieder zu TURANDOTs Rätsel herandrängten. Der Verfasser nun ist wenigstens nicht aus Fürwitz, nicht, um etwas Neues vorzubringen, auf diese Frage geführt worden; die Veranlassung lag für ihn in praktischen Berufsarbeiten von statistischer Art, die mit Notwendigkeit auf prinzipielle Untersuchungen hinwiesen und ohne Klarheit über die Grenzen und Aufgabe des Fachs als unlösbar erschienen. Als er nun in der Literatur dieser Disziplin Aufschlüsse suchte und jenes Labyrinth von Meinungen durchirrt hatte, mußte sich ihm die Überzeugung aufdrängen, daß auch die besten und anerkanntesten Begriffsbestimmungen immer noch etwas als Statistik bezeichnen, was mit der Praxis des Fachmanns nicht recht harmonisieren will, was diesem die Grenzen seiner Kunst in viel zu vage und nebelhafte Regionen rückt. Solange die Statistik im Wesentlichen doch noch als die Wissenschaft von den menschlichen Zuständen bezeichnet wird, die zwar vorzugsweise die staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse ins Auge zu fassen, aber doch auch noch manches Andere zu berücksichtigen habe, die zwar vorzugsweise beschreibender und darstellender Natur ist, aber doch nach Umständen auch Ursachen und Gesetze zu erforschen hat, die zwar vorzugsweise die Gegenwart beschäftigt, aber doch auch an der Behandlung früherer Zeitperioden nicht behindert ist, die zwar gerne und vorzugsweise ihre Ergebnisse in Zahlen ausdrückt, sich aber doch auch anderer Darstellungsmittel zu bedienen hat, solange also die ziemlich unwissenschaftliche Formel: vorzugsweise dieses, aber doch auch anderes, noch eine so bedeutende Rolle in den Definitionen spielt, darf man die Akten in der Tat noch nicht als geschlossen erklären. Der Verfasser wurde nun durch ein von mannigfaltiger statistischer Praxis begleitetes und unterbrochenes Nachdenken zu einer Auffassung geführt, die ihm über manche Zweifel und Bedenken hinweghalf und von der er sich, wie es zu gehen pflegt, schließlich glauben machte, daß sie auch anderen, namentlich den Fachmännern, zumindest als ein Versuch, auf einige neue Seiten der Sache aufmerksam zu machen, von Interesse sein könnte. Er erlaubt sich daher, dieselbe in kürzester Weise hier darzulegen und glaubt von jeder weiteren Einleitung, namentlich von einer vorausgehenden Übersicht und Kritik anderer Ansichten umso mehr Umgang nehmen zu dürfen, als hierüber MOHL bereits in seiner gediegenen Weise Bericht erstattet und auch andere, wie z. B. JONAK klare und gründliche Aufschlüsse geben.

Auf die Gefahr hin, jenes Prädikat der Wunderlichkeit gleich von vornherein zu provozieren, müssen wir den Leser bitten, den Ausgangspunkt in einem beliebigen Kompendium der Logik, nicht der spekulativen, sondern der vulgären zu nehmen, und zwar in dem nach der üblichen Einteilung zweiten Abschnitt derselben, der Methodologie oder Lehre von der allgemeinen wissenschaftlichen Technik. Wir denken uns, daß daselbst Deduktion und Induktion oder der Schluß vom Allgemeinen auf das Einzelne und vom Einzelnen auf das Allgemeine, als die beiden Grundformen aller wissenschaftlichen Gedankenentwicklung vorangestellt sind, daß sodann im Kapitel der Induktion näher von den Bedingungen einer richtigen Induktion die Rede war und unter diesen wieder die richtige Beobachtung der einzelnen Erscheinungen, aus welchen Induktionsschlüsse abgeleitet werden wollen, genauer erörtert wird. Hier unterscheidet man nun die natürliche Beobachtung und die methodische. In der natürlichen betrachtet der Mensch mit seinen natürlichen Wahrnehmungsorganen das Objekt in eben dem Zustand, in welchem es ihm die Wirklichkeit darbietet. Diese Beobachtungsweise hat aber einen doppelten Mangel, einmal an der Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung selbst, sodann an der großen Kompliziertheit aller realen Erscheinung. Beide Mängel sucht die methodische Beobachtung zu beseitigen oder zu vermindern, den ersten, indem sie durch wissenschaftliche Werkzeuge die menschlichen Wahrnehmungsorgane ergänzt und verschärft, wie durch den ganzen Apparat von Maßen, Waagen, optischen, akustischen, meteorologischen etc. Instrumenten, den zweiten, indem sie das Objekt selbst für die Beobachtung präpariert durch den wissenschaftlichen Versuch oder das Experiment. Dieses hat wieder zwei Grundformen; die eine besteht darin, daß das Objekt der Beobachtung durch eine möglichste Beseitigung aller störenden oder unwesentlichen Koeffizienten auf seine einfachste Gestalt, auf ein Urphänomen zurückgeführt wird; das andere, daß das Objekt in seinem Verhalten zu absichtlich hinzugefügten Koeffizienten betrachtet wird. Auf die letztere Form sind die Wissenschaften, welche organische Wesen zum Gegenstand haben, weil hier schon das Urphänomen selbst immer noch eine sehr komplizierte Erscheinung bleibt, vorzugsweise angewiesen.

Die gewöhnlichen Kompendien der Logik, zumindest diejenigen, die dem Verfasser zur Hand waren, behandeln die Lehre von den Mitteln der wissenschaftlichen Beobachtung ziemlich kurz und würdigen nur etwa das Experiment eines näheren Eingehens. Der Gegenstand erscheint uns aber für die Einteilung, sowie für die Einsicht in den ganzen Charakter der verschiedenen Wissenschaften, mit denen sich unser Gegenstand berührt, wichtig genug, um eine weitere Fortführng dieser Betrachtung zu rechtfertigen.

