ra-2L. PohorillesG. MehlisP. KampitsWindelbandB. RussellG. Landauer    
 
FEODOR STEPPUHN
Die Tragödie des
mystischen Bewußtseins


"Alle wahre Kultur ist in letzter Instanz Religion und immer wieder Religion; alle ihre größten Werke bedeuten ja schließlich nichts anderes als gewaltige Sehnsuchtsgesten wahrheitshungriger Geister nach dem Ewigen, dem Absoluten, d. h. aber religiös gewendet nach Gott."

"Für die griechische Philosophie sind die Unabhängigkeit des Erkenntnisobjekts vom Subjekt und eine bestimmte Passivität des Erkenntnisprozesses wohl am meisten charakteristisch."

"Den Grundton des modernen Individualismus schlägt Meister Eckehart in einem Satz an, für den er von seinen Zuhörern mit vollem Bewußtsein kein Verständnis verlangte, den wir aber heute nur gar zu gut in all seinen Motiven und Konsequenzen verstehen:  Wäre ich nicht, so wäre auch Gott nicht,  so sagt er zum Schluß einer seiner Predigten. Und mit einem Schlag vernichtet er durch diese Worte die Transzendenz Gottes aber auch die Transzendenz der gotterschaffenen Welt."


I.

Alles, was im Tag steht, das hat der Tag. Acker und Wald, die stille Stadt und der alte Glockenturm sind ihm Gegenstand und Besitz, und er erschaut das alles mit dem Auge des Lichts.

Anders die Nacht: sie hat nichts, denn sie ist alles; ihr sterben die Dinge als Gegenstände; ihr werden sie begraben in der heiligen Armut ihrer Zuständlichkeit. So ist die Nacht ein Nichts und ein Alles. So ruht sie als Schweigen und Dunkel im Krater der Ewigkeit.

Wie Tag und Nacht gegeneinander stehen, so stehen sich menschliches und göttliches Bewußtsein gegenüber.

Das menschliche Bewußtsein hat die Welt  außer  sich und ist darum notwendig  äußerlich.  Diese Welt ist ihm gegeben als sein Zweites, Anderes, und es erfährt sie nur in seine theoretischen, ästhetischen und religiösen Akten und Relationen. Erfährt sie nur in Akten und Relationen, das heißt aber: das menschliche Bewußtsein ist  aktiv  und  relativ. 

Das göttliche Bewußtsein hat die Welt tief  in  sich und ist darum notwendig  innerlich.  Es kennt nichts von der Welt als seinem Zweiten und Anderen, darum auch nichts von den Relationen theoretischer, ästhetischer, religiöser Akte. Es kennt nichts von den Relationen der Akte, auch nichts von Akten der Relativität, d. h. aber: das göttliche Bewußtsein ist  passiv und absolut. 

So stehen sich göttliches und menschliches Bewußtsein gegenüber wie Nacht und Tag, wie Armut und Fülle, wie ein passives Verweilen in der Tiefe der Immanenz und ein aktives Sichhinstellen auf die Höhen der Transzendenz, wie die Zustandswerte des religiösen Erlebens und die Gegenstandswerte des kulturschaffenden Leistens.

Gott ist die tiefste aller tiefen Nächte, und alle Mystik sehnt sich stets nach ihr. So steht es im Buch HIOB: "Im Traum des nächtlichen Gesichts kommt Er und raunt dem Menschen ins Ohr." ECKEHART weiß: "Ihr sehet am besten, wo ihr in der Finsternis stehet." NOVALIS singt seine Hymnen an die Nacht, und RILKE glaubt nur an Nächte: "Du Dunkelheit, aus der ich stamme, ich liebe dich mehr als die Flamme, welche die Welt begrenzt, indem sie glänzt." Vom Mysterium der Nacht beständig angezogen, von ihrem Blick gleichsam hypnotisiert, löst sich das menschliche Bewußtsein jedoch niemals vollständig in der ewigen Finsternis auf. Dank seiner ganzen endlichen Natur ist es immer vom Licht des Tages versucht und gequält. So ruht das gottkranke und gottselige Bewußtsein des Mystikers stets in der Stunde der Dämmerung, und so haben wir unseren Weg zu ihm durch ihre Weiten und Schleier zu suchen.

Wie tief auch das mystische Alleinheitserlebnis des Menschen ist - sein mystisch-religiöses Bewußtsein bleibt immer auf die Unendlichkeit der Welt als seinen Gegenstand gerichtet und damit endlich und von Gott getrennt. Als ewige Distanz zwischen Gott und Mensch dehnt sich diese unbegreifliche Mannigfaltigkeit der göttlichen Welt. Diese Unendlichkeit zu besiegen, sie in den Formen des Denkens, Wollens und Schaffens zu bilden und somit auch zu binden - darin liegt die schwere Pflicht des Menschen, darin aber auch seine ewige sengende Sehnsucht. Übernehme ich nun, als religiöser Mensch, die ganze Schwere dieser Arbeit im Sinne und im Zeichen des religiösen Erlebens, so fühle ich micht auch notwendig dazu gezwungen, sie mit den Kuppeln: Theosophie [göttliche Weisheitslehre - wp], Theokratie [Gottesstaat - wp] und Theurgie [Gotteswerklehre - wp] zu krönen.

Je tiefer aber meine religiöse Sehnsucht wühlt, die vor mir flutende Welt als eine Welt Gottes zu begreifen, je zäher und schmiegsamer mein religiöses Deutungsvermögen ausgebildet ist, desto üppiger und vielgestaltiger werden sich in meinem Bewußtsein die Form-Hierarchien meines theoretischen und ästhetischen Weltbegreifens erheben. So erlebe ich staunend, wie alle Gesetze und Formen meines prüfenden Erkenntnisvermögens, alle Strebungen und Wollungen der Welt, die in den beiden Formen von Ruhe und Kampf mein willensmäßiges Streben rhythmisch bewegen und teilen, alle Stimmungen und Heimlichkeiten, welche in nächtlicher Stunde die tiefen Atemzüge des Lebens meinem ästhetischen Weltempfinden und Formungsvermögen verraten, - wie all das sich schließlich zu einem schweren Gewebe verdichtet, das als dunkler Vorhang vor die Pforten der Ewigkeit fällt.

So ist also gerade das Ausbauen der Welt und ihrer ewigen Problematik in durchgebildeten Systemen nur ein notwendiges Verbauen wahrer Ewigkeitsperspektiven und ein Errichten des heiligen Tempels wahrer religiöser Kultur als eines prunkvollen Grabdenkmals für meinen lebendigen Gott.

So wächst hinter all meinen theoretischen, ethischen, ästhetischen und religiösen Schaffen, hinter jeder meiner gegenständlichen Leistungen, die ich ursprünglich alle als Notbrücken zu Gott hin gewollt und gesegnet habe, der große Brand meiner religiösen Sehnsucht. Die Flamme wächst, äschert die Brücken ein und hüllt das göttliche Antlitz in dunkle Schatten.

Hieraus erwächst mir meine erste Erkenntnis:  die religiöse Bewältigung der Welt, gleichviel, ob in einem Begriff, einem Bild oder einem heroischen Ringen des Lebens vollzogen, führt mich weniger zu Gott hin als von Gott weg.  So grabe ich, als Schöpfer göttlicher Welten, mir selbst als dem Geschöpf Gottes das finstere Grab, so falle ich, als Errichter eigener Welten, einem ungehorsamen und ungefügigen Stein vergleichbar, aus den bildenden Händen des göttlichen Maurers.

Alle wahre Erkenntnis birgt immer eine Mahnung und eine Weisung als ihren tiefsten Sinn in sich. Kann ich Gott auf dem mittelbaren Weg religiöser Welterkenntnis unmöglich begreifen, so muß meine Seele den Weg einer unmittelbaren Vereinigung mit ihm zu betreten suchen. Wie eine derartige Vereinigung möglich ist, was sie bedeutet, in welchen Erlebnissen sie geboren wird, und welche Erkenntnisse sie in sich trägt, darüber darf ich hier absolutes Schweigen bewahren.

Wesentlich ist nur die Tatsache, daß in diesem Akt unmittelbarer Gottesvereinigung ich jegliche Distanz zwischen Gott und mir aufhebe und mich somit nicht nur als relativ göttlich, sondern schlechthin und absolut als Gott selber erlebe. Dies aber bedeutet, daß ich, eine heilige Nacht, auf die Welt herabsinke, diese Welt als sein in sich ruhende Mannigfaltigkeit in mir selber verlösche, sie in die heilige Armut meines Geistes hebe und sie somit als Objekt meines Erkennens, Erschauens und Erschaffens vernichte. All das wäre die höchste Glückseligkeit, wenn Gott, den ich in Stunden letzter religiöser Erhebung wahrhaft erfasse, meiner Endlichkeit ein ewiges Grab bedeuten könnte, wenn mein menschliches, allzu menschliches Sein nicht dazu verurteilt wäre, wieder und immer wieder seinen Ostersonntag zu feiern, seine Auferstehung zu erleben. So liegt also gerade in dieser Auferstehung die letzte Komplikation des religiösen Erlebens, so wächst auch vor allem aus ihr die Tragödie des mystischen Bewußtseins.

Mit der lebendigen Tiefe des göttlichen Wesens in einem Strom geeint, begrub ich eben in seinen heiligen Tiefen, in den dunkelflutenden Wogen des all-ewigen Lebens die über der Seele schwer lastende Welt. Doch der Augenblick flieht, es naht die Stunde der Ebbe, und in der gottverlassenen Seele erhebt sich von Neuem die Welt, erhebt sich als eine Insel, grau, öde und einsam. Verlassen brandet die Seele an ihren felsigen Ufern empor, verlassen, vergessen und hilflos. Noch voll der dunklen Erinnerung an das süße Kosten letzter Gottesvereinigung, voll der blendenden Erkenntnisse und der höchsten Weisheit geistig Armer, ist sie noch mehr als jemals zuvor von der Möglichkeit jeglicher Welt- und Lebenserkenntnis entfernt. Noch immer von den tiefatmigen Rhythmen des Stromes innerlich erfüllt, in welchem aufgelöst sie ihre Wellen über die flutbegrabene Welt rollte, flieht sie, keuscher als je eine schöpferische und erkennende Geste, denn sie weiß es jetzt fest und genau, daß Erkenntnis immer nur dort entsteht, wo die Doppelheit von Objekt und Bewußtsein, von Mensch und Welt vorhanden ist, d. h. dort, wo Gottes Wille die Seele des Menschen verlassen und vergessen hat.

