tb-1 F. SteppuhnG. MehlisL. PohorillesP. KampitsB. RussellG. Landauer    
 
WILHELM WINDELBAND
Von der Mystik unserer Zeit

"Wir erleben dabei in gewisser Weise, wenn auch zum Teil mit durchaus veränderten Einzelmotiven, denselben Umschlag der Denkweise, der um das Jahr 1800 herum überall in Europa, besonders aber in Deutschland, sich zwischen Aufklärung und Romantik vollzogen hat: den Umschlag aus dem Rationalismus in den Irrationalismus. Jedesmal, wenn der moderne Geist mit dem Bestreben gescheitert ist, in seiner Erkenntnis mit den Begriffen des Verstandes die Wirklichkeit bis auf den letzten Rest zu durchdringen und in seinem Leben nach den Prinzipien der Vernunft seine Welt durchgängig zu gestalten, so flieht er in sich selbst zurück, um in den dunklen Regungen des Gefühls und in der ursprünglichen Wucht des Willens das Heil zu suchen."

Wer den seelischen Bewegungen unserer Tage beobachtend nachgeht, dem fallen hauptsächlich zwei Momente in die Augen: der Zug zur Einheit und der Drang nach Verinnerlichung. Aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Betätigungen und Gestaltungen, in die sich unsere Kultur verzweigt, erwächst wieder mit stetig steigender Kraft die Sehnsucht nach dem einheitlichen Lebensgrund, der all jener Fülle von Arbeit und Leistung doch erst den rechten Sinn und Wert geben muß: und vor der bezaubernden Gewalt, mit der uns der Eindruck der ungeheuren Wandlungen des äußeren Lebens an die körperliche Wirklichkeit, an ihre wissenschaftliche Erkenntnis und ihre technische Bemeisterung zu fesseln droht, erhebt sich wieder die bange Frage, ob wir nicht, indem wir die Welt gewinnen, Schaden leiden an unserer Seele.

Nach beiden Richtungen also ist es in den gegebenen Verhältnissen des heutigen Lebens begründet, daß sein aufgeregtes Gewoge einen stark religiösen Einschlag zeigt. Er ist vor allem daraus begreiflich, daß vielleicht in keinem Zeitalter der Geschichte die Substanz des Wertlebens der Kulturvölker so sehr im Fluß, in der Auflösung und in Neubildung begriffen gewesen ist, wie im unsrigen. Die Ausweitung des Kulturzusammenhangs über den ganzen Planeten mit der freundlichen und feindlichen Berührung aller Rassen hat jedes Volk aus der ruhigen Entfaltung seines Einzeldaseins herausgegriffen und die rapide Umgestaltung aller sozialen Verhältnisse hat überall die festen Formen der Wertungsgewohnheiten zu sprengen angefangen. Zwar ist es richtig, daß es mit der Umwertung aller Werte glücklicherweise noch nicht so schlimm steht und noch nicht so schnell geht, wie es ihre begeisterten Propheten glauben machen möchten: aber darüber darf man sich nicht täuschen, daß in dieser beispiellosen Aufregung aller Kräfte sich Wandlungen vorbereiten, die an die tiefsten Gründe, an die letzten Inhalte des Menschenlebens greifen. Die Zeiten einer solchen Erregung aber sind stets, dem Wesen der Sache nach, auch von intensiv religiösen Trieben durchsetzt, die, unaustilgbar in der Natur des Menschen angelegt, gerade in den Zuständen gesteigerter Entwicklung neue Formen anzunehmen oder die alten im neuen Gewand hervorzutreiben bereit sind.

