p-4 Kritik der wissenschaftlichen GrundbegriffeDer Relationsbegriff    
 
HARALD HÖFFDING
(1843-1931)
Der Totalitätsbegriff
[ 4 / 10 ]

I. Die Stellung der Kategorienlehre
II. Fundamentale Kategorien
III. Formale Kategorien
IV. Reale Kategorien
V. Totalität und Wert
VI. Totalität als Grenzbegriff
Anhang: Kategorientafel

"Im Wiedererkennen macht sich ein Zusammenhang mit den Nachwirkungen früherer Empfindungen geltend. Es gibt hier Prozesse, für welche die Sprache keine besonderen Namen hat, die aber Analogien zu dem bilden, was auf mehr entwickelten Bewußtseinsstufen im Verhältnis zwischen Erlebnissen, ihrer Deutung und den aus ihnen gezogenen Schlüssen hervortritt, - eine Analogie, die nicht mit Identität verwechselt werden darf."

"Einfache Sinnesempfindungen sind anscheinend schon kleine Totalitäten, die durch die Analyse nicht zu ihrem Recht kommen können. So ist z. B. die Empfindung des Rauhen eine Totalität von elementaren Empfindungen kleiner Unebenheiten, die jede für sich nicht bemerkt werden; keine einzelne Empfindung einer solchen einzelnen Unebenheit würde uns die Empfindung des Rauhen geben. - Durch diese Eigentümlichkeit des Bewußtseins wird der Drang, die Anschauung solange als möglich festzuhalten, verständlich."

"Unsere Selbsterkenntnis ist daher immer unvollkommen, ganz abgesehen davon , daß neue Erlebnisse kommen werden, solange das Leben dauert und daß dadurch fundamentale Änderungen innerhalb des Totalzusammenhangs, aus welchem durch Analyse die Vorstellung des Ichs hervorgehen sollte, bewirkt werden können. Auch hier wird es verständlich, warum wir uns solange als möglich an die Anschauung klammern. Wir berufen uns besonders dann auf unser  Gewissen,  wenn wir die Unzulänglichkeit der Analyse erfahren oder zu erfahren meinen."

"Das Leben fordert aber immer neue psychische Arbeit, indem die Synthese auf neuen Widerstand stößt. Und es wird außerordentlich schwierig sein, zu entscheiden, ob man im einzelnen Fall etwas ganz Unmittelbarem gegenübersteht oder ob nicht Überlieferung, Suggestion und Nachdenken mitwirken."

"Hume sah, wie Bergson, daß die erste Grundlage der Erkenntnis nicht selbst rational sein kann. Absolute Mannigfaltigkeit ist ebenso irrational, wie absolute Kontinuität. Sowohl die Diskontinuität als auch die Kontinuität stellten nur Aufgaben - jene, einen größeren Zusammenhang, diese, eine größere Verschiedenheit zu finden. Jedes Erlebnis bietet - sowohl in sich selbst, als auch in seinem Verhältnis zu anderen Erlebnissen - Kontinuität und Diskontinuität dar. Wollen wir von einem unmittelbar Gegebenen sprechen, dann müssen beide Kategorien angewandt werden."


II.
Der Totalitätsbegriff und
die fundamentalen Kategorien

9. Ohne unwillkürliche Totalitätsbildung würde das Nachdenken, das mit einer Analyse anfängt, nicht möglich sein. Eine konkrete Intuition, die Frucht einer Synthese, die kein Gegenstand des Bewußtseins gewesen ist, bildet die Grundlage allen Erkennens.

Weder ein absolut Einzelnes und Einziges noch ein absolutes Chaos könnte die Grundlage des Nachdenkens bilden. Die Tatsache, daß es analysierendes Nachdenken gibt, - diese Tatsache, die die Grundlage aller Wissenschaft ist, - beweist, daß der primäre psychische Prozeß in einer Totalitätsbildung besteht.

Das Nachdenken ist teils auf die wechselnden Totalitäten auf den Gebieten der Sinneswahrnehmung, der Erinnerung und der Phantasie, teils auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilen oder Eigenschaften einer einzelnen Totalität gerichtet. Jedes Erlebnis ist eine kleine Welt, die aber ein Teil einer größeren Welt ist und die zu anderen kleinen Welten in Beziehung steht. Jedes Erlebnis hat, wie man es ausgedrückt hat, Fransen oder Risse am Rand, die zeigen, daß es aus einer genauen Verbindung mit anderen Erlebnissen herausgenommen ist. Schritt für Schritt wird entdeckt, daß jede Bestimmung, z. B. jede Zeit- oder Ortsbestimmung, jede Konstatierung einer Eigenschaft, ein weit größeres Ganzes voraussetzt als dasjenige, das ursprünglich den Gegenstand des Nachdenkens ausmachte.

