cr-3ra-1M. Krieg 
 
GUSTAV LANDAUER
Skepsis und Mystik
(Zum ersten Band der Sprachkritik)

Mauthners Kritik der Sprache
Skepsis und Mystik
"Wohlauf denn: Ihr alle, die ihr euch um die Erkenntnis eures Wesens und der Welt bemüht, ihr Theoretiker, die ihr Begriffe spinnt, und auch ihr Praktiker, die ihr in die Welt hinein pfuschen oder bauen wollt, ihr Künstler, die ihr Träume baut, laßt eine Weile alles andere beiseite und lest erst dieses Buch, die Sprachkritik..."

Ein Mann ging im Traum seines Weges und wußte nicht, daß er träumte. Da kam er an ein hohes, starres, ehernes Gebirge, das ihm den Weg versperrte und so metallisch glänzte, daß er sich darin spiegeln konnte. Er spiegelte sich in dem schwarzen Schimmer und sagte erschüttert:  Das ist ein Spiegel. Ich sehe nichts; ich sehe mich selbst - nichts.  Und eine Stimme rief:  Hast du die Welt hinter dir gelassen?  "Ja," flüsterte der Mann, "sie ist abgetan."  So blicke in mich; hinter deinem Spiegelbild wirst du die Welt gewahren.  Der Mann starrte in den dunklen Schein und sprach dann langsam: "Ich sehe die Welt; ich sehe nichts." Und er versank in ein düsteres Sinnen über sich selbst und die Welt. Da kamen schwarze Schlangen aus dem Gebirge, das waren Ketten; und sie umspannten mit fürchterlicher Gewalt den Mann von den Füßen bis zum Kopf. Dazu klirrten sie ihm ins Ohr:  Weil du noch sinnst - weil du noch denkst - weil du noch Antwort gibst.  - Der Mann aber hob sich jetzt in die Lüfte - höher immer schneller - und die Ketten schleiften endlos hinter ihm her, und schließlich löste sich das ganze schwarze Gebirge in Ketten und flog mit ihm hinauf und hinauf. Und der Mann schrie beglückt:  Ich fliege in Ketten - ich fliege - ich träume.  Er wußte jetzt, daß er träumte, und er flog in Ketten, so weit er fliegen konnte.

Der Mann, den die Sprachkritik, wie sie von FRITZ MAUTHNER begründet ist, gefesselt und befreit hat, weiß, daß er träumt, wenn er versucht, die Welt zu seinem Bild zu gestalten. Und weiß nicht jeder, der je versucht hat, von seinem Geträume in Worten zu berichten, daß das Beste unter den Händen zerschmilzt und zerrinnt, während man es zur Sprache ballen will?

Aber doch! was wäre die große Tat wert, die alles Absolute getötet hat und jede Wahrheit vernichtet - wenn dieser Nihilismus und diese Ironie nicht der Weg wäre zum Spiele des Lebens, zur Heiterkeit und zur ungeglaubten Illusion - eine geglaubte Idee, ein heiliges Ziel - das war bisher der Bann der Völker, der alle Kultur geschaffen hat. Da nun dieser Bann von uns genommen ist - da wir keine Religiosi mehr sind - wollen wir nicht Träumer sein? Fliegende? Künstler? Freie?