So nimmt auch bei uns das Bedürfnis, eine geistige Lebenseinheit gegenüber der Zersplitterung in die materielle Außenkultur zu retten, vielfach religiöse Gestalt an; und es kommt hinzu, daß sich nach dem Gesetz der gegenseitigen Ablösung der Gegensätze darin ein Rückschlag gegen die Vorherrschaft des Materialismus in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geltend macht. Das Suchen nach einer Weltanschauung stürmt mit den reichen Motiven des heutigen Lebens weit über die engen Grenzen hinaus, in die es durch eine einseitige Metaphysik der Naturwissenschaft gebannt worden war und hat dementsprechend die Richtung auf das entgegengesetzte Ziel. Aber zugleich spielt nun noch ein anderer Gegensatz hinein. Wir erleben dabei in gewisser Weise, wenn auch zum Teil mit durchaus veränderten Einzelmotiven, denselben Umschlag der Denkweise, der um das Jahr 1800 herum überall in Europa, besonders aber in Deutschland, sich zwischen Aufklärung und Romantik vollzogen hat: den Umschlag aus dem Rationalismus in den Irrationalismus. Jedesmal, wenn der moderne Geist mit dem Bestreben gescheitert ist, in seiner Erkenntnis mit den Begriffen des Verstandes die Wirklichkeit bis auf den letzten Rest zu durchdringen und in seinem Leben nach den Prinzipien der Vernunft seine Welt durchgängig zu gestalten, so flieht er in sich selbst zurück, um in den dunklen Regungen des Gefühls und in der ursprünglichen Wucht des Willens das Heil zu suchen. Darum wird auch jetzt wieder das Irrationale als das heilige Geheimnis aller Wirklichkeit, als der jenseits aller Erkenntnis liegende Grund allen Lebens verkündet; und darum nimmt auch der religiöse Trieb, der in diesem Weltanschauungsbedürfnis waltet, wieder gern die Formen der Mystik an.

Das Geheimnisvolle, das sich den erkannten oder für erkannt angesehenen Zusammenhängen der Wirklichkeit nicht einfügen will, hat zu allen Zeiten den Reiz einer mit leisem Grauen verbundenen Neugier gehabt und diesem Reiz pflegen gerade auch solche Menschen und Zeitalter zugänglich zu sein, die im übrigen auf die Kraft und den Erfolg ihres Wissens und Denkens stolz sein zu dürfen meinen. Die Zeiten der Aufklärung sind keineswegs gegen den Aberglauben gefeit, sie scheinen vielmehr seiner als einer Art von Ergänzung zu bedürfen: das finden wir in der Renaissance wie im achtzehnten Jahrhundert. Und so braucht man auch nicht allzusehr zu erschrecken, wenn von Zeit zu Zeit ein Licht darauf fällt, in welchem Umfang auch unter uns, und zwar ausnahmslos in allen sozialen Schichten, allerhand Okkultismus sein Wesen und Unwesen treibt. Sind es dabei meist praktische Bedürfnisse, welche zu den angepriesenen Geheimmitteln greifen, nachdem die offenen Wege des Erfahrungswissens nicht zum Ziel geführt haben, so ist es andererseits - und damit erst betreten wir den Boden der eigentlichen Mystik - das theoretische Bedürfnis, das im Ringen nach einer sittlich-religiösen Weltanschauung über alles Wissen hinaus zu einer unmittelbaren Anschauung der geistigen Urwirklichkeit, zu einem inneren Erleben des Zusammenhangs der Seele mit den letzten Gründen der Dinge aufstrebt. Üppig wie nur je wuchern zu beiden Seiten des Ozeans die Sekten, zahlreich finden wir die theosophischen Vereine und Gesellschaften in propagandistischer Tätigkeit und auch die überraschende Ausbreitung, welche die buddhistischen Gemeinden nicht nur in den Hauptstädten Europas, sondern auch in vielen weiteren Verzweigungen während der letzten Jahrzehnte gewonnen haben, legt Zeugnis davon ab, wie das religiöse Weltanschauungsbedürfnis sich seine Wege auch außerhalb des Rahmens der kirchlichen Lehren zu bahnen sucht. Überall möchte das Individuum von sich aus direkte den Zugang zu den Geheimnissen der geistigen Realität finden und sie sich im freien persönlichen Erlebnis zueigen machen. Das aber ist der entscheidende Grundzug dessen, was wir im geschichtlichen Sinn des Wortes Mystik nennen.

Diesem Zug der Zeit hat sich auch unsere Philosophie nicht verschlossen. Sie hat ihm zunächst in ihren historischen Auffassungen Rechnung getragen. Wie dereinst die Romantik den vergessenen JAKOB BÖHME wieder zu Ehren brachte, so ist jetzt der Vater aller philosophischen Mystik, der große Neuplatoniker PLOTIN, wie ein neuer Stern am Himmel der Geschichte der Philosophie aufgegangen: seitdem ihn EDUARD von HARTMANN in seiner Geschichte der Metaphysik mit liebevoller und kongenialer Darstellung an den entscheidenden Platz gerückt hatte, ist PLOTIN zum Gegenstand eines erneuten Studiums geworden. Aber auch die mittelalterliche Mystik, besonders die deutsche, der ADOLF LASSON in den neuen Auflagen des ÜBERWEG-HEINZEschen Grundrisses eine tiefdringende Analyse widmete, ist zu verständnisvollerer Anerkennung gelangt; wir charakterisieren die Philosophie des Mittelalters nicht mehr einseitig als Scholastik, sondern wir stellen dieser die Mystik als die ebenbürtige, ja als die fruchtbarere und zukunftsreichere Bewegung an die Seite. Und seitdem nun gar die Parole der Erneuerung der Romantik ausgegeben ist, hat deren mystische Aufdeckung tiefer Lebensquellen, wie ihre Propheten sagen, wieder Jünger um Jünger zu werden begonnen.

