p-4ra-2Kritik der wissenschaftlichen GrundbegriffeDer Relationsbegriff    
 
HARALD HÖFFDING
(1843-1931)
Der Totalitätsbegriff
[ 8 / 10 ]

I. Die Stellung der Kategorienlehre
II. Fundamentale Kategorien
III. Formale Kategorien
IV. Reale Kategorien
V. Totalität und Wert
VI. Totalität als Grenzbegriff
Anhang: Kategorientafel

"Schon die bloße Konstatierung einer Tatsache beruth auf eine Wertung, nämlich auf der Voraussetzung des Wertes der Wahrheit."

"Alexander machte seine Eroberungen nicht und stiftete sein Weltreich nicht um der Humanität und der Kultur willen, aber seine Tat führte doch über die Grenzen, die in diesen Beziehungen durch die Nationalitätsverschiedenheiten gezogen waren, hinaus. Große Männer sind notwendig, damit die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise frei macht von bloßen abgestorbenen Lebensformen und von reflektierendem Geschwätz."


V.
Totalität und Wert

24. Es gibt in unserer Zeit eine philosophische Richtung, nach welcher die ganze Philosophie eine Wertlehre ist. Das Arbeitsgebiet der Philosophie besteht dann aus den Wertproblemen, den Fragen nach dem Wahren, nach dem Schönen, nach dem Guten und nach dem Heiligen. Diese Philosophie geht von der Tatsache aus, daß die genannten Ideen Gültigkeit beanspruchen und ihre Aufgabe ist dann, zu untersuchen, worin diese Gültigkeit besteht und wieweit sie begründet werden kann. Schon die bloße Konstatierung einer Tatsache beruth auf eine Wertung, nämlich auf der Voraussetzung des Wertes der Wahrheit. Die Wahrheit selbst ist ein Wert, der Anerkennung fordert. Das theoretische Denken, das nach Erkenntnis strebt, ist nur ein spezieller Fall des Strebens nach Verwirklichung von Werten. Wir die Gültigkeit des Wahrheitswertes verworfen, ist kein Urteil möglich. Auch in der Wissenschaft dreht es sich also nicht nur um Gedanken und Vorstellungen, sondern um Werte und Wertungen.

Diese Auffassung ist mit größter Ausführlichkeit und Energie von HEINRICH RICKERT in der schon erwähnten Schrift von den Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung geltend gemacht worden. (Siehe besonders Seite 587 - 613) Ich bin damit einverstanden, daß der Wertgesichtspunkt kein ganz neuer Gesichtspunkt ist, der erst in Ökonomie und Ästhetik, in Ethik und Religionsphilosophie auftauchen sollte; er wirkt von Anfang an und ohne Unterbrechung, in allen Gedanken wie in allen Wünschen. In meiner Darstellung des menschlichen Gedankenlebens konstatiere ich zuerst, daß die drei Elemente: Erlebnis - Nachdenken - Wert sich in jedem Gedankenakt kundgeben; dann betrachte ich ein intellektuelles Interesse, eine Anerkennung des Wertes der Wahrheit als die beständige Voraussetzung und untersuche endlich die Gedankenformen, die nach dieser Voraussetzung angewandt werden müssen. Diese Untersuchung stößt aber dann auf ihrem Weg auf den Wertbegriff, nicht nur, wie bisher, weil er die beständige Voraussetzung ist, sondern auch, weil es andere Werte als die intellektuellen gibt. Daher muß der Wertbegriff im allgemeinen als ein Grundbegriff, eine Kategorie, erörtert werden. Die Frage ist, ob die Wertqualität Gegenstand einer rationellen Behandlung werden kan, wie es sich bei der Sinnesqualität (vgl. § 4) und der Existenzqualität (§ 5 am Ende) als möglich erwiesen hat. (1)

