Kritik der wissenschaftlichen GrundbegriffeDer Relationsbegriff | ||||
(1843-1931) Der Totalitätsbegriff [ 9 / 10 ]
VI. Totalität als Grenzbegriff 28. Das Wort "Grenzbegriff" ist von KANT gebraucht, um einen Begriff zu bezeichnen, zu dem wir notwendig kommen, den wir aber nicht vollziehen, dem wir keinen positiveren Gehalt geben können. Einen solchen Begriff fand KANT im Begriff "Ding an sich". Unter den Voraussetzungen unserer Erkenntnis gibt es notwendig einen subjektiven Faktor, der sich in den Grundformen unseres Denkens äußert; daher können wir das Dasein, wie es in sich selbst ist, nicht erkennen und doch müssen wir, meint KANT, notwendig annehmen, daß das Dasein eine Beschaffenheit hat, von der Weise, in welcher wir es auffassen, ganz abgesehen. Diese Behauptung war, wie bekannt, ein Stein des Anstoßes für die nächsten Nachfolger KANTs. Es wäre ja auch merkwürdig, wenn die Erkenntnis selbst in ihrem logischen Fortschreiten zu einem Punkt führen sollte, wo sie nicht mehr gelten könnte. Einen solchen Punkt fand KANT in der Frage nach der Ursache der Erlebnisse (des "Stoffes"), bei deren Bearbeitung der menschliche Gedanke seine Formen und Voraussetzungen gebraucht. Aber - eben nach KANTs eigener Philosophie kann eine solche Frage gar nicht gestellt werden! Denn nach der "Kritik der reinen Vernunft" hat der Gedanke keine andere Aufgabe als die, Erlebnisse zu bearbeiten und das eine Erlebnis durch das andere zu erklären. Wo kein Erlebnis vorliegt, kann es nur formale Wissenschaft (Logik und Mathematik) geben, die von allen speziellen Erlebnissen absieht und die reinen Formen der Erkenntnis untersucht. In realer Wissenschaft (Naturwissenschaft, Psychologie und Geschichte) werden die Erlebnisse in solcher Weise bearbeitet, daß der rationelle Zusammenhang, den KANT "Erfahrung" nennt, möglich wird. Weder formale noch reale Wissenschaft stößt auf "das Ding an sich", jene, weil sie überhaupt kein "Ding" voraussetzt, diese, weil sie immer "Dinge" als gegebene, als Erlebnisse, voraussetzt. KANT hat aber einen anderen Grenzbegriff außer dem "Ding an sich" und das ist der Begriff absoluter Totalität. Dieser Begrif bezeichnet etwas, das kein Erlebnis sein kann, weil jedes Erlebnis begrenzt ist; jede gegebene Totalität steht einer Umwelt, mider der sie in Wechselwirkung tritt, gegenüber. Der Begriff absoluter Totalität hat nach KANT die Bedeutung, über jede Grenze, an der man geneigt wäre, haltzumachen, hinaus zu zeigen, - neue Aufgaben zu stellen, wenn die Arbeit mit den bisher vorliegenden Erlebnissen vollendet zu sein scheint. Auch zu diesem Begriff kommen wir nach KANT notwendig, weil die Synthese die Grundform unseres Gedankens ist und immer das bisher Zusammengefaßte mit neuen Elementen zusammengefaßt haben will. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nun, daß die Grenze, die im Begriff absoluter Totalität (in dem, was KANT "Idee" nennt) liegt, mit der Grenze zusammenfällt, die der Begriff "Ding an sich" angeben sollte. Wo KANT den dogmatischen Begriff der "Welt" als gegebenes absolutes Ganzes kritisiert, sagt er: "Im empirischen Regressus kann keine Erfahrung einer absoluten Grenze ... angetroffen werden. Der Grund davon aber ist, daß eine dergleichen Erfahrung eine Begrenzung der Erscheinungen durch Nichts ... in sich enthalten müßte, welches unmöglich ist." (1) Diese Bemerkung trifft sowohl "das Ding an sich selbst" (das nimmer Erscheinung werden kann), wie auch die absolute Totalität (die niemals als gegeben vorliegen kann). Und es ist klar, daß wir nur dann zum "Ding an sich" kommen könnten, wenn unsere Erkenntnis vollendet wäre, d. h. eine absolute Totalität ausmachen würde; erst dann könnten wir recht haben, nach dem Ursprüng der Erlebnisse, mit denen wir gearbeitet hätten, zu fragen; bis dahin hätten wir mit dem Zusammenarbeiten der neuen Erlebnisse vollauf zu tun. Aber dann stehen wir eben bei der anderen Grenze, beim Ideal, das der Begriff absoluter Totalität auf jeder Stufe unserer Erkenntnis stellt. Die Aufgabe ist immer dieselbe: über jede gegebene Totalität hinaus einen größeren Zusammenhang, ein größeres Ganzes zu suchen und innerhalb jeder gegebenen Totalität zu einfacheren Elementen, die