tb-1A. Steenbergen H. BergsonH. Prager    
 
ARTHUR LIEBERT
Bergsons Intuitivismus

"Im Allgemeinen trachten wir nicht zu erkennen, um zu erkennen, sondern zu erkennen, um eine Partei zu ergreifen, um einen Vorteil daraus zu ziehen, kurz, um ein Interesse zu befriedigen."

In einer von der Philosophie des Als Ob äußerlich stark abweichenden, im Prinzip und Kern mit ihr aber durchaus zusammenstimmenden Gestalt tritt der Geltungsirrationalismus und das Zurückgehen auf alogische Werte, tritt die Suprematie des Lebens über das Denken bei HENRI BERGSON auf. Hier ist der Psychologismus in das Licht und in den Schmelz französischen Esprits getaucht und dem Pragmatismus wird eine so energische Absage zu Teil, daß der Schein entsteht, als spiele er in der Philosophie des Intuitivismus überhaupt keine Rolle.

Ein zwar negativ gerichteter, aber wesentlicher Punkt des Intuitivismus BERGSONs besteht in der scharfen Polemik gegen jegliche intellektualistische Erkenntnistheorie. Drei besondere Mängel und Halbheiten haften derselben an, die aber alle nur die Folge der grundsätzlich falschen und unangemessenen Einstellung dieser Theorie seien. Dieses Grundgebrechen bestehe darin, daß als das einzig wertvolle Erkenntnisorgan der diskursiv arbeitende Verstand und als die einzig wertvolle Methode die Analysis, die Zerlegung des Ganzen in isolierte Teile anerkannt werde. Aus der einseitigen und ungerechtfertigten, ja sachwidrigen Bevorzugung dieser Prinzipien sollen nun im Einzelnen die schweren Mängel der gewöhnlichen rationalistischen Untersuchungsart erwachsen.

Z u n ä c h s t :  Der Intellektualismus gibt nie die Substanz der zu erkennenden Dinge, nie das Eigentümliche und Wesentliche derselben, sondern nur Äußerlichkeiten, nur formale Durchschnittswerte, wie die zufällige Analysis sie liefert; selbst" (1) er gibt stets nur das, was wir haben wollen, was uns unter einem bestimmten Gesichtspunkt gerade anzieht und beschäftigt. Die gewöhnliche Arbeit des Intellektes ist von praktischer Voreingenommenheit bestimmt; Interessenwirtschaft herrscht bei ihm. "Im Allgemeinen trachten wir nicht zu erkennen, um zu erkennen, sondern zu erkennen, um eine Partei zu ergreifen, um einen Vorteil daraus zu ziehen, kurz, um ein Interesse zu befriedigen. (2) So gewinnen wir niemals Zugang zu dem "innersten Sinn es Originals". Solange der Geist von den sekundären rationalistischen und damit - dieser Vorwurf berührt eigentümlich - von utilitaristischen Motiven geleitet wird, gelingt niemals die adaequate und restlose Aneignung des Originals; auf wirkliche vorurteilslose Einsicht, auf Wahrheit im Sinne von unverfälschten und unmittelbaren Eindringens in das Wesen der Dinge ist bei dem stets mit äußerlichen Hilfsmitteln arbeitenden, nicht geraden Wegs, sondern auf Umwegen vorhergehenden Verstande nicht zu rechnen.

Diese Unzulänglichkeit der Verstandesarbeit erwächst aus den Hilfsmitteln, deren sich die gewöhnliche Erkenntnis bedient. So kommen wir zu dem  z w e i t e n  Vorwurf gegen den Intellektualismus. Die Hilfsmittel des Intellektes sind Begriffe, sind Verstandesformen und Kategorien. Diese jedoch sind nur Zeichen und Symbole, künstliche Zurechtmachungen und Netze, durch die die dürftige und kühle Logik den Gegenstand zu ergreifen glaubt. Diese "Begriffshäute" können "nur eine künstliche Rekonstruktion des Objektes geben, von dem sie nur bestimmte, allgemeine und gewissermaßen unindividuelle Ansichten symbolisieren können; umsonst also würde man glauben, mit ihnen eine Wirklichkeit packen zu können, deren bloßen Schatten sie uns bieten." (3) "Unser Denken ist in seiner rein logischen Form unfähig, das wahre Wesen des Lebens, den tiefen Sinn der Entwickelungsbewegung vorzustellen." (4) "Tatsächlich fühlen wir auch, daß keine unserer Denkkategorien: Einheit, Vielheit, mechanische Kausalität, vernünftige Zweckmäßigkeit - die Dinge des Lebens genau deckt." (5)