Schon die einzelne Sinnesempfindung wird, sowohl was Intensität als auch Qualität betrifft, durch den ganzen Zusammenhang, innerhalb dessen sie auftritt, bestimmt. Im Wiedererkennen macht sich zugleich ein Zusammenhang mit den Nachwirkungen früherer Empfindungen geltend. Es gibt hier Prozesse, für welche die Sprache keine besonderen Namen hat, die aber Analogien zu dem bilden, was auf mehr entwickelten Bewußtseinsstufen im Verhältnis zwischen Erlebnissen, ihrer Deutung und den aus ihnen gezogenen Schlüssen hervortritt, - eine Analogie, die nicht mit Identität verwechselt werden darf. In Erinnerung und Phantasie werden Totalbilder gebildet kraft des aller Vorstellungsassoziation zugrunde liegenden Totalitätsgesetzes, das selbst ein Zeugnis des Dranges und des Vermögens, gegebene Vorstellungen auszufüllen und fortzusetzen, ist. Wie schon gesagt, wird konkrete Intuition solange als möglich festgehalten und Verschiebungen und Artikulationen können in ihr geschehen, ohne daß Urteile gebildet werden. Außer den von mir an anderen Orten angeführten Beispielen führe ich hier ein Beispiel der Artikulation in einem Erinnerungsbild an. Mein erstes Erinnerungsbild von einer Abstimmung bei der Austeilung eines Legates enthielt u. a. das Bild eines Tisches, auf dem offene Stimmzettel lagen. Als aber das Erinnerungsbild bei einer späteren Gelegenheit wieder auftauchte, lagen nicht Stimmzettel, sondern Briefe auf dem Tisch. Ich verglich dann natürlich die zwei Erinnerungsbilder mit dem, was ich aus anderen Quellen wußte und bildete das Urteil, daß das letzte Bild das richtige war; denn die Stimmzettel wurden in verschlossenen Konvoluten eingesandt. Das Erinnerungsbild hatte sich also unwillkürlich in richtiger Richtung verschoben und erst der Widerspruch der zwei Erinnerungsbilder machte ein Urteil notwendig.

Ein schon berührtes Beispiel der Artikulation entspringt der Neigung, die Figur und den Umriß einer Fläche zu identifizieren. Die Figur kann nicht lokalisiert werden; sie gilt für die ganze Fläche. Die Flächenfigur ist das unmittelbar Gegebene; aber der Umriß, die Kontru, ist leichter zu beschreiben und hat größere praktische Bedeutung. Der Umstand, daß sich die Kontur hervordrängt, deutet eine Analyse an, die später gemacht werden kann, die aber nicht absolut notwendig ist, weil die Verschiebung schon in der unwillkürlichen Anschauung vor sich gehen kann. Wie Dr. EDGAR RUBIN, der diesen Punkt klar beleuchtet hat, bemerkt, stehen wir hier einer Eigentümlichkeit des Psychischen gegenüber, die sich auch auf anderen Gebieten geltend macht. Ebensowenig wie die Flächenfigur innerhalt der gegebenen Totalität lokalisiert werden kann, weil sie der Totalität selbst angehört, ebensowenig können Erlebnisse von Rhythmus, Bewegung und Dauer auf einen einzelnen Zeitpunkt innerhalb des ganzen Erlebnisses hingeführt werden. (1) Die beginnende Analyse stößt hier, wie schon die Eleaten sahen, auf große Schwierigkeiten. Die Totalität selbst ist in Gefahr, wenn die Analyse beginnt, indem sie mit jeder der von der Analyse aufgezeigten Einzelheiten inkommensurabel ist. Einfache Sinnesempfindungen sind anscheinend schon kleine Totalitäten, die durch die Analyse nicht zu ihrem Recht kommen können. So ist z. B. die Empfindung des Rauhen eine Totalität von elementaren Empfindungen kleiner Unebenheiten, die jede für sich nicht bemerkt werden; keine einzelne Empfindung einer solchen einzelnen Unebenheit würde uns die Empfindung des Rauhen geben. - Durch diese Eigentümlichkeit des Bewußtseins wird der Drang, die Anschauung solange als möglich festzuhalten, verständlich.