In der Philosophie selbst aber war die Einbruchstelle für das mystische Moment durch den Agnostizismus gegeben, der die Denkbewegungen des neunzehnten Jahrhunderts in den mannigfachsten Formen beherrscht hat. Wenn dem rationalen Denken die Erkenntnis des wahren Wesens der Welt und der letzten Gründe aller Wirklichkeit versagt wird, so findet der metaphysische Trieb gerade darin den Freibrief, sich mit allen Mitteln der Irrationalität zu befriedigen. Das hat schon KANT erfahren. Es war ein gefährliches Wort, das viel zitierte und viel mißbrauchte: "Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." KANT selbst, der strenge Rationalist, der eben deshalb den scharfen Blick für die Grenzen jeder Art des "vernünftigen" Verfahrens besaß, KANT selbst wollte jenseits des Wissens auch nur einen durchaus rationalen Glauben, einen begrifflich zu bestimmenden, allgemein und notwendig zu begründenden Glauben dulden. Aber er konnte es nicht hindern, daß schon JAKOBI die kritische Lehre von der wissenschaftlichen Unerkennbarkeit des  Ding ansich  bereitwillig anerkannte, um gerade darauf das Recht eines unmittelbaren Wahrnehmungsvermögens für das Übersinnliche und die höhere Wahrheit des individuellen Erlebens zu stützen. Vergebens hatte sich KANT in einer der prächtigsten von seinen kleinen Schriften ("Was heißt, sich im Denken orientieren?") gegen diese Schwärmerei der Geisterseher gewehrt, die sich in der Nacht des Übersinnlichen, wo freilich das Wissen versagt, durch irgendein besonderes persönliches Gefühl orientieren wollen, statt sich der praktischen Vernunft, dem schlichten Pflichtbewußtsein, dem klaren und strengen Gedanken der Sittlichkeit anzuvertrauen. KANT hat damit nicht hindern können, daß auf dem Feld, das er für seinen Glauben freigemacht haben wollte, sich die Romantik mit der ganzen üppigen Fülle der genialen Erlebnisse zu tummeln begann. Gerade die Romantik aber hat die Gefährlichkeit dieser Verhältnisse deutlich genug zutage treten lassen: ihre Entwicklung, die Umbiegung ihrer Tendenzen von SCHLEIERMACHER und NOVALIS zu FRIEDRICH SCHLEGEL und ADAM MÜLLER hat bewiesen, daß die mystischen Bewegungen im schließlichen Erfolg mehr den Kirchen zugute kommen als der Religion.

Auch die besondere Form des Agnostizismus, die KANTs Erkenntnistheorie angelegt war, hat die Entwicklung mystischer Neigungen begünstigen müssen. Wissenschaftliche Erkenntnis im strengen Sinne des Wortes fiel nach der kritischen Kategorienlehre mit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Theorie zusammen; schon der Organismus bildete einen Grenzbegriff für das Erkennen, für die Gegenstände der inneren Erfahrung sollte es höchstens eine beschreibende, keine begreifende und erklärende Disziplin geben. Waren so die Ansprüche der Wissenschaft auf die Natur als den Zusammenhang der mechanischen Kausalität beschränkt, so lag es freilich auf der Hand, daß das metaphysische Bedürfnis mit der Wirklichkeit, die diese Wissenschaft erkennt, sich nun und nimmermehr zufrieden geben konnte: und je lebhafter zeitweise der Neukantianismus diese Selbsteinschränkung der Erkenntnis als die einzige Weisheit der Philosophie proklamierte, umso breiter wurde der Spielraum für alle Anforderungen des Glaubens und des unmittelbaren Erlebens, welche die Gewißheit ihrer Inhalte völlig davon unabhängig machen wollten, ob sie nach den Prinzipien jener Erkenntnis möglich seien oder nicht. Ja, sie ließen sich wohl gern in die Position des alten Wortes hineindrängen: certum est, quia impossibile est [Es ist sicher, weil es unmöglich ist. - wp]; es ist gewiß,  weil  es nach eurer Schulweisheit unmöglich ist. Denn zu allen Zeiten nimmt sich der Irrationalismus aus der Selbstbegrenzung der Vernunft am liebsten das Recht der Paradoxie.

