p-4 Kritik der wissenschaftlichen GrundbegriffeDer Relationsbegriff    
 
HARALD HÖFFDING
(1843-1931)
Der Totalitätsbegriff
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I. Die Stellung der Kategorienlehre
II. Fundamentale Kategorien
III. Formale Kategorien
IV. Reale Kategorien
V. Totalität und Wert
VI. Totalität als Grenzbegriff
Anhang: Kategorientafel

"Das Bewußtsein eines Widerspruchs setzt voraus, daß die einander widersprechenden Glieder zu einer versuchten Totalitätsbildung zusammengehalten werden. Wenn die Erlebnisse Glieder verschiedener Totalitäten wären, würde der Widerspruch nicht entdeckt werden, wenigstens nicht, ehe die zwei Totalitäten analysiert sind und ihre Glieder dann versuchsweise miteinander verbunden würden. Die Synthese tritt dann besonders deutlich in einem Widerspruch hervor, dessen man sich bewußt wird, wie überhaupt alle Zustände der Geteiltheit (Zweifel, Kummer, Reue) den synthetischen Charakter des Bewußtseins am deutlichsten dartun."

III.
Der Totalitätsbegriff
und die formalen Kategorien

11. Begriff, Urteil und Schluß bezeichnen verschiedene Formen und Grade logischer Totalität. Der Begriff ist eine Gedankentotalität, in welcher eine Gruppe von Kennzeichen in einer bestimmten Weise verknüpft sind. Das Urteil ist eine Gedankentotalität, in welcher eine Gruppe von Begriffen nach ihrem gegenseitigen Verhältnis verknüpft sind. Der Schluß ist eine Gedankentotalität, in welcher mehrere Urteile nach der Weise, in welcher sie gegenseitig einander voraussetzen, verknüpft sind.

Am deutlichsten tritt die formale Totalität im Schluß hervor. Jedes Glied ist hier in der innerlichsten Weise, nämlich mittels der Identität eines einzelnen Begriffs, an die anderen geknüpft. Und im Verhältnis, das so zwischen verschiedenen Urteilen hervortritt, macht sich der Begriff der Rationalität geltend. Alle Prämissen zusammengenommen enthalten schon den Schlußsatz und jede einzelne Prämisse ist nur in ihrer Verbindung mit anderen Prämissen von Bedeutung. Eine solche innerliche Einheit von Gedanken, mittels welcher jeder einzelne Gedanke die anderen trägt und von ihnen getragen wird, ist das große Ideal der Philosophie. GOETHEs Mephistopheles spottet über die Art, in welcher die formale Logik die einzelnen Glieder dieser Totalität unterscheidet und hervorhebt. Dieser Spott ist aber nur berechtigt, wenn "das geistige Band" fehlt. Daß ein Organismus disseziert [zergliedert - wp] werden kann, widerspricht nicht dem, daß er, solange er lebt, eine Totalität ist. Freilich lassen nicht alle Darstellungen der formalen Logik die Gedankentotalität in ihren verschiedenen Formen zu ihrem Recht kommen. Die Sprache verursacht hier oft Schwierigkeiten, indem die einzelnen Kennzeichen, Begriffe und Urteile schon durch ihre besonderen sprachlichen Bezeichnungen eine anscheinende Selbständigkeit einander gegenüber bekommen und dem Zusammenhang, in welchem sie vorkommen, gegenüber gleichgültig zu sein scheinen. Es würde doch unrecht gegen die Sprache sein, wenn man nur diese Seite der Sache betonen wollte. Denn die Sprache zeigt eben dadurch ihren genauen Zusammenhang mit dem Gedanken, daß das einzelne Wort und der einzelne Satz nur dann ganz verständlich werden, wenn sie auf eine Totalität bezogen werden - entweder auf die sprachliche Totalität, das ganze System von Worten und Sätzen, zu welchem sie gehören oder auch auf die ganze konkrete Situation, in welcher sie ihren Ursprung haben. (1) Es ist immer einer Abstraktion, oft einer unzulässigen Abstraktion zu verdanken, wenn das einzelne Wort oder der einzelne Satz aus dem sprachlichen oder realen Zusammenhang, in welchem sie vorkommen, herausgerissen werden.

Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, alle Erlebnisse in einen großen Zusammenhang hineinzubringen, der in der von unseren Begriffen, Urteilen und Schlüssen gebildeten Gedankentotalität sein Vorbild hat. Die kritische Philosophie behauptet hier, im Gegensatz zum Dogmatismus in seinen verschiedenen Formen, daß nur eine fortschreitenden Durchführung einer großen Analogie erreicht werden kann, daß wir aber kein Recht haben, diese Analogie als eine Identität aufzufassen. Schon bei diesem Gesichtspunkt stellen sich Aufgaben genug ein. Denn es gibt mehrere verschiedene Gedankentotalitäten, jede für ihr Erfahrungsgebiet geltend und die Frage ensteht, ob diese verschiedenen Gedankentotalitäten zu einer einzigen Gedankentotalität zusammengearbeitet werden können. Und innerhalb jeder einzelnen Gedankentotalität entsteht die Frage, ob sie das Erfahrungsgebiet, dem sie entspricht, erschöpft, - oder der Begriff alles, was in der Anschauung "liegt", enthält - ob das Prädikat des Urteils den Inhalt des Subjekts erschöpft, - ob der Schluß alles, was in den Prämissen enthalten ist, wiedergibt.

