p-4ra-3H. GrosseTetensA. Fickvon KirchmannTwardowskiS. Freud    
 
FERDINAND BURCKHARDT
Die Vorstellungsreihe

"Die unerläßliche Bedingung der Reihenbildung bleibt stets, daß die Vorstellungen irgendwelche Elemente miteinander gemein haben. Nur  gleichartige  Vorstellungen können die Reihenform annehmen. Über den einzelnen Teilen der Reihe schwebt als das gleiche Element eine Allgemeinvorstellung, welche als einigendes Band die einzelnen Vorstellungen, welche man  Glieder  nennt, umschlingt und die einzelnen Glieder nicht nur als eine Assoziation, sondern als ein zusammengehöriges Ganzes erscheinen läßt."

"Der Unterricht hat zunächst das  Material in Reihenform anzulegen.  Diese Forderung besagt, daß alles, was in der Schule gelehrt wird, in einem  Zusammenhang  gegeben werden soll, und daß, wo sich noch keine Reihen in der Seele des Schülers gebildet haben, alles in der Seele  vereinzelt  Dastehende zusammengeführt, zu Reihen geordnet und für die Weiterführung und den Abschluß der Reihen Sorge getragen werden soll."

"Bei den heutigen Verhältnissen wird manches erreicht werden, wenn die verwandten Gebiete in der Hand von ein und demselben Lehrer liegen; dann ergeben sich Beziehungen und Verknüpfungen von selbst. Aus diesem Grunde ist das  Klassenlehrersystem  für die Volksschule das einzig richtige. Beim Fachlehrer liegt die Versuchung, nur an sein Fach zu denken und die anderen Lehrzweige zu ignorieren, sehr nahe, so daß selten eine vielfache Verwebung der Reihen stattfindet, ganz abgesehen von der Gefahr, daß bei zuvielen Fachlehrern leicht Widersprechendes in den kindlichen Gedankenkreis eingeschoben und dadurch die Einheitlichkeit desselben bedroht werden könnte."


1. Wesen und Entstehung der Reihe

In Schlafes Arm beginnt das Kind seinen Lebensmorgen. Durch die Berührung mit der Außenwelt wird aber die schlummernde Seele zur Selbsttätigkeit veranlaßt, und so entstehen Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen. Wenn nun die Objekte, von denen der Reiz ausgegangen ist, verschwunden sind, bleiben dennoch die durch sie in der Seele hervorgerufenen Zustände, wenn auch in abgeschwächter und abgeblaßter Gestalt. Diese in der Seele beharrenden Rückstände, welche wir Vorstellungen nennen, werden nun zu Kräften und Organen, mit denen sich die Seele neue Habe aneignet. Der in den Jugendjahren rasch sich mehrende Besitz, der während des ganzen Lebens an Reichtum und Mannigfaltigkeit zunimmt, würde in der Seele ein wirres Chaos bleiben, wenn nicht vermöge der Einfachheit ihres Wesens das ganze in ihr vorhandene Vorstellungsmaterial vielfache Verbindungen und Verknüpfungen einginge, wodurch die einzelnen Vorstellungen in Verhältnisse treten, die es möglich machen, sie zu einer Einheit zu vereinigen und trotz eines innigen Verbandes doch die einzelnen Vorstellungselemente zu unterscheiden. Von diesen Assoziationen ist namentlich die  Reihe  eine Erscheinung von größter Wichtigkeit für die ganze Entwicklung des Seelenlebens.

Im gewöhnlichen Leben verstehen wir unter einer  Reihe  eine Anzahl von Dingen oder Personen, die in  einer  Linie aufeinanderfolgen, z. B. Häuser, Bäume, Soldaten etc. In der  Vorstellungs reihe folgt nun auch eine größere oder geringere Anzahl von Vorstellungen nacheinander. Freilich ist nicht jede Sukzession von Vorstellungen ohne weiteres als Reihe zu bezeichnen. In der lateinischen Vorschule von PLÖTZ finden wir z. B. in Lektion 11 in der ersten Kolumne die Vokabeln  Hadria, pinus, humus, vir, scutum, Aegyptus  angegeben. Mag nun auch der Schüler sagen, daß ihm die erste "Reihe" der Vokabeln zum Memorieren aufgegeben ist, so können wir doch diese Anordnung von Wörtern keine Reihe nennen, da wir die Zusammengehörigkeit des Inhalts der einzelnen Vorstellungen vermissen. Die unerläßliche Bedingung der Reihenbildung bleibt stets, daß die Vorstellungen irgendwelche Elemente miteinander gemein haben. Nur  gleichartige  Vorstellungen können die Reihenform annehmen. Über den einzelnen Teilen der Reihe schwebt als das gleiche Element eine Allgemeinvorstellung, welche als einigendes Band die einzelnen Vorstellungen, welche man  Glieder  nennt, umschlingt und die einzelnen Glieder nicht nur als eine Assoziation, sondern als ein zusammengehöriges Ganzes erscheinen läßt. So wird die Reihe:  Romulus, Numa Pompilius, Tullus Hostilius, Ancus Martius, Tarquinius Priscus, Servus Tullius  und  Tarquinius Superbus  durch die Vorstellung "römischer König" beherrscht und zusammengehalten. Die genannte Reihe zeigt uns weiter, daß die einzelnen Glieder bei aller Gleichartigkeit doch auch verschieden voneinander sein müssen, damit sie durch die Vereinigung nicht vollständig eins werden, sondern bei aller Verbindung doch voneinander getrennt und klar unterschieden werden können. Bei einer Reihe von Soldaten gleicher Uniform oder bei einer Reihe gleicher Gitterstäbe oder gar zu ähnlicher Arbeitshäuser hindert die zu große Ähnlichkeit, die einzelnen sukzessiven Glieder auseinanderzuhalten, sie fallen darum fast ineinander. So geschieht es leicht mit Zeitreihen, z. B. mit Wochen, in denen ein Tag dem anderen glich, oder mit Raumreihen, z. B. bei Reisen in einer einförmigen Gegend; die Reihen erscheinen dann kürzer, als sie wirklich waren.

Das erwähnte Beispiel von den römischen Königen zeigt uns als weitere Eigentümlichkeit der Reihe, daß jedes Glied  eine feste Stelle zwischen zwei anderen Gliedern  hat. So gehört in dieser Reihe  Ancus Martius  stets zwischen  Tullus Hostilius  und  Tarquinius Priscus,  in der Tonreihe der Ton  f  stets zwischen  e  und  g,  in Zahlenreihe die Zahlvorstellung  5  stets zwischen  4  und  6.  Es folgen demnach die Reihenglieder ein für allemal in einer bestimmten Ordnung aufeinander, und wenn auch unser Wille die Reihe umzukehren vermag, daß ihre Glieder rückwärts reproduziert werden, so werden doch die einzelnen Glieder immer in der Form wiederkehren, daß jede Vorstellung den ihr bei der Entstehung der Verbindung angewiesenen festen Ort zwischen zwei Vorstellungen einnimmt. Mit der Reihenform verbindet sich daher das Bewußtsein des Gesetzes, daß sich die einzelnen Glieder in eine bestimmte Ordnung zu stellen haben. Auf diese in der Aufeinanderfolge obwaltende Ordnung weist auch schon der Sprachgebrauch hin, z. B. wenn wir sagen, daß der Lehrer die Kinder der Reihe nach zu fragen hat, sie in der Turnstunde der Reihe nach aufstellt etc.

Aus dem Vorstehendem ergibt sich als Resultat, daß eine Reihe  eine  nach einem bestimmten Gesetz fortschreitende Folge gleichartiger Vorstellungen ist, wobei jede Vorstellung eine bestimmte Stelle in dieser Aufeinanderfolge einnimmt.'

Das Wesen der Reihe wird sich uns noch klarer zeigen, wenn wir untersuchen, wie sie entsteht und welcher Art der Assoziation sie angehört.

Alle Vorstellungen, welche  gleichzeitig  im Bewußtsein zusammentreffen, gehen eine Verbindung miteinander ein, und zwar vollzieht sich dieser Assoziationsprozeß unwillkürlich als eine Wirkung des psychischen Mechanismus. Nach dem Gesetz der  Kontinuität  müssen sich eben die Vorstellungen als Zustände des ungeteilten Seelenwesens notwendig auf bestimmte Weise zusammenschließen. Treffen nun zwei  gleiche  Vorstellungen im Bewußtsein zusammen, so fließen sie wegen der Übereinstimmung ihres Inhalts sofort zu  einer  zusammen. Ebenso schnell vereinigen sich  ungleichartige  oder  disparate  Vorstellungen, da sie einander nicht stören und ungehindert zusammen im Bewußtsein bestehen können; sie schließen sich aneinander und bilden eine psychische Gesamtmasse, die  Komplikation,  in welcher die Einzelvorstellungen nicht zusammenfließen, sondern auch nach ihrer Vereinigung noch unterscheidbar sind. So finden wir in der  Anschauung  sämtliche von einem Ding ausgehende Wahrnehmungen zu einem Komplex verbunden, der wieder in die einzelnen Bewußtseinsakte aufgelöst werden kann, wie dies auch im Anschauungsunterricht tatsächlich geschieht.

