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WILHELM WINDELBAND
Die Hypothese des Unbewußten

"Die Grundtatsache nämlich für die Anwendung der Hypothese des Unbewußten ist der Zustand des erinnerbaren Vorstellungsinhalts in der Zwischenzeit zwischen seinem ersten Auftreten im Bewußtsein und seiner, sei es einmaligen, sei es mehrmaligen Reproduktion darin. Was sind unsere Erinnerungen in den Zeiten, wo wir nicht an sie denken? Die manchmal gewiß zu beklagende, aber im ganzen doch sehr glückliche Enge unseres Bewußtseins bewahrt uns davor, alles, was wir als erinnerbar besitzen, dauernd präsent zu haben. Die einzelnen Momente, welche den Schatz unseres Gedächtnisses ausmachen, sind ja nur selten im Bewußtsein und es gehört zur Ökonomie unseres endlichen Geistes, daß wir, die wir das Ganze zusammen niemals bewältigen könnten, nur immer über einen ganz geringen Teil davon zu verfügen imstande sind."

Hochansehnliche
Festversammlung!

Die Philosophie gewinnt den Grundstock ihrer immer wiederkehrenden Probleme aus den großen Zügen des Lebens, das jedem Denkenden seine Rätsel auf die Seele drückt: die besondere Ausgestaltung aber dieses allgemeinen Inhalts erwächst jeder Zeit aus den Einsichten und Theorien der besonderen Wissenschaften. Diese entwickeln in ihrer von der Philosophie nicht bestimmten und nicht gestörten Arbeit an den Tatsachen stetig neue Erfahrungen, damit aber auch neue Begriffe und neue erklärende Theorien: sie selbst begnügen sich mit beiden, solange sie zur Verarbeitung der Tatsachen ausreichen; aber für die Philosophie werden sie zu Problemen, indem sie sich in die begrifflichen Linien des bisherigen Weltbildes einschieben und sich nun zeigen muß, wie weit sie damit vereinbar sind, ob sie sich als eine Ergänzung einfügen oder in dieser Ordnung ihre eigene Stellung nicht finden können.

Ein Beispiel dieses Vorgangs zeigt sich in der Hypothese des Unbewußten, von der ich Sie in dieser Stunde unterhalten möchte. Sie spielt, wie Sie alle wissen, in der modernen Psychologie eine hervorragende Rolle und hat darin eine solche Bedeutung gewonnen, daß man Sorge tragen muß, ob sie nicht gewisse Grundformen der bisherigen Weltvorstellung zu sprengen geeignet ist. Freilich liegt die Sache in diesem Fall so, daß die Hypothese in der empirischen Wissenschaft nicht aus deren eigenen Bedürfnissen entsprungen, sondern vielmehr aus philosophischen Motiven und Interessen in sie eingeführt worden ist: denn sie stammt aus den Zeiten, wo die Psychologie noch keine eigene selbständige Erfahrungswissenschaft war, sondern aus allgemeinen philosophischen Motiven heraus entworfen und ausgeführt wurde.

Die erst bedeutsame Erscheinungsform der Hypothese des Unbewußten tritt uns im Streit über die eingeborenen Ideen entgegen, der sich an die cartesianische Philosophie angeschlossen hat. Mit einer eigenartigen Vermischung erkenntnistheoretischer und psychologischer Gesichtspunkte meinte der cartesianische wie der stoisch-neuplatonische Rationalismus solche Wahrheiten, die, im Wesen des Geistes selbst enhalten, nicht durch seine einzelnen aus der Umwelt stammenden Erlebnisse begründet werden können, als angeboren bezeichnen zu sollen. Die Polemik, welche sich dagegen richtete, ging gern darauf ein, daß die Seele solche zu ihrem Wesen gehörige und ihr von Anfang an innewohnenden Einsichten durchaus nicht immer präsent habe, daß manche Seelen von diesem ihrem Besitz niemals etwas erführen und daß deshalb die Behauptung der eingeborenen Ideen nur unter der Voraussetzung aufrechterhalten werden könne, daß die Seele vieles in sich habe, ohne sich dessen bewußt zu sein. So ungern diese Folgerung zugegeben wurde - aus Gründen, auf die ich zurückkomme -, so wenig schien es möglich, ihr sich zu entziehen. Vielmehr nahm LEIBNIZ die Konsequenz mutig auf und führte sie bis in alle Ausgestaltungen seiner monadologischen Metaphysik durch. Nur vermöge der unbewußten Vorstellungen konnte jede Monade mit ihren Vorstellungen die gesamte Welt in sich repräsentieren und der Philosoph suchte der Paradoxie eines solchen Besitzes der Seele, den sie sich noch nicht im Bewußtsein angeeignet habe, durch eine geniale Anwendung des Infinitesimalprinzips zu entgehen, indem er eine Abnahme des Bewußtseins bis zu unendlich kleinen Intensitäten voraussetzte.

Ganz anders sind die Transzendentalphilosophen auf die Hypothese des Unbewußten gestoßen. FICHTEs Analyse des Systems der Vernunft führte auf die Empfindungen als die grundlos freien Akte des Ich, die eben deshalb als solche unbewußt seien. Zum ganzen Wesen der Intelligenz gehört nach ihm ihr durchweg reflexiver, sich selbst verdoppelnder Charakter. Sie kann nichts tun, ohne "sich selbst zuschauend" zu wissen, daß sie es tut: sie geht über jeden ihrer Akte in der Reflexion hinaus. Es gibt, wie FICHTE mit kühner Paradoxie sagt, gar keinen ersten, sondern nur einen zweiten Moment des Bewußtseins und die ganze Struktur der Wissenschaftslehre besteht in einem immer erneuten Verhältnis der bewußten zu den unbewußten Funktionen. Ja, im Begriff des Selbstbewußtseins, der doch den obersten Ausgangspunkt für FICHTE bildet, ist dieser Gegensatz zwischen dem Selbst als Funktion und dem Selbst als Inhalt von vornherein angelegt.

Niemand hat das besser zur Darstellung gebracht als SCHELLING in seinem "System des transzendentalen Idealismus". Wenn hier der ganze Zusammenhang der Vernunft im Ästhetischen gipfelt, so ist es, weil darin die volle Ausgleichung des Bewußten und des Unbewußten gesehen wird. In der Produktion des Genies hatte schon KANT die Intelligenz erkannt, welche wirkt wie die Natur, d. h. mit absichtsloser, unbewußter Zweckmäßigkeit. Bei SCHELLING trat, wie es die Ausführung in seiner Philosophie der Kunst zeigt, das kongeniale Verständnis von der aller rationalen Analyse sich entziehenden Zusammenwirkung bewußter und unbewußter Vorgänge in der schaffenden Tätigkeit des Künstlers hinzu.

