ra-3E. KappLamprechtRadbruchJ. GoldsteinW. PerpeetM. Ried     
 
OSCAR EWALD
Kultur und Technik

"Mit dem ersten Stadium des Naturzustandes verglichen, sind die Errungenschaften der Zivilisation ungeheuer. Aber am Zielpunkt der absoluten, schrankenlosen Herrschaft über das Seiende gemessen, vollzieht sich ein kaum merklicher Fortschritt. Denn, da das Ziel in der Unendlichkeit gelegen ist, gibt es eigentlich auch keine wahre Annäherung an dasselbe. Der Naturmacht gegenüber ist Menschenmacht auch auf ihrem steilsten Höhepunkt - Schwäche und Ohnmacht. Und diese Unzulänglichkeit der Mittel im Hinblick auf den Endzweck charakterisiert wiederum das Verhältnis als solches. Worüber immer einer  Macht  zu gewinnen strebt, es gibt keinen Augenblick, an dem er stillstehen und zu sich sprechen könnte: ich habe mein Ziel erreicht."

Das Wesen der Zivilisation läßt sich ganz eindeutig durch den Umstand bestimmen, daß der Mensch sich aus seiner tierischen Abhängigkeit von der Natur befreit, indem er ihr als bewußte Person als ein ihr ebenbürtiges oder sogar überlegenes denkendes Subjekt entgegentritt und über sie, die bislang seinen Willen und Intellekt knechtete, seinerseits  Macht  zu gewinnen sucht. Das Streben nach Macht über die Natur ist das Signum jedweder Zivilisation. Ihren Ursprung bezeichnet daher stets ein Zustand der  Entzweiung  zwischen Subjekt und Objekt, zwischen der Menschheit und der Außenwelt, eine Art stillschweigender Spannung zwischen beiden. Dies äußert sich vor allem in der Entstehung und Entwicklung  technischer  Fertigkeiten. Der Stolz des zivilisierten Menschen ist es, die blinden Naturmächte, deren heilsamem und zerstörendem Walten der Wilde in gleichem Maße unterworfen ist, zu binden, zu beherrschen und seinen Zwecken dienstbar zu machen. Wie aber die technische Beherrschung der Natur nicht möglich ist, ohne die genaue Kenntnis ihrer Gesetze, so äußert sich die Macht der Zivilisation nicht allein in der technischen Praxis, nicht allein darin, daß die Kraft des Dampfes, der Elektrizität, des Wassers dem menschlichen Willen unterworfen wird, sondern auch in der theoretischen Forschung, die sich damit begnügt, die Richtungen und Wege ihres Wirkens zu ergründen. Auch der Gelehrte, der es unternimmt, die mannigfaltigen Gebilde der Außenwelt in ihre letzten Elemente zu zerlegen, auch er  bezwingt  von seinem Standpunkt aus die Natur, auch er trachtet danach, Macht über sie zu gewinnen, auch er will sie beherrschen. Denn nicht allein in dem Umstand, daß die theoretische Erforschung der Naturgesetze ihre technische Verwertung und Meisterung vorbereitet, liegt dieses Machtverhältnis begründet, sondern schon in der spezifischen Disposition und Gebärde des Theoretikers selber. Er tritt der Natur - das ist ja das Wesen aller Zivilisation - als einem Andern, Zweiten, als einer dunklen, feindseligen Realität entgegen, über die er  Licht  verbreiten möchte, der er jeden Rest von Unbegreiflichkeit und Unklarheit nehmen, der er -  wider ihren Willen  gleichsam - ihr Geheimnis zu entreißen strebt.