Eine Bedingung der Begriffsbildung ist, daß die Erlebnisse in einer bestimmten Weise geordnet sind, so daß ihr gegenseitiges Verhältnis klar hervortreten kann. Soll der Begriff  Pferd  gebildet werden, müssen die verschiedenen Rassen und Variationen, jetzige und fossile Formen in einer Reihe geordnet werden und der Begriff drückt dann das Verhältnis zwischen diesen verschiedenen Formen, ihre Ähnlichkeiten und ihre Verschiedenheiten aus. Die Urteilsbildung und der Schluß setzen die Ordnung der Begriffe in einer rationalen Reihe voraus.

Alle solche Reihenbildungen gehen darauf aus, den Inhalt einer vorläufig gebildeten Erlebnisgruppe (einer Erlebnistotalität) so zu ordnen, daß eine eingehende Analyse stattfinden kann. In jedem einzelnen Fall wird mehr, als die vorliegende Aufgabe erheischt, gegeben sein. Die ganze Reihe  A < B < C < D  gebrauche ich nicht, wenn ich nur das Verhältnis zwischen B und D zu bestimmen wünsche; ich lasse dann  A  außer Betracht und  C  gebrauche ich nur als Zwischenglied, das herausgeschoben werden kann. Die analytische Methode geht vom Gedanken einer Aufgabe (des Verständnisses einer Totalität) aus und es gilt dann zu entscheiden, welche Teile der vorliegenen Reihe gebraucht werden müssen und welche überflüssig sind. Eine Entdeckung wird oft dadurch gemacht, daß die vorliegenden Erlebnisse unterschieden werden und dann diejenigen, die angewandt weren können, gewählt werden. Wie POINCARÉ sagt: "Inventer, c'est discerner, c'est choisir." (2) [Erfinden heißt entscheiden, heißt auswählen. - wp]

12. Die formale Logik hat beinahe ausschließliche solche Begriffe berücksichtigt, die aus der Anschauung gezogen und in einer Stufenreihe geordnet werden können, so daß der folgende Begriff immer einen minderen Inhalt, aber einen größeren Umfang als der vorausgehende hat. Sie ist seit ARISTOTELES von der Klassifikation beherrscht gewesen. Es ist dabei eine Voraussetzung, daß die ersten Begriffe in der aufsteigenden Reihe, nämlich Individualbegriffe, fertig und vollständig sind, ehe zu den Allgemeinbegriffen übergegangen wird.

Aber wenn man das Verhältnis zwischen einem Individualbegriff und den Erlebnissen, denen er entsprechen soll, näher erwägt, sieht man die Notwendigkeit ein, zwei Arten von Individualbegriffen, für welche ich in meiner Psychologie die Benennungen konkrete und typische Individualbegriffe vorgeschlagen habe, zu unterscheiden. Wenn ein Erlebnis (oder eine Erlebnisgruppe) Veränderungen unterliegt und verschiedene Stadien durchläuft, kann man das innere Verhältnis zwischen diesen verschiedenen Stadien, das Gesetz, nach dem das eine das andere ablöst, als das Entwicklungsgesetz des vorliegenden Erlebnisses, der gegebenen Totalität, zu bestimmten suchen. Von jedem einzelnen Stadium kann man einen konkreten Individualbegriff haben. Die Bildung eines typischen Individualbegriffs setzt eine Reihe konkreter Individualbegriffe in einem bestimmten gegenseitigen Verhältnis als seine Glieder voraus. So z. B. in dem Begriff, den eine Biographie uns von einer menschlichen Persönlichkeit zu geben vermag: die verschiedenen Entwicklungsstufen geben je ihren verschiedenen Beitrag zur Charakteristik der Persönlichkeit als Totalität. Je reicher und zugleich bestimmter der typische Individualbegriff ist, umso besser wird man von ihm aus rückwärtsgehend die einzelnen Stadien der vorliegenden Entwicklung verstehen. Das Charakteristische der typischen Individualbegriffe ist, daß sie sich zu den entsprechenden konkreten Individualbegriffen nicht wie eine Art zu seinen Individuen, sondern wie ein Ganzes zu seinen Teilen verhält. Das Ganze enthält hier das Gesetz, nach welchem das eine Stadium das andere ablöst. Und hier können Inhalt und Umfang miteinander wachsen, was mit den im Dienste der Klassifikation gebildeten Begriffen nicht der Fall war.

In der neueren Zeit zeigt sich eine Tendenz dazu, typische Individualbegriffe an die Stelle der Allgemeinbegriffe zu setzen. Zu Allgemeinbegriffen kann man aufsteigen; man kann aber ohne Hilfe von Wahrnehmungen nicht von ihnen zu den untergeordneten Begriffen niedersteigen. Die Analyse führt uns ja nicht vom Teil zum Ganzen, sondern nur vom Ganzen zum Teil und der Allgemeinbegriff gibt uns nur einen Teil vom Inhalt der Individualbegriffe. Schon bei BRUNO und BACON tritt diese Tendenz hervor, indem sie, wie schon erwähnt, die platonischen "Ideen" als Begriffe von Gesetzen auffaßt. SPINOZA verwirft die Allgemeinbegriffe (abstracta et universalia) und fordert statt dessen Gesetze, die sich in gleichem Grad im Ganzen wie in seinen Teilen geltend machen; in diesen Gesetzen findet er einen Ausdruck der Eigentümlichkeit des Daseins, in dem sie fest und ewig sind und doch von individueller Eigentümlichkeit. Hiermit hängt es zusammen, daß er die Natur als ein großes Individuum auffaßt. Sein Naturbegriff ist ein typischer Individualbegriff. LEIBNIZ (3) hat den typischen Individualbegriff direkt aufgestellt, indem er das Wesen der Individualität im Gesetz der Reihe ihrer Wirksamkeiten findet. Später sah LOTZE , daß, wo ein Begriff das Gesetz einer Entwicklung (ein Bildungsgesetz) ausdrückt, gilt die Regel vom umgekehrten Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang nicht. (4)