Also außer der Utilität des gewöhnlichen, verstandesmäßigen Erkenntnisverfahrens ist der rationalistisch-analytischen Methode auch theoretische Unangemessenheit und Unzulänglichkeit eigen. Das folge aus dem innersten Wesen der Analysis. Was diese gibt, ist nur Stückwerk. Endlos reiht sie Gesichtspunkt an Gesichtspunkt, (6) unaufhörlich kombiniert sie Gedanken mit Gedanken (7) und glaubt, in solchen Abstraktionen wirkliche Teile in der Hand zu haben, aus denen sie das Objekt zusammensetzen könnte. (8) Niemals aber kann und wird es der Analysis aus sich heraus gelingen, ein Ganzes in seiner Ganzheit, eine konkrete Einheit in ihrer Individualität zu begreifen. Ist aber nicht selbst das Universum eine solche konkrete Einheit, ist es nicht eine Individualität, nicht eine Einzigartigkeit? Die Begriffe, mit denen man gewöhnlich arbeitet, bleiben auf Grund ihrer schematischen, stereotypen Struktur außerhalb des zu Erfassenden, sie bedingen es, daß die auf sie sich stützende Erkenntnis den Charakter der Relativität trägt. Alle Züge z.B., die mir eine Person aus einem Romane beschreiben und schildern, die sie mir durch Vergleiche näherführen wollen, "sind Zeichen, durch die man sie mehr oder weniger symbolisch ausdrückt; - sie liefern mir von ihr nur das, was ihr mit anderen gemeinsam ist und ihr nicht als Eigenstes gehört. Aber was wirklich sie selbst ist, was ihr Wesen ausmacht, läßt sich nicht von außen wahrnehmen, da es jedem andern Ding inkommensurabel ist. Beschreibung, Geschichte und Analyse lassen mich hier im Relativen. Ganz allein das Zusammentreffen mit der Person selbst würde mir das Absolute geben." (9)

Der tiefste Grund für diese Unzulänglichkeit der begriffstheoretischen Konstruktionen liegt in ihrer vollständigen Unangemessenheit gegenüber dem eigentlichen Charakter der Wirklichkeit. Indem BERGSON diesen  d r i t t e n  Mangel des Logismus entwickelt, wendet sich seine Theorie ihrem positiven Teile zu. Denn jene Behauptung der Unangemessenheit läßt sich nur dadurch aufstellen und rechtfertigen, daß dieser eigentliche Charakter der Wirklichkeit angegeben und die Bedingung für seine adaequate Erfassung positiv bestimmt wird.

Die Deutung der Wirklichkeit geht von dem aus, was der Mensch selber als sein eigentliches innerstes Wesen unmittelbar empfindet, unmittelbar erlebt. Bei unvoreingenommener Selbstbetrachtung erfaßt sich der Mensch als Aktivität, als Spontaneität. Dieses tiefste Wesen des Menschen, von dem alles ausgeht, was wir geistig und körperlich tun, bezeichnet BERGSON als "Lebensschwungkraft", von der wir sprechen, ist im Grunde ein Verlangen nach Schöpfung. Sie kann nicht absolut schöpferisch sein, weil sie die Materie, d. h. die Umkehrung ihrer eigenen Bewegung vorfindet. Wohl aber bemächtigt sie sich dieser Materie, ihrer, die reine Notwendigkeit ist, und trachtet danach, eine größtmöglichste Summe von Indeterminierthei und Freiheit in sie hineinzutragen." (10)