Wohlauf denn: Ihr alle, die ihr euch um die Erkenntnis eures Wesens und der Welt bemüht, ihr Theoretiker, die ihr Begriffe spinnt, und auch ihr Praktiker, die ihr in die Welt hinein pfuschen oder bauen wollt, ihr Künstler, die ihr Träume baut, laßt eine Weile alles andere beiseite und lest erst dieses Buch, die Sprachkritik, ich habe die Hoffnung - denn da der Mensch durch nichts, was vom Menschen kommt, umzubringen ist, wächst aus jeder größten Verzweiflung am Ende neue, größere Hoffnung auf -, daß ihr Theoretiker zusammen mit den Künstlern dann erst recht träumen und phantasieren werdet; daß ihr Baumeister erst recht kühn und mit vorher unerhörter Tiefe und Tapferkeit einreißen und aufrichten werdet. Denn wo nichts mehr feststeht und kein Grund mehr ist, da gerade werden wir unsere Pfähle einrammen. Das, scheint mir, ist die Art neuer Menschen. Kants  Kritik der reinen Vernunft  steht in ursächlichem Zusammenhang nicht nur mit der Romantik, sondern eben so mit den revolutionären Umgestaltungen von 1830 und 1848; so ist für mich das große Werk der Skepsis und der radikalsten Negation, das Mauthner verübt hat, der Wegbereiter für neue Mystik und für neue starke Aktion.

Denn wenn das Wort getötet ist: was soll dann noch stehen bleiben? Und was hinwiederum soll dann nicht versucht werden?

Es wäre vielleicht ein fruchtbarer Versuch, in einer Geschichte der Philosophie zu zeigen, wie immer den großen Zerstörern die großen Phantasten und die Schöpfer neuer Weltanschauungen auf dem Fuße gefolgt sind, wie PLATO auf SOKRATES folgte, wie die deutsche Mystik auf dem Grunde großer scholastischer Skepsis erwuchs, wie auf KANT, SCHELLING, HEGEL und SCHOPENHAUER folgten. Und was uns an FRIEDRICH NIETZSCHE so wundersam anzieht, ist ja nichts anderes als dieser vor unseren Augen sich abspielende Kampf zwischen dem Skeptiker und dem erbaulich Erbauenden. Um dieses Kampfes willen, der zwischen dem Ruhebedürfnis und der rastlosen Ehrlichkeit des Menschen hin und her geht, ist es immer wieder nötig gewesen, alte Skepsis, die sich nicht als genügenden Wall gegen menschliche Verstiegenheiten bewährt hat, durch neue zu ersetzen. So war es auch nötig, an die Stelle von Kants  Kritik der reinen Vernunft  die Kritik der Vernunft überhaupt zu setzen. MAUTHNER hat dazu ausgeholt, und seine wuchtigste Kritik liegt schon darin, daß er statt Vernunft  Sprache  sagt.

KANT war von der Verachtung der Erfahrung ausgegangen, aber von einer Verachtung, die er nicht auf Grund eigener Prüfung erworben, sondern traditionell von der dogmatischen Philosophie übernommen hatte. Für ihn gab es über den Urteilen, die auf Grund gehäufter Erfahrungen von unserer Vernunft gefällt werden, noch Urteile der reinen Vernunft, sogenannte synthetische Sätze a priori, die allein Allgemeingültigkeit und objektive Notwendigkeit in sich bergen sollten, Urteile, deren Bestandteile schon vor Beginn irgendeiner Erfahrung in unserem Intellekt vorhanden sein sollten. Diese Formen und Prinzipien, die der Natur unserer Erkenntnis angehören, die also von vornherein, a priori, in uns sind, schaffen erst die Welt, so wie wir sie gewahren: die Welt ist körperhaft und in fortwährender Bewegung. Veränderung und Wirksamkeit, weil wir die Formen und Prinzipien, die diese Welt erst schaffen, in uns tragen: Raum, Zeit, Größe, Gradunterschiede, Kausalität sind eben so nicht der Welt, sonder uns selbst, den Betrachtern, angehörig wie die Tönungen unserer spezifischen Sinnesenergien.

So ist also die Welt nur unsere Erscheinung in der subjektiven Form des Raumes. Ganz eben so aber ist unser inneres Wesen, unser Ichgefühl, unsere Seele, auch nur unsere Erscheinung in der Form der Zeit. Das ist Kants unzweifelhafte Meinung, wenn auch moderne Panpsychisten diese Seite der Sache gern übersehen. Allerdings ist die Zeit ja selbst wieder eine apriorische Form der menschlichen Subjektivität; dieser eine Widerspruch aber ist nur ein vereinzeltes Beispiel für die fortwährenden Widersprüche, in denen Kant sich bewegen muß, weil er mit starren Begriffen dem ewig Fließenden und Unbegrifflichen, weil Ungreifbaren beikommen will.