Der Kosmos, die Welt zerfällt für unsere Betrachtung in die zwei großen Hälften, das Reich der Natur und die Menschenwelt. Natur nennen wir alles, was sich uns als ein ohne Zutun des menschlichen Willens Wirkendes darstellt. Sowohl die Wissenschaften von der Natur wie auch die vom Menschen sind Erfahrungswissenschaften, d. h. sie beruhen in letzter Instanz auf Induktion und Beobachtung, mag nun im Übrigen der Anteil des deduktiven Verfahrens größer oder kleiner sein. Allein die beiden Hauptgattungen von Wissenschaften sind sehr verschieden voneinander in Bezug auf die Mittel der wissenschaftlichen Beobachtung.

Wenn in den Naturwissenschaften durch die obigen Mittel der natürlichen und methodischen Beobachtung so Großes geleistet wird, wenn sie sich mit Stolz; neben der Mathematik als die einzige exakten, d. h. die Anerkennung ihrer Lehrsätze erzwingenden Wissenschaften nennen, so beruth dies nur auf der  einen  großen Regel, daß in der Natur das Einzelne typisch ist, daß schon eine einzige genau konstatierte und korrekt beobachtete Tatsache zu einem Induktionsschluß berechtigt und die Wiederholung der Beobachtung in der Regel nur zur Kontrolle des menschlichen Verfahrens erforderlich ist. Wenn der Physiker in  einem  unzweifelhaften Fall bemerkt hat, daß ein gewisser Körper zu den elektrischen Leitern gehört, so weiß er, daß dieser und alle anderen Körper der gleichen Art jetzt und allzeit und überall unter denselben äußeren Umständen elektrische Leiter waren, sind und sein werden. Wenn der Chemiker das Verhalten eines neuentdeckten Grundstoffes zum Sauerstoff durch  ein  richtiges Experiment ermittelt hat, so zweifelt er nicht, daß sich dieses Experiment in Amerika so gut wie in Europa, in 1000 Jahren so gut wie jetzt wiederholen läßt. Wenn uns der Zoologe aus  einer  Beobachtungsreihe schildert, wie die Grasmücke ihr Nest baut, ihre Eier ausbrütet, ihre Jungen füttert, so ist er sicher, uns damit einen typischen Vorgang geschildert zu haben. Allein schon wenn wir zu den unter menschlicher Einwirkung stehenden Pflanzen und Tieren übergehen, vermindert sich die Zuversicht, mit der wir die einzelne Erscheinung als eine typische betrachten, und wenn wir zuletzt vollends hinüberschreiten in das Reich der menschlichen Psyche, so erlischt sie ganz.

Im Reich der Natur ist das Einzelne typische, in der Menschenwelt individuell. Unmöglich kann aber hierbei individuell so viel heißen wie  indeterminiert,  außerhalb des Kausalitätsgesetzes stehend, jeder Erklärung und Zurückführung auf konstante Ursachen sich entziehend. Sonst wäre auf diesem Gebiet überhaupt keine Wissenschaft denkbar und alle Erfahrung wertlos. Wie die Wirklichkeit überhaupt keine Sprünge und scharfe Grenzlinien kennt, so ist auch jener Unterschied nur ein fließender. Auch kein Sandkorn, kein Grashalm, kein Holzwurm gleich genau dem andern, noch weniger ein Hund oder Affe; aber das Abweichende erscheint uns hier verschwindend klein gegen das Übereinstimmende und erklärt sich meist aus erkennbaren Verschiedenheiten der äußeren Bedingungen. Und doch tritt schon innerhalb jener Beispiele eine Abstufung deutlich hervor. Je höher wir heraufsteigen in der fortschreitenden Reihe der Organisationen, desto zahlreicher werden die Faktoren des organischen Lebens, desto mannigfaltiger ihre Kombinationen, desto weiter eben damit der Spielraum individueller Abweichungen. Und wie man zwar 6 Zeichen schon auf 720 Arten zusammensetzen kann, 12 Zeichen aber nicht etwa doppelt soviel mal, sondern gleich 490 Millionen mal, so steigern schon wenige neu hinzutretende Elemente im organischen Leben die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in unendlicher Progression. Das Individuelle entwickelt sich genau im Verhältnis des zunehmenden Reichtums der Lebensformen. Auch innerhalb der Menschenwelt setzt sich der gleiche Stufengang noch fort; der Wilde ist typischer als der zivilisierte Mensch; der Schwarzafrikaner und Mongole ist es mehr als der Kaukasier; der Mensch des Altertums mehr als der des Mittelalters; und dieser mehr als der moderne. Der Mann ist individueller als das Weib; der Erwachsene als das Kind, der Gebildete als der Ungebildete, der edle Mensch als der gemeine. Aber diese lange Reihe vom Sandkorn bis zum großen Denker oder Dichter zerfällt uns in zwei Hälften; sie zeigt  einen  Sprung, den größten, den wir überhaupt im Stufengang der Natur wahrnehmen, den vom Tier zum Menschen. Im Großen und Ganzen sind wir berechtigt, Natur und Menschenwelt als das Reich der typischen Einzelheiten und der Individualitäten zu unterscheiden. Gesetzmäßig ist die Entwicklung des genialsten Menschen um nichts weniger, als die der dürftigsten Kryptogramme; das sind wir durch den Kausalitätsbegriff geneigt  a priori  vorauszusetzen; aber in der Betrachtung des Menschen verbirgt sich das Gesetz unter der unabsehbaren Menge von störenden oder modifizierenden Koeffizienten der Erscheinung. Mit anderen Worten: der Induktionsschluß, die Konklusion von  einem  oder mehreren Einzelnen auf die Gattung verändert sich, zwar nicht seiner Natur, aber seiner Gestalt nach und verliert die Leichtigkeit und Sicherheit seiner Anwendung, wie sie den Naturwissenschaften zustatten kommt. Wenn die einfache Beobachtung der einzelnen Erscheinung, wenn Instrument und Experiment ihre Dienste versagen, wie gelangen nun die mit der Welt der Individualitäten beschäftigten Wissenschaften gleichwohl zu einer Erfahrung, welcher Ersatz findet sich für die verlorenen Beobachtungsmittel der Naturwissenschaften? Hier bieten sich nun zunächst zwei eigentümliche Vorzüge dieser Wissenschaften vor den mit der Natur beschäftigen dar.