Ein weiterer Anlaß zum gegensätzliche Heraustreiben mystischer Motive lag in der Entwicklung der Psychologie, die in den letzten Jahrzehnten so vielfach die Philosophie hat ersetzen sollen. Der entscheidende Punkt ist hier die weit verbreitete Theorie vom psychophysischen Parallelismus. Die Schwierigkeiten, die in der Vorstellung einer gegenseitigen Kausalität leiblicher und seelischer Zustände stecken, hat man bekanntlich nach dem Vorbild SPINOZAs wieder dadurch zu umgehen gesucht, daß in beiden nur die inhaltlich verschiedenen, aber stetig in allen einzelnen Bestimmungen einander eindeutig zugeordneten Seiten eines und desselben Grundprozesses vorliegen sollen. Damit scheint zwar das selbständige Wesen des Psychischen gegenüber dem Physischen gewahrt: aber in der Auffassung des Geschehens kann diese Theorie der Wendung zum Materialismus nicht entgehen. Das hat sich schon dereinst in der Entwicklung der englischen Assoziationspsychologie (bei HARTLEY) gezeigt. Und wenn jetzt das Hauptargument für die Annahme des psychophysischen Parallelismus darin zu bestehen pflegt, daß eine psychophysische Kausalität mit dem Prinzip der Erhaltund der Energie unvereinbar sein würde, so ist die unausweichliche Folge die, daß der Ablauf der leiblichen Zustände nach physikalischen und chemischen Gesetzen in letzter Instanz begreiflich erscheint und dann der korrespondierende Ablauf der seelischen Zustände zu einer Begleiterscheinung am physischen Grundprozeß herabsinkt. Damit aber ist das gesamte Seelenleben in den Zusammenhang der mechanischen Kausalität hineingerissen und das Bewußtsein der Aktivität, in der die Persönlichkeit sich selbst erlebt, erscheint dieser Psychologie gegenüber als ein Wunder das seine Selbstgewißheit außerhalb der wissenschaftlichen Theorie suchen muß. Wenn man aber dann nach den Denkgewohnheiten einer auf Psychologie eingeschrumpften Philosophie diesem Bedürfnis nur mit den Mitteln des individuellen Erlebnisses Genüge tun will, so ist man unweigerlich auf dem Weg der Mystik. Der klassische deutsche Idealismus hat dereinst, wie es am großartigsten HEGEL gelungen ist, die konkreten Werte der geistigen Realität aus den begrifflichen Zusammenhängen des historischen Prozesses herausgearbeitet. Solange man das verschmäht und auf dem Standpunnkt der individuellen Besinnung beharrt, wird man mit allem Ethos und Pathos den geistigen Lebensinhalt, der aus der Verschlingung in das physische Dasein gerettet werden soll, zu einer nebelhaften Religiosität und einer religiösen Nebelhaftigkeit verflüchtigen. das ist die ernste, an mehr als einer Stelle schon deutlich hervortretende Gefahr für unsere neue idealistische Bewegung.

Die Lehre vom psychophysischen Parallelismus enthält noch ein zweites ungewollt mystisches Moment. Sie ist, zumals als allgemeine metaphysische Theorie, nicht durchführbar ohne die Voraussetzung einer enormen Menge unbewußter seelischer Zustände. Soll jedem körperlichen Vorgang eine psychische Funktion zugeordnet sein, so ist die Hauptmasse der seelischen Wirklichkeit unbewußter Art und die Sphäre des bewußten Lebens bildet dann nur eine kleine dünne Oberschicht auf dem breiten Grund des Unbewußten, in welchem das wahre seelische Geschehen mit seinen treibenden Kräften sich so abspielt, daß nur seine obersten Spitzen in das Licht des bewußten Erlebnisses heraustreten. Aber die Annahme des Unterbewußtseins verlangt als ihr Gegenstück auch die eines Überbewußtseins: und wie die Grenzen des Bewußtseins gegen jenes flüssig sind, so werden sie auch diesem gegenüber nicht undurchdringlich sein. Im "Unbewußten" haben FECHNER und EDUARD von HARTMANN, so verschieden die Ausgangspunkte und die Methoden ihres Denkens waren, die mystische Einheit des Unterbewußten und des Überbewußten zu suchen gelehrt.