Die Frage ist nun, in welchem Umfang solche typischen Individualbegriffe gebildet werden können. Auf allen Erfahrungsgebieten müssen wir sie erst mit Mühe auf Grundlage von Wahrnehmungen, die nicht als erschöpfend dargetan werden können, bilden. Die Charakteristik einer Persönlichkeit, eines Volkes oder einer Periode, die von historischer Forschung ausgearbeitet und dann zur Beleuchtung einzelner Charakterzüge und Begebenheiten dienen kann, muß selbst auf der Grundlage von Berichten und Wahrnehmungen gewonnen werden und steht immer als Hypothese da. Die Ethik analysiert einen typischen  Individalbegriff,  ein Vorbild (eine ideale Gemeinschaft oder eine ideale Persönlichkeit), das durch den Grundwert, den den ethischen Gedankengang trägt, bestimmt wird. Ethische Urteile stellen die Eigenschaften und Handlungen fest, die kraft dieses durch Vorbildes von der empirischen Gemeinschaft und der empirischen Persönlichkeit gefordert werden. Die Erkenntnistheorie analysiert einen typischen Individualbegriff menschlichen Denkens sich im unwillkürlichen Bewußtseinsleben und in der Geschichte der Wissenschaft betätigt, bestimmt ist. Die einzelnen Kategorien und Grundsätze werden durch die Analyse dieses Begriffs gefunden.

Sollte aber ein Denken nicht möglich sein, das die typischen Individualbegriffe, die die Grundlage der Analyse bilden, selbst konstruieren könnte, ohne daß die Wahrnehmung bei jedem Schritt zuhilfe gerufen würde? Dann würde die Totalität, die das Verständnis bedint, das eigene Werk des Gedankens sein. - Diese Frage führt uns zu einer Untersuchung der Verhältnisses zwischen Logik und Mathematik.

13. KANT hat schon darauf aufmerksam gemacht, daß Raum und Zeit keine bloßen Allgemeinbegriffe sind. Die einzelnen Räume verhalten sich zum Raum überhaupt nicht nur wie ein Individuum zu seiner Art (z. B. das einzelne Pferd zur Spezies Pferd), sondern auch wie ein Teil sich zum Ganzen verhält. Der Raum ist aus Räumen zusammengesetzt. "Man kann sich", sagt KANT (5), "nur einen einzigen Raum vorstellen und wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Teile eines und desselben alleiningen Raumes." Und wie mit dem Raum, verhält es sich auch mit der Zeit. In diesen zwei Begriffe haben wir ein Beispiel von etwas, das - um den alten Ausdruck zu gebrauchen - in gleicher Weise vom Ganzen und von den Teilen gilt.

Wir finden bei KANT auch Aufschlüsse darüber, wie diese typischen Individualbegrffe entstehen. Es geschieht durch "die Synthesis des Gleichartigen." Ich kann immer wieder Punkt auf Punkt, Linie auf Linie, Fläche auf Fläche, Volumen auf Volumen folgen lassen, nach demselben Gesetz, nach welchem ich angefangen habe. Und die Zahl ist nichts andere als die durch Synthese hervorgebrachte Einheit einer in gleichartiger Anschauung gegebenen Mannigfaltigkeit. (6)

Raum Zeit und Zahl sind also typische Individualbegriffe, die durch das Zusammenfassen einer Reihe ganz gleichartiger Verschiedenheit konstruiert werden. Es ist die Einheit des Gesetzes innerhalb der Reihe, wodurch die Konstruktion solcher Totalitäten möglich wird.

In Analogie mit dem der Mathematik zugrunde liegenden typischen Individualbegriffe hat nun KANT weiter, als er die Voraussetzungen der Naturwissenschaft suchte, einen Begriff der "Erfahrung" oder der "Natur" als einer Totalität gesetzmäßig zusammenhängender Wahrnehmungen konstruiert. (7) und nur auf dieser Konstruktion als Grundlage wird es ihm möglich, ein System von Grundsätzen, die im voraus für alle Erscheinungen gelten können, aufzustellen. Besonders deutlich tritt dies bei seiner Begründung des Kausalitätssatzes hervor.

"Erfahrung", ist in KANTs Bedeutung des Wortes, ein typischer Individualbegriff. Innerhalb der "Erfahrung" (oder der "Natur"), in dieser Bedeutung des Wortes, verhalten sich alle Erlebnisse als Grund zur Folge oder als Folge zum Grund. Dieses logische Grundverhältnis wiederholt sich überall, wie sich in der Welt des Raumes, der Zeit und der Zahl die gleichen anschaulichen Verhältnisse auf jedem Punkt wiederholen. Alle exakte Wissenschaft baut also auf typische Individualbegriffe, deren Konstrutktion (die nicht immer mit vollem Bewußtsein geschieht) dadurch möglich ist, daß es immer in der Macht des Denkens steht, sich selbst durch stetige Befolgung derselben Regel des Fortschrittes zu wiederholen.