Das Nächste und Wichtigste ist, daß für die Beobachtung von Menschen und menschlichen Verhältnissen zur äußeren Erfahrung die innere hinzutritt. Der Mensch erkennt den Menschen von innen heraus; der Andere tritt uns nicht, wie die Naturobjekte, als eine verschlossene Erscheinung entgegen, sondern das eigene Selbstbewußtsein gibt uns den Schlüssel zu seinem Verständnis. Der zweite Unterschied, der weniger die Mittel als das Feld der Beobachtung betrifft, ist zwar nur relativ, aber doch immer noch von größter Bedeutung. In der Natur beschränkt sich die Beobachtung auf die Gegenwart, wenn auch das Gegenwärtige vielfach zu Schlüssen auf Vergangenes berechtigt; es gibt zwar eine Bildungsgeschichte des Planeten und der Erdrinde, ja, auch abgesehen von DARWINs Lehren, der Gattungen und Arten, allein innerhalb der historischen Zeit sind solche Veränderungen jedenfalls verschwindend klein gegenüber der Stabilität und Unveränderlichkeit der Naturerscheinungen. Die Jahrzehnte der Menschheit entsprechen kaum den Jahrtausenden der Natur. In den Wissenschaften vom Menschen wächst der Stoff selbst von Geschlecht zu Geschlecht. Die Menschheit hat eine Geschichte und wälzt deren Nachwirkung und Erinnerung lawinenartig mit sich fort. Die Beobachtung des Menschen beschränkt sich daher nicht auf die Gegenwart, sondern erstreckt sich rückwärts auf Jahrtausende und findet daselbst einen unabsehbaren Reichtum der heterogensten Erscheinungen. Jedes Geschlecht tritt unmittelbar in eine Erbschaft von Sprache und Vorstellungen, Erfahrungen, Fertigkeiten und angesammelten Gütern, materiellen und geistigen, aller Art ein, und außerdem bewahren zahlreiche sprachliche und andere Denkmäler die Erinnerungen längst verschwundener Ereignisse und Lebensanschauungen.