Gerade diese Irrationalität der unbewußten Lebensschichten wurde von den Romantikern als den prinzipiellen Gegnern der Aufklärung und so auch von den Naturphilosophen der schellingschen Schule begierig aufgenommen. In dieser wurden die Nachtseiten des Seelenlebens und das dunkle Ineinanderspielen physiologischer und psychologischer Prozesse mit besonderer Vorliebe gepflegt und noch bei einem späten Nachsproß dieser Naturphilosophie, bei FECHNER, erfreuen wir uns an der humorvollen Schalkhaftigkeit, mit der er vom hellen Licht des bewußten Seelenlebens die Linien seiner Betrachtung in das Unterbewußte ebenso wie in das Überbewußte zieht.

Wirkte so die fichtesche Anregung zu einer Einführung der Hypothese des Unbewußten in die empirische Psychologie und ihre erklärenden Theorien, so war auch die Lehre ihres großen metaphysischen Antipoden, SCHOPENHAUERs, erst recht geeignet, das Wesen der Seele in dem ansich unbewußten Willen zu suchen und das Bewußtsein nur als eine Erscheinung dieses Willens zu betrachten, die sich verhältnismäßig spät und im engen Kreis der höheren organischen Wesen einstelle, um schließlich jenen Willen von seiner Unseligkeit im reinen Wissen und Schauen des Menschen zu erlösen. Der Wille selbst aber galt in seiner Ursprünglichkeit als der dunkle Trieb, der auch in den den Bewußtseins nicht fähigen Erscheinungen die letzte Realität ausmacht.

In ganz anderer Weise hat endlich HERBART die Hypothese des Unbewußten in die Psychologie eingeführt. Auch bei ihm beruth sie wesentlich auf den metaphysischen Fundamenten seiner Psychologie. In durchaus intellektualistischer Weise betrachtet er - darin der volle Gegner SCHOPENHAUERs - die Vorstellung als die Grundfunktion des Seelenlebens und sich in ihr die Selbsterhaltung der Seele gegen die Störungen durch andere Reale. Aber er behandelt das Bewußtsein als eine Eigenschaft der Vorstellungen, welche sie in verschiedenem Maße und derart besitzen, daß das Bewußtsein an den einzelnen Vorstellungen unter den Nullpunkt der Intensität herabgedrückt werden kann. Solche Vorstellungen sind dann nicht mehr eigentlich "wirkliche Vorstellungen", aber doch noch seelische Wirklichkeiten, welche miteinander als unbewußte Strebungen im Streit liegen und der ganze Mechanismus des Seelenlebens läuft bei HERBART darauf hinaus, daß die Vorstellungen nach Maßgabe ihrer Intensität miteinander um die Überschreitung der Bewußtseinsschwelle, um den Eintritt in den hellen Raum des Bewußtseins ringen.

So liefen viele und zum Teil sehr verschiedenartige philosophische Gedankenreihen auf das gemeinsame Erlebnis hinaus, der Psychologie diese Hypothese des Unbewußten bereitzuhalten und lange schon, ehe EDUARD von HARTMANN alle diese Momente eindrucksvoll zu einer neuen idealistischen Metaphysik zusammenfaßte, war in der Psychologie, namentlich seit ihrer vorwiegend physiologischen Orientierung, die Rede von den unbewußten psychischen Vorgängen an der Tagesordnung und man tat sich darauf namentlich in dem Sinne etwas zugute, daß man die Psychologie damit von materialistischen Neigungen zu befreien oder fernzuhalten meinte. Dazu ist dann endlich noch gekommen, daß diese Hypothese in der neueren Zeit Hand in Hand geht mit einer anderen Hypothese, welche gleichfalls als Erneuerung von Gedanken aus der großen metaphysischen Bewegung nach DESCARTES in die Psychologie hineingezogen worden ist; ich meine die dem Spinozismus nachgebildete Annahme des psychophysischen Parallelismus. Scheint doch diese mit jener zu stehen oder zu fallen. Denn wenn jedem Bewegungszustand des Leibes oder auch nur des Nervensystems ein Erlebnis der Seele entsprechen soll, so versteht es sich von selbst, daß der weitaus größte Teil dieser Erlebnisse unbewußten Charakters sein muß und daß die Seele nur mit recht vornehmer Auswahl einen sehr geringen Teil davon in bewußte Tätigkeit erhebt. Der psychphysische Parallelismus ist mit einer Lehre von der Seele, die nur bewußte und keine unbewußten Zustände hätte, niemals vereinbar.

Und so ist es den in der Psychologie und von ihr aus auch in der allgemeinen Vorstellungsweise, wie sie sich namentlich in der Literatur unserer Tage ausspricht, zur beherrschenden Meinung geworden, daß den Grundstock des Seelenlebens die breite Schicht des Unbewußten bilde, während nur die obersten Spitzen dieses ganzen Zusammenhangs im klaren Licht des Bewußtseins stehen. Man schreckt kaum mehr vor der unheimlichen Vorstellung zurück, daß zu unserem seelischen Lebensbestand Inhalte, Regungen und Strebungen gehören können, von denen wir im klaren Ablauf unserer bewußten Tätigkeiten nichts ahnen, - daß wir darauf gefaßt sein müssen, aus dieser dunklen Tiefe Mächte in uns selbst aufsteigen zu sehen, denen unser rational bewußtes Wesen nicht gewachsen ist. Was an Leidenschaft und Unvernunft aus unbekannten Gründen in das Menschenleben einbricht, das gilt als willkommene Bestätigung dieser Lebensauffassung und alle irrationalen Neigungen der heutigen Weltansicht haben hier in der dämonischen Macht des Unbewußten ihren willkommenen Sammelpunkt. Lassen Sie mich nur an die Auswüchse der sogenannten Psychoanalyse erinnern, um die bedenklichen Folgerungen zu kennzeichnen, die sich daraus ergeben können.

Wenn ich Sinn und Wert dieser Hypothese mit Ihnen einer Betrachtung zu unterziehen versuche, so werden Sie nicht von mir erwarten, daß ich den einzelnen Wendungen oder Anwendungen der Hypothese nachgehe. Das ist nicht meine Aufgabe und ich würde als der Laie, der ich in der heutigen Psychologie bin, kaum das Recht dazu haben oder anerkannt finden. Ich kann die Frage des Unbewußten nur an dem Punkt aufnehmen, wo sie heute - in dem eingangs angedeuteten Sinne - von der empirischen Wissenschaft der Philosophie als Problem übergeben wird und ich kann von da aus versuchen, dieses Problem allgemeinen philosophschen Überlegungen einzufügen.

Dazu gehört in erster Linie eine methodologische Besinnung, die aber sogleich auch, wie es stets der Fall ist, die sachliche Problemlage berühren muß. Denn man kann keine methodologische Untersuchung anstellen, ohne von den Dingen zu reden, auf welche die Methode angewendet werden soll.