Alle diese Konstruktionen bauen auf einem Prinzip, durch welches mathematisches Denken von formal logischem Denken verschieden ist. Rein logisch hat die Wiederholung keine Bedeutung. Kombination eines Begriffes mit ihm selbst hat kein Bedeutung; weder Inhalt oder Umfang werden dadurch geändert. Einer absoluten Identitätsreihe gegenüber steht die reine Logik ebenso ohnmächtig, wie sie es einer chaotischen Verschiedenheitsreihe gegenüber tut. Die Erkenntnistheorie hat aber mehr Aufgaben, als die der formalen Logik; sie soll auch die Voraussetzungen mathematischer Und exakt naturwissenschaftlicher Erkenntnis untersuchen. Und hier zeigt sich eben die Möglichkeit einer positiven Bedeutung der Wiederholung. Ohne Hilfe von Wahrnehmungen können wir einen und denselben Gedankenakt wiederholen und dadurch können wir Reihen gleichartiger Glieder hervorbringen, die dann zu Totalitäten verschiedenen Grades zusammengefaßt werden können. Dies mein KANT eben mit seiner "Synthesis des Gleichartigen". Während die reine Logik an einer chaotischen Verschiedenheitsreihe Halt machen muß, nimmt die Mathematik hier ihren Anfang, indem sie darauf aufmerksam macht, daß, weil eben alle Glieder voneinander gleich verschieden sind, so daß keine Ordnung möglich ist, haben die Glieder das Gemeinsame, daß sie identischen Gedankenakten zu verdanken sind und daß die Gegenstände dieser Gedankenakte zu einem Ganzen zusammengefaßt werden können. Und während die formale Logik andererseits an einer absoluten Identitätsreihe haltmachen muß, macht mathematisches Denken darauf aufmerksam, daß es doch eine Reihe verschiedener Gedankenakte ist, durch welch die identischen Begriffe hervorgebracht wurden. Von beiden Seiten tritt also die Möglichkeit einer identischen variierenden Verschiedenheitsreihe hervor. Eine solche liegt deutlich dem Zahlbegriff zugrunde, - tritt aber nicht minder in der Reihe der Orte im Raum, der Augenblicke in der Zeit und der Stufen einer Gradskala auf, wenn man die qualitativen Verschiedenheiten der Orte, der Augenblick und der Grade außer Betracht läßt.

In "Der menschliche Gedanke" (Seite 197 der dt. Übersetzung) habe ich zwar die Bedeutung der Möglichkeit einer Elimination der Qualitätsverschiedenheiten an den Begriffen Zeit, Zahl, Gad und Ort hervorgehoben, indem dadurch eine rationale Behandlung, die auf dem Weg der Analogie auch dem Verständnis anderer Qualitätsverschiedenheiten zugute kommen kann, ermöglicht wird. Ich habe aber da noch nicht klar gesehen, daß ein und dasselbe Prinzip, die positive Bedeutung der Wiederholung, sich bei allen jenen vier Kategorien geltend macht. Ich habe nur bei der Genesis der Zahl diese Bedeutung hervorgehoben; und hier ist sie ja auch zuerst aufgewiesen worden, wie sie auch da besonders deutlich ist.

LEIBNIZ hat zuerst gesehen, daß die positive Bedeutung der Wiederholung die Grenze zwischen Logik und Mathematik bildet; (8) nur hat er nicht gesehen, daß, wenn auch immer dieselben Gegenstände gezählt werden, doch eine Reihe von verschiedenen Gedankenakte (ein, noch ein, noch eins usw.) vorliegt. KANT legt, wie wir gesehen haben, "die Synthesis des Gleichartigen" seiner Erkenntnistheorie zugrunde und hat seinen Begriff der "Erfahrung" oder der "Natur" in Analogie mit den Begriffen Raum, Zeit und Zahl konstruiert. Man hat gemeint, daß KANT hier von MAUPERTUIS beeinflußt wäre, der, um die Möglichkeit der Mathematik zu erklären, darauf hinweist, daß die Erfahrung eine gewisse Möglichkeit von Wiederholung (réplicabilité) zeigt, indem Naturdinge ohne wesentliche Verschiedenheit wieder vorkommen; aus solchen Erfahrungen hätte dann die Mathematik ihren Begriff einer Totalität, die durch einfache Wiederholung hervorgebracht wird, geholt. (9) KANT legt aber das Gewicht auf das Vermögen des Denkens, einen und denselben Akt zu wiederholen. Und erst als er auf einem anderen Weg (10) den Synthesebegriff gefunden hatte, konnte er die große erkenntnistheoreteische Bedeutung des positiven Charakters der Wiederholung als Bedingung einer "Synthesis des Gleichartigen" mittels "der durchgängigen Identität der Apperzeption" (11) einsehen. - Es ist merkwürdig und es ist zugleich ein wichtiger Ausgangspuknt einer Kritik der Kantischen Erkenntnistheorie, daß, während er bei den typischen Individualbegriffe, die die Grundlage der reinen Mathematik bilden, ausdrücklich und weitläufig die Frage nach der Berechtigung ihrer Anwendung auf gegebene, nicht von uns konstruierte Erlebnisse behandelt, wirft er keine entsprechende Frage wegen des von ihm selbst konstruierten Begriffs der "Erfahrung" oder der "Natur" auf. Dies kommt gewiß davon, daß KANT selbst darüber nicht ganz klar gewesen ist, daß seine "synthetischen Urteile a priori" mit den Urteilen, die aus einer "Synthesis des Gleichartigen" entspringen, identisch waren. Und das hängt wiederum mit seiner unglücklichen Distinktion zwischen "Ästhetik" und "Analytik" zusammen.