Hieraus erwächst mir meine zweite, der ersten direkt entgegengesetzte Erkenntnis:  nicht genug, daß die unmittelbare Vereinigung des Menschen mit Gott ihm die Erkenntnis der Welt als einer Welt Gottes durchaus nicht erleichtert, sie verbietet ihm sogar jeglichen Akt theoretischer oder ästhetischer Weltdeutung und verwandelt ihm dadurch die Welt in ein ewiges Rätsel, eine Hieroglyphe, eine Sphinx. 

Indem ich die beiden Einsichten neben- und gegeneinander stelle, formuliere ich die entscheidende Antinomie des religiös-mystischen Bewußtseins:  die religiöse Bewältigung der Welt in Begriff, Tat oder Bild trennt mich notwendig von Gott selbst. Die unmittelbare Erfassung Gottes im mystischen Akt der Einswerdung mit ihm macht mir seine Welt absolut unbegreiflich und rätselhaft. 

So ist mir die Wahrheit und die Realität des mystischen Lebens vor allem der Kampf zweier Erlebnissphären.

Die eine ist beständig bestrebt, die Welt als eine dem mystisch-religiösen Bewußtsein transzendente Realität zu bestimmen oder zu begreifen, und sie erkauft diese ihre allumfassende Extensität durch ein empfindungsmäßiges Bejahen der zwischen Mensch und Gott bestehenden Distanz.

Die zweite vernichtet diese Distanz, löst den transzendenten Gott und die Transzendenz der Welt in der Sphäre des alleinen und allewigen immanenten religiösen Erlebens und bedrückt das menschliche Bewußtsein mit der absoluten Unbegreiflichkeit der Welt als einer Welt Gottes.

Die leuchtende Wahrheit der ersten Erlebnissphäre ist das Erleben Gottes als einer vor und über dem Leben thronenden Realität; ihr Schatten ist die Unmöglichkeit einer letzten Vertiefung und Anspannung des religiösen Lebens.

Die leuchtende Wahrheit der zweiten ist die Erhebung des religiösen Erlebens auf seine letzten Höhen, seine Steigerung bis zu einem absoluten Leben in Gott; ihr Schatten ist die Aufhebung der Transzendenz Gottes, die Behauptung der Welt als eines steinernen Antlitzes, dessen Geheimnis ihm kein Schauen noch Schaffen, kein Glauben noch Lieben wird je zu entreißen vermögen.

Soweit die phänomenologische Analyse des für mich absolut realen mystischen Erlebens. Den erfolglosen Kampf der hier fixierten Prinzipien werde ich an den mystischen Konzeptionen von PLOTIN, ECKEHART und RAINER MARIA RILKE aufzudecken versuchen. Die Bedeutung ECKEHARTs liegt im Sieg des immanenten Motivs des mystischen Erlebens, die Bedeutung PLOTINs - im Sieg des transzendenten; die Bedeutung RILKEs in den mißlungenen Versuchen eines modernen Menschen, diese beiden Motive in eine organische Synthese zu zwingen.


II.

Allem Anschein nach hat ECKEHART selber die Tragödie des mystischen Bewußtseins, deren Wesen wir eben aufzudecken versucht haben, nicht gesehen, jedenfalls hat er sie nirgends formuliert. Und doch merkt man es einer bestimmten Unruhe und Verschwommenheit der Konturen seines mystischen Weltbildes deutlich an, daß auch er den tragischen Dualismus mystischer Immanenz- und Transzendenzmotive in sich getragen hat.

Die mystische Lehre ECKEHARTs besteht aus zwei Teilen: einer religiösen Psychologie und einer Metaphysik. Die beiden Teile befinden sich in einer prinzipiellen Abhängigkeit voneinander und sind in Bezug auf ihre architektonischen Formen durchaus symmetrisch und analog aufgebaut. Den Ausgangspunkt des Gesamtbaus bildet zweifellos die Psychologie: ein unerschrocken wahres, unendliches, und doch scharfes Beschreiben derjenigen Tiefen des religiösen Lebens, die das mystische Genie ECKEHARTs in sich trug und wußte. Zwei Erlebnis-Momente konstituieren dieses religiöse Leben.

Das erste und vielleicht vorherrschende ist das Erwerben derjenigen Tugend, welche ECKEHART über alle anderen stellt, und welche er so bezeichnend  die Abgeschiedenheit  heißt. In diese Abgeschiedenheit versenkt erlangt die Seele ihren eigenen Höhepunkt, erfährt sie ihre Einswerdung mit Gott, ihre vollkommene Gottung. In den weiten Mantel himmlischer Abendruhe und tiefster Windstille weich gehüllt, erlebt sie in dieser Versenkung ihre entscheidensten und ihre bedeutendsten Augenblicke: ein Allerletztes löst sich irgendwo in den Welt und legt sich still in ihre Tiefen. sie denkt jetzt gedankenlos, sie schaut ohne Bilder, das Schweigen erklingt in ihr, und ihre Finsternis leuchtet.

Natürlich ist eine solche, nur durch Antinomien ungefähr zu beschreibende Seele des Menschen ihrem ganzen Wesen nach durchaus unvorstellbar. Eine letzte Einheit aller Gegensätze, steht sie niemals vor unserem Bewußtsein, wie ein ihm äußeres Sein; ein reiner Zustandswert, ein absolutes Erlebnis, wird sie ebensowenig zum Objekt und Gegenstand unseres Schauens und Denkens.

Es sind ganz andere mystische Wege, welche zu ihrer Erkenntnis führen. Wir betreten diese gewöhnlich nur in Stunden letzter lebensmäßiger Erschütterung unseres Ich. Ihr wesentlicher Ertrag ist wohl aber immer die Erfahrung, daß der von uns gelebte Inhalt unseres Lebens nicht  unser  Inhalt war, der Zweifel an der Form des Ich als einer solchen, die überhaupt imstande ist, ein wirklich wahres Leben in sich aufzunehmen, es ist die Überzeugung, Gott sei allein das einzige Subjekt des ganzen wahren Lebens.

Nun wendet sich aber eine derartige unmittelbare Gotteserkenntnis, ein derartiges Gesättigtsein mit Gott sofort und entschieden gegen jegliches Leisten und Schaffen, damit aber auch gegen alle Kultur. Und dieses ist unmittelbar einleuchtend: alle wahre Kultur ist ja in letzter Instanz Religion und immer wieder Religion; alle ihre größten Werke bedeuten ja schließlich nichts anderes als gewaltige Sehnsuchtsgesten wahrheitshungriger Geister nach dem Ewigen, dem Absoluten, d. h. aber religiös gewendet nach Gott. Erlischt nun im Akt der absoluten Einswerdung der Seele mit Gott die religiöse Sehnsucht des Menschen, so verstummt mit ihr notwendig auch all seine schöpferische Kraft und Tat; in einer Seele, welche die Gottung erfahren hat, erstirbt ja nach ECKEHART, wie das Denken, Schauen und Rühmen Gottes, so auch die Liebe zu ihm, erstirbt mit anderen Worten die ganze Dynamik und Aktivität der Seele, die ganze Fülle und der ganze Reichtum der Kultur. Passivität, absolute Passivität, ist somit das höchste Gesetz der ECKEHART'schen Mystik; alle schöpferische Tat aber, alle objektivierende Leistung, selbst das Gebet, selbst der Gehorsam gegen Gott sind ihm, von hier aus gesehen, nichts anderes als ein böser Verrat der Seele an ihren eigenen religiösen Tiefen.

Gegen dieses Motiv des religiösen Erlebens stemmt sich bei ECKEHART ein zweites, ihm direkt entgegengesetztes. Viele Stellen seiner Predigten verraten uns seinen Zorn gegen den Menschen, deren Heiligkeit sich in lauer Indifferenz gegen die Sorgen des Lebens äußert. Er verlangt eigentlich ein vernünftiges, bewußtes und geordnetes Arbeiten an der Notdurft des Tages. Er behauptet, daß der Zustand des Schauens auf das Fruchtbarwerden in Werken angelegt ist. Er belastet die Seele und das Gewissen des Schauenden mit den Worten CHRISTI vom Baum, der keine Früchte trägt und darum verdient, abgehauen zu werden. Er erklärt den Mangel eines klaren Wissens vom Wesen einzelner Tugenden bei neubekehrten Apostel PAULUS durch seine kurze Übung in den guten Werken, und er stellt endlich mit festem Willen über das "Hohe" das "Segensreiche", neben die schwärmerische und sehnsuchtsvolle MARIA die religös gesättigte und beruhigte MARTHA.

So beruth also das Ganze der mystischen Konzeption ECKEHARTs auf einem Gegensatz und Kampf zweier Grundmotive. Das erste ist die absolute Zurückgezogenheit aller Kräfte der Seele von aller Wirksamkeit und jeglichem Gegenstand. Das zweite aber ist die willensmäßige Betätigung der Kräfte in einem segensreichen Wirken und gehorsamen Schaffen. Wie ist nun dieser Gegensatz zu versöhnen? Ich denke, er muß überhaupt nicht ausgeglichen, vielmehr stark unterstrichen und schroff betont werden. Sein unbezweifelbares Vorhandensein bedeutet ja eine systematische Unabgeschlossenheit des theoretisch-mystischen Aufbaus ECKEHARTs, zugleich und vor allem aber bedeutet es auch etwas anderes, tieferes: die religiös-psychologische Wahrheit nämlich, daß die Wirklichkeit des religiösen Erlebens des Menschen nur in einem ewigen Kampf des Endlichen und Unendlichen, des Lichten und Nächtlichen, des Menschlichen und Göttlichen lebendig bleiben, daß sie nie anders gedeihen kann als im ewigen Wechsel von Ebbe und Flut. Verrauscht in der Stunde der Ebbe die Hochflut des mystischen Erlebens - sofort erheben sich in der Seele öde und felsige Inseln: Stätten menschilcher Arbeit und Mühe, Symbole menschlicher Verlassenheit und Einsamkeit. So flüchtet sich bei ECKEHART in seine inkonsequente Bejahung des Wortes und Werkes das mystische Gefühl und Verständnis dafür, daß das religiöse Leben des Menschen, als ganzes und letztes genommen, nur als eine Unendlichkeit der Sehnsucht, nicht aber als Ruhe im Unendlichen wahrhaft bestehen kann. Gott will außerhalb des Menschen verweilen, er will, daß der Mensch sich um ihn bange, daß um ihn ringe.