Und von hier aus interpretieren wir das wahre Wesen der Wirklichkeit nun als unendliches Leben, Wirken, Werden, Tätigkeit; sie ist Entfaltung des ihr innewohnenden Lebensdranges, des  èlan vital . "Das Leben geht hinaus über die Zweckmäßigkeit, wie über alle anderen Kategorien. Dem Wesen nach ist es ein durch die Materie geschleuderter Strom, der aus ihr zieht, was er eben kann". (11) Die Wirklichkeit, wie wir sie unmittelbar in uns erfassen, diejenige Wirklichkeit, die unser eigentliches und tiefstes Wesen ausmacht, die Spontaneität, Aktivität ist, ist die wahre, ist die eigentliche Wirklichkeit. -

Die übliche Begriffsarbeit ist gänzlich von dem mechanistischen und formalistischen Gesichtspunkt geleitet: die Begriffe sind hiernach feste, stabile Größen, konventionelle Formen, unbiegsame Kapseln, festgefügte Schubfächer. So stehen sich der Begriffsmechanismus und der Wirklichkeitsdynamismus beziehungslos und einander ausschließend gegenüber. Abstrakte, allgemeine Ideen, schematische Bilder können nicht den unendlichen Fluß, sie können nicht die ewig rege Kontinuität der Wirklichkeit in sich aufnehmen, sie können sie nicht zu adaequatem Ausdruck bringen. Denken wir nur an unsere eigene psychische Wirklichkeit. Wie unzulänglich ist die Begriffssprache der gewöhnlichen Psychologie, um die Fülle von Bewegungen und Nuancen unserer Seele, um die Abgestuftheit unseres Erlebens wiederzugeben. Versucht man doch sogar in der Psychologie mit festen Zeitmassen zu arbeiten, zerspaltet man doch die unaufhörlich ineinander greifende Vielheit seelischer Aktionen in einzelne angeblich selbständige Vorgänge, die man mit mathematischer Genauigkeit bestimmen möchte. Man will das Unmeßbare messen, das Irrationale rationalisieren, das Dynamische mechanisieren, das Heterogene zur Homogenität verfestigen. Die rationale Erkenntnis meint, durch ihre Formen das Flüchtige, das Eilend-Wechselnde vor dem Untergang zu bewahren. Tatsächlich aber ist dies begriffliche Festigung und Verewigung "eine Ewigkeit des Todes, denn sie ist nichts Anderes als die Bewegung, aus der die Beweglichkeit, welche sie zum Leben machte, getilgt ist." (12) Es macht die Eigenart, zugleich aber auch das Schicksal der rationalen Methode aus, daß sie mit starren, unbeweglichen Gesichtspunkten und Größen zu arbeiten gezwungen ist, (13) daß sie vom Unbeweglichen ausgeht und die Bewegung nur als Funktion der Unbeweglichkeit zu erfassen vermag. (14)

Wie aber vollzieht nun BERGSON die Grundlegung und den Aufbau der Philosophie?

Für die Erfassung des dynamischen Charakters der Wirklichkeit, für die adäquate und unmittelbare, durch keine trübenden Medien, verfälschte Erkenntnis des "Absoluten" ist es erforderlich, auf das eigene Ich, die eigene Persönlichkeit zurückzugehen und deren Wesen in dem  Akte des Erlebens und der Intuition  inne zu werden. In diesem Akte vollzieht sich die einzig berechtigte Grundlegung und Sicherung der Metaphysik.  Dieser Gedanke ist kennzeichnend für den ganzen irrationalistisch - individualistischen Dogmatismus.  BERGSON rügt es nämlich als schweren Fehler, wenn man durch eine künstliche Analyse, deren sachliche Unangemessenheit eigentlich ohne weiteres einleuchten sollte, den einheitlichen und fundamentalen Erlebnishintergrund spalte und auflockere, wenn man, statt die lebendige und aktive Persönlichkeit und die Totalität ihres Lebens zur Grundlage zu nehmen, zunächst an die Kritik des Verstandes gehe. Aber vom Denken auszugehen und mit der Kritik der Erkenntnis zu beginnen, sei nicht nur sachwidrig, da uns Realität, Wirklichkeit primär im Leben und Erleben gegeben ist, und da diese Gegebenheit über jede Kritik erhaben ist, sondern eine solche Stellungnahme im Denken und ein solches Vorgehen vom Denken aus hindert zugleich, über die theoretischen Schranken hinauszugelangen und den Rationalismus zu überwinden. (15) "Es gilt, den Knoten zu durchhauen;" sagt BERGSON einmal in "L'èvolution crèatrice", "durch einen Akt des Willens muß der Verstand aus sich heraus getrieben werden". (16) "Nicht oft genug kann es gesagt werden, Intellekt und Instinkt sind im entgegengesetzten SInne gerichtet, jener auf die tote Materie, dieser auf das Leben." (17)