Im neunzehnten Jahrhundert hat BOOLE das Verhältnis zwischen Logik und Mathematik vom Gesichtspunkt der positiven Bedeutung der Wiederholung aus eingehend erörtert. Ebensowenig wie KANT hat er die Abhandlung von LEIBNIZ über diese Frage gekannt (sie wurde erst 1840 in der Ausgabe J. E. ERDMANNs gedruckt, die BOOLE nicht zugänglich gewesen ist). Er drückt den Unterschied so aus (12), daß rein logisch  x = x2 ist, aber mathematisch gilt das nur für  x = 1  oder  x = 0.  In der neuesten Zeit hat HENRI POINCARÉ auf dieses Verhältnis ein Licht geworfen. Weder Erfahrung noch rein logische Analyse erklärt, behauptet er, die mathematische Induktion, d. h. die Beweisführung per récurrence, deren Prinzip ist, daß, was für  n  gilt, auch für n + 1 gilt. Dieses Prinzip entspricht nach POINCARÉ dem, was KANT ein apriorisch-synthetisches Urteil nennt und es macht auf einmal eine Erweiterung des Inhalts und des Umfangs unserer Begriffe möglich. Das Prinzip selbst hat in der Möglichkeit, einen Akt (wenn dieser überhaupt möglich ist) zu wiederholen, seinen Grund. (13)

Doch sind nicht alle Wiederholungen eines Gedankenaktes gleich fruchtbar. Der Akt, sich seiner bewußt zu werden, sein Ich (seine Zustände, seine Arbeit, seine Lebensverhältnisse) zum Gegenstand seines Denkens zu machen, kann formell immer wiederholt werden. Das Ich, das sich seiner selbst bewußt wird, kann selbst der Gegenstand eines neuen Selbstbewußtseinsaktes werden und so fort. Eine solche Reihe  (S1 {S2 {S3 {S4 ...)  ist schon oben, bei der Besprechung der Möglichkeit einer erkenntnistheoretischen Prüfung der Erkenntnistheorie, erwähnt worden. Hier kehren wir zu ihr zurück, um ihren Unterschied von den Reihen, durch welche die Begriffe Zeit, Zahl, Grad und Ort konstruiert werden, zu bemerken. In diesen Reihen ist das Wiederholte immer von derselben Qualität, so daß das folgende Glied immer nur eine Fortsetzung des vorhergehenden; aber in der Objektivierungsreihe ist jedes neue Glied, jedes neue  S,  eben infolge der Objektivierung, mehr oder minder verschiedenartig im Verhältnis zum vorhergehenden. Sich seiner selbst bewußt zu werden, ist nimmer ohne Wirkung. Es kann Kritik oder Verständnis, aber auch subjektive Verstrickung bedeuten. Es kann Reichtum, aber es kann auch Armut bedeuten. Der historische Charakter des Geisteslebens verhindert, daß die Wiederholung des Objektivierungsaktes eine solche Bedeutung als wissenschaftliche Konstruktion, wie sie die vier erwähnten Reihen besitzen, erhalten kann. Der Objektivierungsprozeß kann große psychologische und historische Bedeutung haben, aber diese verschafft nicht, wie die Philosophie der Romantik meinte, eine neue erkenntnistheoretische Grundlage.

14. Schon das formale Denken hat sein Wahrheitskriterium. In der reinen Logik und Mathematik ist alles wahr, was keinen Widerspruch enthält. Aber dieses negative Kriterium setzt eine vorausgehende positive Entfaltung von Anschauungen und Vorstellungen, einen unwillkürlichen, vielleicht unbewußten Bildungsprozeß voraus. Hier wirkt ein in der Natur des Bewußtseins tief gegründeter Drang der Supplierung und Expansion mit, ein Drang, einen Zustand ganz und voll zu durchleben und ihn solange als möglich fortzusetzen. Die sogenannten Gesetze der Vorstellungsassoziation sind nur besondere Formen dieser Tendenz, die in HUMEs Erkenntnispsychologie eine so große Rolle spielt. Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsverhältnisse machen sich hier gleichzeitig in einer interessanten Weise geltend. Denn die Expansion wird besonder durch solche Wahrnehmungen und Erlebnisse ausgelöst werden, die durch die Intensität oder ihre Gefühlswirkung das Bewußtsein in starke Bewegung versetzen. Ein doppeltes Bedürfnis wird dann walten: einerseits, das Erlebnis festzuhalten, um sich darin zu vertiefen, andererseits, den vollen Ablauf der ausgelösten Energie zu haben, was zu einem Hinausgehen über das einzelne Erlebnis führen wird. Dieses doppelte Bedürfnis führt daher auf einmal zu einer Vertiefung in das Erlebnis und zu einem Übergang zu mehr oder minder verwandten Zuständen. Hier machen sich die verschiedenen Ähnlichkeitsgrade, besonders die Analogie, geltend. Phantasie (in engerer Bedeutung) ist eine spezielle Form solcher psychischen Prozesse. Eine Hemmung der unwillkürlichen Entfaltung tritt erst ein, wenn auf irgendeine Weise zwei Erlebnisse oder zwei Glieder der unwillkürlich gebildeten Reihen zusammengehalten werden, ohne doch vereinigt werden zu können, weil das eine zerstört, was das andere erbaut. Dann kracht die unwillkürlich gebildete Totalität in ihren Fugen.

Obgleich das negative Kriterium so in einem scharfen Gegensatz zur positiven Entfaltung und Totalitätsbildung steht, ohne welche es gar nicht angewandt werden könnte (daher positive Urteile immer den negativen vorausgehen), ist es doch selbst ein Zeugnis von der synthetischen, totalitätsbildenden Natur des Denkens. Das Bewußtsein eines Widerspruchs setzt voraus, daß die einander widersprechenden Glieder zu einer versuchten Totalitätsbildung zusammengehalten werden. Wenn die Erlebnisse Glieder verschiedener Totalitäten wären, würde der Widerspruch nicht entdeckt werden, wenigstens nicht, ehe die zwei Totalitäten analysiert sind und ihre Glieder dann versuchsweise miteinander verbunden würden. Die Synthese tritt dann besonders deutlich in einem Widerspruch hervor, dessen man sich bewußt wird, wie überhaupt alle Zustände der Geteiltheit (Zweifel, Kummer, Reue) den synthetischen Charakter des Bewußtseins am deutlichsten dartun. Das negative Kriterium ist also der Ausdruck einer Eigentümlichkeit des Denkens selbst. Schon hier ist unser Geist das Vorbild von allem, was ihm ein Gegenstand werden können wird oder wie KANT es in einer älteren Aufzeichnung (14) ausgedrückt hat: "Ich bin selbst das Original aller Objekte."