Das "Unbewußte", von dem in diesem Zusammenhang die Rede ist, ist niemals eine Tatsache der Erfahrung, niemals der Inhalt eines Wahrnehmungserlebnisses: wäre es dies, so wäre es ja bewußt. Das Unbewußte, von dem in der Psychologie die Rede ist, bedeutet immer die Annahme eines Tatsächlichen, das wir nicht selbst erfahren, also eine Hypothese und zwar eine solche, die nicht im eigensten Sinn des Wortes verifizierbar ist: denn wäre es hinterher erfahrbar, so wäre es wiederum nicht mehr das Unbewußte. Das Motiv aber der Hypothese besteht in einem Bedürfnis der Erklärung der Bewußtseinszustände, die wir erfahren; wir greifen zu dieser Erklärungsweise, wo wir im Umkreis des Bewußtseins selbst die Erklärung von dessen Erlebnissen nicht finden können. Ist aber so das Unbewußte der Inhalt einer nicht verifizierbaren Hypothese, so bleibt es uns auch seinem Wesen nach unbekannt und unaussagbar. Wir können es nur andeuten durch Analogiebezeichnungen zu den bewußten Zuständen, die wir damit auf irgendeine Weise in erklärenden Zusammenhang bringen wollen. Was ein unbewußtes Gefühl, was ein unbewußter Trieb, was eine unbewußte Vorstellung ihrem eigensten Wesen nach sind, kann niemand aussagen. Wir können immer nur andeuten, daß wir damit etwas meinen, was, wenn es ins Bewußtsein träte, eine Vorstellung, ein Trieb, ein Gefühl sein würde, was aber dieses doch eben wirklich nicht ist.

Zweitens ist hervorzuheben, daß der Rückgriff auf das Unbewußte in der Psychologie nur dann erlaubt ist, wenn die Annahme physischer Zustände und Verhältnisse zur Erklärung der betreffenden bewußten Erscheinungen in strikt nachweisbarer Weise nicht ausreicht. Das ist eine sehr wesentliche und bedeutsame Restriktion, welche der profusen [überflüssigen - wp] und leichtfertigen Anwendung der Hypothese einen Riegel vorschiebt. Unbewußt ist ja ansich auch die ganze körperliche Wirklichkeit mit Einschluß des organischen Leibes, seiner Zustände und Tätigkeiten. Aber gerade dieses physisch Unbewußte ist nicht gemeint, wenn von der psychologischen Hypothese es Unbewußten die Rede ist. Vielmehr muß in jedem besonderen Fall durchaus nachgewiesen werden, daß zur Erklärung der bewußten Zustände die Annahme des unbewußt Physischen nicht ausreicht, ehe man dazu schreiten darf, von unbewußten seelischen Zuständen oder Tätigkeiten auch nur hypothetisch zu reden. Ein sehr interessantes Beispiel haben in dieser Hinsicht die "unbewußten Schlüsse" gebildet, welche lange Zeit in der Theorie der Sinneswahrnehmung bei den Physiologen und den Psychologen eine wichtige Rolle gespielt haben. Inbesondere war es die Entwicklung der Raumvorstellung, ihre zweifellose Erziehbarkeit durch die Erfahrung, welche die Mitwirkung der Spuren früherer Erlebnisse bei der Deutung des unmittelbaren Erlebnisses nahelegte. Und ebenso schienen die "Lokalzeichen", die in der Raumauffassung die entscheidenden Momente darbieten, als unbewußte Empfindungen minimaler Bewegungsantriebe für die Einstellung des fixierenden und akkomodierenden Auges den Wert von Prämissen in unbewußten Schlußtätigkeiten zu bilden. In der Tat handelte es sich dabei um Schlüsse, welche gemacht werden müßten, wenn der Vorgang ein logischer Prozeß im Bewußtsein wäre. Aber sas ist er nun eben nicht und es ist sehr zu bedenken, ob nicht die Annahme eines psychophysischen Mechanismus hier geradeso weit zur Erklärung führt, wie bei der Lehre von der einfachen Empfindung. Wie dort nämlich an die einzelne Nervenerregung ohne alle analytische Beziehung rein synthetisch die besondere Empfindung als die psychische Begleiterscheinung (ich möchte mich möglichst kategorial indifferent ausdrücken) gesetzmäßig gebunden ist, ebenso gehört im psychophysischen Mechanismus zu einem komplexen Gebilde sensibler und motorischer Erregungszustände der tastenden Hand oder des "in die Ferne tastenden" Auges gesetzmäßig die Vorstellung bestimmter räumlicher Verhältnisse. Das eine ist freilich so synthetisch und unbegreiflich wie das andere; aber zur Einschiebung unbewußter Schlußtätigkeiten ist darum auch im einen Fall ebensowenig genügenden Veranlassung wie im anderen.

Eben deshalb aber behält nun drittens das Unbewußte in der psychologischen Hypothese, gerade weil sie dessen physischen Charakter ausschließt, seine dauernde Beziehung zur seelischen Wirklichkeit. Es bedeutet kein physisch Unbewußtes; dieses letztere ist uns ja durchaus geläufig und im Rahmen der geltenden Weltvorstellung problemlos. Das Neue aber in der psychologischen Hypothese ist das seelisch Unbewußte und obwohl wir, wie gesagt, nicht wissen, was es selbst und ansich ist, so reden wir doch von unbewußten Vorstellungen, Gefühlen, Wollungen. Wir meinen, wie gesagt, damit etwas, was, wenn es bewußt wäre oder würde, sich im Bewußtsein als die bekannte Erscheinung eines Vorstellens, Fühlens oder Wollens zu erkennen geben würde und somit etwas, was nach dieser potentiellen Bestimmung allein charakterisiert werden kann. Inbesondere sind einzelne unbewußte psychische Zustände immer nur bestimmbar durch die Analogie zu bewußten psychischen Zuständen, mit denen sie den Gegenstand, d. h. den seelischen Inhalt gemeinsam haben. Unsere Hypothese scheint danach vorauszusetzen, daß die seelischen Inhalte Gegenstand der psychischen Funktion mit der Verschiedenheit sein können, wonach diese Funktion entweder in bewußter oder in unbewußter Tätigkeit sich daran entfaltet.

Hält man sich in diesen methodologischen Grenzen, so beschränkt sich der Geltungsbereich der Hypothese des Unbewußten, soviel ich sehe, auf ein engeres Gebiet und braucht uns zunächst nicht die Sorgen zu machen, welche aus seiner uferlosen Anwendung zu erwachsen drohten. Die Grundtatsache nämlich für die Anwendung der Hypothese des Unbewußten ist der Zustand des erinnerbaren Vorstellungsinhalts in der Zwischenzeit zwischen seinem ersten Auftreten im Bewußtsein und seiner, sei es einmaligen, sei es mehrmaligen Reproduktion darin. Was sind unsere Erinnerungen in den Zeiten, wo wir nicht an sie denken? Die manchmal gewiß zu beklagende, aber im ganzen doch sehr glückliche Enge unseres Bewußtseins bewahrt uns davor, alles, was wir als erinnerbar besitzen, dauernd präsent zu haben. Die einzelnen Momente, welche den "Schatz" unseres Gedächtnisses ausmachen, sind ja nur selten im Bewußtsein und es gehört zur Ökonomie unseres endlichen Geistes, daß wir, die wir das Ganze zusammen niemals bewältigen könnten, nur immer über einen ganz geringen Teil davon zu verfügen imstande sind. Aber was ist nun dieser ganze Gedächtnisschatz in der Zwischenzeit, wo wir ihn nicht im Bewußtsein haben? Er kann nicht nichts sein, da er sich bei jeder neuen Reproduktion als vorhanden erweist. Allein welches ist dann die Art seiner Wirklichkeit? Nach der uns geläufigen Unterscheidung oder Alternative werden wir sagen, diese Wirklichkeit müsse entweder eine physische oder eine psychische, im letzteren Falle dann natürlich eine unbewußt psychische sein. Eigentlich müßte nun die ganze verwickelte Theorie des Gedächtnisses aufgerollt werden, um diese Alternative zu entscheiden.