Allein von so unendlicher Bedeutung jenes hinzutreten der inneren Erfahrung und die Ausdehnung des Beobachtungsfeldes auf die Vergangenheit ist, so vermag beides doch vom methodologischen Standpunkt aus den Vorteil, den die Naturwissenschaften durch den typischen Charakter der einzelnen Erscheinung haben, bei Weitem nicht auszugleichen. Weder das Eine noch das Andere kann über unmaßgebliche Individualfälle hinausführen. Es mag genialen Geistern in der überraschendsten Weise gelingen, ihr Inneres zu einem Spiegelbild ihrer Zeit, ihres Volkes, der Menschheit zu läutern; es wird andere geniale Geister unter anderen Verhältnissen geben, deren Inneres von den gleichen Erscheinungen ein ganz abweichendes Bild aufwirft, ohne daß sich ein Maßstab fände, eine wissenschaftliche Entscheidung zu treffen. Die Geschichte berichtet uns von Personen und Dingen, die nur  einmal  in einem nicht wiederkehrenden Komplex von Umständen gerade so geworden sind, und die sich uns überdies nur durch das unglaublich trübe Medium einer beschränkten Beobachtung und befangenen Beurteilung darstellen. Die Wissenschaften vom Menschen aber, soweit sie nicht bloß beschreibender oder erzählender Art sind, suchen nicht Aufschlüsse über einzelne Individuen, sondern über kollektive Begriffe, sei es von Menschen oder menschlichen Lebenskreisen, sie fragen nicht nach dem  einmal  Geschehenen, sondern nach den Gesetzen  allen  Geschehens. Dessen aber, was von allen Menschen ausnahmslos gesagt werden kann, ist sehr wenig und mußte sich schon den ersten Generationen der Menschheit. Wenn wir sagen, daß der Mensch vom Mann erzeugt, vom Weib als Kind geboren wird, mit einem tierisch organisierten Leib ausgestattet ist, der Nahrung und des Schlafes bedarf, dem Irrtum unterworfen, dem Tod und der Verwesung des Leibes verfallen ist, so müssen wir fürchten, für den Theologen bereits zu viel gesagt zu haben. Um ganze Zeitalter, Staaten und Völker zu charakterisieren, muß die Geschichte mit mehr oder weniger Takt und Recht einzelne Personen und Tatsachen als typische behandeln, wiewohl ansich schon ein Widerspruch darin liegt, das Hervorragende typisch zu nennen. Die Geschichte kann es nur zum notdürftigen Begreifen abgeschlossener Erscheinungen bringen; sie hat aber noch kein einziges erwiesenes und unbestrittenes Gesetz der menschlichen Entwicklung im Großen aufgefunden, wenn man etwa von solchen Sätzen absieht, die sich ohne Geschichtskenntnis auf dem Weg der Deduktion erweisen lassen oder fast tautologisch sind, wie z. B., daß nichts Menschliches von beständiger Dauer und in der Entwicklung der Völker kein Sprung denkbar ist. Solange die Wissenschaften vom Menschen auf der Grundlage vereinzelter Beobachtung, sei es des Gegenwärtigen oder Vergangenen, stehen, können sie nicht über den Standpunkt der Weisheit der Sprichwörter hinauskommen. Die deutsche Sprache zählt allein Tausenden von Sprichwörter, in denen die gemeine Erfahrung von Jahrhunderten niedergelegt ist; es ist aber nicht eines darunter, dessen Gedanken nicht durch den Inhalt von einem Dutzend anderer wieder eingeschränkt, modifiziert und völlig verneint würden. Jene Wissenschaften könnten sich daher über die Stufe der Kindheit, auf der sie noch vor wenigen Generationen standen und teilweise noch stehen, niemals erheben, wenn es nicht für sie Beobachtungsmittel gäbe, durch welche die Unzulänglichkeit der vereinzelten und individuellen Erfahrung vermindert und die Erfahrung als ein Ganzes ergriffen wird. Dieses methodische Mittel, das jenen Wissenschaften den Mangel der Instrumente und des Experiments zu ersetzen, ein vollständiges und zuverlässiges empirisches Material zu liefern hat, ist die Erweiterung der vereinzelten und zufälligen Beobachtung zur universalen und methodisch organisierten. Man kann es kurz die methodische Massenbeobachtung nennen. Sie besteht darin, daß über ganze Gruppen von Individuen ein Netz von Observatorien ausgebreitet wird, um nach  einer  Methode alle gleichartigen Erscheinungen zu beobachten und zu registrieren. Da diese Beobachtungsweise menschliche Kollektivbegriffe, wie  Volk, Stamm, Kirche, Bezirk, Gemeinde, Stände  etc. in die Individuen, die sie zusammenfassen, wieder auflöst und von jedem Einzelnen zu beobachten hat, ob eine gewisse Erscheinung bei ihm stattfindet oder nicht, so begreift es sich, daß es sich dabei stets zugleich um ein Zählen handelt und daß die Zahl ein charakteristisches Merkmal dieser Beobachtungsmethode ist. Je zahlreicher nun die Objekte solcher Beobachtungen werden, je umfassender die einzelnen Gruppen, und auf je mehr Gruppen sich gleichförmige Beobachtungen erstrecken, desto vollständiger und gründlicher wird die Charakteristik der betreffenden Kollektivbegriffe werden, und desto reicher das Material zu Induktionsschlüssen und zur Erkenntnis des Zusammenhangs der menschlichen Erscheinungen. Man wird ganz in ähnlicher Weise, wie in den Naturwissenschaften, Schlußfolgerungen ziehen können, wie z. B. daß zwei Erscheinungen, die stets verbunden oder stets getrennt sind, oder die, wo sie zusammentreffen, stets noch eine dritte, aber niemals eine gewisse andere, vierte Erscheinung zur Begleitung haben usw., unter sich oder mit dieser dritten und vierten in einer gewissen Kausalbeziehung stehen müssen. Damit ist ein Weg gewonnen, um Gruppen, Kollektivbegriffe in korrekter Weise zu charakterisieren, Gesetze der menschlichen Lebenserscheinungen wissenschaftlich zu finden und zu erweisen, mit  einem  Wort, die Erfahrungswissenschaften vom Menschen zu exakten, ihr Beweisverfahren zu einem zwingenden zu erheben, die durch ihr Vielerlei verwirrenden Erscheinungen der Menschenwelt methodisch zu bewältigen und der wissenschaftlichen Behandlung zu unterwerfen. Dieses Mittel der universellen Observation, dessen Gedanke ein alter und naheliegender ist, konnte erst in sehr vorgerückten Bildungszuständen zur Ausführung kommen; es ist bis jetzt nur in schwachen Anfängen ausgebildet und hat auch so schon eine Reihe von Wissenschaften teils geschaffen, teils reformiert, teils befruchtet. Es erlaubt Fragestellungen an das Objekt gleich dem Experiment und ergänzt die Unzulänglichkeit der subjektiven Wahrnehmung, gleich den wissenschaftlichen Instrumenten. Der mögliche Umfang seiner Ausdehnung und Wirkung ist unabsehbar.