Wie bei allen Qualitäten beginnen wir anscheinend rein subjektiv. Werturteile entspringen aus Lust und aus Unlust, aus Befriedigung und aus Mangel. Lust und Unlust sind aber Symptome eines Dranges, einer Bewegung oder einer Tendenz in einer gewissen Richtung und sie entstehen, wenn die Tendenz entweder begünstigt wird, so daß sie mit voller Kraft fortgesetzt werden kann oder gehemmt und zurückgedrängt wird. Wir begegnen hier wieder dem Begriff der Richtung. Alles, was wir wahrnehmen, ist in Bewegung nach einer gewissen Richtung. Wenn man aber von Werten spricht, wird immer eine Totalität mit der Tendenz, sich der Umwelt gegenüber zu behaupten, vorausgesetzt und es kommt dann darauf an, ob diese Tendenz gefördert oder gehemmt wird. In strengster Bedeutung kann man nur vom Standpunkt persönlicher Wesen aus von Werten sprechen, weil nur da die Tendenz und ihr Verhältnis zu den Bedingungen bemerkt und gefühlt werden kann. Nur auf dem Weg der Analogie wird der Wertbegriff auf andere Totalitäten (Gemeinschaften, Organismuen, unorganische Ganze) überführt; es ist ja schon Analogie, wenn ein persönliches Wesen dasjenige zu fühlen versucht, was für andere persönliche Wesen Wert haben kann. Eine Tendenz die empfunden wird, nennen wir einen Drang. Zwischen den Begriffen Drang und Wert besteht als ein inneres Verhältnis. Wenn die Richtung des Dranges Gegenstand des Bewußtseins wird, wird der Drang zum Trieb. (2)

Eine objektive Wertlehre wird dadurch möglich, daß Drang und Wert mit dem Bestehen eines persönlichen Wesens als Ganzem zusammenhängen und mit den Bedingungen dieses Bestehens variieren. Eine Untersuchung dieser Bedingungen beleuchtet das Entstehen und Bestehen der Werte und ermöglicht die Unterscheidung von echten und unechten Werten, von begründetem und unbegründetem Drang, indem entschieden werden kann, ob der Drang, der gefühlt wird und die Wertung, zu der er führt, den wirklich gegebenen oder möglichen Lebensbedingungen entspricht.

Die Wertbegriffe können nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt werden. In formeller Rücksicht können elementare (empfindungsbestimmte) und ideelle (vorstellungsbestimmte) Werte unterschieden werden, ferner: unmittelbar und mittelbare Werte (Zwecke und Mittel), potentielle und aktuelle Werte. In realer Rücksicht können, wenn der Inhalt zugrunde gelegt wird, biologische, intellektuelle, ästhetische, ethische und religiöse Werte unterschieden werden und wenn der Umfang zugrunde gelegt wird, individuelle, soziale und kosmische Werte. Ob eine rationale Wertlehre für alle diese Werte durchgeführt werden kann, ist eine Sache für sich, die unter das Wertungsproblem (dem ethisch-religiösen Problem) gehört. Wir können uns hier an den realen Werten an den Inhaltsgesichtspunkt halten, um den Zusammenhang zwischen dem Wertbegriff und dem Totalitätsbegriff zu beleuchten.

25. Daß die verschiedenen realen Werte, vom Umfangsgesichtspukt aus gesehen, gewisse Totalitäten mit Tendenzen der Selbsterhaltung voraussetzen, ist leicht zu sehen. Jedes Individuum, jede soziale Gruppe und jedes Volk schätzt die Verhältnisse in und außer sich danach, ob Bedingungen (die wirklichen oder die vermuteten) ihres Bestehens da sind oder nicht. Aber auch vom Inhaltsgesichtspunkt aus kann dasselbe gezeigt werden. Das ökonomische Leben, das intellektuelle Leben, das ästhetische Leben, das ethische und das religiöse Leben - sind ebenso viele Totalitäten von Gedanken und Bestrebungen, jede mit einer Tendenz, sich in sich selbst abzuschließen und jede für sich durch einen herrschenden Zweck, mit welchem das betreffende Lebensgebiet steht oder fällt, bestimmt.
    a) Der Kampf um die Erhaltung des physischen Lebens kann die ökonomischen (biologischen) Interessen als die einzigen bestehen lassen. Es ist hier eine Seite des Lebens, die ihre eigenen Gesetze hat und sich kraft dessen als ein Ganzes abgrenzt, auch wenn dieses Ganze wieder als Teil in eine umfassendere Lebenstotalität eintritt. Es liegt hier auch eine eigene Wissenschaft mit besonderen Gesichtspunkten und Methoden vor. (Näheres siehe meine Ethik III, Seite 14)

    b) Daß die Wissenschaft ein Beispiel einer Totalitätsbildung ist, haben frühere Abschnitte dieser Abhandlung darzulegen versucht. Die wissenschaftliche Arbeit geht darauf aus, eine Gedankenwelt aufzubauen, innerhalb welcher jedes Erlebnis seine Stelle finden kann. Intellektuellen Wert hat alles, was dieser Arbeit frommt und in die Richtung ihres Zieles führt.