Eine besondere Art der Verschiebung haben wir in den Licht- und Farbenbildern, die durch Töne hervorgerufen werden können, - was man musikalische Photismen genannt hat. Hier bekommt die durch die Töne, besonders durch die Klangfarbe, hervorgerufene Stimmung ihren unwillkürlichen Ausdruck in Figur- oder Farbrevisionen. Es ist "eine instinktive Übersetzung in visuelle Ausdrücke" von dem, was auf den Gehörsin gewirkt hatte. (2) Wenn sich hierbei in der Regel Gefühlselemente geltend machen, so liegt hier ein Beispiel vor, wie konkrete und praktische Intuition ineinander übergehen, indem Drang und Gefühl immer mehr oder minder bei den unwillkürlichen Totalitätsbildungen auf dem Gebiet der Sinnesanschauung, der Erinnerung und der Phantasie mitwirken werden.

Die Vorstellung des Ichs hat ihre Grundlage in der unwillkürlichen Tendenz zu Totalitätsbildungen. Sie entspricht einem Totalitätsbild, das aus den am meisten konstanten Empfindungen, Erinnerungen, Stimmungen und Bestrebungen gebildet wird, ein Bild, das immer nach dem herrschenden Interesse in einer bestimmten Richtung artikuliert sein wird. Besonders solche Zustände über hier einen Einfluß, die für uns als Ursachen von Änderungen in uns oder außer uns dastehen. Es wirkt hier, was GADELIUS ein motorisches Totalitäsgefühl genannt hat. (3) Ein ausdrückliches Bewußtsein unserer selbst (oder unseres Ichs) setzt Analyse voraus. Und die Analyse hat hier, wie überall, ihre Schwierigkeiten. Auch hier halten wir uns daher solange als möglich an dem, was das unmittelbare Anschauen leistet. Daher hat die Vorstellung unser selbst oft einen mystischen Charakter. Die Mystik ist berechtigt, wenn sie ein Ausdruck der Unerschöpfbarkeit des Gegebenen ist. Unsere Vorstellung von uns selbst ist meist eine praktische Intuition. Die Analyse kann jedesmal nur einen einzelnen Zug hervorheben; und wann werden alle Züge hervorgehoben sein und welche Garantie haben wir dafür, daß sie alle hervorgehoben sind? Unsere Selbsterkenntnis ist daher immer unvollkommen, ganz abgesehen davon , daß neue Erlebnisse kommen werden, solange das Leben dauert und daß dadurch fundamentale Änderungen innerhalb des Totalzusammenhangs, aus welchem durch Analyse die Vorstellung des Ichs hervorgehen sollte, bewirkt werden können. Auch hier wird es verständlich, warum wir uns solange als möglich an die Anschauung klammern. Wir berufen uns besonders dann auf unser "Gewissen", wenn wir die Unzulänglichkeit der Analyse erfahren oder zu erfahren meinen.

Wenn die konkrete und die praktische Intuition nicht mehr die Erlebnisse zu umfassen vermögen, entweder weil diese zu mannigfaltig sind oder weil sie in starkem Gegensatz zueinander stehen, dann ist der Drang und vielleicht auch die Möglichkeit zu einer neuen Totalitätsbildung da, nämlich der Urteilsbildung. Indem ich hierüber auf meine früheren Arbeiten (besonders "Der menschliche Gedanke", Seite 76 - 107 der dt. Übersetzung) hinweise, will ich hier nur einige Bemerkungen über eine von HEINRICH MAIER in seinem schon erwähnten Werk "Psychologie des emotionalen Denkens" aufgestellte Theorie machen. Über sehr viele in diesem Werk kann ich meine vollkommene Zustimmung aussprechen. Oft beruth der Unterschied zwischen MAIERs und meiner Darstellung nur auf einer verschiedenen Terminologie. In zwei Punkten kann ich aber mit ihm nicht einig sein.

Einerseits erweitert er, wie schon oben erwähnt, den Begriff des Urteils so, daß er auf alle Wahrnehmungen, Erinnerungen und Phantasien Anwendung findet, weil sie dem Gegensatz von Wahr und Falsch gegenüber nicht gleichgültig seien. Andererseits behauptet er, daß "das emotionale Denken" zu keiner Erkenntnis, sondern nur zu einer "Präsentation" des Gegenstandes unserer Geführ und unseres Dranges führe.