Man kann, um das in der Tiefe zu verstehen, dieses Verhältnis an einem analogen  menschlichen  verdeutlichen. Wir finden die beiden skizzierten Möglichkeiten dort wieder, wo ein Mensch über den andern zur Macht will. Er kann dies auf zwiefache Art: entweder, indem er ihn knechtet und beherrscht, sein Handeln in die Richtung auf ein bestimmtes Ziel drängt und ihm die äußere Möglichkeit nimmt, eigene Ziele nach eigener Wahl und Überlegung zu fördern; der eine Weg, der gangbarere, breitere und bequemere, der Weg der rohen Gewalt und des brutalen Eigennutzes. Oder er trachtet, ihn zu beherrschen, indem er ihn völlig  versteht,  indem er ihn mit diesem seinem Verstehen restlos zergliedert, ihn bis in die heimlichsten Tiefen der Seele ergründet und entblößt, ihm jede schützende Hülle, jede Reserve der Indidivualität schonungslos raubt; indem er das Schweigen seiner Seele durchdringt, um es in nackte Begreiflichkeiten aufzulösen. Das ist der Weg, den stärkere Menschen betreten; es ist zugleich der Weg, den tiefere Naturen am intensivsten fürchten, dort, wo ihre eigene Freiheit in Frage steht. Denn der Zwang der äußeren Gewalt ist etwas, das bloß die Oberfläche des menschlichen Seins berührt, ihre Innerlichkeit aber unversehrt läßt und das Bollwerk ihres Charakters nicht erschüttern kann. Jenem stillen, suggestiven Zwang aber, der vom kalten Auge des Beobachters ausgeht, ist die Menschenseele selber unmittelbar ausgesetzt, und er droht ihr zum vernichtenden Verhängnis zu reifen. Nicht gegen den grausamen Despoten, der über den Leib gebietet, richtet sich ihr glühendster Haß, sondern gegen denjenigen, der sie erkannt und enträtselt hat und so gleichsam von innen her sich ihrer bemächtigt.

Im Verhältnis des Menschen zur Natur sehen wir die Bestimmungen wiederkehren, die das gegenseitige Verhältnis zweier Menschen charakterisieren. Wir finden beide Male die gleichen Mittel und Wege der Unterwerfung, den Weg des äußeren und den Weg des inneren Zwanges; und auch den gleichen Zusammenhang beider Wege. Wie man einen Menschen dann auch äußerlich beherrscht und meistert, wenn man ihn zuinnerst durchschaut hat, wenn man ihm derartig jede Möglichkeit der Deckung nimmt, so setzt die technische Beherrschung der Natur die theoretische Ergründung ihrer Gesetze voraus. Die Praxis des Erfolges ist auch hier von der Tiefe und Weite der Erkenntnis abhängig. Und so ist ferner das Machtgefühl desjenigen, dem es gelungen ist, die wirren Linien des äußeren Geschehens zu klären und in einfache Formeln zu bannen, das Machtgefühl des  Forschers  der Natur gegenüber ein bei weitem sublimeres und vollkommeneres als das des Technikers, der die Resultate des Forschens übernimmt, um sie in praktische Erfindungen umzusetzen.

Wir werden sehen, daß es sich hier eigentlich nicht um eine bloße Analogie, daß es sich um einen Vergleich handelt. Die Beziehungen des Menschen zur Natur, die Art und Weise zumal, in der er sie innerlich empfängt, besitzt eine große Ähnlichkeit mit der Art seiner Einstellung, seines Reagierens auf den Nebenmenschen. Er empfängt die Natur niemals als ein rein Gegenständliches, als indifferentes Objekt, sondern immerdar als ein Persönliches.

Im Stadium der Zivilisation steht dem Menschen die Außenwelt demnach als eine spröde Macht gegenüber, der er sich nicht mehr wie im Naturzustand reflexionslos unterwirft, sondern über die er selbst Macht zu gewinnen sucht. Das Verhältnis der Macht ist aber ein absolut einseitig gerichtetes Verhältnis: es setzt in der Erhöhung des einen Teiles die Erniedrigung und Unterwerfung des andern. Deswegen liegt stets eine Nuance von Feindseligkeit in dieser Stellungnahme des Menschen zu den Dingen. Nicht allein, daß die Distanz zwischen ihnen gewahrt bleibt und durch keinen Versuch einer inneren Vereinigung überbrückt wird, in dieser Distanzierung drückt sich stets eine antagonistische Spannung aus, die, wenn sie einen bestimmten Grad der Intensität erreicht hat, zu einem Kampf auf Tod und Leben führt. Nicht allein, daß sich der Mensch dem dunklen Walten der Naturkräfte entgegenstemmt, daß er sie zu beherrschen begehrt, sein Begehren erhält einen ganz besonderen Akzent dadurch, daß er ihren spröden Widerstand als den Ausdruck seines materiellen Vorteils, sondern auch zur Wahrung seiner moralischen Würde brechen muß. Er spricht nicht ohne Grund von der "Tücke des Objekts"; und das Wort SCHILLERs vom Haß der Elemente gegen das Gebilde von Menschenhand spiegelt am deutlichsten diese Gefühlsrichtung. Im theoretischen und technischen Ringen mit den Naturmächten ist es nicht die simple Alternative des Gelingens und Mißlingens, sondern die größere, ethisch gefärbte Alternative des Sieges und der Niederlage, die vor ihm steht und den Einsatz seiner ganzen  Individualität nicht eines bloßen Teiles derselben fordert. Es ist in diesem vorsichtig berechnenden, alle Eventualitäten vorwegnehmenden, alle Chancen erwägenden Verhalten des Menschen zu den Dingen etwas, das an einen Feldzugsplan erinnert. Und so hat der Naturforscher, so hat insbesondere der Erfinder manches vom magischen Aspekt des Eroberers, des CÄSARs. Es ist die zwingende Dämonie des Machtwillens, die sich beide Male, wenngleich in verschiedenem Maße und in verschiedener Prägung äußert.