Das formale Denken hat jedoch auch ein positives Kriterium. Das formale Denken geht nicht nur darauf aus, das Widersprechende als unhaltbar auszuschließen, sondern bringt selbst durch Substitution und Elimination neue Verbindungen, neue unmittelbare Verhältnisse hervor. Bald geht die Substitution der Elimination voraus, bald fallen sie zusammen. Wenn ich zwei Urteile  A = B  und  B = C  habe, kann ich den Ausdruck für  B  im einen Urteil in das andere Urteil einsetzen und ich habe dann  A = C,  indem  B  dann wegfallen kann. Habe ich dagegen die Reihe  A = B = C,  eliminiere ich  B,  in der Voraussetzung, daß das  B,  zu welchem ich von  C  aus komme, dasselbe ist wie das, zu welchem ich von  A  aus komme. Es ist ein und derselbe Prozeß, der in zwei verschiedenen Weisen ausgedrückt wird.

Das negative Kriterium beantwortet eine Frage, die gewissermaßen durch die zuversichtliche, positive Entfaltung gestellt wird:  "Warum nicht?  Warum nicht in derselben Weise wie bisher fortsetzen?" Das positive Kriterium beantwortet auch eine Frage:  "Warum?  Warum diese neue Verbindung aufstellen?" - Auf beiden Wegen tut sich die Rationalität kund. (15) auf beide Weisen können Schlüsse gezogen, Übergänge vom Grund zur Folge gemacht werden.

Grund und Folgen (z. B. eine Reihenbildung und die neuen, aus ihr folgenden Verhältnisse) machen eine logische Totalität aus. Eine vollkommene logische Totalität wird aber nur erreicht, wenn die Folge nicht nur aus dem Grund abgeleitet werden, sondern der Schluß umgekehrt werden kann, so daß volle, d. h. zweiseitige, logische Äquivalenz zwischen den Gliedern der logischen Totalität besteht. Wo aber der Schluß durch Elimination (diese trete nun nach der Substitution ein oder nicht) erreicht ist, kann er nicht umgekehrt werden. Aus der Reihe  A = C  kann ich die Reihe  A = B = C  nicht ableiten. Solange die Prämissen mehr inhaltsreich als die Konklusion sind - also z. B. solange der Gedanke auf der Grundlage eines unmittelbar Gegebenen, das ein größeres Ganzes als er selbst ist, arbeitet -, so lange kann die logisch Äquivalenz, die das logische Ideal ist, nicht erreicht werden. Freilich, wenn man im voraus alle solche Glieder der vorliegenden Erlebnisse, die in den Schlußsatz nicht eingehen, eliminiert, kann man logische Äquivalenz erreichen. So war es den Grundlegern der modernen Naturwissenschaft klar, daß man von den Sinnesqualitäten absehen muß, wenn man ein rationales System, das als der intellektuelle Ausdruck der Veränderungen in der Welt stehen kann, haben will. Die Frage bleibt dann doch immer zurück, wie sich das so gewonnene intellektuelle Resultat zu den Qualitätsreihen, deren besondere Eigenschaften man außer acht gelassen hat, verhält. Zu dieser Frage komme ich später zurück.

Die Wahrheit, die der Gedanke finden kann, ist eine neue Totalität, die an die Stelle der unwillkürlich gebildeten Totalität tritt, welche die Grundlage der Gedankenarbeit war. Und die Berechtigung dieser Substitution beruth darauf, daß die Voraussetzung der Wahrheit als Totalität mehr zu ihrem Recht kommen kann, als in der unwillkürlich gegebenen Totalität. Diese Voraussetzung liegt jeder Frage, die gemacht werden kann, jeder Aufgabe, die gestellt werden kann, zugrunde. Innerhalb der Totalität, in der die Wahrheit bestehen soll, kann nichts fehlen, das aus dem Zusammenhang gefordert ist; nichts kann unbestimmt dastehen; kein Glied kann einem anderen Glied widersprechen; - ja, die Glieder oder die Teile müssen einander gegenseitig bestimmen und mittels des Gesetzes, durch das sie innerhalb der Totalität verbunden sind, auseinander abgeleitet werden.

15. Nur auf dem Weg der Analyse entsteht wissenschaftliche Wahrheit; die Analyse selbst setzt aber, wie oben gezeigt, eine unwillkürliche Synthese voraus. Wie ich es in meiner Abhandlung über Intuition (vgl. oben §2) ausgedrückt habe: Wir leben unmittelbar und unwillkürlich in konkreten und praktischen Intuitionen, aber der Weg der Wissenschaft geht durch analytische Intuitionen, d. h. durch Bewußtseinsakte, durch welche Identität oder Verschiedenheit vorliegender Erlebnisse konstatiert wird. Jedes einzelne Glied einer Beweisführung besteht in einer analytischen Intuition (16). Durch sie werden wir uns bewußt, welche Elemente in den vorliegenden Erlebnissen enthalten sind. Sie ist der Nerv jedes zusammenhängenden Gedankenganges und bezeichnet jeden Übergang innerhalb desselben. Durch eine Reihe analytischer Intuitionen kann dann vielleicht eine synthetische Intuition, die uns einen zusammenfassenden Überblick über die Gedankenwege und ihre Resultate gibt, entstehen. Aber schon die Analyse selbst, die Bestimmung der Identitäten und die Verschiedenheiten in den einzelnen Gedankenvorgängen, setzt ein Zusammenfassen der als identisch oder als verschieden betrachteten Glieder voraus. Während der Entwicklung der Erkenntnis äußert sich also eine beständige Wechselwirkung von Synthese und Analyse.