Er hat es so gewollt und geschaffen, daß die Seele nie ihren Schöpfer ganz und für immer durchdringt, daß sie auf den Grund fallend immer und immer wieder zu sich zurückkehrt und sich immer von Neuem als seine Kreatur und als endliches Wesen erkennt. So besteht also bei ECKEHART neben dem Motiv der letzten Einswerdung des Menschen mit Gott, beinahe ebenso stark ausgebildet, das zweite Motiv einer nie ganz zu überwindenden Distanz zwischen mensch und Gott. Auf dem ersten Motiv beruth die ganze gnostische Kraft der ECKEHART'schen Mystik. Ins zweite flüchten sich die christlichen Tugenden der Demut und des Gehorsams.

Dieses ist die psychologische Lehre ECKEHARTs vom religiösen Leben des Menschen. Gehen wir an die Metaphysik des Denkers, so erkennen wir sofort, daß sie in all ihren Einzelheiten mit seiner Psychologie zusammenhängt und dieser genau entspricht. Sie ist eigentlich nichts anderes als die Anwendung der biblischen Abbildtheorie, nur mit dem Unterschied, daß in ihr nicht Gott, sondern der religiöse Mensch das ursprünglich Original bedeutet. Und dieses ist der Grund, warum in ihr mit größerer Intensität all die Schwierigkeiten wach werden, die wir eben in der religiösen Psychologie des Meisters aufgedeckt und gedeutet haben. Da die Gottheit im mystischen Weltbild ECKEHARTs in die Gewänder ganz derselben Prädikation gehüllt ist, wie sie ECKEHART für den Urgrund der Seele gefunden hat, so wird für sie die Frage nach dem Tun und Wirken Gottes, d. h. aber mit anderen Worten die Frage nach dem Entstehen der Welt direkt zu einem Verhängnis. ECKEHART sagt ausdrücklich: "Die Gottheit lebt in absoluter Stille, sie spricht nichts, sie liebt nichts, sie erzeugt nichts." Sie erzeugt nichts, und doch weitet sich vor dem Blick des Menschen ihr eigenstens Erzeugnis: die Welt in all ihrem unendlich-mannigfaltigen Reichtum. Dieses ist der metaphysische Aspekt der religiös-psychologischen Antinomie zwischen mystischer Immanenz und transzendenten Motiven.

Allerdings findet diese Antinomie in der metaphysischen Konzeption ECKEHARTs eine bestimmte Auflösung: in absoluter Passivität verweilt bei ECKEHART nur die über allem Sein und Bewußtsein thronenden Gottheit, wogegen die Welt vom dreieinigen Gott im Akt seiner göttlichen Selbsterkenntnis erschaffen wird. Ebenso wird auch die früher besprochene religiös-psychologische Antinomie gehoben, indem ECKEHART die der Gottheit entsprechende und in heiliger Passivität und Abgeschiedenheit verweilende Seele, im Sinne des Urgrundes, von der Seele als der Dreieinigkeit: Gedächtnis, Vernunft und Wille, welche der religiösen Dreieinigkeit: Gottvater, Sohn und Heiliger Geist entspricht, scharf und prinzipiell unterscheidet.

Doch es ist klar, daß im Lichte der Forschungsmethode, welche ich in meiner Analyse der mystischen Konzeptionen PLOTINs, ECKEHARTs und RILKEs bewußt und ausschließlich anwende, d. h. im Licht des phänomenologischen Deutens, alle diese dialektischen Antworten weniger wirkliche Problemlösungen als Mitteilungsgesten der sie stellenden Erlebnisproblematik bedeuten. So ist die systematische Notwendigkeit, mit der ECKEHART, wie in seiner Metaphysik, so auch in seiner Psychologie, das Prinzip der passiven Einheit gegen das Prinzip der aktiven Dreieinigkeit stemmt, für die phänomenologische Methode nichts anderes, als eine theoretische Transkription der schon früher von uns erkannten mystischen Notwendigkeit, die Wahrheit des religiösen Erlebens als einen Kampf des Immanenzgebotes (welches meinen Gott immer nur außerhalb der Mannigfaltigkeit seiner Welt begreift) mit dem Gebot der Transzendenz (welches die religiöse Mannigfaltigkeit der Welt erkennt, damit aber auch den einen und einigen Gott verliert) zu fassen und zu leben.

So bleibt also die von uns behauptete antinomische Struktur der mystischen Konzeption ECKEHARTs durchaus bestehen. Wenn wir aber diese Antinomie in der psychologischen Sphäre in einem bestimmten Sinn begreifen konnten, indem wir dieses inkonsequente Behaupten des Handelns und Wirkens in Bezug auf den Menschen als einen Spannungswert unseres unvollkommenen religiösen Lebens, als den Spannungswert vom Endlichen und Unendlichen auffassen und damit auch rechtfertigen durften, so ist ein analoges Deuten der metapysischen Qualität durchaus unmöglich. Denn was anderes kann die Kategorie der Spannung in ihrer psychologischen Projektion bedeuten, als das Erlebnis der Sehnsucht? Nun ist aber die Sehnsucht als Moment des religiösen Erlebens des Menschen etwas durchaus Einsichtiges und Selbstverständliches. Als Merkmal des göttlichen Wesens aber, als Eigenschaft Gottes gedacht, eine schlechthinnige Unbegreiflichkeit, ja Unsinnigkeit. In dieser seiner Tendenz, sich Gott zum Bild des religiösen Menschen zu schaffen, ihm menschliche Sehnsucht in seine göttlichen Blicke zu senken und ihn als eine zum Schaffen und Leisten verurteilte Kraft zu denken, mußte ECKEHART unbedingt dem religiösen Anthropologismus verfallen und Gott zu einem religiösen Genie degradieren.

Den Wahnsinn dieser Tendenz seiner Mystik, welche aus ihrer alleinigen Begründung im religiösen Erlebnis des Menschen erwuchs, deutlich einsehend, suchte ihr ECKEHART eine andere und direkt entgegengesetzte Tendenz gegenüberzustellen.

Die erste Tendenz steigt gleichsam von unten und sucht ihre Erweiterung in der Richtung des Aufwärts. Sie besitzt ihre Wahrheit und ihre Wirklichkeit in der religiösen Psychologie und sucht ihre Projektion im Reich der Metaphysik. Ihre Wurzeln bergen sich somit in der Forderung des Schaffens und Leistens, welche ECKEHART auch dem religiösen Genie des Menschen gegenüber erhebt. Zur Fälschung und Lüge wird sie aber in der mystischen Konzeption ECKEHARTs in dem Augenblick, wo dieser Denker; für den doch einmal Stille, Ruhe und Schweigen die höchsten Höhen des menschlichen Lebens bedeuten, Gott selber in ein religiöses Genie verwandelt und ihn in die Notdurft des Schaffens und Leistens zwingt, in dem Augenblick also, wo er das anthropologische Problem der Weltschöpfung stellt.

Der Sinn der zweiten Tendenz ist ihr erfolgreicher Kampf gegen die erste. Und darum ist es klar, daß sie mit dem Verneinen dessen beginnen wird, worin die erste Tendenz ihren Abschluß gesucht hat. Der Quellpunkt ihrer Wahrheit wird also dort zu suchen sein, wo die erste in ihren Irrtum mündete. Das heißt aber: schloß die erste Tendenz mit der Bejahung einer von Gott geschaffenen Welt, so beginnt die zweite mit der Verneinung des Aktes göttlicher Weltschöfpung. Schloß die erste mit der Polarität von Gott und Welt, so beginnt die zweite mit der ursprünglichen Identität von Gott und Welt. Wie aber die erste Tendenz, welche ihre Wahrheit in der Psychologie besaß, ihre Projektion in der Metaphysik suchte, so sucht die zweite Tendenz ECKEHARTs, deren Wahrheit und Wirklichkeit im Reich der Metaphysik ruhen, ihren Schatten und ihre Projektion auf dem Gebiet der religiösen Psychologie, in der Theorie des "Seelengrundes", des "Fünkleins".

So stehen sich die Metaphysik ECKEHARTs und seine Psychologie wie zwei Spiegel gegenüber. Jeder der Spiegel besitzt seine Daseinswirklichkeit und jeder verschenkt dieselbe an den andern, als dessen Spiegelbild. So bedeutet ein jeder der beiden Spiegel ein Doppelantlitz und ein Doppelleben. Das eine Antlitz ist gleichsam eine primäre Wirklichkeit, das andere nur ein Schattendasein. Dabei aber fließen und schillern diese beiden Momente derart ineinander, daß man sie unmöglich ganz klar unterscheiden, aber noch viel weniger deutlich voneinander scheiden kann. Die letzte Komplikation entsteht aber dadurch, daß die Metaphysik ECKEHARTs und seine Psychologie von ihm gleichsam zweimal gegeneinander gestellt werden. Einmal in klarer Scheidung der metaphysischen Lehre von er psychologischen, dann aber noch einmal in der Form psychologischer Bestandteile der Metaphysik und metaphysischer Bestandteile der Psychologie. Wobei das wahrhaft metaphysische Element der Psychologie in der Forderung absoluter Ruhe der Seele im Erlebnis der Abgeschiedenheit, das wahrhaft psychologische der Metaphysik aber in der Behauptung des Aktes göttlicher Selbsterkenntnis, im Sinne göttlicher Weltschöpfung, besteht.

So lebt die ganze mystische Konzeption ECKEHARTs wie ein unendlich kompliziertes System von Spiegelbildern und Widerscheinen in einer beständigen Aberration [Abweichung - wp] ihrer Bilder und ihrer Begriffe, so bedeutet sie uns schließlich nichts mehr als ein totes Wellengekräusel über dem versunkenen Geheimnis ihres eigenen Lebens.

Es kann wohl darüber kein Zweifel bestehen, daß von den beiden Tendenzen des ECKEHART'schen Systems, welche wir oben untersucht haben, den Sieg, wie in der Metaphysik, so auch in der Psychologie, durchaus die erste davonträgt. Wie Gott und Welt schließlich eins sind, so ist auch der Mensch mit seiner Tat und seinem Schaffen identisch. Die Welt ist eigentlich von niemandem erschaffen, und keine schöpferische Tat ist je vollbracht. Mit einer sich überstürzendenn Geschwindigkeit schrumpfen die vier anfänglichen Momente der mystischen Konzeption ECKEHARTs: Gott, Welt, Werk und Mensch zu der letzten Polarität von Gott und Mensch zusammen. Aber auch diese letzte und scheinbar unaufhebbare Polarität kämpft nur einen Augenblick gegen die unbesiegbare Sehnsuch ECKEHARTs nach einer allumfassenden und absolutenn Einheit an. Der Mensch steht in der Welt. Die Welt aber steht in Gott. So steht also der Mensch in Gott. Welt und Gott sind aber eins: der Mensch ist selber Gott, und Gott selber ist auch nur ein Mensch.