Den ersten Punkt habe ich schon oben berührt, indem ich gezeigt habe, daß MAIER mit Unrecht den Gegensatz zwischen Wahr und Falsch in das primäre Anschauen hineinlegt. Dieser Gegensatz spielt da keine Rolle, weil man in dem, was empfunden oder vorgestellt wird, zuversichtlich ruht, keinen Zweifel kennt und daher Wahr und Falsch weder unterscheidet noch unterscheiden kann. ADAM und EVA waren, ehe sie vom Baum der Erkenntnis aßen, dem Unterschied von  Gut und Böse  gegenüber nicht gleichgültig: sie kannten diesen Unterschied gar nicht. Die unmittelbare Zuversicht kann nicht einem Unterschied gegenüber, den sie nicht kennt, gleichgültig genannt werden.

Ich kehre hier zu diesem Punkt zurück, um hervorzuheben, daß MAIER eigentlich zwei Kennzeichen davon hat, ob ein Urteil sich geltend macht oder nicht. Das eine ist der schon besprochene Gegensatz von Wahr und Falsch. Das andere besteht darin, daß ein Übergang von einem selbständigen Glied innerhalb eines Objekts zu einem anderen selbständigen Glied gemacht wird. Er erkennt nämlich an, daß eine "Beziehungstätigkeit" stattfinden kann, die noch kein Urteilen ist, weil die bezogenen Glieder noch nicht selbständig einander gegenüberstehen. (4) So eine Beziehungstätigkeit entspricht dem, was ich artikuliertes oder artikulierendes Anschauen nenne, einer Erscheinung, die, meiner Meinung nach, MAIER nicht zu ihrem vollen Recht kommen läßt.

Meiner Auffassung nach ist nur dieses zweite Kennzeichen, der Übergang von einem selbständigen Glied zu einem anderen, für das Urteil im Gegensatz zur Anschauung entscheidend. Und es setzt eine Analyse voraus; denn im unmittelbaren Anschauen stehen die Glieder nicht selbständig da. Sie sind noch nicht aus der unwillkürlich gebildeten Totalität ausgeschieden. Eine solche Analyse und ein solcher Übergang kann übrigens sehr wohl stattfinden, ohne daß sich der Unterschied von Wahr und Falsch geltend macht. Ein Urteil kann ebenso unwillkürlich gebildet werden wie eine Anschauung. Eine unmittelbare Zuversicht kann bei unseren Urteilen ebensogut wie bei unseren konkreten und praktischen Intuitionen herrschen. Erst wenn sich der Zweifel, der eine ganz spezielle Art von Urteil ist, erhebt, kann jener Unterschied entstehen.

Die zwei Kennzeichen MAIERs streiten gegeneinander, wenn es Urteile gibt, bei denen sich der Gegensatz von Wahr und Falsch nicht geltend macht. Es kann dann nicht die Anwesenheit dieses Gegensatzes sein, die es notwendig machen sollte, den Begriff des Urteils auch zu solchen psychischen Wirksamkeiten, die nicht in einem Übergang von einem selbständigen Glied zu einem anderen bestehen, auszudehnen. -

Den anderen Punkt betreffend behaupte ich, daß obgleich MAIER sich durch die Charakteristik des gefühls- und willensbestimmten Denkens ein wahres Verdienst erworben hat, ist "das emotionale Denken" in seiner Theorie doch nicht zu seinem vollkommenen Recht als eine Funktion gekommen, die im Grunde ganz von derselben Art wie "das kognitive Denken" ist, obgleich es unter besonderen psychischen Bedingungen wirkt. Man sollte doch eigentlich auch erwarten, daß die Gedankenwirksamkeit überall denselben Charakter hat, ob sie nun auf der Grundlage von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen oder auf der Grundlage von Drang, Lust und Unlust verläuft.