Darum war es eine unmögliche und unnötige Distinktion, die KANT durch seine scharfe Sonderung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen einführen wollte. Jedes Urteil muß synthetisch sein, weil in ihm etwas verbunden wird, das früher für den Gedanken nicht verbunden war, obgleich es sich vielleicht jetzt in den Erlebnissen, mit welchen sich der Gedanke beschäftigt, verbunden zeigt. Und jedes Urteil ist analytisch, weil sein Prädikat im vorliegenden Erlebnis enthalten sein muß, wenn das Urteil richtig sein soll. Bei analytischen Urteilen dachte KANT an solche Urteile, in welchen das Subjekt (der Ausgangsvorstellung, das Erlebnis) die ganze zu analysierende Totalität ausmacht. Es kann doch aber hier keinen prinzipiellen Unterschied machen, ob ich ein einzelnes Erlebnis oder eine Mehrheit von Erlebnissen anylsiere. Die Beschränkung auf ein einzelnes Erlebnis, eine einzelne Ausgangsvorstellung wird immer mehr oder minder künstlich sein. Wenn ich sage: "Der Mann ist gut" und dieses Urteil aus erster Hand bilde, finde ich en Anlaß des Prädikates "gut" in Wahrnehmungen der Handlungsweise des Mannes in verschiedenen Situationen, - weder im abstrakten Begriff noch im einzelnen Anschauungsgebilde. Ich stelle den Mann in verschiedenen Relationen vor. So auch, um KANTs Lieblingsbeispiel zu gebrauchen, wenn ich sage: "Die Körper sind schwer." Ich habe dann die einzelnen Körper als Glieder eines ganzen Systems von Körpern gesehen und das Prädikat "schwer" taucht durch Analyse der Verhältnisse innerhalb dieses Systems auf. Es sind immer typische Individualvorstellungen, die in den sogenannten "synthetischen" Urteilen analysiert werden. Daher mußte KANT , wie wir oben sahen, den typiscchen Individualbegriff "Erfahrung" oder "Natur" bilden, um seinen "apriorisch-synthetischen" Urteilen eine reale Bedeutung geben zu können.

Die sogenannten "analytischen" Urteile sollen nach KANT nichts Neues bringen. Aber warum bilden wir dann solche Urteile? Welches Bedürfnis wird durch sie befriedigt? Urteile sind ursprünglich Prädikatsurteile. Es ist das Prädikat, das das Neue bringt. Daher kann die Sprache Sätze haben, in welchen kein logisches Subjekt ausgedrückt ist. - KANT räumt denn auch ein, daß selbst die "analytischen" Urteile etwas Neues bringen. Denn er sagt in der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik, daß in solchen Urteilen das Prädikat "versteckterweise" oder "verworn" im Subjekt enthalten ist. In der ersten Ausgabe wird dasselbe dadurch ausgedrückt, daß in "analytischen" Urteilen mein Begriff des Subjektes "auseinandergesetzt und mir selbst verständlich gemacht" (17) wird. Aber dann gibt es hier ja etwas Neues: das Versteckte wird hervorgezogen, das Verworrene wird klar und ich verstehe erst jetzt meinen eigenen Begriff. Die Frage ist nur die, ob dies erreicht wird, ohne daß man über das einzelne Erlebnis hinausgeht und es in Verbindung mit anderen Erlebnissen bringt. Rein analytische Urteile gibt es eigentlich gar nicht. Sogar das Urteil  A = A  ist nicht rein analytisch. Dieses Urteil ist eine Definition von dem, was ich unter "Begriff" verstehe und zugleich eine Behauptung, daß hier ein Voraussetzung jedes Schließens, jeder analytischen Intuition vorliegt. Die Totalität, die seiner Aufstellung zugrunde liegt, ist die Forderung, welche der Schluß zu den Vorstellungen, die seine Glieder sein sollen, stellt. "Versteckterweise" liegt also jener Satz in jedem Schluß, in jedem Versuch einer Beweisführung, nicht in  A  an und für sich (18).

Wie wir oben (§ 13) gesehen haben, werden mathematische Grundsätze auf der Grundlage einer Intuition oder "Induktion", die kraft desselben Gesetzes oder derselben Tendenz, wodurch sie entstanden ist, immer wieder erneuert werden kann. POINCARÉ hat, scheint es mir, moderne Versuche, die mathematischen Grundsätze als "analytische" aufzufassen, widerlegt und er hat KANTs "synthetische Sätze a priori" als auf Analyse einer mathematischen, auf dem "loi de récurrence" [Gesetz der Wiederholung - wp] gegründeten Induktion beruhend interpretiert.