Was KANT lehrte, war: in der Außenwelt wie in unserer Innenwelt leben nur menschliche Vorstellungen; von dem, was jenseits des Menschen wirklich sei, wissen wir nichts. Die Kategorien des reinen Verstandes, die Ideen der reinen Vernunft haben nur Geltung für unsere Erfahrung - obwohl sie vor aller Erfahrung schon in uns sein sollen -, sie versetzen uns nicht in die Lage, unsere Erfahrung zu durchbrechen; die Elemente unserer Erfahrung aber sind erstens das Unbekannte, zweitens Nur-Menschliches. Daß dieses Unbekannte, das hinter den Dingen steckt, eher etwas Geisthaftes (Noumenon) als etwas Körperliches sei, hat KANT öfter angedeutet; aber er hat sich dann immer wieder dagegen gewehrt und sich hinter den rettenden Schirm der Zeit geflüchtet, die ja auch nichts sei, was den Dingen an sich selbst zukomme. Also auch von innen her keine Welterkenntnis! Das war KANTs verzweifelte Erkenntnis, die nicht nur den Rationalisten, sondern auch den Mystikern und Panpsychisten zurief und der feinste KANTkenner, Schopenhauer, nicht wahrhaben, nicht einmal wahrnehmen wollte. Das Ichgefühl ist nach KANT nur das Subjekt all unserer Urteile, aber nichts, wovon wir irgendwie Sicherheit als von etwas Wirklichem haben könnten.

Gerade in diesen Gedanken aber leitet KANT, auch schon in seiner Ausdrucksweise, zu MAUTHNER hinüber. Es gibt, lehrt MAUTHNER, keine reine Vernunft, es gibt keine Möglichkeit, die Erkenntnis anders zu fördern als mit Hilfe der Erfahrung, also der Sinne; die Allgemeinbegriffe sind nicht eingeborene Formen, die die Inhalts harren, sie sind nur Worte, gewordene Worte, und auch unsere Worte vom Werden und von der Entwicklung sind wiederum Worte. Die Sinne aber, auf die all unser Erkennen - unser bißchen Erkennen - einzuschränken ist, sind nur Zufallssinne, sind gar nicht zur objektiven Welterkenntnis eingerichtet, haben sich nur so entwickelt, wie es das Interesse unseres Lebens erforderte. Und all das - immer und immer wieder schärft Mauthner uns ein - ist nur in Worten gesagt, weil es anders nicht getan werden konnte; all das soll nur als Negation verstanden werden. Es steckt nichts hinter unseren Worten. Das wird uns in Worten gesagt, in denen die tiefste Erregung über diese furchtbare Erkenntnis zittert, die ja eben keine Erkenntnis, sondern der Verzicht auf alle Erkenntnis, die eine Tat und eine Untat ist.

KANT hatte gesagt, die Dinge da draußen seien nur Erscheinungen in der subjektiven Form des Raumes, ihre Eigenschaften seien so, wie unsere Sinne beschaffen seien, und ihre gegenseitigen Beziehungen erfolgen auf Grund der subjektiven Form der Zeit. Kant macht also immer noch den Versuch, die Dinge durch Dinge zu erklären. Mauthner aber ruft uns mit großem Hohn zu: Diese Dinge da draußen sind Dinge, weil eure Sprache sie in die Form der Substantiva pressen muß, und ihre Eigenschaften sind Adjektiva und ihre Beziehungen regeln sich nach der Art, wie ihr eure Eindrücke auf euch bezieht, nämlich in der Form des Verbums. Eure Welt ist die Grammatik eurer Sprache. Wer aber, wenn das nur einmal ausgesprochen ist, wird glauben wollen, daß es jenseits der Menschensprache noch etwas Substantivisches gibt, wo es ja sogar Sprachen mit anderen Kategorien, Köpfe mit anderen Weltanschauungen gibt!