MAIER gebraucht hier das erste seiner zwei Kennzeichen des Urteils. Das emotionale Denken will nicht wahr sein, sagt er (Seite 140), - und daher ist es kein Urteil. Aber will denn das emotionale Denken wirklich nicht wahr sein? Nach MAIER selbst besteht seine Bedeutung darin, daß es uns den Gegenstand unserer Lust und Unlust oder unseres Dranges klar und deutlich darstellt. Daher spricht MAIER auch von Evidenz in volitiven Gedankenakten, - einer Evidenz, durch welche die Begehrungstendenz in Begehrungsvorstellungen ihren adäquaten Ausdruck findet. Und diese Evidenz soll (gemäß Seite 42) besonders deutlich hervortreten, wenn sich zuerst ein Zweifel gerührt hat. Ich finde, daß der Begriff "Wahrheit" hier in solchen Ausdrücken wie "adäquat" und "Evidenz" durchscheint. Und die Sache ist hier offenbar dieselbe wie bei "kognitiven" Funktionen, die ja auch nach einem Zweifel deutlicher hervortreten. Was ich empfinde, erinnere oder vorstelle, kann mir mehr oder minder "adäquat" oder "evident" bewußt werden, d. h. meine Vorstellungen davon können mehr oder minder vollständig den Inhalt der Empfindung, der Erinnerung und der Phantasie decken; sie können die Früchte mehr oder weniger vollständiger Analysen der unmittelbaren Erlebnisse sein. Und so kann auch bei der Vorstellung, die das Ziel eines Dranges oder eines Triebes enthalten soll, gefragt werden, ob sie nun auch wahr sei, d. h. ob sie die wirkliche Richtung des Dranges oder des Triebes vollständig ausdrückt. Noch deutlicher ist es beim Beschluß: Ist nun das, was ich beschlossen zu haben meine, auch wirklich das, nach dem ich in meinem Innersten streben? Ist Wahrheit in meinem Wollen, d. h. deckt es mein wirkliches Streben? Habe ich mir nicht ein illusorisches Ziel gesetzt, d. h. hier ein Ziel, nach dem ich eigentlich gar nicht strebe? Beim Bewußtsein des Wollens sind ebensowohl Jllusionen möglich wie bei Sinneswahrnehmungen. Es besteht eine Analogie zwischen Vorsatz und Wahrnehmung: im Augenblick der Entscheidung sehe ich mich selbst als in einem künftigen Augenblick handelnd, - ich antizipiere (perzipiere) eine künftige Situation. Und auch wenn der Vorsatz wirklich ausgeführt wird, ist es nicht sicher, daß er ein Ausdruck dessen ist, was wirklich das innerste Streben war.

Es gibt, wie besonders dänische Philosophen (PAUL MÖLLER, KIERKEGAARD) behauptet und eingeschärft haben, eine persönliche Wahrheit, die eben darin besteht, daß die Ziele, die wir uns mit Bewußtsein setzen, auch mit dem innersten Wesen unserer Persönlichkeit übereinstimmen. (5) Schon SOKRATES hat ja das hier liegende persönliche Problem gestellt, wie niemand besser als HEINRICH MAIER gesehen hat. (6)

Statt zwischen kognitivem und emotionalem Denken zu unterscheiden, ist daher zwischen zwei Arten von Erlebnissen zu unterscheiden, - solchen, die als bloße wesentlich uninteresseierte Wahrnehmungen und solchen, die als Drang und Streben auftreten. Das Nachdenken wirkt beiden Arten gegenüber in derselben Weise; - beiden gegenüber fangen wir mit unwillkürlicher Zuversicht an, ohne doch "gegen Wahr und Falsch gleichgültig" zu sein, aber wohl mit der Möglichkeit, in Jllusionen verstrickt zu werden. Und in beiden Fällen kann diese Möglichkeit des Urteilen, des Übergangs von Glied zu Glied gegeben sein und damit auch die Möglichkeit einer kritischen Prüfung, die unsere primäre Zuversicht aufhebt. Die Vorstellungen, die bald mehr als Bedingungen, bald mehr als Produkte, in unserem Drängen und Streben (7), unseren Trieben und Wünschen, unseren Absichten, Vorsätzen und Beschlüssen eingewoben sind, können ebensowohl Glieder in Urteilen und Gegenstände der Kritik werden, wie die Vorstellungen, die in unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen und Phantasien eingewoben sind. Es ist MAIERs Verdienst, daß er sie so energisch beleuchtet hat. Aber er hat dadurch keine neue Art des Denkens entdeckt. In beiden Arten treten die fundamentalen Kategorien auf und wenn die Kritik erwacht, werden die anderen Kategoriengruppen sich auch geltend machen. In der Untersuchung der Wertkategorien (Kapitel V) werden wir zu dieser Frage zurückkommen.

10. Das Nachdenken setzt ein unmittelbar Gegebenes voraus, das als Anschauung (konkrete oder praktische Intuition) hervortritt und dieses unmittelbar Gegebene steht als eine Totalität, die nun Gegenstand einer Analyse werden kann. In einer solchen Totalität zeigt sich eine Mannigfaltigkeit als auf eigentümliche Weise verbunden und wir finden also schon hier das Gesetz der Synthese in Geltung.