sich dann wieder als kleine Totalitäten kundgeben werden, zurückzugehen. In KANTs "Antithesen", denen er vergebens einen dogmatischen Gedankengang zuzuschreiben versucht, ist seine eigene Philosophie enthalten. Es wird in den "Antithesen" mit KANTs eigenem zentralen Begriff der "möglichen Erfahrung" operiert und er sagt ausdrücklich, daß sie den rein wissenschaftlichen Standpunkt bezeichnen. (2) Sie machen kein absolut abgeschlossenes System möglich; aber das ist ja auch die eigentliche Konsequenz von KANTs Philosophie. Solange der Gedanke wach ist, besteht eine beständige Wechselwirkung zwischen einem Gegebenen und den Aufgaben, die von ihm gestellt werden. Die Erkenntnis arbeitet immer daran, ein vollkommenes Ganzes zu werden; aber solange sich das Verhältnis von Erlebnis und Form wiederholt, stellt sich die Aufgabe aufs neue. - Wie in den vorausgehenden Abschnitten dieser Abhandlung gezeigt wurde, ist der Totalitätsbegriff nicht bloß eine spezielle Kategorie, die ihren bestimmten Platz in der Reihe der Kategorien hat, sondern er drückt zugleich eine Eigentümlichkeit an jeder unserer Gedankenformen aus. Daher kann, wie ich früher (3) gezeigt habe, KANTs scharfe Unterscheidung von Kategorie und Idee nicht festgehalten werden. 29. Sehen wir uns nun den Totalitätsbegriff als Grenzbegriff näher an, so bietet er, was man von einem Grenzbegriff auch erwarten müßte, teils eine negative, teils eine positive Seite dar.
Wenn spekulative Systeme einen Abschluß im Gedanken von etwas, das durch sich selbst besteht und durch sich selbst verstanden wird, lehrten, war es ein Übergang vom Denken zur Mystik. Nichts besteht "durch sich selbst" und nichts wird "durch sich selbst" verstanden. Spekulative Philosophen, von PLATON und ARISTOTELES an, stehen nur der Wahl gegenüber: entweder etwas anerkennen, das durch sich selbst besteht und durch sich selbst verstanden wird oder in Skeptizismus zu enden. So sagt SPINOZA (Kurzer Traktat I, 7, 9), daß, wenn wir das, was allem zugrunde liegt, nicht erkennen können, können wir auch nicht die Einzeldinge, die in ihm ihren Grund haben, erkennen. Auch in der neuesten Zeit kommt ein solcher ontologischer Gedankengang vor. BERTRAND RUSSELL baut auf ihm seine Kritik der Auffassung, nach welcher das Kriterium der Wahrheit im gegenseitigen Zusammenhang unserer Gedanken und Wahrnehmungen besteht. Das Resultat dieser Auffassung ist Skeptizismus, behauptet RUSSELL: denn ein vollkommener und allumfassender Zusammenhang kann nicht aufgezeigt werden und wir könnten dann, nach jenem Wahrheitskriterium, der Gültigkeit keines einzigen Urteils sicher sein. (4) Aber die Auffassung, die RUSSELL bekämpft, sagt eigentlich nur, daß die Wahrheit durch beständige Arbeit gewonnen werden muß und daß die Wahrheiten, die wir schon gewonnen zu haben meinen, immer aufs neue durch ihr Verhältnis zu neuen Gedanken und Wahrnehmungen geprüft werden müssen. Hier ist eine Arbeit, die niemals enden kann. Und die fortgesetzte Arbeit ruht auf der beständigen Voraussetzung, daß die Wahrheit eine Totalität ausmachen muß. Selbst die sichersten Resultate, die erreicht sind, zeigen sich als begrenzt und bedürfen einer Supplierung [Ergänzung - wp]. Es kann immer ein innerlicherer Zusammenhang zwischen einem größeren Inbegriff von Wahrnehmungen gewonnen werden. Niemals wird man aber eine begründete Vermutung haben, daß man nun "etwas, das durch sich selbst besteht und durch sich selbst verstanden wird", erreicht hat. Und wäre es auch möglich so weit zu kommen, würde die Wahrheit auch son in einem Zusammenhang bestehen - im Zusammenhang mit dem "in sich selbst" Bestehenden und wenn dieser Zusammenhang im einzelnen seine Probe bestehen sollte, würde der Zweifel immer wieder auftauchen können. β) So weit die formale Betrachtung. Was aber für alle Gedanken und Wahrnehmungen gilt, gilt für alle Erlebnisse. Jedes Erlebnis zeigt sich bedingt und begrenzt und um es zu verstehen, muß man den ganzen Zusammenhang, in dem es vorkommt, berücksichtigen. Jedes Erlebnis verhält sich zu einer Umwelt, die sein Bestehen entweder fördert oder hemmt. Je mehr die Wissenschaft dazu schreitet, die Einsicht in die allgemeinen Gesetze zum Verständnis eines