So lösen sich alle Spannungen, so schwinden alle Gegensätze. Die dunkle Nachtflut des mystischen Erlebens steigt immer höher und höher; in diesem Steigen reißt sie alle gegenständlichen Werte menschlicher Kulturleistung schonungslos mit sich; nur noch einen Augenblick - und die Tempelkuppeln: Theurgie, Theosophie und Theokratie sind schon in den Tiefen begraben. Der transzendente Gott hat keine Macht mehr über die Seele des Menschen; er ist ihr fremd und unbegreiflich, starr wie der Tod. In alles zeitliche Licht ergießt sich ewige Finsternis, und in ihrer heiligen Stille rauschen und steigen die dunklen Wogen des "in sich selber verfließendenn Flusses."


III.

So bewegt der Gegensatz mystischer Immanenz- und Transzendenzmotive, den ich in meiner Einleitung ursprünglich entwickelt habe, die tiefste aller mystischen Konzeptionen, das eigenartige Weltbild ECKEHARTs. Den Sieg trägt bei ECKEHART das Motiv der Immanenz davon. Gehen wir nun zu PLOTIN über, so ruht sein System auf ganz denselben Grundlagen wie das ECKEHART'sche: derselbe Dualismus spendet ihm sein eigenstes Leben und bedroht es mit beständigem Tod. Vielleicht ist gerade diese Wurzeleinheit lebenspendender und todbringender Motive das tiefste Wesen allen wahrhaft mystischen Weltempfindens. Der Unterschied liegt nur darin, daß der Gegensatz bei PLOTIN gleichzeitig mit viel größerer Kraft und mit viel geringerer Schärfe ausgebildet ist wie bei ECKEHART. Die Kraft dieses plotinischen Dualismus sehen wir darin, daß der größte Denker der hellenistischen Epoche ihn nicht nur deutlich gesehen, sondern auch absolut klar formuliert hat, seine geringere Schärfe aber darin, daß er lange nicht so tif ins System gesenkt ist wie bei ECKEHART, bei dem die beiden Motive beinahe gleich stark ausgebildet sind und darum einen qualvollen Kampf mit einander kämpfen. Im Gegensatz zum deutschen Meister siegt bei PLOTIN das Motiv der Transzendenz mit einer solchen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, daß alle die, denen wahre Mystik vor allem an das Motiv der Immanenz geknüpft zu sein scheint, sich mit Recht immer von neuem versucht fühlen, die Frage aufzuwerfen, ob PLOTIN überhaupt in dem Sinne ein Mystiker gewesen sei, wie wir es von MEISTER ECKEHART wissen. Ich denke, daß man diese Frage auch noch dann positiv zu beantworten hätte, wenn man das Vorhandensein mystischer Immanenzmotive bei PLOTIN mit keinen anderen Stellen seiner Schriften zu belegen hätte als mit dem 8. Buch der 5. Enneade. Hier sind Worte, die vollständig in der Richtung der letzten, schlechthinnigen, alle Transzendenz in der Hochflut des mystischen Erlebens begrabenden Innerlichkeit der ECKEHART'schen Lehre empfunden und gesprochen sind.

Läßt er (der Mensch), schreibt PLOTIN, jedes Bild, so schön es ist, beiseite und geht ganz in sich selbst zurück, ohne mehr eine Trennung wahrzunehmen, dann ist er zugleich alles und eins mit seinem Gott, welcher in aller Stille herbeikommt.

Der Mensch ist seiner selbst inne, solange er von Gott getrennt bleibt; dringt er aber in das Inner, so besitzt er alles, und indem er den Blick nach  rückwärts  aufgibt, aus Furcht sich von Gott zu trennen, ist er immer eins mit ihm. Wer dies gelernt und sich überzeugt hat, daß es eine heilbringende Sache ist, muß sich  ganz  in das Innere versenken und, statt zu schauen, selber Anschauung eines andern werden.

Deutlicher und eindrucksvoller ist das mystische Immanenzmotiv überhaupt nicht auszusprechen. Groß und sicher bricht aus dieser durchaus nicht vereinzelten Stelle der Gedanke hervor, daß die absolute Ineinssetzung der menschlichen Seele mit Gott in ihr alle Bilder und Laute auslöscht und sie in Finsternis und Stille versenkt.

So ist auch bei PLOTIN die unmittelbare Vereinigung der Seele mit Gott, die Vergottung der Seele zu vollständiger Fruchtlosigkeit in Bezug auf die religiöse Erkenntnis der Welt als einer Welt Gottes verurteilt. Denn die blinde und taubstumme Seele des Mystikers kann nur in dunklen Mantel gehüllt und in die Knie gesunken schweigen und beten, etwas aber von der göttlichen Welt, der sie selber zum ewigen Grab geworden, künden und offenbaren, ist sie nimmer imstande. Aber trotz dieser Tendenz seines mystischen Lebens und Denkens beschränkt sich PLOTIN doch nicht darauf, nur das Wesen der letzten Vereinigung der Seele mit Gott in seinem Werk zu schildern. Der heiligen theoretischen Ohnmacht wahrhaft mystischer Gotteskenntnis setzt er siegesbewußt die allumfassende Macht einer ausgebildeten religiösen Weltanschauung entgegen.

Aus den letzten Tiefen ihres religiösen Erlebens rettet seine Seele, die eigentlich schon an der Schwelle desselben erblindet und verstummt, auf unbegreifliche Weise ein Wissen und Vorstellen, wie des transzendenten Gottes, so auch der Transzendenz seiner Welt mit all ihren Formen und Gesetzen. Diese unaufhebbare Antinomie lastet aber auf dem System PLOTINs besonders schwer darum, weil für ihn alle höchste Erkenntnis vor allem auf der ästhetischen Funktion des Schauens beruth, das heißt einer Funktion, die vielleicht mehr als irgendeine andere auf den unauslöslichen Gegensatz von Subjekt und Objekt angewiesen ist. Die ganz unglaubliche Schwierigkeit dieses Punktes in seinem Weltbild sieht PLOTIN selber mit vollständig klarem Blick und stellt darum auch sich selber diejenige seiner tiefsten Fragen, welche er eigentlich niemals beantwortet hat. Gott ist ihm die Schönheit. Die gotterfüllte Seele ist ihm aber blind. Hieraus erwächst die Verwunderung: "Wie ist es nun möglich, daß man mit der Schönheit vereint sein kann, ohne sie zu schauen?" oder mit anderen Worten: "Wie ist es nun möglich, daß man mit der Schönheit vereint sein kann, ohne sie zu schauen?" oder mit anderen Worten: "Wie ist es möglich, daß die Seele, die schon an der Schwelle des Reiches ewiger Schönheit erblindet, immerhin ihren Weg durch dieses Reich glücklich und sicher wandert und von all dem berichtet und kündet, was sie in ihrer Wanderung erschaut hat?"

Wie ECKEHART so gibt auch PLOTIN auf diese Frage eine bestimmte Antwort. Aber für uns gilt auch in Bezug auf PLOTIN genau das, was wir schon bei unserer Besprechung ECKEHARTs betonten. Dialektische Antworten sind für uns immer nur phänomenologische Probleme. Darum lassen ir alle dialektischen Blüten der hervorgehobenen Antinomie beiseite und suchen nur nach ihrer mystischen Wurzel.

Wie immer und überall so wurzelt auch bei PLOTIN das mystische Transzendenzmotiv darin, daß der religiös eingestellte Mensch nicht nur auf die beiden Pole: Gott und Mensch, sondern neben der Einheit Gott und außerhalb der Einheit Ich (Mensch) noch auf die bunte und zunächst unverbundene Vielheit Welt unmittelbar angewiesen ist. Diese Vielheit mag, wie ja dies auch PLOTIN in seinem Leben gekannt hat, in ganz seltenen Augenblicken restloser mystischer Gottversenkung erlöschen und vergehen, sie geht für unsere menschliche Endlichkeit doch niemals vollständig unter. Feiert sie aber somit immer von Neuem ihr Fest der Auferstehung, so stellt sie damit auch an den religiösen Geist immer wieder die Forderung, als gott- und ichfremde Masse verneint und überwunden zu werden. Ja die unendlich mannigfaltige Welt will durch den Geist des Menschen von der Qual ihrer schlechten Unendlichkeit geheilt sein. Sie sehnt sich danach, daß der menschliche Geist eine Einheit in sie bildet, ihre Mannigfaltigkeit auf diese Einheit bezieht und sie im Akt dieser Vereinheitlichung zunächst wahrhaft vergeistigt und dann dadurch vergöttlicht. So wächst für den Geist des Menschen die mystische Notwendigkeit einer Metaphysik der Vereinheitlichung als eines gewaltigen Mittels der Rückwendung göttlicher Welt in den ursprünglichen Schoß Gottes. So wächst aus dem sündigen Beharren der Welt in ihrer Vereinsamung und Mannigfaltigkeit die größte Sünde des menschlichen Geistes. Aus Mitgefühl für die im Chaos sich quälende Welt stellt er gar zu oft den glänzenden Irrtum einer religiösen Weltanschauung über die letzte Wahrheit taubstummer und blinder Gotteserkenntnis.

Es gibt keinen Denker, der diese tragische Aufgabe, die Welt von Schmerz und Stachel ihrer schlechten Unendlichkeit zu retten, auf dem opferwilligen Weg einer demutsvollen Hinrichtung der letzten Wahrheit des Geistes mit höherm Schwung und strengerer Schönheit vollbracht hätte als PLOTIN.