Gegen die Berechtigung, im unmittelbar Gegebenen Synthese zu finden, hat HERMANN COHEN die Einwendung gemacht, daß Synthese eine gegebene Mannigfaltigkeit voraussetzt, die zusammengefaßt werden kann und er meint, daß KANT in seiner Anwendung des Synthesenbegriffs den Fehler LOCKEs und HUMEs begeht, nämlich das ursprünglich Gegebene als ein Chaos von Sinnesempfindungen zn betrachten. (8) In einer etwas anderen Form tritt dieselbe Einwendung hervor, wenn HENRI BERGSON (9) behauptet, das unmittelbar Gegebene kann nicht durch einen Begriff, der einen Gegensatz zu einem anderen Begriff enthält, ausgedrückt werden; der Begriff der Synthese enthalte aber einen Gegensatz zum Begriff der Mannigfaltigkeit.

Dieser Einwendung gegenüber muß eingeräumt werden, daß der Synthesenbegriff von den mehr differenzierten psychischen Funktionen zu den mehr primären durch Analogie übergeführt worden ist. Die Sprache hat, wie schon bemerkt, keine Ausdrücke für die die primitivsten psychischen Funktionen gebildet. Am deutlichsten tritt die Synthese hervor, wo die Aufgabe gestellt wird, faktisch und deutlich vorliegende Verschiedenheiten zu verbinden und zu ordnen. Bei bewußt gestellten Aufgaben haben wir sowohl die vorausgehende Mannigfaltigkeit und den durch psychische Arbeit gewonnenen Zusammenhang als Gegenstände des Bewußtseins; außerdem vielleicht auch ganz verschiedene Zwischenstadien fortschreitender Ordnung und Ganzheit. Durch Analogie gebrauchen wir den Begriff der Synthese und mit ihm den Begriff der psychischen Arbeit, auch da, wo keine vorausgehende Mannigfaltigkeit und keine Zwischenstadien der Zusammenfassung wahrgenommen werden können. So bei unmittelbarer Anschauung, als wenn Sinnesbilder, Erinnerungsbilder und Phantasiebilder mit dem Totalitätsgepräge, das eine Bedingung der Analyse des Nachdenkens ist, auftauchen. Sowohl Kontinuität als auch Analogie liegen hier zugrunde. Denn es können alle möglichen Grade der Geschwindigkeit, mit der die zusammenfassende Arbeit getan wird, gegeben werden und die Erfahrung zeigt, daß, je kürzer die physiologische Zeit ist, umso mehr wird das Bewußtsein vom Unbewußten abgelöst. Und auch was psychologisch durch eine Mannigfaltigkeit von Prozessen repräsentiert. Wir haben daher kein Recht, zu meinen, daß psychische Arbeit (die natürlich immer mit einer korrelaten physiologischen Arbeit verbunden ist) jemals absolut wegfällt, solange des Bewußtseinsleben überhaupt besteht. es gibt alle möglichen Grade zwischen potentieller und aktueller psychischer Energie (10).

Das unmittelbare Anschauen (konkrete und praktische Intuition) kennt keine Probleme. Diese entstehen erst beim Nachdenken. Wenn es sich darum dreht, in einen problemlosen Zustand zu kommen, dann gilt es nur, das Nachdenken zu verhindern. Wir können alle ein Bedürfnis dazu haben, wenn wir in einem Erlebnis voll und ganz aufgehen sollen oder wollen. Der Wert der Kunst und der Phantasie setzt ein solches Aufgehen voraus; ebenso ist es mit Lebensverhältnissen der Fall, von denen wir ganz aufgenommen sind und mit der Hingabe zu großen Ideen und Bestrebungen. Das Leben fordert aber immer neue psychische Arbeit, indem die Synthese auf neuen Widerstand stößt. Und es wird außerordentlich schwierig sein, zu entscheiden, ob man im einzelnen Fall etwas ganz Unmittelbarem gegenübersteht oder ob nicht Überlieferung, Suggestion und Nachdenken mitwirken. Angewöhnte und durch Tradition geheiligte Zustände werden oft als unmittelbar gegeben betrachtet. In größerem oder minderem Grad zeigt sich eine Tendenz dazu in allen Versuchen, zwischen Glauben und Wissen zu unterscheiden.