Technik und wissenschaftliche Forschung bezeichnen, wie hier bereits hervorleuchtet, nicht die höchsten Stufen menschlichen Schaffens und Seins. Wie sich die  Zivilisation  nämlich einerseits gegen den  Naturzustand  abgrenzt, ihn tief unter sich läßt, so unterscheidet sie sich andererseits von der  Kultur dem höchsten Stadium des Geistes. Die zivilisatorische Wirksamkeit vermag die Menschenseele nicht innerlich zu befriedigen und auszufüllen. Wenn sich die Forschung auch rastlos entwickelt, die Technik ungeahnte Triumphe feiert, die darin gelegene Entzweiung mit der Natur, die Entfremdung von der naiven Ursprünglichkeit des Weltgefühls, wird von der Menschenseele, solange sie im Stadium der Zivilisation verharren muß, als ein schmerzhafter Riß empfunden. Und dennoch ist die Preisgabe der Zivilisation und die schrankenlose Rückkehr zum Naturzustand, die der Prophet der Sentimentalität, JEAN JAQUES ROUSSEAU, verherrlicht hat, für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. Er kann nicht hinter die Zivilisation zurückgehen und auf ein längst verlassenes Niveau hinabsinken, er kann nicht vergessen und zunichte machen, was die unermüdliche Arbeit von Jahrtausenden war, er kann bloß über die Zivilisation hinausstreben: zur höheren Entwicklungsform der  Kultur. 