    c) Ästhetischen Wert hat ein Erlebnis dadurch, daß es als ein charakteristisches Ganzes hervortritt und sich als solches für das unmittelbare Anschauen, von intellektuellem und praktischem Interesse ganz abgesehen, geltend machen kann. Weil die Wirklichkeit nicht immer charakteristische, vollständig individualisierte Erlebnisse darbietet, kann die Phantasie die Abrundung ergeben, ohne welche eine Totalität nicht entsteht. Dieses kann besonders da studiert werden, wo wir die Erlebnisse (die "Motive") im voraus kennen und mit dem, was der Dichter oder der Künstler durch seine Arbeit hinzufügt, vergleichen können. Beispiele hiervon haben wir im Verhältnis der griechischen Tragiker zur Sagengeschichte und im Verhältnis SHAKESPEAREs zu seinen Vorgängern. Das Ziel ist, das Bild eine eigentümlichen, individuellen Ganzen zu formen. In angewandter Kunst ist der Schönheitseindruck durch das Verhältnis zwischen der Kontur des Gegenstandes und der Kontur des Ornaments (zwischen "Konturlinie" und "Ornamentlinie" bedingt. Wenn Schönheit erreicht werden soll, müssen sie entweder zusammenfallen oder ihre Schnittpunkte liegen einfach rhythmisch; dieses ist aber eben die Bedingung des Entstehens eines Totalitätsgepräges. Ebenso ist das einfach Rhythmische im Vers, im Gegensatz zur Prosa, die Ursache einer größeren Totalwirkung und hierin muß der Grund des größeren ästhetischen Wertes, den der Vers in seiner Begrenzung haben kann, liegen. (3)

    In philosophischen Systemen herrschaft oft ein ästhetisches Bedürfnis nach harmonischem oder rhythmischem Zusammenhang, ein Bedürfnis, das natürlich aus dem theoretischen Bedürfnis, einen Zusammenhang in allem, auch dem am meisten Widerstreitenden, aufzuweisen, hervorgeht. Neulich hat MARK BALDWIN (Genetic Theory of Reality, 1915) behauptet, daß eine Weltanschauung, die aller Relativität entgehen oder über sie hinausführen will, einen ästhetischen oder künstlerischen Charakter haben muß; sie muß "Pankalismus" werden. Sonst habe sie einen rein formalen Charakter wie in den Systemen, in welchen das Verhältnis zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit, Identität und Verschiedenheit die Hauptrolle spielt. Der Gedankengang BALDWINs erinnert an SCHELLINGs "System des transzendentalen Idealismus" (180), in welchem künstlerisches Anschauen als einzige Möglichkeit proklamiert wird, über die Gegensätze des Lebens hinauszukommen. (4)

    d) Alle ethische Wertung ist bedingt durch das Interesse für ein Ganzes, dessen Bestehen und dessen Entfaltung behauptet und gefördert werden soll. Hier macht sich der Gesichtspunkt des Umfangs deutlich bemerkbar, indem der Streit ethischer Systeme dadurch bewirkt wird, daß Totalitäten von verschiedenem Umfang zugrunde liegen. Es kann das Bestehen eines einzelnen Individuums oder einer Familie oder eines Staates oder des Menschengeschlechts sein, das die Wertung im einzelnen bedingt. Im dritten Kapitel meiner "Ethik" habe ich diese Gegensätze und ihre Bedeutung für den wissenschaftlichen Charakter der Ethik untersucht.