Aber gerade diese Theorie finden wir in der hier verfolgten Richtung auch heute noch bei den Psychologen gespalten, indem auf der einen Seite die physischen "Spuren" oder "Dispositionen" im Gehirn, in den Ganglienzellen der grauen Substanz und ihren Verbindungen, kurz alles das, was man früher die  ideae materiales  nannte, für ausreichend gelten, die Tatsachen des Gedächtnisses zu erklären, auf der anderen Seite aber dieses bestritten und eine unbewußte psychische Realität der erinnerbaren Inhalte als unumgänglich anzunehmen behauptet wird. Diese Kontroverse zu entscheiden, traue ich mir nicht zu; aber ich habe den Eindruck, daß, solange es sich nur um das ruhende oder passive Unbewußte des Gedächtnisses handelt, man nötigenfalls mit dem physisch Unbewußten im Gehirn auskommen könnte. Das ist oft auch von solchen behauptet worden, die dem Materialismus grundsätzlich fernstehen. Freilich machen schon hier die Verbindungen zwischen den einzelnen Bestandteilen des Gedächtnisses recht schwer zu überwindende Schwierigkeiten. Denn auch diese beharren und sind die Bedingungen für die gemeinsame Reproduktion der einzelnen reproduzierbaren Inhalte. Aber diese Inhalte gehören, sofern sie physisch lokalisiert sind, unter Umständen verschiedenen weit voneinander entlegenen Teilen des Gehirns an. Wenn also die Verbindung, die ihre spätere gemeinsame Reproduktion erklärt, in einer physischen Spur oder Disposition im Gehirn bestehen soll, so ist nicht anzunehmen, daß jede dieser in unübersehbarer Menge möglichen Verbindungen ursprünglich im Gehirn angelegt sei; die Natur kann nicht jede Wahrnehmung, die wir im Leben machen, von vornherein in uns angelegt haben: vielmehr kann man der Folgerung nicht entgehen, daß bei jeder Wahrnehmung, die eine solche Verbindung heterogener Momente herstellt, wenn diese im Gedächtnis aufbewahrt werden und späterer Reproduktion fähig sein soll, die entsprechende Verbindung physisch neu entsteht. Wie das geschehen und was es bedeuten soll, ist freilich auf keine Weise und durch keine noch so kühne Phantasie auszudenken. Allein die Grenzen unserer Kenntnis der unendlich feinen Strukturen des Gehirns verbieten als ein  asylum ignorantiae  [Zufluchtsort der Unwissenheit - wp] auch hier, von einer Unmöglichkeit zu sprechen.

Bedenklicher wird es, wenn wir auf die tatsächliche Reproduktion des unbewußten Gedächtnisschatzes achten: sie vollzieht sich bekanntlich nach allen möglichen Arten der Assoziation und diese bestehen nicht nur in räumlichen und zeitlichen Berührungen, sondern in allen Formen sachlicher und sinnvoller Zusammengehörigkeit. Und in diesen letzteren Formen ist die Reproduktion niemals aus den physischen Spuren zu erklären, für die es kein anderes Prinzip der Anordnung und des Zusammenhangs geben kann, als das räumliche Verhältnis der Lokalisation im Gehirn. Die raumlosen Beziehungen, worin der überwiegende Teil des Zusammenhangs zwischen den miteinander beharrenden und reproduzierbaren Momenten des Seelenlebens den verschiedenen Momenten ihrer Bewußtwerdung und diese kann dann keine andere sein als die der unbewußten seelischen Existenz.

Noch entscheidender endlich sind diejenigen Tatsachen, in denen sich uns das Unbewußte nicht mehr ruhend und passiv, sondern bewegt und aktiv geltend macht. Wir kennen diese Aktivität des Unbewußten aus solchen Fällen, wo etwa eine Sorge, die wir durch unsere bewußte Tätigkeit los zu werden, aus unserem unmittelbaren Bewußtsein mit Erfolg zu verdrängen suchen, doch immer wieder an die Pforte des Bewußtseins pocht und sich nicht abweisen läßt, - oder aus solchen Tatsachen, wonach etwa die Absicht, zu bestimmter Stunde aufzuwachen, die doch weit entfernt ist, auch nur dem Traumbewußtsein dauernd gegenwärtig zu sein, sich pünktlich zur vorgesetzten Stunde verwirklicht, - oder aus der hartnäckigen Wiederkehr von Wünschen und Absichten, die wir überwinden wollen und, wenn wir zeitweilig von ihnen befreit zu sein glaubten, schließlich doch wieder mit unveränderter Macht in uns wirksam vorfinden. Vor allem aber zeigt auch unser Vorstellungsleben in allen seinen schöpferischen Tätigkeiten diese stetige Mitwirkung des aktiv Unbewußten. Wer redet oder schreibt, der hat im Bewußtsein den dominierenden Inhalt dessen, was ihm zu erzeugen vorschwebt: aber alles Besondere, dessen er dazu bedarf, muß ihm, von den bewußten Absicht gerufen, dann doch aus dem unbewußten Bestand seiner Vorstellungsinhalte zufließen. Wir könnten über diesen ganzen Bestand nicht mit der mehr oder mindern vollkommenen Sicherheit verfügen, wie es tatsächlich geschieht, wenn dieser nur in träger Ruhe beharrte und nicht mit seiner Aktivität am Ablauf unserer bewußten Tätigkeit beteiligt wäre. Dieses Ineinander bewußter und unbewußter Funktionen ist nun aber nur dadurch möglich, daß das, was wir unser Gedächtnis nennen, nicht bloß eine zusammengekehrter Haufen von einzelnen beharrenden Momenten ist, sondern vielmehr ein nach Sinn und Verstand geordnetes System: und dieses System ist aus der bloß räumlichen Anlage der Spuren im Gehirn wiederum niemals zu begreifen.

Deshalb haben wir auch allen Anlaß, die Tatsachen des Gedächtnisses in der Reproduktion durch die Annahme der psychischen Existenz unbewußt beharrender Vorstellungsinhalte zu erklären. Und das trifft nicht etwa eine gelegentliche und begrenzte Nebenerscheinung unseres seelischen Lebens, sondern dessen eigentlichstes und bedeutsamstes Wesen. Denn auf der Verbindung der in jedem Moment neu auftretenden Inhalte mit demjenigen, was aus den früheren Erlebnissen zu ihrer Annahme und Bestimmung ihnen entgegenkommt, - auf diesen Vorgängen der Apperzeption beruth schließlich die Eigenart des seelischen Geschehens. An einem Element der Körperwelt mag die Bewegung, die es erfährt, abfließen, ohne seine Substanz zu ändern oder an ihm zu beharren: - das seelische Geschehen beruth immer auf einer Verknüpfung zwischen der Gegenwart und der ganzen Vergangenheit des psychischen Systems, an dem es stattfindet.