Schwieriger dagegen assoziieren sich  gleichartige  Vorstellungen, in denen sich, z. B. in Farben, Tönen, Wörtern etc., gleiche und ungleiche Elemente vorfinden. Eine Vereinigung der ungleichen Elemente ist aber wegen des Gegensatzes ihres Inhaltes nicht möglich, sie unterliegen daher dem Prozeß der  Hemmung.  Da sich nun der Inhalt der Vorstellung nicht ändern kann, weil dadurch die Vorstellung selbst vernichtet würde und eine ganz andere entstände, so kann, obgleich der Kampf der Vorstellungen gegeneinander durch ihre Gegensätze angeregt wird, doch nur ihre Stärke, d. h. ihr Klarheitsgrad, geändert werden, wenn eine Assoziation stattfinden soll. Die schwächer gewordene Vorstellung hört durch eine Herabsetzung ihrer Intensität nicht auf, dieselbe zu sein, die sie war, wie ein Ton,  forte  oder  piano  angeschlagen, trotz des wechselnden Stärkegrades derselbe bleibt. Durch das Gegeneinanderstreben der ungleichen Elemente werden nun die Gegensätze verdunkelt, sie hemmen sich gegenseitig, worauf sie nach einer Aufhebung des Entgegengesetzten übrig bleibenden gemeinschaftlichen Elemente sich vereinigen können. Dieser von der Hemmung zurückbleibende Bestandteil wird Klarheitsrest genannt. Bei den gleichartigen Vorstellungen assoziieren sich demnach nur die Teile, welche von der Hemmung nicht betroffen werden, oder, wie man sich ausdrückt, die ungehemmt bleibenden Reste. Bei dieser Verbindung büßen die Vorstellungen an Kraft so viel ein, als zur Hemmung der Gegensätze erforderlich ist, aber eben diese Kraft, welche jede der Vorstellungen zum Sinken der anderen verwendet, wird gerade zum Bindemittel der Vorstellungen. Die Assoziation gleichartiger Vorstellungen nennt man  Verschmelzungen und unter diese ist die Reihe, welche aus lauter gleichartigen Elementen besteht, zu rechnen.

Die Reihe ist, wie wir gesehen haben, eine Kette  sukzessiver  Vorstellungen, doch treffen die einzelnen Glieder auch auch gleichzeitig im Bewußtsein zusammen. Jede Vorstellung bedarf, um zu voller Klarheit im Bewußtsein emporzusteigen, einer gewissen Zeit, auch entschwindet sie nicht plötzlich, sondern sinkt allmählich. Obgleich schwächer geworden, ist sie doch noch im Bewußtsein, wenn die nachfolgende eintritt. Beide Vorstellungen sind demnach für einen Moment gleichzeitig im Bewußtsein, so daß sich der Klarheitsrest der vorhergehenden mit der nachfolgenden verknüpft. Nehmen wir die Reihe der sächsischen Kaiser, so treten die fünf Vorstellungen, die wir mit  a, b, c, d, e  bezeichnen wollen, sukzessiv ins Bewußtsein. Wenn nun aber  a  (Heinrich I.) und b (Otto I.) beim Ablauf der Reihe unmittelbar aufeinander folgen, so sind sie doch für einen Augenblick gleichzeitig im Bewußtsein, wobei die Vorstellung  a  durch das Eintreten von  b  eine Hemmung erleidet, welche ihr Stärke bis auf  a'  herabdrückt. Es verschmilzt demnach nicht die volle Intensität von  a,  sondern nur der Intesitätsrest  a'  mit der vollen Intensität von  b.  Diese Kombination erfährt dieselbe Hemmung in dem Augenblick, in welchem  c  (Otto II.) ins Bewußtsein tritt;  b  verbindet sich nur in dem verminderten Klarheitsgrad  b'  mit ihm, während  a  noch tiefer sinkt und mit dem noch geringeren Rest  a''  mit  c  verschmilzt. In gleicher Weise vereinigen sich die nun noch folgenden Reihenglieder  d  und  e  nach Maßgabe der bei der Hemmung im Bewußtsein zurückgebliebenen Klarheitsreste der vorangehenden Glieder mit diesen, so daß wir die genannte Reihe schematisch so darstellen können:
    1. Glied: a
    2. Glied: a' b
    3. Glied: a'' b' c
    4. Glied: a''' b'' c' d
    5. Glied: a'''' b''' c'' d' e.
Die Reihe entsteht demnach kraft der Wirkung der Gleichartigkeit oder des Gegensatzes der Vorstellungen. Indem sich Reste mit Resten verbinden, findet eine  fortgesetzte Verschmelzung  statt. Die einzelnen Glieder sind durch die regelmäßige Abstufung der Reste so innig und fest zusammengekettet, daß alles untereinander zusammenhängt und auch das Endglied noch an das Anfangsglied angeschlossen ist. Wie in einer geraden Linie gleichsam die Punkte aneinander hängen, so treten hier die Vorstellungen in einer ununterbrochenen Reihenfolge auf, so daß die Sukzession eine  konstante  Form annehmen muß und die einzelnen Vorstellungen sich in derselben Folge wieder erwecken, in welcher sie ursprünglich sie ursprünglich ins Bewußtsein traten. Durch die bestimmte Regel, welche die Reihe beherrscht, und durch die Allgemeinvorstellung, unter welche alle Glieder zu subsumieren sind, wird zugleich beim Ablauf das Bewußtsein der inneren Zusammengehörigkeit aller Glieder hervorgerufen. Dadurch aber kennzeichnet sich die Reihe als ein so inniger Vorstellungsverband, daß die Teile derselben wie in einer festgehefteten Form in der Seele liegen und jeden Augenblick in derselben Ordnung wieder in die Region des Bewußtseins eintreten können. Dies führt uns zu einer Reproduktion der Reihe.


2. Ablauf der Reihe

Bestimmend für die Richtung und Art der Reproduktion ist die  Bildung  der Reihen, denn in derselben Richtung, in welcher sie in der Seele aufgebaut wurden, laufen sie auch naturgemäß ab. Die Sicherheit und Geläufigkeit der Reproduktion hängt von der  Klarheit  der einzelnen Glieder und der  wiederholten Erneuerung  der ganzen Reihe ab; denn je klarer die Einzelvorstellungen zur Zeit des Eingehens der Verbindung zu einer Reihenform im Bewußtsein waren, umso sicherer und ohne Stocken läuft die Reihe ab, und je häufiger die Reihen wiederholt werden, desto inniger und fester wird ihre Verbindung, desto schneller erfolgt die Reproduktion. Die günstigste Bedingung für das Gelingen eines vollständigen Ablaufs liegt nun in der  Kürze  der Reihen. Kürzere Reihen müssen sicherer ablaufen, da das Anfangsglied alle anderen Glieder durchdringt und selbst mit dem Endglied noch verbunden ist, so daß die ganze Kette überschaut werden kann. Bei zu lang gestreckten Reihen ist dagegen die Bindung der Glieder eine losere, und da die Reste von  a  immer kleiner werden, so daß bei zu vielen Gliedern  a  bis zur Bewußtlosigkeit verdunkelt ist und daher mit den letzten Gliedern in keiner Verbindung mehr steht, so ist die Grenze der Übersichtlichkeit überschritten. Die Erfahrung liefert daher die Tatsache, daß bei zu langen Reihen Glieder ausfallen und sich in die entstandenen Lücken Vorstellungen von einem ähnlichen oder verschiedenen Inhalte einschieben, wodurch die Reihe entstellt oder eine ganz andere wird. Das Rezitieren längerer Memorierstücke und das Wiedererzählen längerer Geschichten liefern genug Belege für diese Erscheinung.