Das Wesen der Kultur besteht darin, daß sie den Menschen aus seiner feindseligen Vereinzelung befreit und ihn zu einer neuen Einheit mit dem Weltganzen erhebt. Er fühlt sich nicht mehr als ein Stück Natur gleich dem Wilden. Die Errungenschaften der Zivilisation hält er fest; aber er bleibt doch nicht in ihnen gefangen. Er fühlt sich mit dem All in einer viel innigeren Art verbunden als durch Formeln und Maschinee, als durch den kalten Mechanismus der äußeren Herrschaft. Es erwacht jenes tiefere Naturgefühl in ihm, das sich bis zu einem  kosmischen  Affekt steigert. Es erwacht in ihm überhaupt erst das Bewußtsein davon, daß das Universum kein bloßes Stückwerk, kein Chaos von einzelnen Erscheinungen, sondern eine spontane und lebendige Einheit über allen Dingen und in allen Dingen darstellt: Daß das Universum eine  Persönlichkeit  ist. Damit gewinnt er einen völlig anderen Standpunkt der Welt gegenüber. Ich habe hier daran zu erinnern, daß die Zivilisation lediglich unter dem Aspekt der  Macht  zu begreifen ist, was am Beispiel des Technikers und des Naturforschers gezeigt wurde. Sie schließt demnach jede Unmittelbarkeit der Gefühlshingabe aus, jedes Einssein mit dem Gegenstand, über den sie zur Herrschaft kommen will: wie wir die im einzelnen am Verhältnis zweier Menschen erläuterten. Gehen wir noch einen Schritt weiter, der zum entscheidenden Punkt führt. Die Zivilisation schließt ihrem Wesen nach die  Liebesidee  aus, oder wenigstens, sie schließt dieselbe nicht ein. Denn allem Lieben ist es eigen, daß es nicht auf die Macht, sondern auf den Wert gerichtet ist. Während die Macht aber ein einseitiges Verhältnis ist, bedingt der Wert ein solches des Wechselseitigkeit. (1) Den Menschen, den ich wahrhaft liebe, will ich nicht erniedrigen und knechten; denn das hieße, ihn entwerten; und das hieße, mich selbst entwerten. Mit seinem Wert steigt der meine, und umgekehrt. Diese Reziprozität [Gegenseitigkeit - wp] der Beziehungen reicht aber weit über die Sphäre des Menschlichen hinaus. Auch wer die Natur liebt, will nicht mehr seine Macht an ihr versuchen; er fühlt sich indessen auch nicht als ihr wehrloses Geschöpf, als ihr Sklave: sondern es ist jede Schranke der Fremdheit gewichen, es ist überhaupt keine Zweiheit, kein Anderssein mehr vorhanden. Eindeutig, gradlinig, innig ist dieses Verhältnis, wie das des Ich zu einem Du. Ein solcher Mensch sagt dann auch Du zur Natur, ja, er identifiziert sie schließlich mit seinem Ich, er zieht dessen Kreise so weit, bis sie alles umschließen, was ihm bisher als dunkles, unfaßbares, unheimliches Objekt gegenüberstand. Das Liebesgefühl, das sonst den Menschen bloß mit seinesgleichen oder überhaupt mit Lebendem verbindet, umfaßt hier schließlich das ganze Sein. Solcher Art ist das Empfinden des Künstlers, des Philosophen, des religiösen Gemütes: Der Eros, von dem schon PLATO spricht, ergreift hier das Universum nicht als ein Chaos einzelner Erscheinungen, sondern als Kosmos, als vollendete Einheit, wie es die der Persönlichkeit ist. Und man kann es geradezu als Kennzeichen der Genialität und des genialen Schaffens hinstellen: daß, je mehr ein Mensch ihrer teilhaft ist, er vom Weltall umso innerlicher und einheitlicher ergriffen wird, es als eine in sich beschlossene Individualität apperzipiert, deren Tiefe zugleich das Maß seiner eigenen ist.