Wie weit die Analyse gehen soll bei der Aufstellung der ersten Definitionen der Geometrie, ist eine Frage, die verschieden beantwortet worden ist. Nach der strengen platonisch-euklidischen Auffassung soll man hier zur Grenze gehen, - zum Punkt als Grenze der Linie, zur Linie als Grenze der Fläche, zur Fläche als Grenze des Körpers und die mathematischen Sätze gelten nur für diese idealen Fälle. Die Tangente berührt den Zirkel nur in einem einzigen Punkt und zwischen zwei Punkten kann nur eine einzige rechte Linie gezogen werden. Im Altertum wendet PROTAGORAS gegen eine solche Auffassung ein, daß jede wirkliche Tangente den Zirkel in mehr als einem Punmkt berührt und wies überhaupt auf die sinnlichen Linien im Gegensatz zu den idealen Linien hin. (19) In neuester Zeit hat HJELMSLEV eine Darstellung der elementaren Geometrie gegeben, die keine idealen Definitionen aufstellt, sondern von den Linien und Figuren, die gezeichnet werden können, ausgeht. In diesen hat eine Tangente immer eine ganze Strecke mit dem Zirkel gemein und es kann mehr als eine rechte Linie zwischen zwei Punkten geben. Er begnügt sich mit der Erklärung, daß es wenigstens  eine  rechte Linie gibt, die durch zwei Punkte geht und daß der Fußunkt der auf der Tangente winkelrechten Linie in der dem Zirkel und der Tangente gemeinsamen Strecke  enthalten  sein muß. (20) Während die platonisch-euklidische Auffassung in ihrer Bestimmung der Begriffe Punkt und Linie an die Grenze geht - eine Grenze, die in unserem Anschauen niemals erreicht wird -, hält eine Auffassung wie die HJELMSLEVs daran fest, daß wir uns immer auf dem Gebiet des Anschauens bewegen und daß bei allen Tangenten, mit denen wir zu tun haben können, immer mehrere gemeinsame Punkte gegeben sind. - Zuletzt ist der Unterschied der zwei Auffassungen nicht groß. Sie hat aber erkenntnistheoretisches Interesse, indem sie das Verhältnis zwischen Gedankenarbeit und Anschauung beleuchtet. Beide Auffassungen erklären, daß wir über das Anschauen nicht hinauskommen; die eine betont aber die Annäherung an den idealen Maßstab, während die andere daran festhält, daß das Ideale ein Teil des Angeschauten selbst ist, obgleich dieses mehr als das Ideale enthält. (21)
LITERATUR - Harald Höffding, Der Totalitätsbegriff - Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, Leipzig 1917
    Anmerkungen
    1) Vgl. HÖFFDING, Der menschliche Gedanke (dt. Übersetzung), Seite 89 - 96
    2) HENRI POINCARÉ, Science et Méthode, Seite 48
    3) LEIBNIZ, Lettre á Arnauld, 1690; - Lettre á Basnage, 1698
    4) HERMANN LOTZE, Drei Bücher der Logik, Seite 50
    5) Kritik der reinen Vernunft, Seite 243
    6) Kritik der reinen Vernunft, Seite 242; cf. Seite 142f
    7) Kritik der reinen Vernunft, Seite 119, 156; cf 2. Auflage, Seite 185, 263
    8) LEIBNIZ, Opera philosophica, Ed. Erdmann, 1840, Seite 95
    9) MAUPERTUIS (Histoire de l'Acadiemie de Berlin, 1756, Seite 394) findet Wiederholbarkeit als faktische Eigenschaft an Zahl und Ausdehnung und zwar als die einzige Eigenschaft, durch welche sie sich von anderen sinnlichen Eigenschaften unterscheidet; er geht aber auf den Prozeß, wodurch Zahl und Ausdehnung erst möglich werden, nicht ein. CASSIRER (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit II, Seite 334, 495 und 725)), der die Aufmerksamkeit auf MAUPERTUIS' Abhandlung hingelenkt hat, meint, daß KANT in ihr einen Anknüpfungspunkt gefunden hat. KANT faßt aber die Wiederholung als eine Aktivität auf, durch welche reine Begriffe hervorgebracht werden. Und vorläufig wendet (wie CASSIRER selbst angibt) KANT diese Auffassung nur auf den Zahlbegriff an, erst später (nach der Entdeckung des Begriffs der Synthese) auch auf die Ausdehnung, während MAUPERTUIS von beiden auf einmal spricht. Das macht einen Einfluß unwahrscheinlich.
    10) Vgl. meine Abhandlung "Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgang Kants" (Deutsche Übersetzung in "Archiv für Geschichte der Philosophie" VII)
    11) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 133
    12) BOOLE, Investigations of the laws of thought, 1854, Seite 48f
    13) HENRI POINCARÉ, Science et Hypothése, Seite 23. - Vgl. jedoch die Bemerkungen PAUL TANNERYs im "Bulletin de la Société francaise de Philosophie III, Seite 126f
    14) Lose Blätter aus Kants Nachlaß I, Seite 19 - Vgl. über die philosophische Bedeutung der Negation HÖFFDING, Der menschliche Gedanke (dt. Übersetzung) Seite 220 - 223
    15) Vgl. "Der menschliche Gedanke" (dt. Übersetzung) Seite 223 - 226. - Vgl. oben § 10.
    16) DESCARTES hat in seiner  Regulae  den Begriff der analytischen Intuition deutlich aufgestellt. Später findet er sich bei LOCKE (Essay IV, 2, 1) und bei HUME (Treatise I, 3, 1 - 3).
    17) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Einleitung § 4 - Erste Ausgabe. Einleitung. Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urteile.
    18) In den letzten Jahren ist der Unterschied synthetischer und analytischer Urteile in der Französischen philosophischen Gesellschaft wiederholt diskutiert worden. Bulletin II (1902): COUTURAT, "Sur le rapport de la Logique et de la Métaphysique de Leibniz", Bulletin III (1903): PAUL TANNERY, "Le valeur de la classification cantienne des jugements en analytiques et synthétiques". COUTURAT will alle Urteile als analytische auffassen; PAUL TANNERY behauptet, daß jedes Urteil, je nach dem Gesichtspunkt, als analytisch oder synthetisch aufgefaßt werden kann.
    19) DIELS, Die Vorsokratiker, Seite 520
    20) HJELMSLEV, "Om den rette Linies Bestemmets ved to Punkter", Übersetzung der dänischen Gesellschaft der Wissenschaften, 1916, Seite 183
    21) Vgl. HOBBES, De Corpore XV, 2.