Bei der Reproduktion der Reihen obwalten nun folgende Gesetze:

a. Zunächst kann die Reihe in derselben Ordnung, in welcher sie aufgefaßt wurde, reproduziert werden. Den Ablauf vom Anfangsglied zum Schlußglied nennt man  Evolution.  Sie erfolgt z. B. beim Rezitieren des Memorierstoffes, beim Hersagen des Einmaleins, beim Spielen einer Tonleiter. Die Entstehung der Reihe hat uns nun gezeigt, daß das erste Glied am meisten der Verdunkelung anheim gefallen ist, während jedes folgende Glied einen höheren Stärkegrad besitzt. Daraus erklärt sich die Erscheinung, daß es Kindern, wenn sie eine Reihe evolvieren sollen, bisweilen schwer wird, den Anfang anzugeben. Haben sie aber das erste Glied glücklich über die Schwelle des Bewußtseins gehoben, so folgt bald das stärkere zweite Glied, dann noch schneller das hellere dritte Glied, und so gewinnt  der Ablauf  bis zum Endglied an Sicherheit. Bei der Evolution läuft demnach die Reihe in  zunehmender Klarheit  ab.

b. Wenn man eine Reihenverbindung vom letzten Glied zum Anfangsglied hin erneuert, so nennt man diesen Ablauf die  Involution.  Diese will anfänglich schwer gelingen. So bereitet es dem Kind Schwierigkeiten, wenn es z. B. die Reihe der Flüsse, welche die Donau auf ihrem rechten Ufer aufnimmt, in umgekehrter Reihenfolge, also von Ost nach West, angeben soll. Das kommt daher, daß wir, wenn wir die Reihe rückwärts durchlaufen, auf immer dunklere Vorstellungen treffen; die einzelnen Reihenelemente ballen sich dann gewissermaßen zu einem Knäuel zusammen, so daß es uns Mühe kostet, jedem den ihm gehörigen Platz unter den anderen zuzuweisen. Bei der Involution läuft demnach die Reihe in  abgestufter Klarheit  ab. Die Involution erfordert daher große Anstrengung, und nurwenn sie vielfach stattgefunden hat, oder wenn die Reihe geradezu vom Schluß zum Anfang hin neugebildet worden ist, kann der Ablauf nach rückwärts ebenso geläufig wie der Ablauf nach vorwärts von statten gehen. Bisweilen ist die Reproduktion in umgekehrter Form gar nicht möglich, z. B. bei einem Gedicht, da sich dann keine logische Aneinanderreihung der Gedanken ergeben würde.

c. Wie steht es nun aber, wenn ein  mittleres  Glied der Reihe zum Anfangspunkt der  Reproduktion  gemacht wird? Das Kind soll das Einmaleins mit  8  so hersagen, daß es mit  3 x 8  beginn. Dann heben sich sofort die beiden ersten Glieder (1 x 8 = 8, 2 x 8 = 16) im Bewußtsein, und darauf erst laufen die nachfolgenden Glieder mit zunehmender Klarheit ab. Beim Hören der Worte: "Du hast sie alle weislich geordnet" wird dem Kind sofort bewußt, daß der Anfang des Spruchs lautet: "Herr, wie sind deine Werke so groß und viel", und dann erst evolviert die Reihe weiter: "Und die Erde ist voll deiner Güter." Diese Erscheinung erklärt sich leicht aus der Entstehung der Reihe. Gesetzt, aus der Reihe  a, b, c, d, e, f  würde  c  ins Bewußtsein gebracht. Das  c  verschmolz aber mit  a''b',  folglich werden die beiden ersten Glieder gleich mit gehoben  (simultan  reproduziert), und dann erst kehren die nachfolgenden  d, e, f  ins Bewußtsein zurück. Wir haben demnach hier die Wirkung beider Gesetze der Reihenreproduktion. Das mittlere Glied wirkt bezüglich der früheren Vorstellungen als Endglied und führt die Involution herbei, bezüglich der späteren Vorstellungen als Anfangsglied, so daß die Evolution folgt. Aus dem Gesagten läßt sich die Erscheinung, daß diese Art der Reihenreproduktion bisweilen versagt, leicht erklären.

d. Noch haben wir kurz auf die Reproduktion bei einer  Durchkreuzung  der Reihen hinzuweisen. Kreuzen sich Reihen, so haben sie ein oder mehrere Glieder gleich, z. B.
             q
             p
    a b c d e f
             o
             n
             m
Es kann daher beim Ablauf leicht vorkommen, daß man von einer Reihe in die andere überspringt, besonders wenn die Vorstellung der Hauptreihe, die den Kreuzungs- und Identitätspunkt beider Reihen bildet, mit der nächsten Vorstellung der Nebenreihe inniger verknüpft ist. So wird oft von Kindern der Spruch rezitiert: "Ich bin die Auferstehung und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich". Sie geraten also beim Hersagen aus  Joh. 11, 25  nach  Joh. 14, 6.  Beiden Sprüchen ist die Vorstellung "das Leben" gemeinsam, und dieser Identitätspunkt veranlaßt, daß die Schüler leicht aus dem einen Spruch in den anderen einbigen. Insbesondere findet dieses Ausgleiten aus der Reihe statt, wenn die Reproduktion mechanisch verläuft und nicht vom Verstand und Willen beeinflußt wird, wie auch Erwachsene oft in der Unterhaltung sich dem willkürlichen Spiel der Vorstellungen preisgeben und in verschiedene Seitenreihen geraten, so daß sie in ein den Ausgangspunkten der Unterhaltung ganz disparates Vorstellungsgebiet gelenkt werden.


3. Verschiedenheit und Wechselwirkung
der Reihen

Da alle Seelentätigkeit sukzessiv verläuft und die Seele sich selbst gedrungen fühlt, einen Zusammenhang im Strom der aufeinanderfolgenden Vorstellungen herzustellen, so bilden sich bei fortschreitender Erfahrung und Bildung unzählige Reihen. Schon wenn sich intensiv oder qualitativ unterschiedene Empfindungen in gleichmäßiger Folge wiederholen, ordnen sich die Vorstellungen nach dem wachsenden Gegensatz in der Weise, daß die am meisten entgegengesetzten Vorstellungen am entferntesten voneinander zu liegen kommen. Es bilden sich in dieser Weise  Farbenreihen,  wie  rot, orange, gelb, grün, blau, violett,  und  Tonreihen  aus den nach Höhe und Tiefe fortschreitenden Tönen. Vorstellungen von Ereignissen, mit denen sich zugleich das Bewußtsein verbindet, daß sich je eine Vorstellung zwischen einer  früheren  und  späteren  befindet, ergeben  Zeitreihen,  z. B. die chronologischen Bilderreihen der Geschichte. Aus Gesichts- und Tastempfindungen in Verbindung mit den entsprechenden Muskelempfindungen entsteht die  Raumreihe,  indem eine Vorstellung, z. B. bei der Linie, nach zwei entgegengesetzten Richtungen fortschreitet und sämtliche Glieder dieser Reihe  zugleich - also nicht die eine  vor,  die andere  nach  einer bestimmten Vorstellung, wie bei der Zeitreihe - ins Bewußtsein treten. In ähnlicher Weise gewinnen wir die  Zahlenreihe,  der die Vorstellung der Einheit, welche ihrerseits wieder die Vorstellungen der Vielheit und des Mehr oder weniger zur Voraussetzung hat, zugrunde liegt. Zu den klarsten und durchsichtigsten Reihenkombinationen gehören die  logischen  Reihen, z. B. ein System über- und untergeordneter Begriffe. Daß man je nach den verschiedenen Sachgebieten noch von anderen Reihen spricht, wird sich später ergeben.

Bei der Bildung der verschiedenen Reihen bietet nun die fortgehende  Sinnestätigkeit  in hervorragendster Weise die Grundlage. Wenn jedoch die durch sie entstehenden Reihen nicht bloß Wirkungen des psychischen Mechanismus sein sollen, zumal sie oft Vorstellungen aneinander ketten, die nichts miteinander gemein haben, und manche notwendig zusammengehörende Vorstellungen getrennt erscheinen, so müssen diese Reihen durch den sichtenden und ordnenden  Verstand  bearbeitet werden, daß alles Fremdartige ausgeschieden und das, was erfahrungsgemäß und logisch zusammen gehört, auch wirklich miteinander verbunden wird. Die richtige Gliederung und Durchbildung der Reihen erfolgt demnach nur durch das Denken. Doch auch die  Phantasie  beteiligt sich an diesem Verbindungsprozeß, da sie einer Reihe Glieder entnimmt und andere dafür einsetzt, so daß sie dadurch eine neue Reihe gestaltet, wie die dichterische Phantasie neue Gedankenverbindungen und die musikalischen Phantasie veränderte Tonreihen entwirft.