So dürfen wir uns in der Tat der Annahme des psychisch Unbewußten mit Rücksicht auf diese Tatsachen des Gedächtnisses nicht entziehen. Aber wenn wir genau zusehen, was damit bewiesen ist, so finden wir immer ein Unbewußtes als ein Nichtmehrbewußtes. Es ist immer etwas, was einmal, wenn auch noch so flüchtig, irgendwie durch unser Bewußtsein gegangen ist. Dieses Unbewußte ist also nichts Fremdes, das mit dämonischer Unbegreiflichkeit an uns haftete, sondern stets ein eigenes, das in uns selbst weiterlebt. Befremdend ist uns nur unter Umständen die Intensität und Bedeutsamkeit dieses Weiterlebens. Wir erstaunen vielleicht über die Leuchtkraft einer Erinnerung, die nach langen, langen Jahren plötzlich zum erstenmal wieder in unserem Bewußtsein auftaucht. Oder wir erschrecken über die Kraft eines Wollens, das wir erloschen glaubten und nun auf einmal neu in uns lebendig werden fühlen. Aber so lebhaft unsere Verwunderung darüber sein mag, so ist doch alles Unbewußte, das wir auf diesem Wege in uns anzunehmen veranlaßt sind, ein einst Bewußtes und uns Vertrautes.

Ein zweiter, ganz andersartiger Bezirk unbewußter seelischer Realität scheint im weiten Umfang dessen vorzuliegen, was wir in unserem ursprünglich bewußten Lebensinhalt hinterher als  implizit  enthalten und notwendig zugehörig entdecken, ohne es vorher bemerkt und ausdrücklich im Bewußtsein gehabt zu haben. Wir erörtern das am besten anhand der Unterscheidung von klaren und deutlichen Vorstellungen, wie sie namentlich von LEIBNIZ glücklich durchgeführt worden ist. Danach gelten solche Vorstellungen als klar solche Vorstellungen, welche für die Wiedererkennung ihres Gegenstandes und seine Unterscheidung von allen anderen ausreichen, als deutlich dagegen diejenigen, welche auch in bezug auf ihre einzelnen Teile und deren Verbindungsweise klar sind. Somit können Vorstellungen, welche für die Wiedererkennung ihres Gegenstandes und seine Unterscheidung von allen anderen ausreichen, als deutlich dagegen diejenigen, welche auch in Bezug auf ihre einzelnen Teile und deren Verbindungsweise klar sind. Somit können Vorstellungen zwar klar, müssen aber deswegen noch nicht deutlich sein. Wenn ich z. B. einen Menschen, der mir gelegenlich begegnet ist, soweit aufgefaßt habe, daß ich ihn aus einer Menge anderer herauszufinden vermag, so habe ich von ihm eine klare Vorstellung. Aber damit ist es sehr gut vereinbar, daß ich nicht imstande wäre, die einzelnen Züge seines Gesichts, die Farbe seiner Augen oder Haare und ähnliches anzugeben. Dann wäre meine Vorstellung von ihm zwar klar, aber nicht deutlich. Nun können wir aber in solchen Fällen oder ähnlichen die Erfahrung machen, daß wir bei geschärfter Aufmerksamkeit ohne Zuhilfenahme irgendwelcher anderen zur Vergleichung herangezogenen Vorstellungen in unserem anfänglich undeutlichen Erinnerungsbild mit der Zeit die einzelnen Bestandteile herauszuheben und inhaltlich zu bestimmen imstande sind. Eine solche Verdeutlichung der anfangs nur klaren Ergebnise ist doch nur dadurch begreiflich, daß schon in der ursprünglichen Vorstellung alle jene Besonderheiten mitenthalten waren, die wir erst nachträglich in das Bewußtsein emporzuheben vermochten. In solchem Fall steckt tatsächlich im Erlebnis mehr, als wir zunächst bewußt aufnahmen. Wer sich gegen die Hypothese des Unbewußten so weit wie möglich sperren will, wird vielleicht diesen Tatsachen gegenüber, wie bei den sogenannten Nachwahrnehmungen die Überlegung geltend machen, daß alles dasjenige, was wir hinterher in unserer Vorstellung aufzufinden vermögen, doch bei der Wahrnehmung schon, wenn auch nur ganz flüchtig, durch das Bewußtsein gelaufen sein muß, um dann nur schnell wieder vergessen und erst mühsam zur Reproduktion gebracht zu werden. Wollte man sich diese Erklärung zu eigen machen, so brauchte man ja freilich nicht anzunehmen, daß bei der Wahrnehmung mehr in uns geschehen ist, als wir im Bewußtsein haben: aber dann hätten wir darin ja nur einen Fall des Gedächtnisses und kämen auf unsere frühere Betrachtung des unbewußten Beharrens der zeitweilig vergessenen Momente zurück.

Indem ich es dahingestellt sein lasse, ob man damit gegenüber jener Verdeutlichung der Wahrnehmungen überall auskommt, möchte ich im Sinne von LEIBNIZ auf andere Apperzeptionen hinweisen, die sich in der Wahrnehmung vollziehen und dem Unbewußten eine neue Bedeutung zu geben geeignet sind. Wir setzen beim Wahrnehmen selbst die räumlichen und zeitlichen Komplexe von Empfindungen stets zugleich in Beziehung zu den natürlichen Kategorien der Inhärenz und der Kausalität. Wir gliedern die Fülle des Empfundenen je nach ihrer räumlichen und zeitlichen Ordnung in die Vorstellungen von Dingen mit ihren Eigenschaften und von Vorgängen des Wechsels solcher Eigenschaften. Bei dieser Formung des Erlebten zu den Dingen und dem zwischen ihnen stattfindenden Geschehn sind wir uns aber dieser Kategorien selbst als der abstrakten Formen der Verknüpfung keineswegs bewußt. Diese ganze Gestaltung der Empfindungen zur Umwelt prägt sich in den sprachlichen Verhältnissen des Substantivs zum Adjektiv und zum Verbum aus und auch diese Sprachformen wenden wir an, ohne uns ihrer als solcher und in der Abgelöstheit vom Empfindungsinhalt, der durch sie verknüpft wird, bewußt zu sein. Wenn wir nun hinterher in der Reflexion auf das, was wir beim Wahrnehmen getan haben, uns diese Kategorien, sei es in ihrer äußeren sprachlichen oder ihrer inneren logischen Gestalt ausdrücklich zum Bewußtsein bringen, so verdeutlichen wir uns damit unser eigenes Tun und bringen uns etwas zum Bewußtsein, was darin enthalten, aber nicht zum gesonderten Bewußtsein gekommen war. In diesem Fall ist auch nicht die Einrede möglich, daß diese ursprünglich unbewußten Formbestandteile der Wahrnehmung im Moment des Erlebens bewußt gewesen und dann nur vergessen wären, bis die Reflexion sie neuerdings bewußt machte. Hier müssen wir vielmehr anerkennen, daß tatsächlich in der Wahrnehmung von vornherein unbewußt die logische Struktur enthalten war, die wir uns erst im wissenschaftlichen Denken deutlich machen.