Die grundlegende und ausschlaggebende Bedeutung und Leistung der I n t u i t i o n erweist sich genauer darin, daß in ihr der Zeugungsakt der Methode, der nur einen Augenblick dauert, liegt (18). Sie liefert den wahren und lebensvollen Empirismus, "der, darauf ausgeht, das Original selbst so nahe wie möglich heranzuziehen, sein Leben zu ergründen und durch eine Art intellektueller Auskultation seine Seele pochen zu fühlen." (19) Mit der Intuition ausgerüstet, kann nunmehr der Verstand "sich in der beweglichen Wirklichkeit niederlassen, ihre unaufhörlich wechselnde Richtung annehmen, kurz sie vermittelst jenes  i n t e l l e k t u e l l e n   M i t l e b e n s  ergreifen, welches man Intuition nennt." (20) Von dieser Grundlage aus gewinnt der Mensch das ersehnte unmittelbare Verhältnis zu dem wahrhaft Seienden. "Ins Innere des Lebens selber würde die I n t u i t i o n, ich meine die uninteressierte, der seiner selbst bewußt gewordene Instinkt führen; er, der fähig wäre, über seinen Gegenstand zu reflektieren und ihn ins Unendliche zu erweitern." (21)

Nicht nur Verflüssigung der Begriffe, nicht nur Auflösung der starren und schwerfälligen Erkenntnisformen in Prozesse und weiche Kontinuitäten, sondern zugleich ein feinhöriges und labiles Einfühlen in das bewegte Leben, ein gefühlsmäßiges Sicheinschmiegen in die "Ströme der Wirklichkeit", die hinter allem scheinbar Starren pulsieren: das ist die Aufgabe der metaphysischen Erkenntnis, das ist der einzige Weg, um des absoluten Wesens der Dinge in restloser und adaequater Weise habhaft zu werden. "Der Philosoph muß weiter gehen als der Forscher. Mit allem aufräumend, was bloßes Bildsymbol ist, wird er die Welt sich auflösen sehen in ein reines Fließen, in eine Kontinuität des Fließens, in ein Werden, und er wird sich so dazu bereiten, die reale Dauer dort aufzufinden, wo sie zu finden noch tiefer not tut: im Reich des Lebens und des Bewußtseins." (22)

Nur von dieser Voraussetzung aus wird es möglich, die Universal-Mathematik, diese Chimäre der modernen Philosophie", (23) an deren Wert auch KANT noch glaubte, (24) zu überwinden. Einzig und allein auf dem gewiesenen Wege gelingt es, die Metaphysik im Gegensatz zu den positiven Wissenschaften, denen der Charakter der Relativität unverlierbar anhaftet, zur absoluten Wissenschaft zu erheben und sie, was besonders betont wird, gegen alle kritischen Einwände KANTS endgültig sicher zu stellen. (25) Das Leben liegt dem Begriff voraus, es allein schafft überhaupt erst den Begriff. Nicht von der Analyse zur Intuition, sondern umgekehrt: von der schöpferischen Intuition, die ein unmittelbarer Ausdruck des Lebens ist, und die auch imstande ist, das Ganze des Lebens zu erfassen und in die Einheit seines Sinnes ungebrochen einzudringen, geht der Weg zur Analyse, zum Begriff, zu dieser sekundären, partiellen und im Partiellen bleibenden Funktion des Denkens. (26) Jegliche Kritik muß sich notwendigerweise in den starren Formen der Abstraktion und des begrifflichen Denkens bewegen, sie reicht gar nicht bis in die Höhe und Tiefe des Erlebens. Die Begriffe und Prinzipien der Kritik sind weiter nichts als spätgeborene Abstraktionen aus ihnen vorausgehenden Erlebnissen. Erst muß mittels der Intuition die Metaphysik geschaffen, erst muß mittels der Intuition die Metaphysik geschaffen, erst muß sie als Realität hingestellt werden, um gegen sie kritisch vorgehen zu können.