Die schlechte Besonderheit und damit die niedrigste Schicht des Mannigfaltigen war bei ARISTOTELES an die als ein selbständiges Prinzip gefaßte Materie geknüpft. Dieser Besonderheit und Vielheit erwehrt sich PLOTIN, indem er das Materielle rein negativ als das noch nicht endgültig Geformte, die Materie selber aber als eine der niedrigsten, minderwertigsten Formen, als dunklen und leeren Raum faßt. So wird sein System von vornherein nach dem Prinzip der Form hin monistisch zugespitzt. Die Vielheit der Formen wird von PLOTIN in den Quellpunkt jeglicher Formung, in die Weltseele (psyche), die steilen Äonenstufen hinaufgeführt. So einerseits als Prinzip der Formvielheit und der Einheit aller Formen gefaßt, wird die Weltseele andererseits im Urgeist (nous) in der letzten Identität von  noesis  [Denkakt - wp] und  noeton  [Intelligibles - wp] verankert. Aber auch diese begriffliche Einheit, in der immer wieder die schwachen Konturen der sie bildenden Dualität, dicht ineinander gewoben, noch immer leise mitklingen, entspricht nicht vollständig der unterschiedslosen Einheit religiöser Zuständlichkeit, die PLOTIN als sein letztes mystisches Zentrum im Tiefsten erlebt hat, und in die hinauf er die Welt schließlich doch erheben mußte, um sie als wahrhaft göttliche Welt zu begreifen. So baut er dann, als letzte theoretische Transkription seines mystischen Lebens, noch über die Identität des Urgeistes das letzte Prinzip seines Systems, sein  en,  eine Einheit, die nicht einmal als Identität aller Gegensätze zu definieren ist, und aus der doch alles Sein, alle Form und alle Schönheit ewiglich flutet.

Denke ich mir eine Fontäne in der Art einer antiken, die eine große Vielheit von Schalen emporhebt, dabei aber keine Wassersäule gegen den Himmel schleudert, so kann ich das System PLOTINs mit einer solchen Fontäne glücklich und wesentlich vergleichen.

Von oben herab fällt das gestaltende Licht, fällt die Marmorschalen hinunter, die nach unten hin immer größer und tiefer werden. Die Sonne sinkt langsam: Die oberste Schale, hoch in den goldenen Abend gehoben, strahlt wie von Gold. Das unterste Becken ruht schon im kühlen und dunklen Schleier der sinkenden Nacht. Hier in der Finsternis, die Stirn gegen den kalten Marmor gepreßt, lehnt der harrende Mensch. Sein Gott ist ihm unendlich fern. Nur dunkel fühlt er, daß Gott irgendwo über ihm wie eine Unendlichkeit ausgespannt ist, wie der siebente Himmel der Pythagoräer, den er niemals geschaut hat. Gott neigt sich nicht mehr zu ihm herab; er bedarf seiner nicht; er ist vom Menschen durch all das so gänzlich getrennt, was der menschliche Geist zu seinem tieferen Verständnis, zum tieferen Verständnis seiner Welt mühsam und begeister hoch in den Himmel gebaut hat.

In der verlassenen Seele des Menschen bleibt nur ein Wunsch: möge die heilige Nacht eher sinken, möge die letzte Schale geschwinder, geschwinder erlöschen; nur ein Gebet: möge die Sonne nie wieder steigen, möge die Seele nie mehr unendliche Stufen, zu einem unendlichen Gott emporgebaut, im Licht des Tages erblicken. Unerträglich ist die Qual der Seele, sich immer von neuem durch Akte religiöser Welt- und Lebenserkenntnis von ihrem Gott zu trennen.

Hat Gott jemals ein Gebet um die Nacht erhört, so ist es jedenfalls nicht das Gebet PLOTINs gewesen. Im Gegensatz zu ECKEHART siegt bei ihm das Motiv der Transzendenz, und das religiöse Begreifen der Welt wirft seinen kalten Schatten über das unbegreifliche Geheimnis der unmittelbaren Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott.


IV.

Der Gegensatz der beiden Motive, welche die mystischen Gebilde von ECKEHART und PLOTIN auf das Tiefste bewegen, kann am besten in folgenden Worten formuliert werden:  die religiöse Bewältigung der Welt, gleichviel, ob in Begriff, Tat oder Bild vollzogen, trennt uns notwendig von Gott. Die unmittelbare Erfassung Gottes im mystischen Akt der Einswerdung mit ihm macht uns seine Welt absolut unbegreiflich. 

Jede philosophische Konzeption hat doppelte Wurzeln: in der Eigenart der Persönlichkeit, welche sie hervorgebracht hat, und im Charakter der Epoche, welcher diese Persönlichkeit angehört. Darum glaube ich, daß es vielleicht berechtigt ist, den Sieg des transzendenten Motives bei PLOTIN als das Abendrot des antiken Realismus zu fassen, den Sieg des Immanenzmotives bei ECKEHART dagegen als eine Ankündigung der modernen idealistischen Weltanschauung.

Alle Weltanschauung bedeutet schließlich nichts anderes als die Fixierung eines bestimmten Verhältnisses von Mensch und Welt, von Ich und Nicht-Ich, und weil sie somit in letzter Instanz durch diese beiden Pole allein bedingt ist, so kann es eigentlich prinzipiellerweise überhaupt nur zwei Weltanschauungen geben. Denkt man das Ich durch eine ihm transzendente Realität des Nicht-Ich bedingt, so kommt man zum transzendenten Realismus der griechischen Weltvorstellung. Denkt man das Nicht-Ich so oder anders durch das Ich bestimmt, so kommt man zur Weltanschauung des deutschen Idealismus, für den wohl die Systeme KANTs und FICHTEs am meisten typisch bleiben.

Trotz seiner absoluten Selbständigkeit hat PLOTIN für unser Kulturempfinden immerhin ausgesprochene Züge eines ewigen Trabanten der griechischen Philosophie, derjenigen Philosophie also, für welche die Unabhängigkeit des Erkenntnisobjekts vom Subjekt und eine bestimmte Passivität des Erkenntnisprozesses wohl am meisten charakteristisch sind. Darum ruhen ihm auch schließlich Gott und Welt, trotz seines tiefen Hangs zur Immanenz, ganz sicher und unverrückbar in der Sphäre des Transzendenten, in einer Sphäre, welcher der erkennende Geist vor allem passiv gegenüber steht, und welche adäquat zu erschauen, seine höchste Aufgabe bleibt.

Ganz anders ECKEHART. Obgleich seine Lehre für eine tiefere Kenntnis der Schriften PLATONs, ARISTOTELES', PLOTINs und der größten Denker des Mittelalters sprechen, hört man aus ihr doch deutlich heraus, daß ECKEHART mit festem Fuß an der Schwelle der neuen Zeit steht, daß in seiner Mystik, wie auch im Lebenswerk des FRANZ von ASSISI, schon die große Renaissance-Epoche erwacht, der es beschieden sein wird, das große moderne Prinzip des Individualismus in allen Gebieten des Geistes zu wecken. Dieser Individualismus hat sich im äußeren Leben die Gebilde des Nationalstaates und der demokratischen Tyrannei erschaffen. Er hat sich ästhetisch in der zentralen Bedeutung des Menschen für die Kunst der Renaissance zu behaupten vermocht, wofür wohl am tiefsten die Geschichte des Renaissance-Porträts spricht, die mit einer individuell-psychologischen Fixierung der menschlichen Erscheinung beginnt und mit ihrer religiös-repräsentativen Behauptung endet. Derselbe Individualismus ringt auch in allen philosophischen Konzeptionen der Renaissance und findet schließlich seine bedeutendste Form in der genialen Lehre von LEIBNIZ, welhe vielleicht die tiefste Bewältigung der kultur-psychologischen Motive der Renaissance-Epoche bedeutet.

Den Grundton dieses modernen Individualismus schlägt ECKEHART in einem Satz an, für den er von seinen Zuhörern mit vollem Bewußtsein kein Verständnis verlangte, den wir aber heute nur gar zu gut in all seinen Motiven und Konsequenzen verstehen: "Wäre ich nicht, so wäre auch Gott nicht", so sagt er zum Schluß einer seiner Predigten. Und mit einem Schlag vernichtet er durch diese Worte die Transzendenz Gottes aber auch die Transzendenz der gotterschaffenen Welt. Mit prophetischer Kraft erklingt hier in der Form mystischer Weisheit das große Thema des transzendentalen Idealismus, das Thema der Erhöhung des absoluten Ich über die ihm anfangs transzendente Realität des Nicht-Ich.

Wenn bei KANT die Welt nur in Bezug auf ihr Gesetz und ihren Sinn, nicht aber auch in Bezug auf ihr Werden und ihr Sein in der synthetischen Energie des Bewußtseins verankert wird, so setzt sie schon FICHTE auch als seiende in das absolute Ich. Nur noch im Begriff des  Sollens  behauptet bei diesem Denker die Transzendenz ihre selbständige Position. Bei HEGEL erlischt auch dieser letzte Dualismus des Seienden und Sollenden. Das Transzendente findet in seinem System keinen Platz mehr. Die Herrschaft des Ich wird zur Alleinherrschaft: das Ich wird zum wahrhaft absoluten Ich und heißt ihm darum - Geist. So verflüchtet sich bei HEGEL in der dialektischen Selbstbewegung seines allsetzenden Begriffs die transzendente Realität von Welt und Gott ganz in dem Sinne, wie sie bei ECKEHART in der mystischen Hochflut seines Erlebens begraben wird. Hier offenbart sich die innere Verwandtschaft zwischen Mystik und Dialektik, über welche die Jugendschriften von HEGEL noch vieles zu sagen haben. Natürlich ist eine derartige Auffassung des HEGEL'schen Systems nur soweit richtig, soweit man sofort zugibt, daß auch eine andere möglich und berechtigt ist. Ich wiederhole bewußt nur eine Banalität, wenn ich behaupte, daß jeder Gipfel des Lebens und Denkens als Gipfel dadurch seine Vernichtung erfährt, daß er vom Geist des Menschen erreicht wird. Hieraus aber ist es klar, daß, indem HEGEL die Welt als ein Nicht-Ich aufhob, er auch notwendig das Ich als in Ich vernichten mußte. Oder anders: dachte er die Wahrheit des kritischen Idealismus wirklich zuende, so setzte er auch mit Notwendigkeit die Wahrheit des antiken Realismus wieder in ihre Rechte ein. So wurde ihm in diesem Sinne die Vollendung der KANT-FICHTE'schen Gedankengänge zur verhängnisvollen Wiederherstellung von PLATON und ARISTOTELES. In der unumgänglichen Notwendigkeit, diese Synthese des deutschen Idealismus und des antiken Realismus zu vollziehen - liegt die unerschöpfliche und ewige Bedeutung HEGELs. Seine Schwäche wurzelt in der metaphysischen Bedeutung, welche er seiner dialektischen Methode zugeschrieben hat. Das größte Zeichen menschlicher Ohnmacht, den Fluch, sich immer in Gegensätzen zu quälen, hat er herrisch zum tiefsten Wesen des Absoluten erhoben; im Wahn des Schaffens hat er es machtvoll vergessen, daß menschliche Ohnmacht niemals göttliche Kraft ist und menschliche Sünde niemals göttliche Tugend.