Das Verhältnis des Menschen zur Welt gelangt somit nicht in jenem Haufen von Erfahrungen und Kenntnissen zum wahren Ausdruck, die sich jemand im Verkehr mit den einzelnen Dingen zwischen Himmel und Erde erworben hat, sondern in einem viel spontaneren und unmittelbaren Zusammenschluß, dem Zusammenschluß zweier Personen vergleichbar. Der Akzent und die Prägung dieses Verhältnisses unterscheidet die Zivilisation am deutlichsten von der Kultur. Solange man nämlich nach  Macht  über die Natur begehrt, steht man selbst einer unendlichen Macht gegenüber, die sich in Ewigkeit nicht bemeistern läßt. Weder der technische Erfinder noch der Naturforscher kommt jemals zum Ziel. Es gibt keine abschließende Weltformel der Wissenschaft oder der Technik. Die Endlosigkeit des Wegens ist ihr gemeinsames Erbteil. Mit dem ersten Stadium des Naturzustandes verglichen, sind die Errungenschaften der Zivilisation ungeheuer. Aber am Zielpunkt der absoluten, schrankenlosen Herrschaft über das Seiende gemessen, vollzieht sich ein kaum merklicher Fortschritt. Denn, da das Ziel in der Unendlichkeit gelegen ist, gibt es eigentlich auch keine wahre Annäherung an dasselbe. Der Naturmacht gegenüber ist Menschenmacht auch auf ihrem steilsten Höhepunkt - Schwäche und Ohnmacht. Und diese Unzulänglichkeit der Mittel im Hinblick auf den Endzweck charakterisiert wiederum das Verhältnis als solches. Worüber immer einer  Macht  zu gewinnen strebt, es gibt keinen Augenblick, an dem er stillstehen und zu sich sprechen könnte: ich habe mein Ziel erreicht. Greifen wir auf das frühere Beispiel zurück: das Verhältnis zweier Menschen. Niemand kann sagen, er beherrsche einen anderen vollständig, bis zur Auslöschung seiner Individualität. Nicht einmal in jenem sublimeren Sinne des restlosen Erkennens, dem sich keine verborgene Falte, kein geheimer Zwischenraum der Seele zu entziehen vermöchte. Denn die Menschenseele ist unerschöpflich in ihren Anlagen und Entwicklungsmöglichkeiten: auch für den, der sie nach allen Dimensionen durchdrungen zu haben glaubt, bleibt immer noch ein Rest, eine  andere  Möglichkeit. Aus dieser notwendigen Einschränkung zieht ja die Eifersucht, die nichts ist als die erotische Form des Machtwillens, ihre Nahrung. An ihr wird in erschreckender Weise klar, daß vom Instinkt des Besitzes zu dem der Zerstörung ein  einziger  Schritt ist. Auch der Natur gegenüber wandelt sich das Bedürfnis, sie selbständig zu beherrschen, dort, wo es sich seiner Unerfüllbarkeit bewußt wird, zu einer Regung tiefen Hasses oder Mißtrauens. Und umgekehrt: wie es auch ein Verhältnis zum Mitmenschen gibt, das vom Machttrieb frei sich nicht in endloser Besitzergreifung, sondern in einem spontanen, intensiven Zusammenschluß unserer und seiner Person erfüllt, welcher beide einander zu eigen gibt, somit in einer geheimnsivollen Wechseltätigkeit; so ist daneben, daß die Natur Objekt der Wissenschaft und der Technik ist, die sie ergreifen und beherrschen wollen - was freilich immer bloß teilweise möglich - noch eine ganz andere, intuitive Einfühlung in sie denkbar, die sie uns nicht mehr als ein Anderes, Fremdes, bloß äußerlich Anzueignendes und zu Beherrschendes, vielmehr als ein uns zuinnerst Vertrautes und Wesensgleiches darstellt, dem wir durch Liebe verbunden sind. Was wir  Naturgefühl  nennen, ein Zustand, der alle technischen und praktischen Interessen weit hinter sich läßt, bringt dieses fast restlose Einssein mit den Dingen deutlich zum Ausdruck. Das dermaßen Geschaute und Erlebte wird uns zum Sinnbild der ganzen Natur, des ganzen Universums: und schon, indem wir das Wort Universum, Weltall aussprechen, schwingt die Ahnung eines Zusammenhangs aller Phänomene in einer höchsten Einheit mit.

In diesem Einheitsgefühl, in diesem geheimnisvollen Verbundensein wurzelt alle Kultur. Hier ist die Grenze zwischen ihr und der Zivilisation bezeichnet. Die räumliche und zeitliche Welt hat, wie sie sich dem wissenschaftlichen Forscher und dem Techniker darbietet, weder Anfang noch Ende. Und sie hat daher auch keinen eigentlichen Mittelpunkt; was man so heißt, ist von diesem Standort betrachtet, Sache der Konvention und Willkür. Ihr einen wahren, unverrückbaren Mittelpunkt geben kann nicht der theoretische und praktische Verstand, der an der Kette von Ursache und Wirkung entlang von einer Erscheinung zur andern tastet, sondern das lebendige Gefühl der Individualität: der Mensch gestaltet das Chaos der Erscheinungen zum Kosmos, indem er es als eine Persönlichkeit anschaut und empfindet. Dies ist das eigentlich geniale Erlebnis des Menschen, das Welterlebnis, das daher allem wahrhaft genialen Schaffen und Sein zugrunde liegt: dem religiösen und erotischen Leben, dem künsterlischen und philosophischen Schaffen. Denn in diesen seelischen Daseinsformen und Energien entfaltet sich dasjenige, was vom Standpunkt des Individuums aus  Genialität,  vom Standpunkt der Menschheit aus  Kultur  genannt werden muß, weil es eben ein unmittelbares Verhältnis der Persönlichkeit zum Kosmos ausdrückt; wogegen alles andere, Wissenschaft und Technik, Politik und Wirtschaft, sich in der Sphäre der Zivilisation abspielen. Und wie der Naturzustand unter dem Aspekt der Not, die Zivilisation unter dem der Macht, so steht die Kultur unter dem Aspekt des  Wertes.  Es ist klar: solange wir über die Natur herrschen, sie bezwingen wollen, ist es uns letzten Endes darum zu tun, sie gänzlich in den Bannkreis unseres Willens zu ziehen, sie zu einem Stück von unserem Ich zu machen, sie als Mittel für unsere Zwecke auszunützen und damit als selbständige Realität zu entwerten. Erst indem wir sie liebend umfangen und losgelöst von jedem Gedanken einer Vermittlung und Zweckmäßigkeit uns in ihr Eigenwesen versenken, fühlen wir, daß wir selbst aus ihrer Wurzel entsprossen sind und daß unser Wert deshalb immerdar mit dem ihrigen verknüpft bleibt, mit ihm steigen und fallen muß. Nochmals sei hier an die Einseitigkeit des Machtverhältnisses und an die Wechselseitigkeit des Wertes erinnert, die sich vor allem im Liebensphänomen offenbart. In diesem Sinn kann man sagen, daß die Kultur eine Wiederaufnahme des Naturzustandes auf höherer Grundlage bedeutet.

Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen Seiten und Richtungen des Kulturphänomens, die ich vorhin erwähnte, zu charakterisieren, das künstlerische Schaffen gegen das philosophische, das Phänomen der Liebe gegen das des Glaubens abzugrenzen. Bloß darum war es mir zu tun, den Übergang von der Zivilisation zur Kultur und die bedeutsamsten Motive des Übergangs klar hervortreten zu lassen: und im Rahmen dieser Entgegensetzung namentlich das Wesen und die Bedeutung der  Technik,  die Idee, die sie im menschlichen Geistesleen vertritt, zu bestimmen. Ich glaube, es aus tiefen psychologischen Gründen einleuchtend gemacht zu haben, daß die Technik, so unentbehrlich sie gerade für die Kultur ist, dennoch nicht mit ihr identisch ist, sondern sie bloß vorbereitet.

Der Hinweis auf ihr spezifisches Motiv, das der Macht in seiner gegensätzlichen Stellung zum Wert, sollte uns zu dieser Erkenntnis bringen.

Es scheint mir daher gefehlt, die Ewigkeitsidee unseres Zeitalters, ihr Unvergängliches und Absolutes, in der Technik und der von ihr zum Ziel gesetzten Bewältigung der Natur zu suchen. Hier ist der Dualismus zwischen innerem und äußerem Sein, zwischen Subjekt und Objekt nicht überwunden, nicht zur höchsten Synthese und Einheit geläutert, in der wir das Wesen aller Kultur begründet und beschlossen sahen. Außerdem ist es ja auch von einer anderen Seite klar, daß die Technik eben, indem sie die Körperwelt zu binden strebt, in ihr gefangen bleibt. Ihr eigentlicher Sinn ist es, die Leistungsfähigkeit unserer physischen Organe fortschreitend zu erweitern: ihr Ideal wäre erfüllt, wenn es für die Empfänglichkeit unserer äußeren Sinne keine Schranken mehr gäbe, wenn unser Auge und Ohr die feinsten Schwingungen aufzunehmen imstande wären, unsere Glieder die Medien der Erde, des Wassers, der Luft widerstandslos durchmessen könnten. Eine so ungeheure Entfaltung unseres physischen Könnens wäre ein Triumph unseres Körpers,  Seele  wird man darin vergebens suchen. Und darum auch keine wahre Kultur, sondern höchstens ihre äußeren Mittel.

Aber auch vom wissenschaftlichen Betrieb haben wir gesehen, daß er die letzte Verinnerlichung und Beseelung nicht zu gewähren vermag. Das ergibt sich von selbst, sogar dann, wenn man nicht, wie das hier geschah, auf seine geheimsten psychologischen Voraussetzungen zurückgeht. Was er uns gibt, das sind bloß einzelne Tatsachenkomplexe, die wir in systematische Zusammenhänge einordnen mögen, Ausschnitte des Ganzen, niemals das Ganze selber. Das lebendige Einssein mit dem Universum, die kosmische Einfühlung wird in keiner Wissenschaft gewonnen, sie wird hier nicht einmal angestrebt.