Die Analogie der Naturwissenschaften, welche keine besondere Empirologie unterscheiden, sondern von welchen jede ihre Beobachtungsmittel selbständig in Anwendung bringt, würde darauf führen, daß auch unter den Erfahrungswissenschaft vom Menschen jede jenes Mittel der universellen Observation für sich selbst und nach ihren eigenen Bedürfnissen als einen integrierenden Teil ihrer Forschungsmethode handhabte, und vielleicht wird auch in nicht allzuferner Zeit das Prinzip der Teilung der Arbeit auf eine solche weitere Spezialisierung der wissenschaftlichen Tätigkeit hinführen. Bis jetzt aber haben sehr erhebliche innere und äußere Gründe auf einen abweichenden Gang der Sache geleitet. Es hat sich für alle Wissenschaften vom Menschen eine gemeinsame Hilfswissenschaft gebildet, welche jeder von ihnen das Material einer universellen Empirie, dessen sie bedarf, zur Verfügung stellt. Der äußere Grund zu dieser Entwicklung der Dinge lag darin, daß es zuerst der Staat war, welcher für praktische Zwecke das Bedürfnis einer methodischen Massenbeobachtung empfand, und durch eine besondere Veranstaltung, insbesondere die Errichtung staatswissenschaftlicher Observatorien befriedigte, nach und nach aber diese Institute auch für allgemeinere wissenschaftliche Zwecke, an denen er kein so unmittelbares Interesse hatte, verwenden ließ. Dazu kam, daß die Handhabung dieses Beobachtungsmittels einen äußeren Apparat und Aufwand von Mitteln, eine gewisse Organisation erfordert, die zumal bei bürokratischen Einrichtungen am leichtesten der Staat in die Hand nimmt und die, wenn sie einmal vorhanden ist, leicht auch für verschiedenartige Zwecke benützt werden kann. Der innere Grund für jene Gruppierung aber ist, daß eine solche wissenschaftliche Fragestellung an die Gesellschaft und die weitere formelle Behandlung ihre Ergebnisse bei aller Verschiedenheit der Gegenstände doch eine gewisse gleichartige Technik und Methode erfordert; noch mehr aber, daß die Erfahrungswissenschaften vom Menschen, wenn sie auch nicht ohne unnatürlichen Zwang in  eine  Disziplin zusammengedrängt werden können, doch eine Gruppe aneinandergrenzender und verwandter Disziplinen bilden und sehr häufig, j ain der Regel  eine  und dieselbe Ermittlung von Tatsachen in verschiedene Fächer einschlägt. Als die Aufgabe dieser Hilfswissenschaft bezeichnen wir nun kurz: die Ermittlung von Merkmalen menschlicher Gemeinschaften auf der Grundlage methodischer Beobachtung und Zählung ihrer gleichartigen Erscheinungen, und fassen dabei unter dem allgemeinen Namen von Gemeinschaften sowohl natürliche Gruppen von Individuen, wie Völker, Staaten, Provinzen etc., als die einer gesonderten Betrachtung fähigen Lebenskreise, wie die politischen, wirtschaftlichen, geselligen, kirchlichen usw. Verhältnisse zusammen.

Man hat eingewendet: die bloße Anwendung eines formellen Verfahrens, die Handhabung eines gewissen Beobachtungsmittels könne nicht den Inhalt einer besonderen Wissenschaft bilden, so wenig, als man sich z. B. die Mikroskopie als eine Wissenschaft denken kann. Allein die große Bedeutung und Tragweite einer universellen, organisierten Observation für eine Gruppe zusammengehöriger Wissenschaften dürfte im Obigen hinreichend nachgewiesen sein, um einen solchen Vergleich abzulehnen. Überdies aber gibt es noch andere längst anerkannte Hilfswissenschaften, die ebenfalls nur in der Handhabung eines formellen und methodischen Verfahrens bestehen. Wir wollen die Philologie unerwähnt lassen, deren Begriff selbst ein noch bestrittener ist, nennen aber umso mehr die philosophische Kritik und Hermeneutik, denen das wissenschaftliche Zunftrecht niemand bestreitet, und deren Aufgabe doch nur darin besteht, literarische Denkmale in der Gestalt und mit der gelehrten Ausstattung herzustellen, worin sie den Zwecken der verschiedenen Wissenschaften dienen können. Sie sind Hilfswissenschaften aller auf literarische Mittel angewiesenen Disziplinen und haben das Gleiche zu leisten, ob der Autor, mit dem sie sich beschäftigen, ein Dichter oder Geschichtsschreiber, Philosoph oder Naturforscher ist. Solche heuristischen Disziplinen, die den objektiven Wissenschaften den unentbehrlichen Stoff in methodischer Bearbeitung liefern, haben das gleiche Verdienst, wie etwa der gelehrte Reisende, der ein unbekanntes Land erforscht hat und die Ergebnisse der Reise gleichsam auf den Tisch der Wissenschaft niederlegt, so daß der Naturforscher, wie der Philosoph, der Sprachgelehrte oder der Historiker, der Nationalökonom oder auch der praktische Kaufmann davon Gebrauch machen kann. Ob die speziellen Fachmänner, welche sich die Resultate einer solchen wissenschaftlichen Reise aneignen, die Mittel und Eigenschaften gehabt hätten, jene Reise für die Zwecke ihrer Wissenschaft noch fruchtbringender zu machen, ist keineswegs im Voraus gewiß, da dieser Weg, wissenschaftliches Material zu sammeln, selbst schon wieder Spezialitäten, eine Vereinigung seltener Eigenschaften und Erfahrungen zu erfordern scheint.