Nun ist es wichtig, daß die Rolle, welche HEGEL in der Sphäre der Philosophie zugefallen ist, in der Sphäre der Mystik für das moderne Bewußtsein RAINER MARIA RILKE auf sich genommen hat. Und hier ist keine einfache Analogie möglich. Hier ist ein tiefer Zusammenhang, denn das Mittel, welches im "Stundenbuch" RILKEs das Transzendenzmotiv PLOTINs mit dem Immanenzmotiv ECKEHARTs verbindet, ist nichts andere als der Teleologismus HEGELs.

Der Mystiker RILKE ist aber vor allem Dichter. Und darum muß unsere Analyse seines mystischen Erlebens sich auf die Eigenart seiner Sprache und ganz besonders seiner Bilder stützen. Da wir aber außerdem das Verhältnis RILKEs zu PLOTIN und zu ECKEHART zu begreifen suchen, so erwächst uns die Aufgabe einer Besprechung seiner Bilder im Verhältnis zu den Bildern von ECKEHART und PLOTIN.

Vergleicht man die Bilder PLOTINs mit den Bildern ECKEHARTs, so bemerkt man zunächst leicht, daß die Bilderwahl bei PLOTIN in  irgendeiner  Weise an  irgendeine  Gesetzmäßigkeit weit stärker gebunden ist, als wir es bei ECKEHART behaupten können. Die Differenz von Bildern für ein und dasselbe ist bei PLOTIN immer sehr gering. Das eine Bild ist bei ihm eigentlich immer als eine  Variation  des anderen zu begreifen. So denkt sich PLOTIN die Emanation des  en  als ein Feuer, welches die nach unten hin immer abnehmende Wärme aus sich entläßt. Oder als eine wohlriechende Essenz, die, allmählich verduftend, nach allen Seiten hinflutet. Als einen Baum, der mit immer breiter werdenden Ästen vom Wipfel her auf die Erde herabsinkt. Als eine Quelle, die mit immer ruhiger werdenden Wogen sich ein immer breiter werdendes Bett sucht.

Man fühlt, daß alle diese Bilder nicht nur ein und dasselbe  meinen,  nicht nur ein und dasselbe  bedeuten,  sondern daß sie unmittelbar ein und dasselbe  sind.  Ihre Einheit ist nicht nur eine theoretische im Sinne ein und desselben mit sich identischen Gedankens, den sie alle auszudrücken suchen; auch nicht nur eine mystische, im Sinne ein und desselben, mit sich identischen Lebensinhaltes, der sie alle in der Seele des Dichters entstehen ließ, sondern vor allem eine  anschauliche.  In ihnen allen ruht gleichsam ein und derselbe, dem schauenden Auge unmittelbar sichtbare Kern, den sie als ihre Ruhe und ihre Stabilität in sich tragen. Sieht man genauer zu, so wird man diesen anschaulichen Kern wohl schwer anders beschreiben können als einen Kegel farbiger Lichtstrahlen. Weil die Strahlen in der Kegelspitze geeinigt sind, nach unten hin sich aber immer mehr und mehr zerstreuen, so entstehe der Eindruck einer ungleichen Farbenverteilung der Strahlen. Nach oben zu dunkler Intensität verdichtet, geht die Färbung allmählich in ein leichtes Getöntsein über.

Ganz andere Bilder benützt ECKEHART. Nur in ihrem theoretischen Sinn und in ihrem mystischen Inhalt wahrhaft geeinigt tragen sie gar keine anschauliche Einheit, keinen dem Auge sichtbaren kern in sich. So heißt beispielsweise ECKEHART Gott einen "Abgrund im Schweigen und Finsternis", einen "in sich selber verfließenden Fluß", und einen "breiten Berg im stillen Wind".

Schon diese drei Beispiele genügen, um einzusehen, daß die Bilder ECKEHARTs nicht anschaulich auf einen Nenner zu bringen sind. Wie bei PLOTIN meinen sie alle ein und dasselbe, aber im Unterschied zu PLOTIN sind sie alle etwas Verschiedenes.

Ich glaube, daß dieser Unterschied der Bildersprache durchaus geeignet ist, von unserer Behauptung des Zusammenhangs PLOTINs mit dem antiken Realismus und ECKEHARTs mit dem deutschen Idealismus ein neues und wesentliches Zeugnis abzulegen.

Für PLOTIN ist Gott eine transzendente Gegenständlichkeit; die Beziehung auf ihn: adäquates Erschauen; Gebot des künstlerischen Verhaltens: völlige Passivität; Prinzip der ästhetischen Gesetzmäßigkeit: die Abbildtheorie. All dies erklärt uns wohl zum größten Teil die Eigentümlichkeiten der plotinischen Bilderwahl, die den Griechen von Meister ECKEHART unterscheiden. Durch jedes der plotinischen Bilder leuchtet immer ein und dasselbe metaphysisch-reale Urbild hindurch. Und dieses leuchtende Urbild ist eben ihr inneres Wesen, ihre überästhetische Wesenhaftigkeit, welche ihnen, wie ihre gegenständliche Ähnlichkeit, so auch ihre Ruhe und Stabilität verleiht. Mit all diesen Eigenschaften steht die große Kunst PLOTINs in der nächsten Nähe der mythischen Objektivität.

Etwas ganz anderes bedeutet uns die Bildersprache ECKEHARTs. Für ihn ist Gott: ein der menschlichen Seele immanentes Erleben; die Beziehung auf ihn: die Gottung, d. h. das Erlebnis der Identität mit ihm; Gebot des künstlerischen Verhaltens: Aktivität; Prinzip der ästhetischen Gesetzmäßigkeit: die Spontaneität des ästhetischen Ich.

All dies erklärt uns zur Genüge die Eigentümlichkeiten der ECKEHART'schen Bilderwahl. All das bedeutet, daß die Bilder ECKEHARTs eigentlich nichts abbilden, und zwar darum nicht, weil ECKEHART seinen Gott als eine transzendente und gegenständliche Realität, als ein ewiges Antlitz auf ewigem Horizont überhaupt nicht erschaut, sondern ihn nur als seine antlitzlose und blinde Seelentiefe, als seine Zuständlichkeit erlebt. Das Wesen der ECKEHART'schen Bilder ruht somit gar nicht in ihrem anschaulichen Inhalt, sondern ausschließlich in ihrer suggestiven Kraft, in einer Gefühlsimpression, die in ihnen lebt und wirkt. In dieser relativen Bedeutungslosigkeit des anschaulichen Inhalts der Bilder ECKEHARTs wurzelt also auch die Größe und Willkür ihrer Schwingungsamplitude. Mit all diesen Eigenschaften steht die große Kunst ECKEHARTs in der nächsten Nähe des idealistischen Symbolismus.

Wir wenden uns RAINER MARIA RILKE zu.


V.

RILKE überschreitet in Bezug auf die anschauliche Mannigfaltigkeit seiner Bildersprache ECKEHART weit mehr als ECKEHART selbst PLOTIN. Für ihn ist Gott ein Dom, der nie vollendet werden kann und ein Gewebe von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken; er ist ihm ein Bauer mit einem Bart, ein ausgestoßener Leprakranker, der mit der Klapper um die Stadt geht, und ein aus dem Nest gefallener junger Vogel mit gelben Krallen. Er ist ihm die große Rose der Armut, die stille Abendstunde, ein Labyrinth, ein Monastyr [Münster - wp]; er ist ihm Wald, er ist ihm eine Schlacht, ist ihm sein stiller Nachbar. Das sind nur wenige ganz zufällig gewählte Beispiele unendlich mannigfaltiger und auf gar keine anschauliche Einheit zu bringender RILKE'scher Bilder und Vergleiche.

Was sagt uns nun diese Mannigfaltigkeit? Was bedeutet sie?

Als wir die Methoden künstlerischer Fixierung mystischer Erlebnisse bei PLOTIN und ECKEHART verglichen, suchten wir die anschauliche Mannigfaltigkeit und Unverbundenheit ECKEHART'scher Bilder als den künstlerisch-notwendigen Ausdruck mystischer Immanenzmotive zu verstehen. Suchen wir jetzt das Besondere des mystischen Erlebens RILKEs auf dem Weg einer kritischen Analyse seiner Bildersprache festzustellen, so sehen wir uns durch die Rückverfolgung desselben Gedankengangs notwendig dazu gezwungen, in seiner mit ECKEHART überhaupt nicht zu vergleichenden Variationsfähigkeit des bildlichen Ausdrucks ein noch größeres Vertiefen des Immanenzmotivs zu erwarten.

RILKEs Gott ist eben keine äußerlich und über dem Leben stehende Realität, sondern dieses Leben selbst in seiner absoluten Bedeutung, in seiner Fülle und Ganzheit, ist der dunkle, in sich selber verfließende Fluß, über dem sich kein transzendenter Himmel wölbt, und den keine Ufer begrenzen. Aber ein solches Bestimmen des Lebens als eines absoluten und in religiöser Hinsicht durchaus ursprünglichen Prinzips vollzieht sich bei RILKE nur im Unbewußten seiner künstlerischen Begabung und offenbart sich für uns vor allem in der beinahe ermüdenden und quälenden Unerschöpflichkei seiner bildenden Phantasie. Sein mystisch-künstlerisches Bewußtsein aber, welches die letzten schöpferischen Tiefen des Dichters, wie immer, nicht zu durchdringen vermag, bestreitet diese Erhebung des Lebens zum absoluten Prinzip und stellt energisch die Frage nach dem Subjekt des uns umgebenden Lebens, nach dem Wesen, welches alles Leben erlebt. Das Unberechtigte dieser Frage macht sich sofort geltend. Der Dichter findet keine Antwort. Er weiß nicht, wer das Leben lebt; er weiß nur, daß es nicht die Dinge und Gesichter sind, die um uns in den Abendstunden schweigen, wie in den Harfen ihre nie erklungenen Lieder; er weiß noch, es sind nicht die Winde und Gewässer, es sind auch nicht die Düfte und die Blumen, die warmen Tiere, Vögel, Menschen. Wenn aber dem so ist, so entsteht die Frage: Wer lebt denn alles Leben? Ist es vielleicht Gott selber? - RILKE sieht auch diese Möglichkeit und stellt die Frage: "Wer lebt es denn, lebst Du es, Gott, das Leben?"