individuellen Ganzen und der Bedingungen ihres Bestehens anzuwenden, umso mehr wird diese Auffassung in ihrer Berechtigung und in ihrer Bedeutung hervortreten. Auch in den höchsten Formen des menschlichen Geisteslebens gibt es Aufgaben für diese Untersuchung. - Die Wurzel des Erkenntnisproblems liegt in dem Umstand, daß die Wahrheit, sowohl als formale wie als reale Wahrheit, ein Ganzes sein muß. Statt des alten Gegensatzes zwischen "dem Absoluten" und dem "Relativen" muß man, wie es mit Recht gesagt ist (5), den Gegensatz des Totalen und des Partiellen setzen. b) Die positive Seite der Untersuchung einer Totalität betrifft erstens das Verhältnis, das in ihr zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit besteht. Die Einheit offenbart sich im Gesetz, mittels welches die Teile zusammen gehören, - die Mannigfaltigkeit in den Elementen, die durch das Gesetz verbunden sind, die aber jedes für sich Eigenschaften haben können, die durch dieses Gesetz nicht ganz bestimmt sind. Wie es sich oben gezeigt hat, bieten die verschiedenen Totalitäten großen Verschiedenheiten dar, das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit betreffend. Die philosophischen Systeme zeigen hier eine ihrer am meisten charakteristischen Verschiedenheiten, je nachdem das Gewicht auf das zusammenhaltende Band oder auf die mannigfaltigen Elemente, die verbunden werden, gelegt wird. In der Geschichte der Philosophie kommt diese Verschiedenheit deutlich zum Vorschein, wenn man PARMENIDES mit DEMOKRIT, PLATON mit HERBART, BRADLEY mit JAMES vergleichen will. Die Schwierigkeit der Systeme kommt, wie WUNDT treffend gezeigt hat (vgl. oben § 10), daraus, daß man einen einzelnen Begriff zum Einen und Allen machen will, obgleich er sein Korrelat in einem anderen Begriff hat. Dies ist eben mit den Begriffen "Einheit" und "Mannigfaltigkeit" der Fall. Im religiösen Vorstellungskreis, der zuletzt unwillkürlich den Gesetzen alles menschlichen Gedankenlebens folgt, führt der erwähnte Gegensatz zur Bildung von zwei verschiedenen Abschließungsbegrifen, dem Begriff "Gott" und dem Begriff "Welt". Der eigentliche Abschließungsbegriff müßte hier ein Begriff sein, der diese beiden Begriffe verbinden könnte, - wie es bei PLATON ein Begriff wäre der "Ideen" und "Phänomen" und bei SPINOZA ein Begriff wäre, der "Substanz" und "Modi" verbinden könnte. (6) Wenn ein solcher Begriff gebildet werden könnte, müßte er ein typischer Individualbegriff sein. Denn das Dasein, in welchem wir leben, ist ein Unikum, ein große Individuum, dessen charakteristische Eigentümlichkeit durch den Inhalt der geltenden Gesetze und die Beschaffenheit der gegebenen Elemente bestimmt ist. SPINOZA ist vielleicht derjenige, der dies am klarsten gesehen hat. Er behauptet nämlich, daß Gott unter keinen Allgemeinbegriff gehören kann und daß das ganze Universum ein großes Individuum ist (Ethica I, Lemma 7, Schol.) Daher will er in seiner Erkenntnislehre bei den allgemeinen Gesetzen nicht stehen bleiben, sondern fordert eine scientia intuitiva (eine synthetische Intuition), d. h. eine Erkenntnis, die auf einmal universal und individual ist. Jeder Versuch einer wissenschaftlichen Weltanschauung geht darauf aus, einen typischen Individualbegriff zu bilden, der eine Charakteristik des Daseins enthält, - des Daseins, das auf einmal unseren Gedanken Erlebnisse darbietet und selbst ein Ganzes ist, von welchem unser Gedanke ein Teil ist. Hier liegt die Wurzel des kosmologischen Problems.
1) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 517. - Dieser Gedankengang KANTs fällt mit dem Gedankengang BRUNOs, der ihn zur Behauptung der Unendlichkeit der Welt führt, zusammen. Auch er geht von den Bedingungen unserer Erkenntnis aus. Vgl. meine "Geschichte der neueren Philosophie I", Seite 134 - 137 der dt. Ausgabe. 2) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 468f 3) Vgl. meine Abhandlung "Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgang Kants" (Archiv für die Geschichte der Philosophie VII) 4) BERTRAND RUSSELL, On the nature of truth. Vgl. oben § 18a 5) LÉON BRUNSCHVIEG, Les Étapes de la Philosophie mathématique, 1912, Seite 414 6) Vgl. meine "Religionsphilosophie", § 17. |