Und nun endlich, wie heißt diese gemeinsame Hilfsdisziplin aller Erfahrungswissenschaften vom Menschenleben? Man könnte allerhand mehr oder weniger bezeichnende Namen, an Observationistik, Empirologie, Empiristik des Menschen, soziale Heuristik und Ähnliches denken, aber die Bemühung ist überflüssig; der Name ist schon da; sie heißt -  Statistik.  Sie führt diesen Namen jedoch nicht bei den Theoretikern, sondern nur in der Auffassung der Praktiker und im gemeinen Sprachgebrauch. Sie hat auf denselben auch kein unzweifelhaftes historisches, noch weniger ein etymologisches Recht. Die oben erwähnte Tatsache, daß jene Hilfswissenschaft zuerst und lange bloß im Dienst des Staates und der Staatswissenschaften gestanden ist, war die Ursache, daß ihr eigentümlicher, methodologischer Charakter verborgen blieb und nur als unwesentliche Beigabe einer bestimmten staatswissenschaftlichen Disziplin, der Staats- oder Zustandskunde, erschien. So bezeichnet  Statistik  etymologisch, wie historisch ursprünglich eine Staatswissenschaft. Allein die Anwendung jenes fruchtbaren Beobachtungsmittels der universellen Zählung dehnte sich bald auf eine Menge weder den Staat noch die Gesellschaft betreffender Objekte, wie physiologische, pathologische, psychologische Fragen aus, und mußte den Gedanken an eine Trennung von Methode und Materie bald nahelegen. Da, wo die Statistik am sorgfältigsten und umfassendsten ausgebildet wurde, wie in Belgien und Frankreich, mußten die Fachmänner zuerst bemerken, daß eine gewisse, stets mit Zahlen in Berührung stehende Methode das Eigentümliche ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit sei und suchten daher ihr Fach zuerst aus den fremden Banden zu emanzipieren. Die Lehrer der Staatswissenschaften aber, zumal in Deutschland, behaupteten ihren Besitzstand aufrecht und suchten die auseinander drängenden ungleichartigen Elemente dadurch beisammen zu halten, daß sie den Umfassungsreif immer dünner und weiter machten, d. h. den Begriff der Statistik immer mehr ausdehnten und verflüchtigten und so am Ende aus den ursprünglichen Staatswürdigkeiten eine allgemeine Zustandswissenschaft, eine Darstellung des Lebens der Menschheit als ruhenden Daseins machten. Jener merkwürdige logische Instinkt aber, der die Massen bei der Sprachbildung leitet, und ohne den bei der Denkschwäche der meisten Einzelnen die Wunderwerke der menschlichen Sprachen nicht begreiflich wären, folgte der deutschen Wissenschaft in diesem Punkt nicht in die Nebelregion ihrer luftigen Abstraktionen, sondern hielt sich einfach an die charakteristische Außenseite der Sache und entschloß sich kurz, im Sinne der praktischen Fachmänner all das eine statistische Mitteilung zu nennen, wo aufgrund umfassender Zählungen von Einzelfällen allgemeine Tatsachen oder Merkmale des menschlichen Zusammenlebens dargestellt werden, mochte nun der Gegenstand den Staat, oder die Gesellschaft, mochte er die Schließung von Ehen, die Verbreitung von Bibeln, den Heringsfang, oder das Schlachten von Kälbern betreffen. Wir haben uns die Mühe gemacht, seit längerer Zeit auf alle Fälle zu achten, wo das Wort  Statistik  und statistisch in Büchern und Zeitschriften aller Art beiläufig gebraucht wird und haben dabei den obigen Sinn des Wortes so konstant vorgefunden, daß wir sagen möchten, daß es sich "statistisch" beweisen läßt, was man unter Statistik versteht. Wenn man in der Inhaltsangabe eines Zeitungsblattes die Überschrift liest:  Statistisches,  so darf man darauf rechnen, am betreffenden Ort das Ergebnis irgendeiner Zählung angeführt zu sehen; wäre Statistik Staaten- oder Zustandskunde, so müßte der größte Teil vom Inhalt aller Zeitungen statistischer Art sein. ROBERT von MOHL wird selbst nichts Unlogisches darin finden, wenn wir an seinem "Württembergischen Staatsrecht", das doch ansich seinem ganzen Inhalt nach unter die Rubrik der Staatenkunde und Zustandswissenschaften fallen müßte, noch besonders die wertvollen "statistischen" Beigaben in den Noten rühmen würden. Auch die allgemein gebrauchten Ausdrücke:  statistische Erhebung, statistischer Beweis,  weisen offenbar darauf hin, daß es sich hier um eine Beobachtungsmethode, um einen methodologischen Begriff handelt. Man spricht ja nicht von einer chemischen Erhebung, von einem botanischen, geographischen, politischen oder ästhetischen Beweis; nur wenn einer Wissenschaft eine gewisse Gattung der logischen Beweisarten eigentümlich ist oder wenn sie eine positive Beweistheorie aufstellt, verbindet man ihren Namen adjektivisch mit dem Begriff des Beweises, wie in den Ausdrücken:  mathematischer  oder  juristischer Beweis.  Etwas "statistisch" beweisen, kann daher nicht heißen: aus der Staatenkunde oder Zustandswissenschaft, denn das ist keine besondere Beweisart, sondern es heißt: aus den Ergebnisse dieser bestimmten Art von methodischer Beobachtung. Was die statistischen Staatsbehörden treiben, ist nicht Staatenkunde, nicht Zustandswissenschaft, wenn es auch immerhin mit noch vielem anderem unter diesem weiten Mantel Platz finden kann; die praktischen Statistiker beschäftigen sich nicht mit dem Staatsrecht ihres Landes, obwohl das unzweifelhaft zur Staatenkunde vor allem andern zu rechnen wäre, sondern überlassen das den Universitätslehrern und der freien Wissenschaft; sie registrieren keine besonderen Ereignisse und einzelne Tatsachen, wenn sie auch noch so wichtig und charakteristisch für die Staatskunde und die "Zustände" sind, und überlassen es den Staatsarchiven, die Urkunden darüber aufzubewahren; sie schildern nicht Sitten und Gebräuche, nicht Hochzeiten und Leichenfeiern usw., wiewohl das ganz unmittelbar zur Kenntnis der "Zustände" gehören würde; sie räumen überhaupt grundsätzlich keinem Einzelnen einen typischen Charakter ein, sondern sie suchen überall das der vereinzelten Beobachtung Unzugängliche, das ewig Fließende und Mannigfaltige, individuell Verschiedene an irgendeinem Punkt fest zu fassen und in das Netz ihrer Observatorien hereinzuziehen, um es dann zu sortieren, zu ordnen, und für den Gebrauch der Wissenschaften oder der praktischen Zwecke, in deren Dienst sie stehen, zuzubereiten. Dies und immer wieder dies ist nach unseren Wahrnehmungen die praktische Tätigkeit des Statistikers, und sie steht hierdurch in vollem Einklang ebenso mit demjenigen, was der herrschende Sprachgebrauch mit dem Wort verbindet, als mit unserer obigen Entwicklung.