Wenn nun aber der ganze Schatz von Vorstellungen, welcher unbewußt in unserer Seele lebt, nach den verschiedensten Richtungen hin von unzähligen Reihen durchzogen ist, so ergeben sich auch manche Verhältnisse zwischen den Reihen. die festgegründeten Reihen treten in eine lebendige Wechselwirkung zueinander. Treffen sie ohne vorherige Verbindung aufeinander, so ziehen sie sich an, wenn sie gleich sind, und hemmen sich, wenn sie einander entgegengesetzt sind. So wird die Erinnerung an die Erlebnisse auf einer Reise mächtig gefördert durch die Raumreihe, welche wir uns von den durchwanderten Gegenden gebildet haben. Manche Reihen verbinden sich zu Doppelreihen, die regelmäßig gleichzeitig ablaufen, wie der Text und die Melodie eines Liedes, und wenn wir zu gleicher Zeit sprechen und schreiben, dann laufen die Reihen der Wortbilder, der Schriftbilder und der dazu gehörigen Vorstellungen nebeneinander her. Komplizierte Reihen entstehen auch durch die Assoziation von Vorstellungsreihen mit Reihen körperlicher Bewegungen, so beim Sprechen, Singen, Schreiben, Zeichnen, Turnen, Klavierspiel. Diese Verbindung ist dann oft so stark, daß mit dem Ablauf der Vorstellungsreihe die Bewegung unwillkürlich eintritt. Wir können uns schwer die Melodie eines Liedes denken, darum singen oder pfeifen wir unwillkürlich bei der Reproduktion derselben, und wenn wir uns in Gedanken eine Sonate vorführen wollen, so spielen wir mit den Fingern auf dem Tisch, wodurch die Reproduktion besser abläuft. Auf dieser stetigen Reihenverknüpfung beruth auch unsere Sprache. Reihen können sich ferner so miteinander verbinden, daß sich an das letzte Glied einer Reihe das erste der nachfolgenden anschließt. Diese Verbindung ergibt die  Reihenkette,  z. B. die Regentenreihen, die Strophen eines Gedichts. Wenn sich an ein oder mehrere Glieder einer Hauptreihe mehrere Nebenreihen anschließen, entsteht die  Reihengruppe.  Konstruieren wir z. B. aus den Städten, in denen LUTHER gewesen ist, eine Reihe: Eisleben, Magdeburg, Eisenach, Erfurt, Wittenbert, Rom, Augsburg, Altenburg, Leipzig, Worms etc. so haften an den einzelnen Gliedern die Erlebnisse LUTHERs. Die Reihen können auch gemeinsame Glieder haben, sie divergieren, wenn das Anfangsglied ein gemeinsames ist - so läßt sich, mit LUTHER beginnend, eine Reihe evangelischer Theologen und eine Reihe Pädagogen bilden - und konvergieren, wenn sie das Endglied gemeinsam haben, wie wir das bei den zu einer Willensentschließung mehrfach aufgestellten Kausalreihen sehen. Vereinigen sich nun Reihen in mannigfacher Weise, hängen Reihen mit Reihen durch Reihen zusammen, so ergibt sich ein  Reihengewebe,  das die höchste Form der Verschmelzung derselben darstellt. Verflechten sich die Reihengewebe zu einem Netz vielfach sich kreuzender Reihen, so bilden sie kräftige und anhaltende  Vorstellungsmassen,  die untereinander fest zusammenhängen und die Einheit des Gedankenkreises begründen. Zu dieser Vorstellungsmasse gehören insbesondere die vielfach verflochtenen Vorstellungsreihen, welche die Berufsarbeit, die Umgebung, die Lebensschicksale und namentlich wissenschaftliche Studien in uns erzeugen. Auf der Herstellung reicher, mannigfacher und festgeschlossener Vorstellungsmassen beruth demnach die Bildung des Menschen.


4. Die Bedeutung der Reihe für
das Seelenleben

a. Die Reihenform ist von der größten Bedeutung für unser  Vorstellungsleben.  Durch Verbindung und Verschmelzung der Vorstellungen zu Reihen werden die einzelnen Vorstellungen in eine  feste Ordnung  gebracht, in welcher jede einzelne ihre bestimmte, durch erfahrungsmäßige oder logische Beziehungen ihr zugewiesene Stelle einnimmt. Was sich vereinzelt oder zerstreut in der Seele vorfand, ist nun zu einer zusammenhängenden Schnur verknüpft, die Einzelvorstellungen sind durch die Reihe zu einem übersichtlichen Über-, Neben- und Untereinander angeordnet und zu einem vielfach verflochtenen Gewebe verbunden, so daß aller Zersplitterung und Zerfahrenheit des geistigen Lebens gewehrt ist.

Nur durch den Eintritt in die Reihenform können die Vorstellungen überhaupt ihre  Existenz behaupten,  indem sie durch ihre innige Verbindung ein Schutz- und Trutzbündnis miteinander eingegangen sind. Vorstellungen dagegen, welche unverbunden bleiben, und denen nicht durch die Angliederung an andere eine starke Widerstandsfähigkeit verliehen wird, unterliegen rasch der Hemmung und gehen daher leicht verloren. Die Vorstellungen zu Reihen verbinden, heißt demnach, sie vor Vergessenheit schützen, ihnen eine längere Dauer und einen festeren Halt geben. Hält nun aber die Seele die innigen Verbände der Vorstellungen fest, so folgt, daß mit dem Hervortreten und Bewußtwerden eines Reihengliedes sofort das mit ihm assoziierte andere Glied hervortritt und zu Bewußtsein kommt. Die Vorstellungen gewinnen somit durch die Reihenform an  Reproduktionskraft,  so daß sich die Rückkehr der Vorstellungen ins Bewußtsein leichter, schneller und sicherer vollzieht. In der Reihenverbindung finden die einzelnen Vorstellungen zahlreiche Hilfen und werden durch die vereinigte Kraft aller Glieder ins Bewußtsein gehoben, so daß es uns gelingt, mit größter Sicherheit zu den entfernteren Gliedern vorzudringen, ohne dabei durch die flutende Fülle des Vorstellungszuflusses belästigt oder beunruhigt zu werden. Die einzelnen Vorstellungen stehen uns daher im Falle des Bedarfs rasch zu Gebote. Wir bekommen eben durch die Reihenform  den Strom der Reproduktion in unsere Hand.  Durch die die Reihe beherrschende Regel ist ja das Kommen und Gehen der einzelnen Vorstellung ein für allemal fest bestimmt, und während ein ungebildeter Erzähler sich im Labyrinth seiner unwillkürlichen Vorstellungsassoziationen leicht verirrt und "von einem ins andere kommt", überschreiten dagegen die Vorstellungen des Gebildeten in sauberster Ordnung die Schwelle des Bewußtseins und defilieren in Reih und Glied. Bei der durch die Reihenform geschaffenen Anordnung muß eben jedes Reihenelement so lange warten, bis seine Zeit gekommen ist.

Die einzelnen Vorstellungen nehmen in der Reihenverbindung auch an  Klarheit  zu, denn sie erscheinen in einem helleren Licht, wenn sie als Glieder einer zusammenhängenden Gedankenkette auftreten und durch innere Verhältnisse und Beziehungen einen bestimmten Ort in diesem Verband und innigen Zusammenschluß gefunden haben. Das Einzelne ist in der Reihe und durch die Reihe in das richtige Verhältnis zum Ganzen gesetzt, darum muß es eben nach seiner Eigenart schärfer erkannt werden. Deshalb findet auch durch die Reihe die  Ausweitung des Bewußtseins  statt, indem mehrere Reihen, wenn sie nur fest gefügt sind, zugleich im Bewußtsein ablaufen können.

Den wohlgebildeten, wohlverwebten und deshalb leicht reproduzierbaren Reihen wohnt auch die stärkste  Apperzeptionskraft  inne. Mit ihnen ist ja ein fester Grundstock des Gedankengebäudes gewonnen, welcher nach allen Seiten hin Fäden ziehen und auch eintretende Vorstellungen leicht aufnehmen, mit den vorhandenen verknüpfen und ineinanderschlingen kann. Daher ist durch die Reihen ein rasches und leichtes Einleben in neue Gedankenkreise möglich, wei auch überhaupt die Beweglichkeit des Vorstellungslebens zum großen Teil von ihnen abhängt.

Die  Tätigkeit  der Seele wird bei der Bildung der Reihen in vollstem Umfang herangezogen, denn die Vereinigung von Vorstellungen zu einer Reihe kommt nur dadurch zustande, daß das Gleiche im Verschiedenen erkannt und die Seele fortwährend Vergleichen und Unterscheiden der einzelnen Glieder, wie zur Prüfung ihrer Übereinstimmung oder ihres Widerstreites aufgefordert wird. Dadurch arbeitet die Reihenbildung dem eigenlichen  Denken  vor, welches selbst aus nichts anderem besteht, als in einem reproduktionsweisen Durchlaufen mehrerer Reihen, wodurch die Seele das Gemeinschaftliche zu erfassen und festzuhalten sucht. Darum haben sämtliche Denkformen die Reihe zur Voraussetzung. Die  Begriffe  bilden sich aus einer wiederholt und schnell ablaufenden Reproduktion von Reihen gleicher Merkmale. Wenn wir nun zwischen den einzelnen Reihengliedern die Beziehungen erkennen und aussprechen, so gewinnen wir das  Urteil Der  Schluß  endlich ist weiter nichts als eine Urteilsreihe, deren innere Beziehung und gemeinsamer Bestandteil der Terminus medius [Mittelbegriff - wp] ist. Bringen wir nun die durch das Denken erworbenen Begriffe wiederum in Reihen, so entsteht das System, ein zusammenhängender organischer Gliederbau, eine Gesamtdarstellung verwandter Erkenntnisse und Wahrheiten.