Wie die Wirklichkeit als ein hin und her flutender Strom von Lebensbezügen, als ein niemals ruhender Prozeß von Entwickelungen, von Bewegungen aufgefaßt wird, so soll auch der Mensch sich dieser Wirklichkeit mit den feinsten, anschmiegungsfähigsten, labilsten Organen nähern, um sich ihr einzuschmiegen.

Und er vermag dies, ist er doch selber ein Teil des Lebensganzen. Im Erleben und Fühlen kann der Mensch sich des Alllebens bemächtigen, in der Intuition offenbart sich ihm dessen Geheimnis. "Dieser entschwindenden, dieser ihren Gegenstand nur je und je beleuchtenden Intuitionen muß die Philosophie sich bemächtigen; einmal um sie festzuhalten, zum anderen, um sie zu weiten und in eins zu versöhnen. Je weiter aber die Philosophie in diesem Werke fortschreitet, um so klarer erkennt sie, daß die Intuition der Geist selbst, ja in gewissem Sinne das Leben selbst ist: während sich der Intellekt in Nachahmung des die Materie erzeugenden Prozesses von ihm abschnürt". (27) - -

Es ist leicht zu sehen, daß diese Gedanken zur  M y s t i k  führen oder aus ihr stammen. BERGSONS Philosophie ist letzten Endes ein Sprößling des mystischen Geistes, wie denn seine außerordentlich nahe Verwandtschaft mit der romantischen Philosophie Deutschlands am Tage liegt. (28) Das Leben, das sich ihm als der Grundwert darstell, wird als ein logisch nicht ausdeutbares System überintellektualistischer Aktionen aufgefaßt. Die introspektive Psychologie, die die Grundlage dieses Systems, wie die aller Systeme der Mystik und Romantik abgibt, und die in der Selbstbeobachtung besonders die irrationalen, die voluntaristischen und gefühlsmäßigen Momente des Seelenlebens hervorhebt, entwickelt sich hier wie dort zu einer  i r r a t i o n a l i s t i s c h e n   M e t a p h y s i k . Die eigentlichen und letzten Geltungen, auf die die Philosophie der Intuition sich stützt, ergeben sich aus dieser irrationalistischen Psychologie.

Aber diese irrationalistisch-psychologischen Grundgeltungen werden nun zu absoluten metaphysischen Werten hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp]. Es vollzieht sich hier die bedeutungsvolle Rehabilitierung jenes mystisch-mythischen Wesens, der sogenannten Lebenskraft, die besonders von SCHELLING und seiner Schule zu einer metaphysischen Entität erhoben wurde, und gegen deren wissenschaftliche Verwendung sich von Seiten der Naturforscher in Deutschland vornehmlich DU BOIS, HELMHOLTZ und VIRCHOW, und von philosophischer Seite LOTZE gewendet haben. Und ebenso wie die ältere, naturphilosophische Spekulation die Erfassung jenes Hintergrundes und Mittelpunktes alles Seieinden auf intellektualistischem Wege nicht für möglich hielt, sondern auf die "intellektuale Anschauung" sich stützte, so verlegt auch BERGSON sowohl den Gegenstand der Metaphysik, als auch seine philosophische Behandlung prinzipiell in das Irrationale und Mystische. Alles Sein hat nur Wert und Geltung, weil und wofern es den Charakter der Irrationalität hat: das Sein ist ein irrationaler und inkommensurabler Wert. Und weil in das Irrationale aller Wert, alle Geltung und Geltungsentscheidung verlegt wird, geschieht die Absage an den Verstand, der stets darauf ausgehe, die Wirklichkeit zu berechnen, sie gewaltsam in feste Formen und Formeln zu pressen und damit ihr ewiges Fließen und Gleiten in naturwidriger Weise zu verfestigen. Der Verstand würdige das Leben zur Maschine herab, er mache aus dem Leben ein System von Klugheitsregeln, von Kunstgriffen, von praktischen Verhaltungsweisen und ziehe es so unweigerlich in das Banale herab. Vielleicht ist gerade dieser Umstand der letzte Grund dafür, daß BERGSON den Verstand dem Gefühl unterordnet: nur dem Gefühl erschließen sich nach seiner Überzeugung Tiefe und Reichtum der Wirklichkeit, nur vor dem Gefühl erweise es sich, daß die Wirklichkeit Gehalt und Sinn besitze.