Aber allerdings nur die Praxis der Fachmänner steht in diesem Einklang, nicht auch ihre Theorie. Zu dieser, sowie auch in den Verhandlungen der statistischen Kongresse, steht noch Vieles mit unserer Auffassung im Widerspruch. Namentlich werden sich die Statistiker schwer zu dem Geständnis entschließen, daß ihr Fach eine bloße Hilfswissenschaft bilden soll. Die richtige Einsicht wird hier besonders dadurch erschwert, daß die meisten Gelehrten dieser Art mit ihrer statistischen Beschäftigung zugleich eine Vorliebe für ein bestimmtes unter den Fächern, denen die Statistik dienen kann, vereinigen und dann in ihrer Vorstellung leicht beides sich zu  einer  komplexen Idee verschmilzt. Man kann mit Statistik verschiedene andere wissenschaftliche Beschäftigungen verknüpfen; der eine ist daneben Nationalökonom, der andere Ethnograph, der dritte Historiker, ein anderer, wie uns KOLBs sonst sehr schätzenswerte Handbücher zeigen, politischer Parteimann; und für jeden entsteht die Versuchung, sich aus dem Inhalt und der Methode seiner Studien zusammen wieder ein anderes Bild der statistischen Wissenschaft zu konstruieren; wobei es dann immer ein seltsamer, von den Vertretern der Zustandswissenschaft mit Recht gerügter Widerspruch bleibt, sich eine selbständige, beschreibende oder systematische Wissenschaft zu denken, die auf die Zahl als Darstellungsmittel beschränkt sein soll. KNIES hat in meinen Augen das große und nicht genug zu schätzende Verdienst, zuerst erkannt zu haben, daß der Name  Statistik  heterogene Dinge zusammenzwängt, aber bei der Operation der Trennung hat er das Messer nicht an der richtigen Stelle angesetzt und nicht mit sicherer Hand geführt, insbesondere das eine abgeschnittene Stück, das er politische Arithmetik nennt, nicht richtig charakterisiert. Meine Auffassung der Sache, wonach einer ganzen Gruppe von unter sich verschiedenen, aber durch das gleiche methodologische Bedürfnis verbundenen Wissenschaften die Statistik als die gemeinsame und unentbehrlich Hilfswissenschaft gegenübertritt, scheint uns die von KNIES mit Scharfsinn und Klarheit dargelegten Bedenken in ungezwungenerer Weise zu heben und zugleich die ganze Entwicklung der Statistik verständlicher zu machen. Auch schließt sie keineswegs eine Degradation der Statistik in sich. KANT hat bekanntlich, als jemand die Philosophie die Magd der Theologie nannte, geantwortet: ja, aber die Magd, die mit der Fackel vorausleuchtet. So hoch wollen wir die Hilfsfunktionen der Statistik nicht stellen, wohl aber ließe sich in einem ähnlichen Bild sagen: sie ist zwar in dienender Stellung, aber sie ist die Verwalterung, die in ein zuvor verschuldetes und dissolutes Hauswesen Klarheit und Ordnung gebracht, den unnützen Hausrat in die Rumpelkammer geworfen oder veräußert hat, die alle Einkäufe besorgt und mit stetiger Sorgfalt über dem Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben wacht, das die Gebieterinnen immer noch stets geneigt sind aus den Augen zu lassen. Oder mit anderen Worten: Die Statistik hat einer Reihe von Wissenszweigen, die zuvor in ihren Darstellungen auf allgemeine Phrasen, in ihren Lehren und Gründen auf halbwahre, im günstigsten Fall geistreiche Hypothesen beschränkt waren, ein festes Fundament unter die Füße gestellt und ein wissenschaftliches Heimatrecht verschafft. Ohne Statistik würde die Bevölkerungslehre gar nicht existieren; die glänzende Entwicklung der Nationalökonomie wäre gar nicht denkbar; der Finanzwissenschaft würde es an Stoff fehlen, wie an Beweismitteln; die Geschichte wäre in zahllosen Fällen darauf beschränkt, uns in arbiträrer Weise ein Einzelnes für ein Typisches auszugeben; die Völker- und Staatenkunde stünde auf dem Standpunkt des alten FABRI und würde uns etwa von England berichten: es habe schöne Manufakturen und viele Fabriken, besonders in Baumwoll- und Eisenwaren; der Handel sei sehr blühend; auch der Ackerbau und die Viehzucht stehen im Flor; es gebe viele reiche, aber auch viele arme Leute daselbst usw.