    Man meint bisweilen, daß eine Wertung dadurch objektiv wird bloß dadurch, daß sie nicht individuell, sondern sozial ist. Daraus folgt die häufige Behauptung, daß eine wissenschaftliche Ethik notwendig eine Gemeinschaftsethik sein muß. HEINRICH MAIER (5) will die Möglichkeit objektiver Wertung auf solche Fälle beschränken, in welchen eine Relation zum Menschen als  genus  zugrunde liegt. An und für sich kann aber eine Wertung vom Gesichtspunkt einer begrenzteren Totalität aus ebenso konsequent und ebenso objektiv begründet sein wie eine Wertung von der am meisten umfassenden Totalität aus. Der Egoist kann z. B. volles objektives Recht darin haben, daß diese oder jene Handlung eine notwendige Bedingung der Erreichung seines Zweckes ist. Es findet sich in jedem ethischen Urteil eine Voraussetzung, die durch das Verhältnis zur bestimmten Totalität, deren Entstehung und Entwicklung es gilt, bedingt ist. Und in dieser Voraussetzung steckt eben das Problem; denn es ist keine logische Notwendigkeit, daß eine gewisse bestimmte Totalität die Wertung bestimmen soll.

    Eine vergleichende Ethik untersucht, wieweit die von den verschiedenen Totalitäten aus angestellten Wertungen zu Resultaten, die - von der Begründung abgesehen - vereinbar sind, führen. Eine solche vergleichende Untersuchung zeigt, daß gewisse ethische Kategorien au allen ethischen Standpunkten angewandt werden, nur daß ihre Stelle verschieden ist. Solche Begriffe sind Pflicht, Tugend, Gut und Recht. Sie drücken alle eine Beziehung einer einzelnen Handlung zur Totalität, von welcher aus sie gewertet wird, aus. In der Pflicht wird ausgedrückt, daß das Bedürfnis des Ganzen die Handlung bestimmt; in der Tugend, daß die Handlung aus einem unmittelbaren Einheitsgefühl der Totalität gegenüber entspringt; ein Gut ist alles, was der Totalität dient; ein Recht bedeutet, daß die Handlung zwar durch das Bedürfnis des Ganzen nicht bedingt ist, aber auch nicht dagegen streitet. (6)

    e) Die Religionsphilosophie führt zu einer entsprechenden Auffassung. Alle Religion wird von einem Bedürfnis bedingt und getragen, die beständige Möglichkeit festzuhalten, daß die Totalität, an die der Mensch sich geknüpft findet oder die er selbst zu sein glaubt, besteht und sich entwickelt. Das ist die Bedeutung des Satzes, daß Religion ein Glaube an das Bestehen eines Wertes ist. Immer ist es ein Reich, ein größeres oder ein kleineres, das der Mensch in seiner Religion behauptet. (7)
26. Überall, wo Erlebnisse ein Totalitätsgepräge darbieten, können wir ein Interesse, wenigstens ein intellektuelles Interesse, daran haben, ihren Ursprung und die Bedingungen ihres Bestehens und ihrer Entwicklung zu untersuchen. Es kann oft schwierig sein, das rein intellektuelle Interesse von anderen Interessen abzugrenzen. Ästhetisch können wir uns in Naturgegenstände oder in historische Persönlichkeiten und Begebenheiten, die für uns kein praktisches Interessen haben, "einfühlen" oder "einleben". Und weil aller Wert an ein Ganzes geknüpft ist, wird es natürlich geschehen können, daß das eine oder das andere Ganze uns ein Wertzentrum wird, indem es auf dem Weg der Analogie einen Schimmer bekommt vom Interesse für dasjenige Ganze, das wir selbst sind oder dem wir gehören.