Auch HUME wies auf ein unmittelbar Gegebens hin. Für ihn war es aber nicht eine Totalität oder ein Kontinuum, sondern eine chaotische Mannigfaltigkeit. Es ist aber ebenso schwierig, ein Chaos wie ein Kontinuum zu konstatieren. Dasein einer chaotischen Verschiedenheitsreihe kann nur dargetan werden, wenn eingehende Versuche, Ordnung zu Zusammenhang zu finden, mit negativem Resultat beendet werden. HUME sah, wie BERGSON, daß die erste Grundlage der Erkenntnis nicht selbst rational sein kann. Absolute Mannigfaltigkeit ist ebenso irrational, wie absolute Kontinuität. Sowohl die Diskontinuität als auch die Kontinuität stellten nur Aufgaben - jene, einen größeren Zusammenhang, diese, eine größere Verschiedenheit zu finden. Jedes Erlebnis bietet - sowohl in sich selbst, als auch in seinem Verhältnis zu anderen Erlebnissen - Kontinuität und Diskontinuität dar. Wollen wir von einem unmittelbar Gegebenen sprechen, dann müssen beide Kategorien angewandt werden.

Der Begriff des "unmittelbar Gegebenen" ist selbst (was weder HUME, noch COHEN, noch BERGSON bemerkt haben) vom Nachdenken gebildet. Wenn nur ein "unmittelbar Gegebenes" und nichts sonst, vorläge, würde überhaupt kein Begriff, also auch nicht der Begriff "unmittelbar gegeben", gebildet werden können. Er wird eben im Gegensatz zum Nachdenken durch das Nachdenken selbst, sobald dieses sich seiner Wirkungsweise und seiner Voraussetzungen bewußt wird, gebildet. Jedes unmittelbar Gegebene ist durch seinen Gegensatz zu einem gewissen Grad und einer gewissen Art des Nachdenkens bestimmt. Was in einer Rücksicht unmittelbar ist, braucht es in anderen Rücksichten nicht zu sein.

Es ist der Drang, die Verhältnisse, die Relationen zwischen verschiedenen Erlebnissen und zwischen den verschiedenen Elementen desselben Erlebnisses zu bestimmen, der über das unmittelbar Gegebene hinausführt. In einem unmittelbar Gegebenen (einer Anschauung) besteht vielleicht vorläufig ein Gleichgewicht zwischen Synthese und Relation, Kontinuität und Diskontinuität, Ähnlichkeit und Verschiedenheit. Das Gleichgewicht kann aber aufgehoben werden und es wird dann zwischen entgegengesetzten Tendenzen geschwankt. Das Übergewicht von Synthese, Kontinuität und Ähnlichkeit führt dazu, den unwillkürlich eingeschlagenen Weg fortzusetzen und nach dem Prinzip "Warum nicht?" zu handeln. Diese Tendenz wird zu immer umfassenderen Zusammenstellungen, Verbindungen und Identifikationen führen. Wenn sich aber Relation, Diskontinuität und Verschiedenheit stark geltend machen, werden immer nähere und feinere Bestimmungen und Begrenzungen gesucht und man handelt nach dem Prinzip "Warum?" Es wird dann gefordert, die Verhältnisse zwischen den Erlebnissen und den Elementen anzugeben; ferner: die Möglichkeit eines Zusammenhangs trotz der Diskontinuität darzutun und das gegenseitige Verhältnis der Ähnlichkeits- und der Verschiedenheitsgrade zu präzisieren. Jetzt, nach Aufhebung des Gleichgewichts der Anschauung, können Probleme gestellt werden.

Aber die verschiedenen Kategorien, die bei der Problemstellung in Gegensatz zueinander treten, sind doch paarweise als Korrelatbegriffe verbunden und das eine Glied eines solchen Verhältnisses kann nicht ohne das andere angewandt werden. Eine bestimmte Ausformung der einen muß eine bestimmte Ausformung des anderen mit sich führen. WUNDT hat in einer interessanten Abhandlung die Bedeutung der Korrelatbegriffe erörtert und er hat die Tendenz erwiesen, die besonders in spekulativen Systemen dazu führt, sich an ein einzelnes Glied zu halten, ohne Rücksicht auf das andere oder sogar so, daß die Gültigkeit dieses zweiten Gliedes geleugnet wurde. Die Dialektik HEGELs entstand eben dadurch, daß er auf den gegenseitigen Zusammenhang der Grundbegriffe, infolgedessen jeder notwendigerweise mit dem anderen suppliert werden muß, großes Gewicht legte. (11)