Wenn man endlich die Tätigkeiten des Bewußtseins unter dem Gesichtspunkt der empirischen Lebenszwecke betrachtet, so droht das, was wir unser Wissen nennen, wiederum den Wert einer Beziehung auf die wahre Realität einzubüßen. Die Vorstellungen lassen sich entwicklungsgeschichtlich als die höchste Form der Umsetzung sensibler in motorische Zustände des Organismus betrachten; dann ist ihr Sinn lediglich die zweckmäßige Bestimmung des Handelns, dann löst unser begriffliches Denken aus den reichen Verflechtungen individueller Wirklichkeiten nur die gleichmäßigen äußeren Schematismen, die sich wiederholen werden, heraus und mit den Kategorien der wissenschaftlichen Erkenntnis begreifen wir nicht das Leben, sondern seine starr gewordenen Formen oder wie es ein älterer französischer Mystiker, PIERRE POIRET, gegenüber der mechanistischen Naturphilosophie der Cartesianer gesagt hat, den Leichnam der Natur. Ihr Inneres aber wie unser eigenes kann nicht in Begriffen gedacht, sondern nur in unmittelbarer Intuition erlebt werden. Diesen Bund zwischen biologischem Pragmatismus und Mystik hat HENRI BERGSON verkündet und darauf beruth die extensive und intensive Wirkung seiner in diesem Sinne spezifisch modernen Philosophie.

Die Bedürfnisse der Mystik liegen tief im Wesen des Menschen und in der Begrenztheit seiner Erkenntnis. Sie nehmen deshalb in den verschiedensten Zeiten die Formen an, welche durch das Bewußtsein von den Aufgaben des Wissens und dem Maß ihrer Erfüllbarkeit jeweils besonders bestimmt sind. Der wissenschaftliche Geist wird an diesen von ihm selbst erkannten Grenzen immer still stehen, das Unerforschliche ruhig verehren und nicht ungeduldig an den Schleiern zerren. Der Mystiker aber glaubt, in einem ganz besonderen Erlebnis doch ein glückliches Schauen erhaschen zu können. Das wird ihm niemand verwehren: aber er gerät mit sich selbst in Widerspruch, wenn er, in diese Welt des gemeinsamen Bewußtseins zurückkehrend, sein Schauen in Lehre und Tat umsetzen will. Die Formen der Rede sind die des Denkens und diese sind keine anderen als die des Erkennens: wenn also jene reine Intuition des Mystikers sich aussprechen will, so kann sie nur in denselben Kategorien sich äußern, die sie selbst als unzulänglich und irreführend verwirft. Darum ist die Rede, so berauschend sie klingt, ihrem eigenen Wesen und Eingeständnis nach nur ein Stammeln. Der Mystiker kann seine selige Schau als seltenen Sabbatfrieden genießen: aber für das Alltagsleben braucht auch er eine Innenwelt und eine Außenwelt, die sich denken lassen, deren Beziehungen sich begrifflich gestalten und danach verwirklichen lassen. Die Mystik ist möglich als intuitives Erlebnis des Individuums; sie ist unmöglich als wissenschaftliche Lehre: das ist sie höchstens in ihrem negativen kritischen Teil, aber nicht in dem, was sie positiv sagen möchte.

Will aber die Philosophie das Denken den Wissenschaften überlassen und sich selbst das unaussagbare Schauen vorbehalten, so hat sie als Wissenschaft abgedankt. Mancher wird sagen, das schade nichts, wenn sie nur, vielleicht gerade damit, die geistige Lage der Zeit zum adäquaten Ausdruck bringt. Aber umso berechtigter wird die Frage sein, ob es aus dieser lage heraus keinen Weg für die Philosophie gibt, um ihren Charakter als rationales Denken als begriffliche Wissenschaft aufrechtzuerhalten. Denn die höchste Aufgabe wird doch immer die bleiben, unser Leben aus der dumpfen, halbbewußten Gegebenheit in klares Bewußtsein und deutliche Gestaltung zu bringen.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Von der Mystik unserer Zeit, Präludien, Bd. 1, Tübingen 1924