In den modernen Entwicklungstheorien, wie sie in den letzten Jahrhunderten hervorgetreten sind, macht sich dieser Gesichtspunkt deutlich geltend. Und weil die Stellung des Menschen in der Welt durch das Schicksal des organischen Lebens, der Erde und des Sonnensystems bestimmt wird, ist es keine bloße Analogie, die das Interesse für biologische, geologische und astronomische Entwicklung bedingt. Kein solches Interesse knüpft sich aber an die Geschichte eines einzelnen Sternes oder an die Geologie einer einzelnen Gegend, wenn wir nicht selbst innerhalb ihrer Grenzen wohnen. Ähnlich verhält es sich mit dem Interesse für andere Zeiten und Völker und für Persönlichkeiten, die unter ganz anderen Verhältnissen als den unsrigen gelebt haben. RICKERT hat hier den interessanten Begriff "historisches Zentrum" (8) aufgestellt, einen Begriff, der gewissermaßen auf dem Übergang zwischen dem rein theoretischen Totalitätsbegriff und dem Wertbegriff steht. Die Geschichtsforschung wählt solche Gegenstände, die den Charakter der Totalität haben, indem sie sowohl eine Sammlungsstellte als ein Ausgangspunkt für große Reihen von Begebenheiten sind. Eine solche Totalität - sei es nun eine Persönlichkeit, eine Institution, eine Nation, eine Kultur - steht als wertvoll im Lichte von allem, was in ihr gesammelt und abgeschlossen ist und von allem, was aus ihr entspringt, auch wenn sie nicht - weder in ihren Ursachen, noch in ihren Wirkungen - praktischen Einfluß auf die Totalität, die der Historiker selbst ist oder in der er lebt, hat. Der Historiker muß sich in das, was für ein gewisses Ganzes Wert hat, hineinleben können; dadurch wird für ihn das Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen seiner Darstellung bestimmt. Der Historiker als solcher gibt keine eigentliche Wertung; aber seiner Betrachtung liegt eine Beziehung auf Werte, die nicht notwendig seine eigenen sind, sondern in die er sich hineingelebt hat, zugrunde. (9)

Wenn diese Beziehung auf Werte ganz fehlt, hört das historische Interesse auf und wir kommen dann zu dem, was ein anderer scharfsinniger Geschichtsphilosoph, GEORG SIMMEL, "die Schwelle des historischen Bewußtseins" genannt hat. (10) Diese Schwelle kann sich natürlich heben oder senken, wie HERBARTs und FECHNERs psychologische Schwelle, je nachdem das historische Material es möglich macht, Totalitätsgesichtspunkte anzulegen oder nicht.

Ein dritter historischer Begriff hängt mit den zwei genannten Begriffen genau zusammen, nämlich der Begriff der historischen Größe, die nicht mit moralischer Größer zusammenfällt. Historische Größe ist bedingt durch den Umfang und die Wirkungssphäre der Kräfte, die beim Werden einer neuen nationalen oder kulturellen Totalität wirksam sind. So gewaltsam und selbstisch eine historische Persönlichkeit auch sein mag, bei wirklicher Größe wird doch, was BURCKHARDT "eine geheimnisvolle Koinzidenz des Egoismus des Individuums mit dem, was man den gemeinen Nutzen oder die Größe, den Ruhm der Gesamtheit nennt", genannt hat, zugegen sein, ALEXANDER machte nicht seine Eroberungen und stiftete nicht sein Weltreich um der Humanität und der Kultur willen, aber seine Tat führte doch über die Grenzen, die in diesen Beziehungen durch die Nationalitätsverschiedenheiten gezogen waren, hinaus. Große Männer sind nach BURCKHARDT notwendig, "damit die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise frei macht von bloßen abgestorbenen Lebensformen und von reflektierendem Geschwätz." (11)

Die verschiedenen historischen Schulen werden oft darüber uneinig sein, wo die historischen Zentra liegen, wo die historische Schwelle zu setzen ist und ob der Begriff historischer Größe im einzelnen Fall angewandt werden soll. Es kann eine Tendenz geben, es mit den Besiegten oder mit den Siegern zu halten; das Gewicht kann auf den Staat oder auf die Kultur gelegt werden, auf Organisation durch Macht oder auf die spontan wirkenden Kräfte. Bei allen diesen Gegensätzen wird es sich immer zeigen, daß das Verhältnis zwischen Totalitäten und den Bedingungen ihres Bestehens den verschiedenen Gesichtspunkten zugrunde liegen. Und auf dem Weg der Analogie werden diese Gegensätze zuletzt, aber auch nur zuletzt, zu Gegensätzen zwischen ethischen Standpunkten zurückgeführt werden können.