Er stellt die Frage, aber eine positive Antwort bleibt er schuldig; an ihrer Stelle sehen wir bei ihm ein Fragezeichen, eine ausdrucksvolle Verschwommenheit der ganzen Konzeption. RILKE bleibt die Antwort schuldig, uns ist es aber klar, daß eine bejahende Antwort für ihn unmöglich und inkonsequent wäre. Denn indem er das Leben als ein absolutes und allumfassendes Prinzip behauptet, empfindet er es nicht als bloß göttlich, sondern unmittelbar als Gott. Gott aber ist ein Name über allen Namen, ein Gedanke über allen Gedanken, ein Gefühl über allen Gefühlen, ist etwas Absolutes und kann nicht dadurch relativ werden, daß man ihn als einen zu erlebenden Prozeß, als eine Funktion, die ihr Subjekt verlangt, mit anderen Worten als ein Nicht-Alles faßt. Ist einmal das Leben Gott, ist es ein Absolutes und Unbedingtes, so ist die Frage danach, wer es erlebt, einfach unsinnig und unberechtigt. Ein Leben, das im Sinne des Absoluten in der Würde Gottes als Gipfel aller Bestimmungen gefaßt wird, kennt nichts sich Fremdes, kennt nichts sich Transzendentes. Die für die mystische Konzeption RILKEs bestehende Unmöglichkeit, auf die Frage nach dem Subjekt des Lebens eine positive Antwort zu geben, verwandelt sich für uns in die Berechtigung, das Leben RILKEs mit demjenigen mystischen Erleben ECKEHARTs zu identifizieren, welches, als Prozeß in der einzelnen, individuellen Seele beginnend, zunächst alles Individuelle in dieser Persönlichkeit vernichtet und si dann ferner als eine organische Einheit des Persönlichen und Überpersönlichen bestimmt. Immer höher und höher steigend beginnt dieses Leben im Anschwellen seiner Kräfte allmählich alle objektiven, transzendenten Weiten der Welt zu überschwemmen, und begräbt in seinen heiligen Fluten schließlich auch den letzten Gipfel dieser Welt - den Gipfel der transzendenten Gottheit.

Die vollständige Klärung dieses Punktes, die tiefere Einsicht in das Wesen des "Gottlebens", wie es sich RILKE vorstellt, verlangt von uns eine noch nähere Fixierung zweier Momente seiner Konzeption.

Erstens kann man das absolute Leben RILKEs, seinen Gott, unmöglich anstreben, man darf sich nach ihm nicht sehnen, man darf sich ihm auch nicht nähern. Denn um sich Gott nähern zu können, muß man sich von ihm in einem inneren religiösen Erleben unterscheiden können, d. h. aber, man muß ihn als eine dem Leben transzendente Realität setzen, damit aber auch sofort zu einem nicht allumfassenden, unvollkommenen, mit einem Wort zu einem relativen Prinzip degradieren. Das Setzen des absoluten Gottes aber als eines nicht absoluten Prinzips ist ein Versuchen Gottes und eine Vernichtung des Lebens.

Zweitens aber mach dieselbe Identität des absoluten Lebens mit Gott es für Rilke durchaus unmöglich, das Ebenbild Gottes in den das religiöse Erlebnis transzendierenden Gesten des künstlerischen und philosophischen Schaffens festzuhalten. Ein jedes solches gegenständliches Behaupten des göttichen Wesens ist für RILKE immer nur ein wesentliches Entfernen des Menschen von Gott in verschiedenen Formen und Methoden des Schaffens, in Bildern und Symbolen, in Begriffen und Ideen.

So kann man also im Gottleben RILKEs nur von Anfang an ruhen, weilen, wachsen, vergehen und verklingen.
    "Alle, welche Dich suchen, versuchen Dich,
    Und die, so Dich finden, binden Dich
    An Bild und Gebärde.
    Ich aber will Dich begreifen,
    Wie Dich die Erde begreift,
    Mit meinem Reifen reift Dein Reich."
Dieses sind die Gedanken und Bilder, welche uns die Wurzeleinheit der mystischen Konzeptionen ECKEHARTs und RILKEs aufdecken. Aber die Abhängigkeit des modernen Dichters vom mittelalterlichen Denker beschränkt sich nicht nur auf die Wurzeln seiner mystisch-ästhetischen Weltanschauung. Die ganze Fülle und alles Blühen seiner mystischen Erlebnisse sind durch das religiöse Leben und die gewaltige Predigt ECKEHARTs intim und entschieden vorherbestimmt.

Gott nähert sich ihm nur in dunklen Abendstunden. Wenn die Sinne der Welt tief werden und ganz still halten; wenn als Zufällige und Ungefähre verstummt und vergeht; wenn nirgends mehr ein Laut des Lebens plätschert; wenn die große Dunkelheit alle Gestalten und Flammen, Tiere und Fernen, Menschen und Mächte stumm in sich hebt. In solchen großen Augenblicken, wo die Welt gotterfüllt betet und schweigt, sinkt auch auf die Gefilde der menschlichen Seele die heilige Nacht wahrhafter Gottvereinigung; die Seele erwacht dem Tod entgegen, in ihr sterben alle Bilder, Begriffe und alle Bewegung. Arm steht sie in Gott, so arm wie die Hand, in welcher das Schicksal weint.

Die Nacht aber ist tief, taub und stumm, und in ihrer heiligen Stille schweigt die Seele des Menschen ihre ewigen Hymnen.
    "Doch wie  ich mich  auch in mich  selber  neige:
    Mein Gott ist  dunkel  und wie ein Gewebe
    Von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.
    Nur daß ich mich aus seiner Wärme hebe,
    Mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige
    Tief unten ruh'n und nur im Winde winken."
Es leuchtet unmittelbar ein, daß dieses Übereinstimmen der mystischen Erfahrung RILKEs mit derjenigen ECKEHARTs vor die Konzeption des Dichters ganz dieselben Schwierigkeiten stellen müßte, mit welchen schon Meister ECKEHART selber gekämpft hat. Indem RILKE Gott in absoluter Dunkelheit und Passivität des inneren Erlebens schweigen läßt, indem er jedes "und Gott sprach also" verneint, nimmt er sich augenscheinlich jede Möglichkeit, den Begriff eines transzendenten Gottes und des Prozesses göttlicher Weltschöpfung zu denken.

Doch setzt hier auch bei RILKE, ganz ebenso wie bei PLOTIN und ECKEHART, das zweite Motiv der Mystik, das Motiv der Transzendenz, selbständig ein. Das Antlitz des transzendenten Gottes allerdings nur ganz leicht am fernen Horizont seiner Lehre hinstellend, behauptet er doch seine Transzendenz auf wesentlichste durch seine detaillierte und sorgfältige Darstellung der werdenden Welt. Dem mystischen Immanenzmotiv ECKEHARTs, seinem Bestreben, alle Formen des Seins und Begreifens in der mystischen Nacht des religiösen Erlebens aufzulösen, stellt der moderne Dichter sorgfältig das transzendente Motiv PLOTINs gegenüber; neben dem genauen Schildern der "abgeschiedenen Seele" als dem höchsten Prinzip seiner Konzeption sucht er in seinem "Stundenbuch" auch die genaue Deduktion aller Formen und Prozesse der "werdenden Welttiefen" zu geben.

Betrachten wir etwas näher diese plotinischen Motive der RILKE'schen Weltanschauung, seinen transzendenten Gott und seine Schilderung des weltbildenden Prozesses.

Besonders wichtig ist hier der Einfluß, welchen Rilke von seiten des deutschen Idealismus erfahren hat.

Wie das theoretische Ich FICHTEs zum absoluten Ich emporstrebt, wie das SCHELLING'sche Absolute sich erst durch fortlaufende Subjekt-Objektivation völlig entfaltet, wie der absolute Geist HEGELs sich erst in einem Prozeß der Selbstentwicklung erfaßt, so ist auch der Gott RILKEs ein Werdender.
    "Noch bis Du nicht kalt,
    Und es ist nicht zu spät,
    In Deine werdenden Tiefen zu tauchen,
    Wo sich das Leben ruhig verrät."
Eine solche Auffassung erschließt sich im "Stundenbuch" am schönsten und tiefsten im Bild Gottes als des Sohnes und Erben.

Das neutestamentliche Element der RILKE'schen Weltanschauung geht so weit, daß ihm der Begrif Gott-Vaters überhaupt ganz fremd zu sein scheint.

Den Vater kann man nicht lieben. Von seinen hilflosen und leeren Händen wenden wir uns immer fort mit kaltem und hartem Gesicht. Seine verwelkten Worte legen wir in alte Bücher, die wir nie herabholen und niemals lesen. Seine Sorgen lasten auf uns wie ein Albtraum, und einem schweren Stein vergleichbar bedrückt seine Simme unsere Seele. Wir sind seiner Rede niemals hörig, wir sehen nur die Formen seiner Lippen, aus denen tote Silben fallen.

Der Vater - er ist uns ein lange Vergangenes und darum ein ewig Fremdes; Gott einen Vater heißen, das bedeutet, sich von ihm tausendfach trennen. Gott ist mehr als ein Vater: Er ist das, was der Vater war, und das, was er nicht geworden ist. Er ist unsere Zukunft, unser Sohn und Erbe. Alles wird er erben: das satte Grün der Matten und der Wälder, das tiefe Blau zerfallener Himmel. Alle Sommer, welche, welche die Sonne gesagt hat; alle Frühlinge, leuchtend und klagend, wie die Briefe einer jungen Frau; alle Herbste, die wie prunkvolle Gewänder in der Erinnerung von jungen Dichtern liegen; alle Winter, einsam und verwaist. Erben wird er auch Rom und Venedig, Florenz und den Pisaner Dom. Alle Laute werden sein sein: alle Reden, Geigen und Flöten und jedes Lied, das tief genug erklungen, wird an ihm glänzen wie ein Edelstein.

Aus all dem erheben sich aber die schwierigsten Fragen. Ist Gott nur der Erbe aller Reichtümer und Schicksale der Welt, wer sammelte dann diese Reichtümer, wer schuf im inneren Erleben diese Schicksale? Ist Gott ein Sohn - wer ist dann sein Vater? Ist Gott überhaupt ein Schöpfer, oder ist auch er ein Geschöpf?