b. Der Einfluß der Vorstellungsreihe reicht aber auch in die  Gefühlssphäre  hinein. Wenn ein Schüler die verschiedenen biblischen Gleichnisse in eine Reihenform gebracht hat und sie nun überschaut, so ist schon in diesem klaren Wissen ein inneres  Genügen  und ein  Gefühl der Bereicherung  eingeschlossen. Das Bewußtsein der Einheit in der Mannigfaltigkeit gewährt eine lebhafte  Befriedigung,  und die Gewißheit des sicheren und disponiblen Besitzes weckt eine  intellektuelle Lust  und ein  Gefühl der Kraft.  Aus der Erkenntnis der Übereinstimmung und notwendigen Zusammengehörigkeit der einzelnen Teile der Reihe keimt das Gefühl der  Wahrheit  hervor. Indem der reihenweise angeordnete Wissensstoff diese Gefühle auslöst, wird er zum Gegenstan einer  Wertschätzung.  Auch  ästhetische  Gefühle können durch die Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge der einzelnen Reihenglieder hervorgerufen werden, da die ästhetische Wirkung vorzüglich auf der geordneten Gliederung gleichartiger Elemente beruth. Das Schöne besteht eben in dem ebenmäßigen Verhältnis dieser einzelnen gleichartigen Teile, die sich gegenseitig vertragen und zu einem harmonischen Ganzen zusammenschließen. Das ganze Gebiet der Kunst ist von der Reihenform beherrscht, und darum können sich auch bei Kindern, wenn sie beim Schreiben, Zeichnen, Singen, Turnen etc. in die ästhetischen Elementarverhältnisse eingeführt werden nur insoweit ästhetische Gefühle auslösen, inwieweit in ihrem jungen Geist Vorstellungsreihen entstanden sind.

c. Sobald ein Wissen empfunden wird, geht es in ein  Streben  über, daher üben die Reihen auch eine starke Wirkung auf das  Streben  aus. Durch sie wird zunächst die Entstehung des  Interesses welches die Wurzel des Wollens ist, gefördert. Bei der Entwicklung einer Vorstellungsreihe harrt der Geist in immerwährender Erwartung des Kommenden und bringt jedem neuen Glied, das aus dem früheren gleichsam herauswächst, ein lebhaftes Interesse entgegen, wodurch eine höhere innere Regsamkeit hervorgerufen, der Trieb zu einem tieferen Eindringen in den Stoff geweckt und die Seele rastlos weiterstrebender und weiterspinnender Tätigkeit veranlaßt wird.

Da die verschiedenen Strebungszustände auf Vorstellungen zurückzuführen sind, so liegt zutage, daß die Vorstellungsreihen in ihrer Geschlossenheit einen mächtigen Einfluß auf die Entstehung und Entwicklung der Strebungen äußern. Unsere  Gewohnheiten, Lieblingsneigungen  und  Leidenschaften  haben alle in der Vorstellungsreihe ihren Quellpunkt und Sitz. Ganz vorzüglich aber wirken die Reihen auf den  Willen  ein. Alles, was gewollt wird, ist das gemeinschaftliche Endglied mehrerer konvergierender Reihen, die nicht immer nur nebeneinander herlaufen, sondern oft mehrfach ineinandergreifen, ja ein ganzes Reihengewebe bilden. Das Schlußglied dieser Reihen ist die Zweckvorstellung, die einzelnen Glieder der Kausalreihen bezeichnen die Mittel zur Erreichung des Zwecks. Sind die Reihen gebildet, so werden die einzelnen Mittelvorstellungen auf ihre Zweckmäßigkeit bzw. sittliche Zulässigkeit geprüft und das Für und Wider abgewogen. Wenn darauf die Erreichbarkeit des Zwecks erkannt wird und alle die dem Zweck entgegenstehenden Vorstellungen gehemmt sind, so daß der Weg klar vor Augen liegt, dann tritt die Wahl und nach ihr der Entschluß ein als die erste wirkliche Kundgebung des Willens. So beruhen die Hilfsfunktionen des Wollens, das Besinnen, Erwägen und Wählen auf der Wechselwirkung zwischen den Vorstellungen der Fördernisse und Hindernisse des Begehrens, demnach das entschiedene und zielbewußte Wollen selbst auf der Reihenverknüpfung bzw. auf der Verwebung dieser Vorstellungsreihen.

Aus einer Reihe gleichförmig in derselben Richtung sich wiederholender Willensakte entsteht nun allmählich eine allgemeine Regel des Wollens, die  Maxime,  welche für die einzelnen Fälle des Lebens die Norm abgibt für alles zukünftige, in diese Klasse gehörende Wollen. Ein einheitliches, gleichförmiges Wollen und Handeln stellt sich aber erst dann ein, wenn die Maximen unter sich wiederum verbunden und geordnet sind, daß sie ein widerspruchsloses Ganzes darstellen. Die richtig geordneten Grundsätze bilden dann im Geiste eine solche Macht, daß sie sich die gesamten Einzelwollungen unterwerfen und jene Konsequenz und Übereinstimmung des Wollens und Handelns hervorrufen, die das Wesen des Charakters ausmacht. Es beruth demnach auch der  Charakter die höchste Gestalt der psychischen Entwicklung und das Kennzeichen geistiger Mündigkeit, auf der Wirkung der Vorstellungsreihen.


5. Pädagogische Folgerungen

a. Da die Sätze der Psychologie der Nordstern für alles pädagogische Denken und Streben sind, so müssen wir die bei der Entstehung und dem Ablauf der Reihe obwaltenden Gesetze zur pädagogischen Praxis ins Beziehung bringen und mit der Lösung pädagogischer Aufgaben verknüpfen. Als Erscheinung des Vorstellungslebens muß die Reihe von besonderer Wichtigkeit für den  Unterricht  sein, dem ja in erster Linie die Bearbeitung des kindlichen Vorstellungskreises als Aufgabe zufällt. Drei Forderungen stellen nun die dargestellten Reihengesetze an den Unterricht, nämlich
    a) das Material in Reihenform anzulegen,
    b) die gebildeten Reihen miteinander zu verknüpfen,
    c) die Reihen durch Übung und Anwendung zu befestigen.
Der Unterricht hat zunächst das  Material in Reihenform anzulegen.  Diese Forderung besagt, daß alles, was in der Schule gelehrt wird, in einem  Zusammenhang  gegeben werden soll, und daß, wo sich noch keine Reihen in der Seele des Schülers gebildet haben, alles in der Seele  vereinzelt  Dastehende zusammengeführt, zu Reihen geordnet und für die Weiterführung und den Abschluß der Reihen Sorge getragen werden soll.

Der richtige Zusammenhang des Lehrstoffs wird aber im allgemeinen so getroffen, daß man immer  folgen  läßt, was durch das Vorhergehende  vorbereitet  ist und dadruch die einzelnen Vorstellungen aneinander schließt. Die zweckmäßige Anordnung hat der  Lehrplan  zu zeigen, welcher den wohlgeordneten Aufbau des ausgewählten Materials, die strenge Aufeinanderfolge und scharfe Gliederung des Stoffs darstellen muß. Dadurch soll der ganze Unterricht zu einem  zusammenhängenden Akt  gemacht werden, so daß, wenn derselbe Unterricht durch mehrere Klassen fortgeführt wird, die folgende Klasse an dasjenige Glied der Stoffreihe anknüpft, bis zu welchem die vorhergehende die Reihe aufgebaut hatte. Es ist daher ein genau ausgearbeiteter, bis in die kleinsten Partien streng zusammenhängender Lehrplan die erste Bedingung, wenn im Schüler ein einheitlicher Gedankenkreis entstehen soll. Mit der Durchführung zusammenhängender Reihen durch die gesamte Schulzeit hat ZILLER durch die Aufstellung seiner Kulturstufen und der parallel laufenden Reihe profangeschichtlicher Stoffe einen bedeutsamen Anfang gemacht.

Hauptsächlich kommt es nun auf die  Bearbeitung  der aufgestellten Pensen an, wenn eine reihenförmige Verbindung der einzelnen Kenntnisse erzielt werden soll. Bei der Analyse müssen die Einzelvorstellungen nicht bloß zutage gefördert, sondern schon geordnet werden, worauf die Synthese die sich bildende Reihe zu klären und zu erweitern, oder aus dem alten und neuen Material eine neue Kombination herzustellen hat. Die Reihen sind dabei nicht zu geben, sondern sie müssen  allmählich wachsen  und sich zusammenschließen. Läßt man die Reihe entstehen, so macht man das Interesse zu seinem Bundesgenossen; der Schüler kommt in jenen Zustand der Erwartung, daß er dem Unterricht mit Spannung und innerer Hingabe folgt. Da beim Kind erst nach und nach die Fähigkeit steigt, größere und verwickeltere Reihen zu fassen, so bilde man anfangs  kleine, durchsichtige  Reihen und schließe  jedes neu entwickelte Glied sofort  durch eine Zusammenfassung an die bereits geordneten Glieder. So entstehen aus den einzelnen Kasus die Deklinationsreihen, aus den verschiedenen Beziehungen des Handelns die Konjugationsreihen, aus einzelnen Personen eine Regentenreihe, in der Geographie die Reihen der Nebenflüsse nach einer bestimmten Richtung, im Rechnen Multiplikations- und Divisionsreihen etc. Damit die Reihen klar werden,  fasse  man die Hauptpunkte nochmals  zusammen,  zumal Kinder oft manches, was nebenbei bemerkt ist, in die Reihe aufnehmen wollen, und schreite in  gemäßigtem Tempo  vor, damit dem Schüler zur Formung der Reihe die nötige Zeit gelassen wird.