27. Durch den Totalitätsbegriff zeigt sich der Wertbegriff in seinem Zusammenhang mit Naturwissenschaft und Geschichtsforschung. Denn gäbe es im Dasein, so wie dieses nun einmal beschaffen ist, keine Möglichkeit für das Entstehen von Totalitäten - wären also alle Kausalreihen divergierend oder parallel -, wären also alle Kausalreihen divergierend oder parallel -, dann wäre der Wertbegriff überhaupt nicht entstanden. Es ist ein Beitrag zur Charakteristik des Daseins, daß Totalitäten in ihr entstehen und bestehen können.

Auf welchem Weg die Totalitäten, die vom Wertbegriff vorausgesetzt werden, entstanden sind, braucht nicht für den Wert selbst entscheidend zu sein. Wert ist eine Tatsache, die durch ihre Entstehungsweise nicht aufgehoben wird, ebensowenig wie der Wert eines Menschen durch die schlechten Handlungen seiner Vorfahren verringert wird. Selbst ein so vorurteilsfreier Mann wie GUYAU meinte doch, daß ein Wertvolles nicht aus etwas, das keinen oder gar einen negativen Wert hatte, entstehen könnte. Es ist ein theologischer Gedankengang, der sich hier offenbart und der konsequent dazu führen müßte, im Namen des Wertes alles Forschen nach dem Entstehen von Werten zu verbieten, wie LOHENGRIN ELSA verbietet, ihn zu befragen, "woher er kam der Fahrt und wie sein Nam' und Art." Es ist aber nicht leicht, den Drang zum Fragen und Forschen zu hemmen, den Drang, den WAGNER "Wissens Sorge" nennt. Es ist kein Grund zum Bedenken da. Werte entstehen nach den großen Gesetzen, die unter gewissen Bedingungen das Entstehen von Totalitäten möglich machen und eben dadurch hängt, wie schon bemerkt, der Wertbegriff mit der wissenschaftlichen Erkenntnis zusammen und kann selbst der Inhalt einer Wissenschaft werden.

Die Welt der Wirklichkeit ist aber mehr umfassend als die Welt des Wertes. Hier können Erfahrungen gemacht werden, durch welche ein Gefühl des Humors der Welt gegenüber hervorgerufen werden kann, teils weil Werte oft auf Wegen, denen wir an und für sich keinen Wert beilegen können, verwirklicht werden können, teils weil die Welt des Wertes wie eine Oase in einer großen Wüste steht. (12) Selbst wenn man sich überhaupt ein wertvolles Ziel der unübersehbaren Kausalreihen der Wirklichkeit denken könnte, würden wir doch dieses Ziel nicht erkennen können und wir müßten uns in unserer Wertung des Daseins an den Teilen und Strecken halten, die wir überschauen können. Der Glaube, daß alles in der Natur und in der Geschichte in der Richtung nach einer Vollendung, einer Harmonisierung, einer Verwirklichung aller Ideale führt, hat seinen Ursprung in chiliastischen Erwartungen und in optimistischen Postulaten. Eine solche naive Teleologie hat keinen festen Grund unter den Füßen. Hält man sich an die Erfahrung, muß man eher BURCKHARDT darin recht geben, daß in der Geschichte wie in der Natur ungeheure Veranstaltungen und ein unverhältnismäßiger Lärm, mit kleinen Resultaten am Schluß angewandt werden. Verschwendung herrscht in der Geschichte wie in der Natur. Aber die Anerkennung des Wertbegriffes als Kategorie hat auch keine teleologischen Betrachtungen als ihre Konsequenzen. Ebensowenig wie irgendeine andere Kategorie kann der Wertbegriff als einziger Grundbegriff gebraucht werden, so daß alle anderen Gedankenformen aus ihm in ihrer relativen Berechtigung abgeleitet werden könnten. Es ist sogar die konkreteste und komplexeste aller unserer Kategorien, setzt die anderen voraus, ohne von ihnen vorausgesetzt zu werden.

Der Gegensatz zwischen menschlichen Werten und der Welt der Wirklichkeit kam durch das neue Weltbild, zu welchem KOPERNIKUS den Grund legte, zum klaren Bewußtsein. Das Leben ist verschwindend der Erdmasse gegenüber, die Erde der Sternwelt gegenüber. Selbst wenn das Leben über die Materie siegte, so daß der "élan de vie", von dem ein geistreicher Philosoph spricht, immer gegen die Tendenz zur Verteilung und zum Gleichgewicht standhalten könnte, würden die Disharmonien immer wieder innerhalb der Welt des Lebens anfangen, indem die eine Lebenstotalität auf Kosten der anderen, wie der Wolf dem Lamm gegenüber, lebt. Wenn jede Lebenstotalität einen Naturzweck bezeichnen sollte, gäbe es Streit in der Welt der Werte. Wenn man statt von Teleologie von Orthogenesis (§ 20) spricht, dann lehr die Erfahrung, daß die Entwicklung nicht immer zu lebenskräftigen und reich ausgestatteten Formen führt.