Alle diese Fragen beantwortet die mystische Konzeption RILKEs mit großem Mut und großer Konsequenz. Indem er Gott als den Sohn faßt, faßt er den Menschen als den Vater des Sohnes, und indem er Gott als den Erben der Welt bestimmt, bestimmt er den Menschen als ihren eigensten Schöpfer. So ist für RILKE der große Prozeß der Weltentwicklung nur die Arbeit und Mühe des Menschen an seinem werdenden Gotte; Gott aber ist ihm die heilige Nacht, die den schweren Arbeitstag beschließt. Leise sinkt sie herab und begräbt in den tiefen Falten ihres weiten Mantels alle Hast, allen Lärm, alle Arbeit und Mühe des Tages. So ist die völlige Realisation Gottes zugleich das völlige Ersterben der Welt.
    "Sie ist vergangen, denn Du bist."
So ist also Gott für RILKE kein am Anfang aller Anfänge stehender Schöpfer, sondern ein in Ewigkeiten werdender Gipfel aller Geschöpfe. Diese Wendung ist für uns von besonderem Interesse, denn in ihr versöhnt RILKE, wenigstens auf den ersten Blick, das mystische Immanenzmotiv ECKEHARTs mit dem transzendenten Motiv der plotinischen Mystik.

Im vollen Einklang mit Meister ECKEHART erfährt RILKE seinen Gott im tiefsten Seelengrund und bestimmt diesen Seelengrund: seine Finsternis, sein Schweigen und seine Stille, als das höchste religiöse Prinzip, als den wahren Gott. Doch sträubt sich auch in RILKEs mystischem Weltempfinden etwas gegen diesen Begriff Gottes; ganz wie Meister ECKEHART genügt ihm kein Gott, welcher allem Schaffen ein Grab bedeutet und alles Erschaffene zu einer Unbegreiflichkeit wandelt. Beide Weltanschauungen fassen das höchste religiöse Prinzip im Sinne des mit sich selber identischen Lebens, welches sie ausdrücklich in der Kategorie reinster Immanenz gedacht wissen wollen; beiden aber ist dabei eine bestimmte Sehnsucht nach einem transzendenten Gott und einer im religiösen Erlebnis transzendenten Wirklichkeit gemein. Indem aber diese Sehnsucht für das System ECKEHARTs durchaus gefährlich erscheint und es zu sprengen droht, fügt es sich weit harmonischer in das mystische Weltbild RILKEs. Die völlige Unannehmbarkeit eines transzendenten Gottes wurzelt für ECKEHART darin, daß er ihn als einen Schöpfer und Erhalter, wie der Welt und des Menschen, so auch der abgeschiedenen Seele zu begreifen sucht, die von ihm andererseits immer wieder als das höchste und ursprünglichste religiöse Prinzip bestimmt wird. Es leuchtet ein, daß diese Tendenz, sich das höchste religiöse Prinzip als genetisch durch ein anderes bestimmt zu denken, ihm seine Bedeutung als eines Höchsten durchaus nimmt. So klärt sich für uns der vernichtende Sinn des transzendenten Motivs für die mystische Konstruktion ECKEHARTs.

Etwas ganz anderes bedeutet dasselbe Motiv im Kontext RILKE'scher Gedankengänge und Empfindung.

Indem er Gott als eine transzendente Realität setzt, schreibt er ihm durchaus keine schöpferische Funktion zu; er faßt ihn gar nicht als einen Schöpfer und Erhalter der abgeschiedenen Seele und schränkt darum durch dieses Setzen ihre absolute religiöse Bedeutung durchaus nicht ein. Sein transzendenter Gott ist eher ein Geschöpf der abgeschiedenen Seele als ihr Schöpfer. Wie der Same vom Keim durchbrochen wird, so wird auch bei RILKE die abgeschiedene Seele ECKEHARTs von der transzendenten Realität PLOTINs durchwachsen. Der Prozeß des Wachsens ist aber der Prozeß des Werdens der Welt, der Prozeß des Wachsens ist aber der Prozeß des Werdens der Welt, der Prozeß der Entwicklung ihrer Formen und Gesetze.

So versöhnt RILKE in der Kategorie seines mystischen Teleologismus die überragende religiöse Bedeutung der statisch-passiven, gotterfüllten Seele mit der Vorstellung eines transzendenten Gottes und der Dynamik des weltwirkenden Prozesses. So entsteht die interessante Synthese von PLOTIN und ECKEHART. Fassen wir sie etwas näher ins Auge.

In tiefem Schweigen und heiligem Dunkel erlebt RILKE seinen Gott als Tiefe, Schweigen und Finsternis. In diese Gewänder der schweigenden Finsternis gehüllt, kann Gott keiner Bewegung und keiner schöpferischen Tat angeklagt werden; aber dieser Unmöglichkeit steht die erschaffene Welt und der immer weiter fließende Strom der Neuschöpfungen entgegen; diese Welt muß hingenommen, der Prozeß der Neuschöpfungen muß begriffen werden; dieses ist der Punkt, wo RILKE den Menschen alle Schuld auf sich nehmen läßt, indem er seine Seele zum Schöpfer der Welt degradiert. Wird aber der Mensch zum Schöpfer, rauscht seine stumme, abgeschiedene Seele gestaltend in das Nichts, so vernichtet sie sich notwendig als eine gottähnliche, göttliche, als Gott. Es entsteht eine neue furchtbare Antinomie: um seinen Gott im mystischen Erlebnis zu finden, muß der Mensch in die letzten, stummen Tiefen seiner Seele versinken. Um aber den so gefundenen Gott als Gott nicht wieder zu verlieren, um von seiner hohen Stirn jeglichen Schmerzensausdruck eines schöpferischen Gedankens fernzuhalten, muß der Mensch von neuem in seine Endlichkeit, seine Einsamkeit, in die schwere Sünde gottbekämpfender Akte seines religiösen, ästhetischen und philosophischen Schaffens verfallen. So wandelt sich für RILKE seine mystische Synthese in eine notwendige Verarmung des religiösen Lebens, denn religiöse ist der Mensch RILKEs nur im Verhältnis zu dem Gott, den er findet; den anderen Gott aber, den zu erschaffenden Gott, baut der Mensch bereits mit gottlosen Händen, und darum entsteht uns die Frage: Ist dieser werdende Gott RILKEs überhaupt noch ein Gott?

Ich denk - nein. Ich denke, daß das Bild Gottes als eines werdenden in der Konzeption RILKEs ebenso verzerrt ist wie das Wesen des religiösen Menschen als des wahrhaften Weltschöpfers. Die Synthese RILKEs ist schon darum allein verdächtig, weil jede Synthese das Wesen der in sie eingehenden Momente notwendig verfälscht. Indem HEGEL in seinem System eine Synthese des Seienden und Seinsollenden zu geben versuchte, vernichtete er das wahre Wesen des Sollenden als eines dem Seienden in alle Ewigkeit entgegengesetzten Prinzips. Indem SCHILLER in seinem Begriff der schönen Seele eine Synthese der natürlichen Neigung und der ethischen Pflicht zu geben versuchte, vernichtete er ebenfalls den tiefsten Sinn des moralischen Prinzips als einer gegen die natürliche Neigung kämpfenden Kraft. Und ganz ebenso ist auch der werdende, der in die Transzendenz emporwachsende Gott RILKEs durchaus nicht der transzendente Gott, den PLOTIN als seine höchste Wahrheit behauptet und ECKEHART als seine schwerste Versuchung gekannt hat.

Überall, wo sich im wahren mystischen Leben eine Sehnsucht nach einer transzendenten Realität zu regen beginnt, bedeutet sie immer einen quälenden Durst, sich von einem mystischen Solipsismus zu befreifen, der überall dort entsteht, wo als höchstes religiöses Prinzip die gottgeeinigte Seele, im Sinne einer persönlich-überpersönlichen Monade, behauptet wird. Das mystische Leben, der in sich selber verfließende Fluß ECKEHARTs wird in solchen Augenblicken von einer unstillbaren Sehnsucht nach den einengenden Ufern einer in Gott realen Welt ergriffen und durchwühlt. Die Seele des Menschen will jetzt ihren Gott als eine fest in die Ewigkeit gebildete Realität; sie erschaut ihn bereits als jenes einzige, ewige Meer, in welches endlich einmal münden zu müssen, sie als ihr Wesen und Schicksal empfindet. Darum wird auch das transzendente Motiv der Mystik ihren Gott als einen Schöpfer und Erhalter, als eine von Ewigkeit her existierende Realität immer wieder empfinden und verlangen müssen.

Etwas ganz anderes ist der transzendente Gott RILKEs. Nur in der Zeit aus dem mystischen Leben der Seele emporwachsend, ist er ihr kein felsiges Ufer, unter dessen Schutz es ihr so ruhig wäre, die tiefen, dunklen Fluten zu breiten, und auch kein ewiges Meer, dessen Wesen und Tiefe die Seele schon lange ahnend empfunden hat im Rauschen und im Rhythmus ihrer eigenen Wogen.

Selbst ihr Geschöpf und Gebilde ist er nur ein täuschender Nebel über ihrer wahrhaften Tiefe; nachts dehnt sich dieser Nebel wie ein felsiger Ufer; morgens, im Lichte der steigenden Sonne, erscheint er der harrenden Seele wie ein in der Ferne glänzendes Meer. In Wahrheit aber ist alles nur Schein und Irrtum; Schein ist das Ufer, Scheint ist das Meer; Schein, bloßer Schein auch der transzendente Gott RILKEs.

Ein solcher Gott wird dem Menschen über seine einsamen Stunden, über den Solipsismus des mystischen Erlebens niemals hinweghelfen. Mit einem solchen Gott ist er einsam und bange. Dieses Gefühl der Bangigkeit und Verlassenheit klingt denn auch wirklich als Leitmotiv durch das ganze Buch R. M. RILKEs.

So stirbt also die Synthese RILKEs an der Verzerrung des göttlichen Antlitzes und der Verfälschung des mystischen Lebens. An der antiken Säule der plotinischen Lehre, an den gotischen Strebefeilern und Fenstergiebeln ECKEHART'scher Mystik emporgerankt, welkt die duftige Bildergirlande des modernen Dichters nur allzu rasch und traurig hinunter.

Wieder erklingen in der Seele des Menschen zwei gleich ursprüngliche und gleich starke Motive: den transzendenten Gott in den dunklen Fluten des mystischen Erlebens zu begraben und ihn dabei doch als ewigen Gipfel auf einem ewigen Horizont zu erhalten. In der Unmöglichkeit, diese beiden Motive zu vereinen, besteht das größte Leiden des Menschen. Aus diesem Leiden wächst ihm der letzte und höchste Sinn seines Lebens.

LITERATUR Feodor Steppuhn, "Die Tragödie des mystischen Bewußtseins" in Logos, Bd. 3, Tübingen 1912