Die Frage, zu welchen Wissenschaften die Statistik in einem näheren Verhältnis steht, ist es nicht ohne Interesse zuerst negativ zu beantworten. Sie hat kein inneres Verhältnis zu all denjenigen Disziplinen, deren methodologisches Verfahren das der Deduktion ist; also vor allem nicht zur Mathematik, die aus einigen Axiomen, den Produkten logischer Grundgesetze und elementarer Anschauung, ihren Inhalt konstruierend entwickelt und keiner Beobachtungen für ihre Lehrsätze bedarf. Es ist eigentümlich, daß diejenige Wissenschaft, der manche die Statistik als einen ihrer Bestandteile unterordnen, ihr am diametralsten gegenübersteht. Daß die Statistik die gleichartigen individuellen Erscheinungen, die innerhalb ihres Beobachtungsfeldes eintreten, registriert, zählt, in Zahlengruppen darstellt und diese Zahlen etwa noch durch eine Reduktion auf prozentuale Verhältnisse und ähnliche Operationen verständlicher macht, begründet so wenig einen mathematischen Grundcharakter ihrer Methode und Aufgabe, wie wir einen Kassier oder Buchführer oder den Handwerker, der elliptische Tische, zylinderformige Öfen oder Billardkugeln fertigt, einen Mathematiker nennen. An der sogenannten politischen Arithmetik ist schon der Ausdruck selbst nicht richtig; man spricht von Zinsrechnung, von kaufmännischem Rechnen, aber nicht von kaufmännischer Arithmetik; die Mathematik fragt nicht danach, auf welche praktische Verhältnisse man ihre Operationen anwendet und ob man ihre Lehrsätze von der Wahrscheinlichkeitsrechnung am grünen Tisch oder an der menschlichen Sterblichkeit erprobt. So wichtig für die Schule und das Leben das sogenannte Rechnen mit benannten Zahlen ist, so bildet es doch, wissenschaftlich genommen, niemals einen Teil der Arithmetik.

Ebenso steht die Statistik den philosophischen Wissenschaften aus dem methodologischen Grund fern, weil diese zwar auf Erfahrung beruhen, sofern sie gerade das Ganze der Erfahrung und das Einzelne im Zusammenhang dieses Ganzen zu begreifen suchen, aber diese Erfahrung nicht selbst erzeugen, sondern aus anderen Wissenschaften als bereits ermittelt entlehnen und auf deduktivem Weg zu einem Gedankensystem zu vergeistigen bemüht sind. So setzt die sogenannte Naturphilosophie die Naturwissenschaften, die Ethik, Ästhetik, Rechts-, Religionsphilosophie gewisse psychologische und geschichtliche Tatsachen als gegeben voraus. Nur  eine  dieser Disziplinen macht hiervon eine wichtige Ausnahme, die Psychologie; sie nimmt ihre Erfahrung nicht anders woher, um sie nur philosophisch zu rekonstruieren, sondern sie ist selbst Erfahrungswissenschaft und steht mit den Naturwissenschaften darin auf ganz gleichem Boden, daß sie auf dem Weg der Beobachtung und Induktion Gesetze zu finden hat. Man hat sie der Philosophie nur einreihen können, weil man sich, gewissermaßen aus praktischen Gründen, genötigt sah, dieser ganz das Feld der inneren Erfahrung zuzuteilen. Wenn die Statistik der Psychologie bis jetzt nur geringe Dienste geleistet hat, so ist wohl der Hauptgrund, daß beide Wissenschaften noch in ihren Anfängen stehen, die Psychologie noch kaum befähigt ist, um der Statistik nur bestimmte Fragen zu stellen, die Statistik noch nicht entwickelt genug, um ihre Methode auf psychische Tatsachen anzuwenden.

Als eine dritte Klasse von deduktiven Wissenschaften erscheinen diejenigen, welche in positiven Urkunden eine gegebene Quelle für die Ableitung ihrer Erkenntnis haben. Unter diesem Gesichtspunkt treffen zwei sonst sehr heterogene Wissenschaften zusammen, die Theologie und die Rechtswissenschaft nach ihrer positiven Seite. Die wissenschaftliche Tätigkeit besteht im Wesentlichen hier im Interpretieren und Subsumieren und ein induktives Verfahren ist nur in sekundärer Weise denkbar. Die sogenannte Kriminalstatistik z. B. berührt nicht die Rechts-, sondern die Staatswissenschaft, nicht den Richter oder Rechtsausleger, sondern den Gesetzgeber, sodann und von anderen Gesichtspunkten aus den Psychologen, Ethnographen etc.

So bleibt also nur der Kreis der Induktions- oder Erfahrungswissenschaften übrig. Unter diesen sind gemäß dem Obigen die Naturwissenschaften von einer Beziehung zur Statistik insofern ausgeschlossen, als der typische Charakter der Einzelerscheinung reicht. Da das Individuelle jedoch überhaupt in den höheren Organisationsstufen allmählich ohne scharf abzuschneidende Grenzlinie beginnt und besonders im Leben der Tiere, die unter der menschlichen Einwirkung stehen, ein allmähliches Hinausschreiten der Natur über die ursprünglichen Grenzen ihrer Typen eintreten kann, so gibt es ein gemischtes Grenzgebiet, in welchem die Statistik, obwohl sie ihre eigentliche Heimat in der Individualwelt der menschlichen Gattung hat, doch ein analoges Verfahren auch auf einzelne Erscheinungen anderer Organismen anwendet, wie z. B. die Untersuchungen über Vererbung von Geschlecht und Eigenschaften durch eine statistische Behandlung der Erfahrungen bei der Züchtung von Haustieren wertvolles Material gewonnen haben. Das wichtigste und umfassendste Gebiet, wo die beiden großen Begriffe, Natur und Mensch, Typisches und Individuelles, sich durchdringen, ist der Leib des Menschen, die somatische Physiologie. Ein eigentümliches Pendant des statistischen Verfahrens bildet die metereologische Observation, bei welcher der Begriff des Individuellen ganz wegfällt und es sich darum handelt, einen unter einem abstrakten Kollektivbegriff der Witterung zusammengefaßten Komplex geographischer Data und fluktuierender physischer Vorgänge durch sukzessive Beobachtung an einem gegebenen Ort zu charakterisieren. Der Wechsel der Erscheinung von Moment zu Moment, statt von Individuum zu Individuum, weist hier in ähnlicher Art darauf hin, Durchschnitte und Mittelwerte zu suchen und begründet die äußere Analogie des Verfahrens.
LITERATUR: Gustav von Rümelin, Zur Theorie der Statistik, Reden und Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 1875