Ja, könnte man zeigen, daß alle Konflikte zwischen Totalitäten und Elementen, fruchtbar wären, zu weiterer Entwicklung führten, dann könnte der Wertbegriff eine abschließende Stellung in unserer Gedankenwelt einnehmen. Hatte aber GOETHE nicht recht gegen HEGEL, wenn er behauptete, daß es eine absolute Tragik gibt, - nicht nur Konflikte, durch welche Wahrheit und Recht mit neuer Klarheit hervortreten?

Unsere Welt- und Lebensanschauung muß, wenn sie den Zusammenhang mit rationellem Denken behaupten will, andere Wege als den der Teleologie wandern. Ob es solche gibt, kann die Kategorienlehre für sich allein nicht entscheiden.
LITERATUR - Harald Höffding, Der Totalitätsbegriff - Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, Leipzig 1917
    Anmerkungen
    1) HÖFFDING, Der menschliche Gedanke, Seite 260 - 264 der dt. Übersetzung
    2) Über den Unterschied von "Drang" und "Trieb" vgl. meine  Psychologie  (VIB, 2c; C, 1. VIIB, 1a). - HOBBES und SPINOZA haben zuerst diesen Unterschied bestimmt gemacht. Besonders hat HOBBES den "Drang" mit einer beginnenden Bewegung in einer bestimmten Richtung in Verbindung gesetzt. Er ist hier von einer Analogie mit dem Kraftbegriff GALILEOs (momento, impeto) geleitet. Vgl. "Elements of Law I", 7,2 (endeavour: internal beginning of animal motion). "De Corpore XXV, 12 (wo die Tendenz, conatus, zu ungehemmtem motus vitalis wird, wenn Erfahrung und Erinnerung möglich sind, zum Drang, appetitus). Eine rein physische Definition des  conatus  gibt "De Corpore" XV, 2. - SPINOZA unterscheidet (Ethica III, 6 - 9) Tendenz (conatus) zur Selbsterhaltung, Drang (appetitus) und Trieb (cupiditas), welch letzterer eine Vorstellung des Zieles voraussetzt. In neuerer Literatur findet sich derselbe Sprachgebrauch bei STOUT (impulse - desire) und bei FOUILLÉE (appétit - desir). - Das deutsche "Trieb" bedeutet oft beides, was nicht gerade für Klarheit sorgt.
    3) Diese Beobachtungen verdanke ich einem jungen Freund, der sich besonders mit Ornamentik beschäftigt hat.
    4) Vgl. meine "Geschichte der neueren Philosophie II", Seite 181 der dt. Übersetzung.
    5) HEINRICH MAIER, Psychologie des emotionalen Denkens, Seite 652 - 673
    6) Vgl. "Der menschliche Gedanke", Seite 384 - 397 der dt. Ausgabe.
    7) Vgl. außer meiner "Religionsphilosophie", "Der menschliche Gedanke", Seite 412 der dt. Ausgabe.
    8) HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Seite 325 - 329
    9) In meiner "Ethik" (VIII, 6) habe ich den Begriff "ethische Zentralstelle" aufgestellt und seine Bedeutung für das Persönlichkeitsprinzip entwickelt. RICKERTs "historisches Zentrum" ist ein analoger Begriff und von großem Interesse für das Verhältnis zwischen Ethik und Geschichte.
    10) GEORG SIMMEL, Probleme der Geschichtsphilosophie, Seite 131
    11) JAKOB BURCKHARDT, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Seite 245 und 252. - Vgl. die geistvolle Entwicklung HEGELs über "die List der Weltvernunft" in der Einleitung seiner "Philosophie der Geschichte".
    12) Vgl. mein Buch "Der große Humor", § 18