Ähnlich können wir psychologisch eines der Argumente deuten, welche KANT für die Apriorität der Raumanschauung und der Zeitanschauung ins Feld geführt hat: daß nämlich in jeder einzelnen Wahrnehmung von Raum- oder Zeitverhältnissen bereits immer die Vorstellung des einen unendlichen Raums oder der einen unendlichen Zeit als Voraussetzung enthalten sei. Jede erlebte Raumgröße oder Raumbeziehung ist endlich und deshalb durch andere Raumgebilde begrenzt, die mit ihr zusammen als Teile demselben einen Raum angehören. Aber von diesem einen unendlichen Raum wissen wir in der Wahrnehmung nichts, er selbst ist niemals ein Gegenstand des Wahrnehmens und er ist auch nicht durch eine endlose Zusammensetzung aus den endlichen Räumen zusammenzuflicken; er ist nur die in allem Raumwahrnehmen gleichmäßig zugrunde liegende Voraussetzung. Deshalb ist die Vorstellung dieses einen unendlichen Raums (zu der auch durchaus nicht alle Menschen gelangen) wiederum nichts anderes als die bewußte Verdeutlichung eines in den Wahrnehmungen unbewußt enthaltenen Bestandteils.

Aber das Gebiet dieser zweiten Art unbewußt psychischer Realität ist noch viel umfangreicher. Es erstreckt sich auf alles dasjenige, was wir aus irgendwelchen gegebenen oder gesetzten Vorstellungsinhalten als notwendig damit gegeben und dazu gehörig abzuleiten imstande sind. Wenn wir den Begriff des ebenen Dreiecks definiert haben, so ghört zu seinem Eigenschaften  implizit,  obwohl nicht in den Momenten der Definition ausgesprochen, die Gleichheit seiner Winkel mit zwei Rechten. Indem ich die Figur konstruiere, habe ich unbewußt alle die Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten mitgesetzt, welche in ihrer Eigenart enthalten sind und die mathematische Untersuchung, welche diese Gesetzmäßigkeiten auseinandergelegt und einzeln ausspricht, ist nichts als die Verdeutlichung alles desjenigen, was in der zwar klaren, aber noch undeutlichen Konstruktion des Begriffs sachlich gegeben war.

Damit berühren wir eine außerordentlich bedeutsame Art des Verhältnisses zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten in unserem Seelenleben. Es zeigt sich, daß dessen Tätigkeiten als bewußte an sachliche Zusammenhänge gebunden sind, die erst von der gereiften Reflexion aus der ursprünglich unbewußten Art, worin wir sie vollziehen, in das Bewußtsein erhoben werden. Die Beispiele, die ich anführte, gehören zum Umkreis dessen, was man in der Erkenntnistheorie seit LEIBNIZ und KANT als das Apriori bezeichnet. Philosophisch betrachtet, werden diese Zusammenhänge sachlicher Notwendigkeit als ein logisches "Gelten" bezeichnet, bei dem nach der Art seines metaphysischen Bestandes nicht gefragt werden soll: psychologisch betrachtet - und auch diese Betrachtung ist neben der philosophischen nötig, weil die Erkenntnisse schließlich eben doch als seelische Tatsachen wirklich sind - psychologisch betrachtet, ist das  a priori  Geltende in allen Fällen ein unbewußter Bestandteil des empirischen Erlebnisses, der erst durch die bewußte Reflexion herausgearbeitet werden muß. Damit aber zeigt sich, daß dies im Erlebnis  implizit a priori  Enthaltene dem individuellen Bewußtsein nur deshalb angehören kann, weil dieses eine höhere und allgemeinere Gesetzmäßigkeit, eben die der sachlichen Notwendigkeiten, in sich trägt.

Fragen wir nun, wie ein solches Verhältnis zu denken ist, so weist uns die empirische Betrachtung auf das soziale Leben; hier erwächst das individuelle Bewußtsein immer nur auf dem Grund eines seelischen Gesamtlebens im engeren oder weiteren sozialen Verband, dem es mit seiner ganzen Entwicklung angehört. In allen Lebensformen, in die das Individuum hineinwächst und die es aus dem Gesamtleben übernimmt, stecken jene sachlichen Notwendigkeiten als der Ertrag vieler bewußter Tätigkeiten in einer unbewußten Konzentration, die erst in jedem einzelnen Fall immer wieder vom individuellen Bewußtsein aufgerollt werden muß. Der große Herd für diese ganze Entwicklung ist die Sprache und sie ist deshalb auch diejenige Erscheinung, worin das eigenartige Verhältnis des Bewußten zum Unbewußten seinen stärksten Ausdruck findet. Alle einzelnen Wörter und alle Formen der Sprache sind getränkt mit einer Fülle von Bestimmungen, von seinen Beziehungen, die durchaus nicht alle beim jedesmaligen Gebrauch zur bewußten Anwendung kommen. Überall schweben Obertöne und Untertöne, feine Anklänge besonderer Bedeutung mit, die  implizit  zum Sinn der Rede gehören und obwohl es völlig ausgeschlossen ist, daß alles Einzelne davon seinen gesonderten Ausdruck fände, so ist doch dies der gewaltige Eindruck des Sprachlebens, daß die derselben Sprache Zugehörigen sich gegenseitig vollständig zu verstehen vermögen. Es ist nur möglich dadurch, daß in der Sprache ihr gemeinsames Gesamtleben seinen Ausdruck gefunden hat und daß in jedem Individuum diese unbewußten Zugehörigkeiten des bewußten Ausdrucks auf gleiche Weise hervorgerufen und der Bewußtwerdung entgegengeführt werden.

Über dieses sprachlich ausgeprägte Gesamtbewußtseins hinaus haben wir empirisch keine Vorstellung vom Verhältnis des individuellen Bewußtseins zu jenen unbewußten Notwendigkeiten, die es mit seiner Reflexion auf dem Grund seiner eigenen bewußten Funktionen aufzufinden vermag. Wenn die logische oder transzendentale Betrachtung das Gelten jener sachlichen Notwendigkeiten auf ein "Bewußtsein überhaupt" zurückführt, so ist das nicht mehr eine psychologische und darf auch nicht eine metaphysische Hypothese sein. Freilich liegt es den Gewohnheiten des empirischen Denkens nahe, solche sachlichen Notwendigkeiten, die sich als unbewußte Bestandteile des empirischen Einzelbewußtseins mit einer in allen gleichen Gesetzmäßigkeit aufweisen, auf ein überindividuelles Bewußtsein zu beziehen, das sich zu allen möglichen individuellen Seelen ähnlich verhalten sollte wie das soziale Gesamtbewußtsein zum Individualbewußtsein. Aber zu dieser metaphysischen Ausdeutung der Hypothese des Unbewußten fehlen unserem empirischen Denken zureichende Gründe. Wir dürfen eine solche Betrachtung nur als eine Analogie ansehen, mit der wir die Rätsel des logischen Geltends uns einigermaßen vorstellig zu machen versuchen.