Weltanschauung! Sie ist nichts anderes als unser Sprachschatz; und der Sprachschatz ist unser Gedächtnis; und umgekehrt. Dieses  und umgekehrt  findet man, so oder so ausgedrückt, sehr oft in Mauthners Buch. Kein Wunder, da MAUTHNER erkannt hat, daß all unsere Urteile nur Tautologien sind, daß aber diese Gleichsetzungen eben auch nur für unsere Worte gelten, daß es aber in Wirklichkeit - hinter all diese Worte setzt Mauthner dann immer ein Fragezeichen und sein leises, schmerzliches Lachen - keine Gleichheit, sondern nur Ähnlichkeit gibt. Wir sehen Ähnliches: Das ist das Geheimnis unserer Assoziation und unserer Begriffsbildung. Und wenn wir eine Unähnlichkeit wahrnehmen, wenn also unser Gedächtnis entgleist, erweitern wir einen Begriff oder wir bilden durch eine neue Metapher oder Bedeutungswandel einen neuen Begriff. Und so immer weiter. Die Welt strömt auf uns zu, mit den paar armseligen Löchern unserer Zufallssinne nehmen wir auf, was wir fassen können, und kleben es an unseren alten Wortvorrat fest, da wir nichts anderes haben, womit wir es halten können. Die Welt strömt aber weiter, auch unsere Sprache strömt weiter, nur nicht in derselben Richtung, sondern den Zufällen der Sprachgeschichte, für die sich Gesetze nicht aufstellen lassen.

So also steht es: unsere Welt ist ein Bild, das mit sehr armseligen Mitteln, mit unseren paar Sinnen, hergestellt ist. Diese Welt aber, die Natur, in ihrer Sprachlosigkeit und Unaussprechbarkeit, ist unermeßlich reich gegen unsere sogenannte Weltanschauung, gegen das, was wir als Erkenntnis oder Sprache von der Natur schwatzen. Denn die Sprache ist nur ein Bild des Bildes, da alle Sprache durch Metapher entstanden und durch Metaphern sich weiterentwickelt hat. Unsere teilen uns nur mit, was wir wahrnehmen, also mit dem Gedächtnis, also mit der Sprache erfassen können. Unsere Nerven wissen von dem, was sie angeht, mehr, als wir Nervenbesitzer ahnen, als unser Oberbewußtsein weiß und in Worte fassen kann. Die Welt ist ohne Sprache. "Sprachlos würde, wer sie verstünde." Homo non intelligendo fit omnia.

Die Sprache, der Intellekt, kann nicht dazu dienen, die Welt uns näher zu bringen, die Welt in uns zu verwandeln. Als sprachloses Stück Natur aber verwandelt sich der Mensch in alles, weil er alles berührt. Hier beginnt die Mystik; und MAUTHNER hört mit Fug und Recht hier auf, Worte zu machen. Denn wenn die Mystik reden will, muß sie sich bewußt sein, daß sie spielerisch ist, nur Phantasie, nur Wortkunst, nur Bild in Bildern. MAUTHNER aber hat keine Zeit zum Spielen; erst muß der Ernst so gründlich besorgt werden, daß wir einsehen: unsere Weltanschauungen, unsere Religionen, unsere Wissenschaften sind Dichtung und Spiel. Der Ernst, der Streit, die Maske muß aus Begriffen und Worten hinausgeworfen werden. Hinter MAUTHNERs Sprachkritik öffnet sich das Tor zu neuer Kunst und zum Spiel des Lebens, das nicht mehr ernsthaft genommen wird und das deshalb gerade großen Kämpfen, großen Wagnissen, unerhörten Frevel, wunderbarer Schönheit geweiht sein wird.
LITERATUR - Gustav Landauer, Skepsis und Mystik, Wetzlar 1978