Sind nun aber die Reihen, die z. B. in einer Geschichte dargeboten werden, zu  lang,  so daß sich zuviele Ereignisse drängen und die Reste der ersten Glieder zu schwach werden, um die letzten mit zusammenzuhalten, dann  zerlege  man sie in kleine Reihen, in  methodische Einheiten.  Man gebe dabei jedem solchen Abschnitt eine begriffliche Übersicht und bringe dadurch das Ganze in  logische  Reihen, daß man jene Überschriften zu Gliedern erhebt. Die speziellen Ereignisse schließen sich dann als Nebenreihen jener Hauptreihe an. So teile man den sächsischen Prinzenraub in die Abschnitte:
    1. Veranlassung,
    2. Ausführung,
    3. Rettung Alberts,
    4. Rettung Ernsts,
    5. Lohn und Strafe.
Schon RATICH forderte, daß alles "stücklich" gelernt werde soll. Je länger die zu behandelnde Reihe ist, desto subtiler ist sie zu gliedern, wenn sie in allen Teilen klar aufgenommen werden soll. So läßt sich HERDERs Gedicht "Der gerettete Jüngling" in folgenden Haupt- und Nebenreihen darstellen:
    1. Die  schöne  Menschenseele
      a) Sie wird gefunden,
      b) dem Bischof übergeben,
      c) wird ausgebildet, d. h. geht durch Verführung verloren.
    2. Die  verlorene  Menschenseele
      a) Sie wird gefordert,
      b) gesucht,
      c) gefunden.
    3. Die  wiedergefundene  Menschenseele
      a) Sie wird aufgenommen,
      b) geläutert,
      c) ein Bild des Meisters.
Mit besonderer Sorgfalt muß auf eine klare Reihenbildung geachtet werden, wenn es sich um eine  wortgetreue  Aufnahme eines Stoffes handelt. Längere, in komplizierten Sätzen auftretende Memorierstücke sind daher in die einzelnen Glieder aufzulösen, wie die Erklärung der Artikel, Bitten etc. Durch einen Hinweis auf Parallelreihen, z. B. Text und Erklärung des 3. Artikels, läßt sich zugleich das mühsame Geschäft des Auswendiglernens erleichtern.

Der Stoff ist ferner in jeder  einzelnen  Lektion gehörig abzurunden und zusammenzufassen, daß der Schüler nicht Bruchstücke, sondern ein in allen seinen Teilen geordnetes Ganzes erhält. Der Lehrer erinnere sich immer an das Wort des alten CLAUDIUS: "Wenn das Wasser in Staubregen sich zersplittert, kann es keine Mühlen treiben." Er wird daher weise handeln, sich in jeder Stunde auf ein kleines Feld zu beschränken und dieses gehörig zu bearbeiten; selbst im kursorischen Lesen wird er nicht zu vielerlei Stücke hintereinander lesen lassen und vermeiden, die kindliche Seele mit einem disparaten Stoff zu überschütten und zu verwirren.

Ein wichtiges Ziel zur Reihenbildung ist schließlich die  zusammenhängende Wiedergabe  des Stoffs von Seiten der Kinder. Durch das Zusammenfassen verschmelzen die einzelnen Glieder umso inniger und dem Lehrer wird dadurch bekannt, wie weit die innere Gliederung der Reihe schon fortgeschritten ist. Nur lasse der Lehrer das Kind auch frei und ungehindert aussprechen, daß es sich die Reihe selbst formen muß. Er unterbreche nicht durch Dazwischenreden und vieles Fragen die Rede des Kindes, um nicht die beginnende Bildung der Reihe zu hemmen und schon Verbundenes und Zusammengefügtes wieder auseinanderzureißen. Er stelle allgemeine Fragen und übernehme mehr die Rolle des Begleiters und weniger die eines Führers. Geht die Darstellung auch anfangs langsam vonstatten so warte er mit Geduld, stockt sie, so helfe er durch die Hinzufügung von Bindewörtern (und, darauf, dann - aber, jedoch - denn, weil) nach oder weise auf die übergeordnete Reihe hin, allmählich wird sich das Kind am Ariadnefaden weiter finden. Wenn es aber beim Reihenablauf Glieder ausläßt, beliebig versetzt oder neue einschiebt, dann lasse er, wenn das Kind zuende ist, die anderen Schüler die Fehler berichtigen, die Lücken ausfüllen und das Nichthierhergehörige ausscheiden.

b. Der Unterricht hat nun auch die  gebildeten Reihen miteinander zu verknüpfen. 

Die Einheit des Gedankenkreises besteht nicht bloß darin, daß in ihm beisammen ist, was einheitlich zusammengehört, sondern daß auch  zwischen seinen Teilen  eine  Verbindung  besteht, die es dem Geist ermöglicht, bei der Beschäftigung mit seinen Vorstellungen leicht und sicher von einer Partie derselben zur anderen zu gelangen. Um diese Vollkommenheit des Gedankenkreises herbeizuführen, hat der Unterricht dafür zu sorgen, daß zahlreiche wohlverbundene, sich vielfach kreuzende Reihen und Reihengewebe entstehen, deren Knotenpunkte diejenigen Vorstellungen sind, welche mehreren Einzelreihen zugleich angehören. Je mehr sich die Reihen ineinander verflechten, desto geordneter, sicherer und verfügbarer wird das Wissen, und desto mehr kann es das Fühlen und Wollen beeinflussen.

Die Verknüpfung der Reihen wird namentlich auf der Stufe des Assoziation vorgenommen und auf den Stufen des Systems und der Methode weiter fortgeführt. Jeder Lehrer vergleicht daher zur Aussonderung des begrifflichen Materials die eben behandelte biblische Geschichte mit Erzählungen von ähnlichem bzw. entgegengesetztem Inhalt, stellt in der Lektüre inhaltverwandte Lesestücke, z. B. "Heideröslein" und "Gefunden" von GOETHE, zwecks Gewinnung der zugrundeliegenden Idee zusammen, verknüpft in der Geschichte die beiden Reihen, die er etwa über die äußere und innere Entwicklung eines Volkes angelegt hat, oder gruppiert gleichartige historische Objekte, oder schließt im Rechnen die Reihen aneinander, z. B. die Währungszahlen mit den verschiedenen Benennungen:
    1       10       100       1000
    m      dm      cm        mm
    km     hm     dkm        m
    kg       -        Lot          g
und vereinigt mit diesen Reihen wiederum die Verhältnisse des Verkehrs und Handels. Doch muß die Verknüpfung auch eine  natürliche  sein. Wenn er z. B. katechisiert über  Matthäus 26, 41:  "Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet", so darf er als Deduktionsquelle nicht den alttestamentlichen  Achan  benutzen, sondern das Beispiel aus dem genannten Textkapitel, die Verleugnung des  Petrus.  Vielfach wird noch heute bei der Erklärung von Kirchenliedern und Gedichten, wie bei der Herbeischaffung sogenannter Mustersätze für die Ableitung einer grammatischen Regel so viel disparater Stoff zusammengehäuft, daß die Bildung klarer und durchsichtiger Reihen und deren Verknüpfung geradezu zur Unmöglichkeit wird und eine unselige Zerstückelung und Zersplitterung des Gedankenkreises eintritt. Statt bei der Erklärung eines Katechismusstücks in einem Atem zu sagen: Denkt an  Adam,  an  David,  an den reichen Jüngling, an  Paulus  etc., führe man entsprechender ein  fortlaufendes Lebensbild  vor. Man stelle beim 4. Gebot den Kindern die fromme  Ruth  vor Augen, welche
    a) die Eltern ehrt, welcher es
    b) gut geht und welche deshalb
    c) lange auf Erden (in der Erinnerung der Menschen) lebt,
so verknüpft sich die Textreihe des 4. Gebots mit der Zeitreihe der biblischen Geschichte in natürlicher, klarer und darum dauernder Weise.