Kehren wir von diesem philosophischen Ausblick auf das empirische Bewußtsein und seinem Verhältnis zum Unbewußten zurück, so sehen wir in diesem zweiten Reich des Unbewußten, das wir anzunehmen genötigt sind, jedenfalls mehr ein Überbewußtsein, d. h. etwas, worin das Bewußtsein über sich selbst hinausdeutet zu Beziehungen und Zusammenhängen, die ihm selbst als letzte Voraussetzungen zugrunde liegen, während in der ersten Reihe der Tatsachen, die ich Ihnen vorführen durfte, das Unbewußte mehr den Charakter des Unterbewußtseins an sich trug, d. h. einer Masse seelischer Realität, die, ursprünglich im Bewußtsein erzeugt, zeitweilig in den unbewußten Zustand herabgesunken ist, um nur gelegentlich wieder die anfängliche Helligkeit zurückzugewinnen. Gleichviel aber, ob als Überbewußtsein oder als Unterbewußtsein, jedenfalls muß das Unbewußte als ein bedeutsamer, die ganze Bewegung des Bewußtseins durchziehender Bestandteil des Seelenlebens angenommen werden und wenn gerade die Psychologie als empirische Wissenschaft nicht ohne diese Hypothese auskommen kann, so fragt es sich, wie sich diese mit unseren Begriffen von der Seele und dem seelischen Leben verträgt. Wir brauchen dabei nicht auf die metaphysischen Schwierigkeiten im Begriff des Seelenwesens oder der Seelensubstanz einzugehen; die empirische Wissenschaft hat sich ja längst daran gewöhnt, eine "Psychologie ohne Seele" zu sein. Aber sie bedarf deshalb umso mehr einer genauen Begriffsbestimmung der seelischen Erscheinungen, welche den Gegenstand ihrer Forschung bilden sollen: denn mit der bloßen Verwandlung aus der substantivischen in die adjektivische Ausdrucksweise ist ihr nicht geholfen. Nun war aber gerade das Ergebnis der geschichtlichen Umgestaltungen, welche der Seelenbegriff in der europäischen Wissenschaft gefunden hat, die Gleichsetzung der seelischen Phänomene mit den "Tatsachen des Bewußtseins".

Die uralte animistische Vorstellung von der Seele, die wir bei allen Völkern finden, bedeutete die Zusammenfassung einer Lebenskraft und eines Trägers der Bewußtheitsfunktionen. Der gespenstische Doppelgänger des Leibes, der diesen vorübergehend im Schlauf und dauernd im Tod zu verlassen schien, nahm mit sich ebensosehr die spontanen Bewegungen des Leibes wie die Anzeichen von jenen Vorgängen des Vorstellens, des Fühlens und des Wollens - zwei Gruppen von Tätigkeiten, die im Charakter des Sinnvollen und des Zweckmäßigen zusammenkamen. Diese Verknüpfung der beiden Momente des Seelenbegriffs, die wir z. B. noch bei PLATON in ganz naiver Weise sich darstellen sehen, ist nun aber mit der genaueren Erforschung und begrifflichen Klärung mehr und mehr auseinandergegangen. Schon die aristotelische Dreiteilung von vegetativer, animaler und humaner Seele zeigt die Tendenz, obwohl im Mittelglied, der animalen Seele, noch die Gemeinsamkeit der beiden Momente spontaner Bewegung und sinnlicher Vorstellungstätigkeit aufrechterhalten ist, während die vegetative Seele bloß noch Lebenskraft und die humane lediglich Bewußtseinsfunktion bedeutet. Zu vollkommenen Trennung ist es dann im Neuplatonismus gekommen, wo die niedere Seele völlig der Körperwelt angehört und die höhere, der Geisteswelt zugekehrte, lediglich aus Bewußtseinstätigkeiten besteht. Mit aller Schroffheit ist endlich die Scheidung von Lebenskraft und Seele als Bewußtseinsträger in der mittelalterlichen Psychologie, besonders von den Mystikern von St. Viktor, durchgeführt worden. Sie bildet hier den schärfsten Ausdruck des metaphysischen Dualismus von Körper und Geist und die Verbindung von Leib und Seele im Wesen des Menschen gilt deshalb als das unbegreiflichste aller Wunder, durch das Gott bewiesen habe, daß ihm nichts unmöglich sei.

Genau in diesen Verhältnissen hat DESCARTES den Begriff der Seele als des bewußten Wesens in die moderne Philosophie eingeführt. Er scheidet bekanntlich die ganze Welt der endlichen Substanzen in zwei prinzipiell völlig voneinander getrennte Sphären: die  res extensae  und die  res cogitantes  und die Begründung seiner Erkenntnistheorie und Metaphysik geht von der Grundtatsache der Selbstgewißheit der Seele als  res cogitans  aus. Es verleitet zu Irrtümern, wenn man DESCARTES' Begriff der  cogitatio  (oder des penser) im Deutschen mit "Denken" übersetzt, was eine viel engere und zugespitzte Bedeutung hat. Was DESCARTES unter  cogitatio  verstanden haben wollte, hat er mehrfach durch Aufzählung der einzelnen Beispiele wie Zweifeln, Bejahen, Verneinen, Begreifen, Wollen, Verabscheuen, Einbilden, Empfinden usw. umschrieben. Über das Gemeinsame aber, das alle diese Mannigfaltigkeiten im Begriff des  cogitare  zusammenfassen erlaubt, sagte er:  cogitationis nomine intellego illa omnia, qua nobis consciis in nobis fiunt, quatenus eorum in nobis conscientia est  [Ich verstehe die Namen aller Dinge, die wir als Mitwisser in uns haben, sofern ihr Gewissen in uns ist. - wp] und dafür haben wir im Deutschen eben kein anderes Wort als Bewußtsein. Obwohl nun der vorsichtige und umsichtige Philosoph in den letzten Worten dieser Definition (quatenus usw.) sich die Möglichkeit offenzuhalten schein, daß in "uns", d. h. den aus Seele und Leib zusammengesetzten Wesen, jene einzelnen Funktionen auch als nicht bewußte vorhanden sein könnten, so gilt ihm doch für die Seele (mens oder anima) die  cogitatio  derart als das Grundattribut, daß in ihr kein Zustand und keine Tätigkeit möglich ist, die nicht eine Modifikation der  cogitatio  wäre: geradeso wie am Körper, der ausgedehnten Substanz, kein Modus vorkommt, der nicht seinem eigentlichen Wesen nach ausgedehnter natur wäre.