Wäre unser Zeitalter somit ein bloß wissenschaftliches und technisches, dann besäße es zur Kultur und ihre Ewigkeitswerten überhaupt kein tieferes Verhältnis. Das ist das zunächst negative Resultat, zu dem meine Untersuchungen geführt haben. Aber wir müssen nicht bei der bloßen Negation stehen bleiben. Ein solches Verdammungsurteil wäre ungerecht, es widerspräche ihm der wahre Sachverhalt. Wohl ist es nicht zu leugnen: den eigentlichen Gebieten kulturellen Schaffens, der Kunst und der Weltanschauung entspringen gegenwärtig nicht die Triebkräft der Menschheit. Sie scheinen mir vielmehr in einer Richtung zu suchen, die weder dem Erotischen noch dem Religiösen im strengeren Sinn angehört, sondern irgendwie in der Mitte zwischen beiden liegt. Am besten bezeichnet man es vielleicht als die  Idee der sozialen Organisation. 

Damit ist aber wieder nicht behauptet, daß das Interesse vom Individuellen völlig aufs Gesellschaftliche übergegangen ist, da auch dies mit den Forderungen der Kultur unvereinbar wäre. Vielmehr unterscheidet sich die moderne Gemeinschaft von der antiken vornehmlich darin, daß jene das einzelne Individuum nicht mehr im Ganzen wie in einem starren System binden, sondern in ihm gerade zur freien und vollkommenen Entfaltung seines eigenen Wesens gelangen lassen will. Deshalb scheint es mir von besonderer Wichtigkeit, daß das 19. Jahrhundert, wie es einerseits das Jahrhundert der  Technik  war, so auch andererseits das Jahrhundert der Psychologie genannt zu werden verdient: ein gleichzeitiges Hervortreten von Gegensätzen, das diesem Jahrhundert und ebenso dem zwanzigsten sein eigentümliches dialektisches Gepräge gibt. Denn wie die Technik in der Beziehung zum Objekt aufgeht, ja den Objektivierungsprozeß, der mit der Renaissance beginnt, erst zum Abschluß bringt, so ist die Psychologie, deren außerordentlicher Einfluß nicht mehr als einige Jahrzehnte zurückreicht, diejenige Betrachtungsweise, der sich die spezifische, inkommensurable Bedeutung des individuellen Seelenlebens offenbart. Hier scheinen wir die Wurzeln moderner Kultur zu finden. Insbesondere ist das soziale Problem, das eigentlich weltbewegende unserer Zeit, in der Tiefe seiner kulturellen Bedeutung gesehen, weniger ein technisches, praktisches, als ein psychologisches.

Es ist ihm ja nicht allein die äußere, sondern vor allem die innere Gemeinschaft der Menschen zur Aufgabe gesetzt. Und so eignet auch umgekehrt der Psychologie dort, wo sie mit wahrem Verständnis betrieben wird und nicht zu eitler Selbstbespiegelung, zu einem Kult steriler Absonderlichkeiten entartet, ein eminent sozialer Zug. Sie ist dann nichts anderes als der theoretische Ausdruck der wachsenden Individualisierung, der zugleich ein  wechselseitiges Verstehen  anbahnt und die einzelnen Glieder so zum artikulierten, beweglichen Organismus verbindet. Der Sinn dieser Entwicklung ist es, daß im einzelnen die Beziehungen zur Mitwelt immer reicher und mannigfaltiger werden; seine Sozialität liegt nicht mehr darin, daß er von außen gebunden ist, sondern daß in ihm selbst die Idee des Ganzen lebendig wird. Dieser Prozeß der Verinnerlichung ist der Ewigkeitsgedanke unserer Zeit. Es ist nunmehr klar, daß die Technik nicht bloß die äußere Hülle und Form des Lebens zu bieten vermag: sein Inhalt entstammt den Tiefen des Persönlichen, das sich auch in der Gemeinschaft nicht aufgehoben, das sich hier im Gegenteil zu einer höheren Daseinsform potenziert hat.
LITERATUR - Oscar Ewald, Kultur und Technik, Logos - Internationale Zeitschrift für Philosophie und Kultur, Bd. 3, Tübingen 1912
    Anmerkungen
    1) Näher habe ich das in meiner Schrift "Gründe und Abgründe" ausgeführt.