Weiter sind die in den  verschiedenen Lehrfächern  aufgebauten Reihen miteinander in Verbindung zu setzen, denn die einzelnen Fächer sollen nicht in atomistisch-mechanischer Weise nebeneinander betrieben werden, sondern sie müssen, da ohnedies viele gleiche und ähnliche Momente zur Verbindung drängen, zueinander in eine vielfache Verbindung treten. Dies geschieht freilich da am besten, wo der  Lehrplan  demgemäß geordnet ist, daß Gleichartiges und Verwandtes in den verschiedenen Fächern zu  gleicher  Zeit auftritt, und wo zugleich der  Lektionsplan  so eingerichtet ist, daß immer verwandte Fächer aufeinander folgen. Da wir aber gegenwärtig noch mehr oder weniger ein Lehrplanaggregat haben, so wird es eine Aufgabe für die Zukunft sein, ein Lehrplansystem zu schaffen. Immerhin wird bei den heutigen Verhältnissen manches erreicht werden, wenn die verwandten Gebiete in der Hand von ein und demselben Lehrer liegen; dann ergeben sich Beziehungen und Verknüpfungen von selbst. Aus diesem Grunde ist das  Klassenlehrersystem  für die Volksschule das einzig richtige. Beim Fachlehrer liegt die Versuchung, nur an sein Fach zu denken und die anderen Lehrzweige zu ignorieren, sehr nahe, so daß selten eine vielfache Verwebung der Reihen stattfindet, ganz abgesehen von der Gefahr, daß bei zuvielen Fachlehrern leicht Widersprechendes in den kindlichen Gedankenkreis eingeschoben und dadurch die Einheitlichkeit desselben bedroht werden könnte. Der Klassenlehrer verknüpft weit eher die vorhandenen verschiedenen Reihen, schon weil er sie selbst mit gebildet hat; er läßt daher die Kinder, um mit LESSING zu reden, aus einer Scienz in die andere schauen.

Vorzüglich sind nun die in den  zusammengesetzten  Fächern gebildeten Reihen in eine innige Verbindung zu setzen, z. B. in den einzelnen Zweigen des Religions- und Sprachunterrichts. Die Kirchenlieder und Katechismussätze lassen sich leicht mit dem Leben einer religiösen Persönlichkeit der Bibel und der Kirchengeschichte verknüpfen, und die biblische Geschichte muß mit einem Bibelspruch, einer Liederstrophe und dem Katechismustext verbunden werden. Im grammatischen Unterricht haben die Kinder zu lesen, zu schreiben, eine kleine Stilübung aufzubauen und orthographische Reihen zu entwerfen, so daß die einzelnen sprachlichen Übungen immer zusammen auftreten und einander stützen. Das Lesebuch hat nicht nur dem gesamten Sprachunterricht zu dienen, sondern muß auch in seinem belletristischen Teil die im Gesinnungs- und Realunterricht angelegten Reihen aufregen und verknüpfen. Stetig sind auch Geschichte und Geographie aufeinander zu beziehen. Spricht man vom Zug HEINRICHs IV. nach  Canossa,  so sind die nach Italien führenden Alpenstraßen heranzuziehen, behandelt man die Kreuzzüge, so sind die Länder, welche zwischen Ausgangs- und Zielpunkt der Züge liegen, wie die Wege, welche die Kreuzfahrer einschlagen mußten, aufzuführen. Ist dagegen in der Geographie vom Rhein die Rede, so sind die Kaiser, welche das Rheintal durchzogen, ins Bewußtsein zu heben. Im Gesang wird man namentlich Melodien, deren Texte in Religion oder Lektüre behandelt oder memoriert worden sind, üben, so daß Melodie und Text zu einer Einheit verschmelzen. Die Liedweisen können auch wirkungsvoll in anderen Stunden erklingen, denn es würde nur der Geschlossenheit des Vorstellungskreises zugute kommen, wenn in der Geschichte bei Kaiser FRIEDRICH I. die Kinder das  Geibelsche  Lied: "Der alte Barbarossa" anstimmen oder wenn bei einer naturgeschichtlichen Lektion über die Rose GOETHEs  Heideröslein  gesungen würde. Je mehr Fäden herüber und hinüber gezogen werden, desto mehr bewegen sich die Gedanken des Kindes auf einem ordnungsgemäßen Weg aus dem einem Gebiet zum andern, und desto mehr vervollkommnet sich der Gedankenkreis.

Endlich sind auch diejenigen Reihen, welche das Kind  neben  dem Schulunterricht durch Erfahrung und Umgang bildet, mit heranzuziehen und in das Ganze einzuordnen. Das Kind sammelt von früh an auch so manche Vorstellungen, die in seiner Seele noch unzusammenhängend aufbewahrt werden, und wenn sie fruchtbar sein sollen, sich mit den durch den Unterricht gebildeten klaren Reihen verknüpfen und so in das ganze Gedankengewebe aufgenommen werden müssen.

Um aber nun den geistigen Besitz immer disponibel zu erhalten, hat der Unterricht

c. Die Reihen durch Übung und Anwendung zu befestigen.  Die Reihenglieder haften nur dann fest aneinander und werden sicher reproduziert, wenn sie häufig in der ursprünglichen Verbindung durch die Seele gehen. Denn wie die einzelne Vorstellung sinkt, je länger es ihr versagt ist, in ein wirkliches Vorstellen überzugehen, so lösen sich auch Reihen auf, wenn sie lange nicht reproduziert werden. Auch gehen bisweilen kleinere oder größere Teile der Reihe dadurch verloren, daß einzelne Glieder in andere kräftige Verbindungen gezogen werden. Die zusammengesetzten Reihen lösen sich zuerst, während die Hauptreihe, welche eben zur Erzeugung der Nebenreihe häufiger gebraucht wurde, sich zuletzt schwächt. Es ist daher eine wiederholte Erneuerung der Reihe zugunsten des weiteren geistigen Fortschritts durchaus notwendig. Wie kann man auch das Vorstellungsgebäude weiter aufbauen wollen, wenn der frühere Grund gesunken ist!

Zur Wiederholung der Reihen nötigen aber noch andere Momente. Manche Reihen sind  unvollkommen gebildet,  da einige Glieder bei der Entstehung nicht den vollen Klarheitsgrad erlangten, so daß sie im schwachen Dämmerlicht bleiben. Dann ist es am besten, die ganze Reihe neu zu bilden und dieselbe geistige Aktion noch einmal zu vollziehen, so daß sich die schwachen Glieder stärken. Andere Reihen haben bei der kindlichen Flüchtigkeit noch  kein festes Gefüge  erhalten, so daß ihre Teile locker zusammenhängen und der Ablauf durch sich einschiebende fremde Vorstellungen ins Stocken gerät. Dies kommt oft beim Rezitieren memorierter Gedichte, beim Ansagen des Einmaleins etc. vor. Hier kann nur durch ein öfteres Durchlaufen der Reihe die gewünschte Sicherheit und Schlagfertigkeit erzielt werden. Bisweilen reproduzieren die Kinder die Reihen so schnell, daß beim Ablauf gar  keine Zeit zum Verweilen  bei den einzelnen Gliedern bleibt und diese darum den Grad der Klarheit nicht erreichen, welchen sie bei einem langsamen Ablauf erreicht haben würden. Es können dann, wie beim mechanischen Aufsagen einer Liederstrophe, sinnentstellende Wörter mit unterlaufen. Die Reihe ist nun in einem ruhigen, angemessenen Tempo zu wiederholen und jede Ungenauigkeit dabei energisch zu bekämpfen. Störungen des regelrechten Ablaufs kommen auch bei einer  Kreuzung  der Reihen vor. So geraten oft die Kinder aus dem 3. ins 4. Gebot, aus dem 7. ins 9. Gebot, aus dem 1. Artikel in die 4. Bitte oder auch aus dem Choral: "Freu dich sehr, o meine Seele" in den Choral: "Gott des Himmels und der Erden". Um solchen Verirrungen vorzubeugen, müssen durch öftere Wiederholung die Reihenelemente inner verschmolzen und befestigt werden.

Die  stereotype  Form der Einübung ist aber nur zulässig, wenn zuviele Elemente der Reihe zu lose sind und insbesondere bei den Reihen, die für andere Zwecke immer in Bereitschaft stehen müssen, so im Rechnen das Einmaleins und Eins in Eins, im Singen die gebräuchlichen Choräle und Lieder, für den chronologischen Faden der Geschichte die nötigsten Geschichtszahlen, für die rechte Anwendung im Aufsatz die Präpositionsverse, Deklinations- und Konjugationsreihen etc. Bei anderen Reihen ist dagegen zur Befestigung ein  veränderter Ablauf  vorzunehmen, schon um die ermüdende Wirkung eines Einerlei zu vermeiden. Es kommt entschieden mehr geistige Frische in das so notwendige Geschäft der Wiederholung, wenn die Reihe in umgekehrter Folge zum Ablauf kommen muß. Absolut nötig ist die Involution in der Raumlehre und Geographie, da ohne eine Umkehrung der Reihen Raumvorstellungen gar nicht entstehen würden. Es müssen auch  andere Anordnungen  und  Reihenfolgen  entworfen werden, um die einzelnen Glieder recht mobil zu machen und das Kind im Auf- und Absteigen der Reihe nach verschiedenen Richtungen hin zu üben. So kann das bekannte Lesestück "Das gute Heilmittel" mit einer Veränderung des Standpunktes vom Kind wiedergegeben werden, so daß den Vorgang  a)  der Knabe,  b)  der Arzt,  c)  die genesene Mutter erzählt. Man mache auch bisweilen eine  einzelne  Vorstellung zum  Anfangspunkt längerer  und  verschiedener  Abläufe, z. B.: Ich will eine Reise von Löbau nach Annaberg machen; wie komme ich zu Wasser dahin? (Löbauer Wasser, Spree, Havel, Elbe, vereinigte Mulde, Freiberger Mulde, Zschopau, Schma.) Welche Städte berühre ich, wenn ich von Löbau mit der Eisenbahn durch Sachsen nach Annaberg reise? Wohin muß ich fahren, wenn ich die Reise nach Annaberg von Löbau aus durch Nordböhmen machen will? Durch solche Reihenkombinationen wird der Geist vor einer Erstarrung der Reihen bewahrt; denn die Beweglichkeit des geistigen Lebens würde leiden, wenn die Reihen immer dieselbe stabile Bahn durchlaufen würden.