Dies war nun der Grund, weshalb die Cartesianer im Streit über die angeborenen Ideen sich so ungern zur Zuflucht auf die Annahme von deren unbewußter Existenz verstanden; denn damit wären der Seele Zustände zugeschrieben, die ihrem Attribut, dem Bewußtsein, widersprächen. Und so ist es bis auf den heutigen Tag überall da, wo man im Bewußtsein das Gattungsmerkmal des Seelischen zu besitzen meint. Diese Identifikation von Seele und Bewußtsein, die auch in unserer alltäglichen Sprache uns völlig geläufig ist, wird für den Psychologen fast unvermeidlich, wenn er das Gebiet seiner Forschung gegen die übrigen Wissenschaften abzustecken versucht. Die in der herrschenden Weltvorstellung bestehende Auffassung von der totalen Verschiedenheit der beiden Erfahrungsgebiete, des Körperlichen und des Seelischen, muß doch dabei aus ihrer Unbestimmtheit zur begrifflichen Klarheit gebracht werden. Man tut das gern, indem man, wie es zuerst LOCKE nach DESCARTES getan hat, jene beiden Welten der  cogitatio  und der  extensio  auf zwei verschiedene Erkenntnisweisen, die innere und die äußere Erfahrung, bezieht. Aber wie will man diese voneinander anders als wiederum durch ihre Gegenstände unterscheiden? Hier empfiehlt sich die früher von FORTLAGE und neuerdings von MÜNSTERBERG betonte Tatsache, daß die Erfahrungen des inneren Sinnes, die seelischen Erlebnisse, immer nur für  ein  Subjekt, die Erfahrungen von der körperlichen Außenwelt dagegen (im Prinzip) für eine Vielheit von Subjekten gegeben sind. Von meinem Innenleben können alle anderen Subjekte nur auf dem Umweg durch äußere, leibliche Erfahrung etwas wissen. Das scheint zu bedeuten, daß dem Gegenstand der inneren Erfahrung, der seelischen Wirklichkeit, eine unmittelbare und direkte, dagegen der Körperwelt nur eine mittelbare und indirekte Beziehung zum Bewußtsein zukommt. So ist es dann auch die geläufige Vorstellungsweise, daß die Gegenstände der äußeren Erfahrung, die Körper, eine Wirklichkeit besitzen, die vom Bewußtsein nicht abhängig ist, daß das Bewußtwerden für sie etwas Zufälliges ist. Sie sind wirklich (so denkt man), auch wenn sie nicht Inhalt eines Bewußtseins sind; dagegen die Inhalte der inneren Erfahrung, denen die Beziehung zum Bewußtsein wesentlich ist, sind nur wirklich, insofern sie bewußt sind.

Das ist eine noch heute in weitesten Kreisen geltende Vorstellungsweise. Von ihr aus bestimmt man die Psychologie als die Lehre von den Zuständen und den Tätigkeiten des Bewußtseins und wenn man diese methodologische Definition, wie es sich leicht einstellt, in eine metaphysische verwandetl, so bestimmt man damit das Seelische als das  eo ipso  [ansich - wp] Bewußte. Zur Aufrechterhaltung dieser Auffassungsweise trägt viel der Umstand bei, daß der cartesianische Dualismus trotz mancher Wandlungen seiner metaphysischen und seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung in der uns allen geläufigen Unterscheidung von Natur und Geist noch immer Bestand hat. Er ist auch der kritischen Philosophie in ihrer Entwicklung durch den Einbruch des Spinozismus eingeimpft worden und obwohl wir schon bei GOETHE lesen: "Natur und Geist, so spricht man nicht zu Christen", so ist uns doch dieses Wortpaar in den mannigfachsten Verhältnissen geläufig. Noch immer reden wir z. B. vom Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften, obwohl die Unzulänglichkeit dieser antiquierten Einteilung jedesmal neu erwiesen wird, wenn man zeigt, daß eine Wissenschaft, die gewöhnlich der einen Gruppe zugeteilt wird, mit nicht minder gutem Recht auch der anderen zugewiesen werden kann.

Wer aber diese dualistische Vorstellungsweise, die uns allen tief im Blut steckt, mit voller Konsequenz aufrechterhält, der darf die Hypothese des Unbewußten nicht mitmachen. Er kennt nur bewußte Seelenzustände und die unbewußten Zustände, zu deren Annahme ihn die Erklärung der bewußten nötigt, sind für ihn nur Leibeszustände, Hirnzustände. So finden wir es z. B. beim kürzlich verstorbenen FRIEDRICH JODL, der neben THEODOR LIPPS der schärfste Denker unter unseren Psychologen war und der in seinem Lehrbuch das gewaltige Material der heutigen empirischen Psychologie mit der größten Klarheit begrifflich durchgearbeitet hat.

Wenn man aber, wie es bei den Psychologen mehr und mehr sich durchzusetzen scheint, die Beweiskraft der Argumente, von denen ich die hauptsächlichsten entwickelt habe, anerkennt und sich zu der Annahme unbewußter seelischer Realitäten bequemt, so wird man demnach nicht umhin können, die überlieferten Begriffsbestimmungen des Seelischen und die metaphysischen Voraussetzungen, unter denen sie stehen, zu revidieren. Die Gleichsetzung der Gegensatzpaare einerseits des Bewußten und des Unbewußten und andererseits des Seelischen und des Körperlichen muß aufgegeben werden, sobald die Existenz des unbewußt Seelischen zugegeben wird. Freilich bleibt, wie wir gesehen haben, das seelisch Unbewußte als ein Nichtphysisches doch in einer gewissen Analogie zum Bewußten, es ist ein potentiell Bewußtes, ein nicht mehr oder noch nicht Bewußtes. Deshalb wird man nicht daran denken dürfen, dieses Unbewußte etwa, wie es andeutungsweise wohl auch schon versucht worden ist, als etwas Drittes, als ein Zwischenreich zwischen Körperwelt und Bewußtseinswelt einzuschieben oder beiden in sogenannt monistischer Weise unterzuschieben.

Es genügt mir, Sie bis an die Schwlle dieser metaphysischen oder, wenn Sie wollen, metaphysischen Fragen zu führen. Für ihre Lösung wird es vor allem darauf ankommen, die Stellung des individuellen Bewußtseins, das für uns den Ausgangspunkt dieser Untersuchungen zu bilden pflegte, einerseits zur leiblichen Wirklichkeit, andererseits zum Gesamtbewußtsein, d. h. zum Unterbewußten und zum Überbewußten, mit Rücksicht auf den ganzen Umkreis der seelischen Erfahrung von neuem zu analysieren. Das aber kann nur in allgemeinen philosophischen Theorien und zuletzt aus erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten geschehen. Gerade dieses Beispiel aber ist geeignet, die intime Stellung zur Philosophie erkennen zu lassen, welche die Psychologie auch nach ihrer Verselbständigung zu einer empirischen Wissenschaft einnimmt und immer einnehmen wird. Ihre Ablösung aus dem Mutterhaus erfolgt am spätesten und, wie es scheint, am schmerzhaftesten: aber unter allen besonderen Wissenschaften ist sie diejenige, welche durch ihre eigenen Probleme am unmittelbarsten auf die Philosophie zurückgewiesen wird und zugleich diejenige, bei deren tatsächlichen Einsichten die Philosophie sich am meisten für ihre Aufgaben Material zu holen hat.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Die Hypothese des Unbewußten, Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24. April 1914, Heidelberg 1914