Damit ist der äußerste Gegensatz zum Griechentum erreicht. Das Griechentum ist ganz und gar vom Intellektualismus beherrscht und darum verdankt ihm die Welt die Begründung der Philosophie und der Wissenschaft. Denn nicht in der "Unmethode des Ahndens und der Begeisterung", nicht in der "Ekstase", sondern in der "kaltfortschreitenden Notwendigkeit der Sache," (29) m. a. W. einzig und allein im Logos hat es den Grund und die Sicherung der Philosophie erblickt. Die Werte aber, auf welche BERGSON Philosophie und Wissenschaft begründen will, und durch die er sie endgültig sichern zu können meint, sind keine Wissenschaftswerte, sind keine logischen Größen, keine begrifflich legitimierbaren Arbeitsmittel.
LITERATUR - Arthur Liebert, Das Problem der Geltung, Berlin 1914
    Anmerkungen
  1. HENRY BERGSON, Einführung in die Metaphysik. Autorisierte Übertragung, Jena 1909; S. 1 ff.
  2. EBENDA S. 25.
  3. EBENDA S. 11.
  4. S c h ö p f e r i s c h e E n t w i c k e l u n g , Übersetzung 1912, S. 1.
  5. E n t w i c k e l u n g S. 2.
  6. Metaphysik S. 20
  7. Metaphysik S. 23
  8. EBENDA S. 17 f.
  9. EBENDA S. 2 f.
  10. Schöpferische Entwicklung S. 255.
  11. EBENDA S. 269
  12. EBENDA S. 37
  13. EBENDA S. 34
  14. EBENDA S. 41
  15. Vgl. ALBERT STEENBERGEN, Henri Bergsons intuitive Philosophie, Jena 1909; S. 11; auch RICHARD KRONER, Henri Bergson, Logos I, 1910, Heft 1 S. 125 ff.
  16. STEENBERGEN, S. 11
  17. BERGSON, Schöpferische Entwickelung, S. 181
  18. BERGSON, Metaphysik, S. 45.
  19. EBENDA, S. 23.
  20. EBENDA, S. 43
  21. SCHÖPFER, Entw., S. 181.
  22. EBENDA S. 371
  23. Metaphysik S. 44.
  24. EBENDA S. 50
  25. EBENDA S. 55
  26. EBENDA S. 30
  27. Schöpf. Entw. S. 271 f.
  28. Ob eine mittelbare oder unmittelbare Abhängigkeit von HAMANN, HERDER, JACOBI, von dem FICHTE der späteren Zeit oder von SCHELLING und BAADER verliegt, ist mir nicht bekannt. Wollte man aber eine Parallele zwischen BERGSON und den Vertretern der deutschen Gefühlsphilosophie und Romantik ziehen, so würde man bis auf das Einzelne sich erstreckende Übereinstimmungen antreffen. Nicht wenige und nicht nebensächliche Ausführungen und Formulierungen bei BERGSON, und zwar sowohl solche, die sich gegen den Rationalismus richten als auch solche, die die eigene Stellung verdeutlichen, scheinen aus den Schriften des "Magus des Nordens" zu stammen. Aber nicht nur die einzelnen Ausführungen und Formulierungen erinnern an diesen, in BERGSON lebt der GEIST und die ganze Kulturgesinnung HAMANNS wieder auf, der so in der Tat, wie sein bester Biograph mit Recht bemerkt, den Vermittler zwischen den älteren irrationalistischen Strömungen und dem Irrationalismus des 19. Jahrhunderts darstellt; vgl. RUDOLF UNGER, Hamann und die Aufklärung; 1911, Bd. I, S. 580.
  29. HEGEL, Phänomenologie des Geistes S. 33, 7, 9, 10, 8, u. ö. vgl. auch KRONERS genannten Aufsatz, S. 138 u. ö.