Hier hat sich oft ein Pseudoproblem gebildet, indem man den für das entwickelte Bewußtsein hervortretenden Unterschied von Subjekt und Objekt in das primitive Bewußtsein hineingelegt hat. Ein solcher Unterschied wird erst durch Zweifel, der wieder Enttäuschung voraussetzt, möglich. Man hat sogar die scholastische Distinktion zwischen Bewußtseinsakt und Bewußtseinsinhalt in das unmittelbare Bewußtsein hineingelegt; und nachher erklärt man dann den Glauben an die Realität durch den Einfluß des Inhalts auf den Akt! Aber man kann erst zwischen Akt und Inhalt unterscheiden, wenn es sich gezeigt hat, daß "Akte" ohne gültigen Inhalt möglich sind. Im Anfang gibt sich kein Unterschied kund zwischen der eigenen Wirksamkeit und dem empfangenen Inhalt. Dieser Unterschied entsteht, wenn man nach seinem Bewußtseinsinhalt gehandelt hat, d. h. alle theoretischen und praktischen Konsequenzen daraus gezogen hat und wenn dann dieses Handeln Enttäuschung mit sich führt. Der Handlungsstrang begründet das ursprüngliche Vertrauen zu jedem gegebenen Bewußtseinsinhalt, - kann aber später dazu führen, ihn zu bezweifeln und zu berichtigen.

Von besonderem Interesse in erkenntnistheoretischer Rücksicht ist es, daß das Kriterium, das den Zweifel beenden kann, in der Frage liegt, ob der Inhalt einen Teil eines so großen Zusammenhangs ausmachen kann, wie wir ihn unter unseren Wahrnehmungen und unseren Erinnerungen aufweisen können. Ich nehme ein einfaches Beispiel. Wenn ich mich nicht erinnern kan, ob ich meine Tür geschlossen habe, d. h. wenn ich die Tast- und Bewegungsvorstellungen, die durch die Vorstellung des Schließens bedingt werden, nicht wiedererkennen kann, dann kann es mir helfen, wenn ich mich an alle übrigen Umstände (den Griff nach dem Schlüssel in der Tasche, das Einstecken des Schlüssels in das Schloß, das Zusammenklappen der Tür, vielleicht auch den Inhalt meines Denkens, als ich an der Tür stand, usw.) erinnern kann. Es ist die Totalität, die den Zweifel aufhebt.

Aber mit einem Beispiel wie dieses sind wir schon über die Gruppe der fundamentalen Kategorien hinausgekommen. Es zeigt sich schon hier, daß ein kleiner und dünner, aber rationaler Faden logischer Konsequenz mehr als ein großer Komplex von Einzelheiten bedeuten kann. Um diese Möglichkeit zu verstehen, müssen wir die zwei folgenden Gruppen von Kategorien, die formalen und die realen, unterscheiden.
LITERATUR - Harald Höffding, Der Totalitätsbegriff - Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, Leipzig 1917
    Anmerkungen
    1) Synoplevede Figurer (Gesichtsempfindungen von Figuren), Seite 179
    2) TH. FLOURUSY, Des phénomènes de Synopsie, Seite 103
    3) BROR GADELIUS, Tro och öfvertro (Glaube und Aberglaube), Stockholm 1912, Seite 158
    4) HEINRICH MAIER, Psychologie des emotionalen Denkens, Seite 123
    5) Vgl. mein "Kierkegaard als Philosoph" (dt. Übersetzung von CHR. SCHREMPF)
    6) Vgl. MAIERs schönes Werk "Sokrates", (Tübingen 1913)
    7) MAIER legt dem Unterschied zwischen unwillkürlichem und willkürlichem Wollen eine große Bedeutung bei (Seite 558 - 574). Er setzt aber die Grenze an einer anderen Stelle als ich, indem er Trieb und Wunsch zum unwillkürlichen Wollen rechnet und Überlegung als Bedingung des willkürlichen Wollens betrachtet. Spontane und reflexe Bewegungen sind ihm keine psychischen Funktionen und den Instinkt betrachtet er als einen Trieb, indem er behauptet, daß im Instinkt immer eine Vorstellung des Zieles gegeben sein soll. - Ich glaube nicht, daß die Beobachtung diese Auffassung bestätigt.
    8) HERMANN COHEN, Logik der reinen Erkenntnis, 1902, Seite 24
    9) HENRI BERGSON, Introduction á la Métaphysique (Revue de Métaphysique et de Morale, 1903), Seite 15 - 17
    10) Vgl. HÖFFDING, Der menschliche Gedanke, dt. Übersetzung Seite 11 - 21
    11) WILHELM WUNDT, Zur Geschichte und Theorie der abstrakten Begriffe, Philosophische Studien 2, Leipzig 1886