Die beste Befestigung gewährt endlich die fortgehende fleissige  Anwendung  der Reihen. Sie sind daher vielfach im Schulleben anzuwenden, so die Lieder bei den Andachten, bei religiösen und patriotischen Feierlichkeiten. In der Arithmetik und Geometrie müssen die Zahl- und Raumreihen, die von allem Gegenständlichen losgetrennt erscheinen, in die Verhältnisse des Menschen- und Naturlebens eingeführt werden. Zur Anwendung gehört auch die Lösung von  Aufgaben,  in welchen dem Schüler ein willkommener Spielraum für die selbsttätige Entfaltung der Reihen geboten wird, so daß er immer sicherer über seinen geistigen Besitz verfügt und in den Stand gesetzt wird, am weiteren Ausbau seines Gedankenkreises selbständig zu arbeiten.

Es bleibt nun noch, in kurzen Strichen darauf hinzuweisen, daß auch die  Zucht,  wenn sie ihre Aufgabe lösen will, Reihen zu formen, zu verknüpfen und zu befestigen hat.

Während der Unterricht den Gedankenkreis des Zöglings zu dem Zweck bearbeitet, daß er einen bestimmten Einfluß auf das sittliche Wollen ausübt, hat die Zucht den Kindlichen Gedankenkreis in ein Wollen umzusetzen und zugleich Anstalten zu treffen, daß der Zöglich der erlangten sittlichen Einsicht gemäß handelt. Sie hat die Ausgestaltung des sittlich-religiösen Charakters zum Ziel und muß demgemäß alles aufbieten, damit der Wille des Kindes allmählich eine gleichförmige Gestalt gewinnt. Alles Wollen und Tun wird aber nur dann nach und nach das Gepräge der Einheit und Stetigkeit annehmen, wenn das Kind durch regelmäßig wiederkehrende Wahrnehmungen veranlaßt wird, bestimmte Vorstellungsreihen zu bilden und diese wie die sich an sie anschließenden Handlungen häufig und ganz in derselben Weise zu wiederholen. Durch die öftere Erneuerung entsteht allmählich eine innige Verbindung zwischen den einzelnen Reihengliedern, zwischen der Vorstellungs- und Aktionsreihe und den sie veranlassenden Wahrnehmungen. In dieser festen Verbindung besteht das Wesen der  Gewohnheit welche eine Hauptgrundlage des Charakters bildet. Die pädagogische Tätigkeit, welche feste Gewohnheiten legt, nennen wir  Gewöhnung.  Will demnach die Zucht ihrem Ziel nahekommen, so hat sie namentlich Gewohnheitsreihen anzulegen und zu befestigen.

Gesetzt, ein Kind soll an  Ordnung  gewöhnt werden. Dann haben die Erziehungsstätten, Haus und Schule Einrichtungen zu treffen, daß alle Personen und Dinge ihren bestimmten Ort im Raum einnehmen. Diese sich immer gleichbleibende Verbindung der Personen und Dinge nimmt das Kind wahr und erneuert sie stetig, so daß sich in ihm feste Raumreihen bilden, in deren Aufeinanderfolge es selbst eine bestimmte Stelle einnimmt. Es wird ferner angehalten, diesen geordneten Zustand bei irgendeiner Veränderung der festbestimmten Verbindung der Dinge wieder herzustellen, so daß sich die Handlungen an jene Raumreihe anschließt. Je öfter sich diese Assoziation wiederholt, desto mehr wird es sich scheuen, den geordneten Zustand zu verändern, und desto mehr stärkt sich die Neigung, die Dinge in derselben Lage und Verbindung zu erhalten. Es gewöhnt sich an Ordnung. Wenn das Kind die Erfahrung macht, daß zuhause jede Beschäftigung ein für allemal zu einer bestimmten Zeit eintritt, daß in der Schule mit dem Glockenschlag der Unterricht beginnt und an jedem Tag regelmäßig bestimmte Lektionen wechseln, dann bilden sich Zeitreihen, und durch die Verbindung derselben mit den entsprechenden Handlungen des Kindes, wie durch die fortwährende Erneuerung der Reihenassoziationen wächst allmählich die Tugend der  Pünktlichkeit.  In gleicher Weise kann die Gewöhnung an all die Tugenden, die der Sittlichkeit den Boden bereiten, an  Gehorsam, Fleiß, Aufmerksamkeit, Verträglichkeit  etc. nur durch eine Verbindung und Befestigung von Vorstellungs- und Handlungsreihen erfolgen.

Alle Gewohnheiten treten in der  Lebensordnung  in ein System zusammen. Damit die Gewohnheitsreihen fest werden, muß in der Lebensordnung alles seine feste und unabänderliche Norm haben. Je einfacher, gleichmäßiger und regelmäßiger die Lebensweise des Hauses ist, desto fester werden die Gewohnheiten gepflanzt, und desto mehr bildet sich ein stetiges, gleichmäßiges Wollen und Handeln. Dabei bieten dem Kind das  Beispiel  und die  Führung  des Erziehers eine wesentliche Erleichterung. Der Erzieher muß die Reihen tüchtig üben und das Kind zum wiederholten Handeln nötigen. Es sind daher, um an die genannten Tugenden zu gewöhnen, oft Exerzitien anzustellen, wobei der Erzieher seinerseits eine Folgeordnung, also eine feste Reihe, entwirft, um nichts zu versäumen und auch nichts zu überstürzen. Er wird die Forderung, die er dem Zögling stellt, zu einem  Erziehungsplan  aneinanderreihen und in dieser geordneten Reihenfolge vorrücken.

Daß endlich das  Wollen  selbst auf der Reihenverbindung der Vorstellung beruth, haben wir bereits angegeben, ebenso, daß aus einer Reihe einzelner Willensimpulse ein Allgemeinwollen, die  Maxime  entsteht. Wie nun der Unterricht, um die Reihen zu befestigen, öftere Wiederholungen vorzunehmen hat, so muß auch die Zucht, damit sich der Grundsatz immer tiefer in das Leben und Streben des Zöglings senkt, reichlich Nötigung gewähren, nach der Maxime zu handeln und durch die Tat dem allgemeinen Willen eine konkrete Bestimmung zu geben. Wenn sich die Maximen allmählich über- und unterordnen und in geordnete Reihen gebracht werden, daß sie schließlich ein einheitliches System bilden, welches sich in dem Grundsatz zuspitzt, in allen Fällen nach den Vorschriften des göttlichen Sittengesetzes zu handeln, erhebt sich der Wille zur sittlichen Freiheit. Des Menschen ganzes Tun zeigt nun jene Einheit und Konsequenz des Wollens und Handelns, in der das Wesen des sittlichen Charakters besteht. Dieses Ziel erreicht freilich die Zucht nur dadurch, daß sie den Unterricht mit zu Hilfe nimmt, welcher durch eine Verknüpfung der Reihen in ein Reihengewebe einen einheitlichen Gedankenkreis gestaltet, durch welchen allein die Einheit der Person und eine Konsequenz des Wollens und Handelns möglich ist.

Aus dem Vorstehenden geht hervor, daß die Reihe eine fundamentale Bedeutung für das ganze Erziehungsgeschäft hat, und wie notwendig es daher ist, daß der Lehrer und Erzieher dieser bedeutsamen Erscheinung des Vorstellungslebens volle Beachtung zuwendet. Mit Recht sagt ZILLER: "Wer die Reihenform nicht kennt, der weiß von der Erziehung niemals, was er tut oder was er zu tun hat. Sein Handeln ist völlig blind, denn er unternimmt es, einen Stoff zu bearbeiten, dessen natürliche Beschaffenheit ihm unbekannt ist."
LITERATUR Ferdinand Burckhardt, Die Vorstellungsreihe, Meissen 1888