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MORITZ JULIUS BONN
(1873-1965)
Die Idee der Selbstgenügsamkeit

"Immer handelt es sich darum, fremden Volkswirtschaften Waren und Dienste anzubieten, aus denen Forderungen auf diese entstehen mußten. Da die Idee des gerechten Preises noch die Geister beherrschte, nach der im normalen Tausch Gleiches gegen Gleiches gegeben wurde, so konnte eine Bereicherung im internationalen Tauschverkehr allerdings nur durch Betrug, bzw. Ausbeutung zustande kommen."

Die Idee der Selbstgenügsamkeit, die Vorstellung, daß die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft die zur Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse notwendigen Sachgüter innerhalb der Grenzen ihres politischen Gebietes finden müßten, ist ursprünglich von der Einzelwirtschaft ausgegangen. Und zwar sind psychologische und ökonomische Vorstellungen in ihr vereint.

I.

1. Als normale Wirtschaftseinheit schwebte den antiken Schriftstellern die geschlossene Hauswirtschaft vor, für die nichts gekauft und nichts verkauft werden soll. Diese Selbstgenügsamkeit der einzelnen Wirtschaft bildet die Grundlage, auf der der Vollbürger ohne Sorge um die Bedürfnisbefriedigung und ohne Sucht nach Bereicherung eine menschenwürdige Existenz führen kann. (1) Das Wesen der Selbstgenügsamkeit besteht also nicht nur in der Vermeidung von Zukauf, sondern auch in der Abwesenheit jeglichen Überschusses. Diese Selbstgenügsamkeit wird später als Grundlage völliger Selbständigkeit gepriesen - so z. B. wenn PETRONIUS von einem reichen Emporkömmling erzählt, daß alles, dessen er bedürfe, im eigenen Haus erzeugt werde. (2) (Die gleiche Auffassung findet sich vom Standpunkt der konsumierenden Wirtschaft aus gesehen in den naturalwirtschaftlichen Pflanzungen der Neuen Welt wieder; von der Seite der Produktion aus treten ähnliche Vorstellungen im modernen Wirtschaftsleben auf, wenn sich große Industriebetriebe Baumwollplantagen, Kohlengruben oder Erzlager angliedern, um beim Bezug von Rohstoffen unabhängig von den Lieferanten zu sein; in der modernen Genossenschaftsbewegung kehren beide Auffassungen vereint wieder.) Es handelt sich dabei um ein Ideal, das nie verwirklicht worden ist. Auch bei völliger Naturalwirtschaft hat es Einzelwirtschaften, die sich völlig genügen, die niemals Überschuß noch Mangel kennen, nicht gegeben. Es hat auch wohl nie ein Zustand bestanden, bei dem die politische Gemeinschaft ausschließlich aus sich selbst genügenden Einzelwirtschaften gebildet worden ist.

2. Die Theoretiker der sich selbst genügenden Einzelwirtschaft gingen überdies von einem Gesellschaftsbild aus, dessen Einheiten weder gleichartig noch selbstgenügend sind. Bei PLATO wie bei ARISTOTELES besteht der Staat neben selbstgenügenden Einzelwirtschaften aus Überschußwirtschaften und aus Defizitwirtschaften. Die ausreichende Versorgung der einzelnen Wirtschaften nach Art und Menge der Waren muß zumindest als Ergänzung auf dem Weg des Tausches bewerkstelligt werden. Die Gesellschaft ist arbeitsteilig organisiert. In PLATOs bestem Staat soll "jeder Teilnehmer eines harmonischen Ganzen das Seinige leisten." (3) Das ist nur bei einer weit durchgeführten Berufsteilung möglich; die bloße Tatsache, daß die Hüter des Staates nicht selbst wirtschaften, bedingt, daß die anderen Klassen Überschüsse erzeugen müssen, die sie an die Hüter abführen. (4) Auch der zweitbeste Staat weist eine derartige arbeitsteilig angelegte Organisation auf. Die Landwirtschaft der Bürger muß eine Überschußwirtschaft sein, aus deren Ertrag die Beisassen, deren Amt Handel und Gewerbe sind, gespeist werden können. (5) Trotz des Bestehens einzelner Tauschwirtschaften wird jedoch das Ideal der Selbstgenügsamkeit der Gesamtheit gefordert. Auch dieses Ideal hat in Wirklichkeit nicht bestanden. Das Athen PLATOs ist alles eher als selbstgenügend gewesen. Es trieb nicht nur einen weitverzweigten Warenhandel; es führte Arbeitskräfte (Sklaven) ein und sandte Bürger zur Kolonisation aus. (6) Diese wirtschaftliche Verflechtung mit anderen politischen Gemeinwesen mittels einen intensiven Handels stellte nach PLATO das eigentliche zersetzende Element des attischen Staatslebens dar. So natürlich der Tausch sei, der einen Ausgleich in der Bedürfnisbefriedigung unter den einzelnen Wirtschaften herbeiführe, so unnatürlich sei der gewerbsmäßige Handel, der von unersättlichem Durst nach Gewinn getrieben, wirtschaftliche Ungleichheit und soziale Zersetzung verursache. Das sein ergiebigstes Feld der auswärtige Handel ist, so erscheint eine möglichste Einschränkung desselben vom sozial-ethischen Standpunkg aus wünschenswert. Das Ideal der völligen staatlich-wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit läßt sich jedoch ebensoweing verwirklichen wie das Ideal der einzelwirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit, da kein Staat alles erzeugen kann. Natürliche Momente bedingen die innere Arbeitsteilung. Sie bedingen auch den Bestand einer internationalen Verflechtung, die allerdings im Idealstaat kontrolliert und auf ein Minimum beschränkt sein soll. (7)

3. Dieses nichterfüllbare Ideal der staatlichen Selbstgenügsamkeit geht in die mittelalterlichen Theorien über. Der einzelne Mensch kann nicht selbstgenügsam sein, da die Zahl seiner Bedürfnisse zu groß ist. Daraus ergibt sich also eine Arbeitsteilung unter den Volksgenossen. Die so gebildete arbeitsteilige Gemeinschaft sollte wenn möglich selbstgenügsam sein, denn die Selbstgenügsamkeit gewährt:
    1. Stetigkeit und Sicherheit in der Versorgung in Krieg und Frieden;

    2. sie macht einen Kaufmannsstand überflüssig, dessen Leben verweichlicht;

    3. sie schützt vor den Beziehungen mit fremden Völkern, die die heimischen Sitten gefährden;

    4. sie schaltet den Handelsbetrieb aus, ohne den eine internationale Versorgung unmöglich ist, der aber das sittliche Leben gefährdet. (8)
Es sind hier so politische Momente neben die alten moralischen getreten. Aber auch für THOMAS von AQUINO ist keine volle Selbstgenügsamkeit erreichbar, denn es gibt keinen Staat ohne Mangel und keinen ohne Überfluß.

Obwohl diese mittelalterlich-scholastischen Gedanken nirgends völlig durchgeführt waren, so haben sie doch eine lebendige Kraft behalten und tauchen immer wieder auf, so z. B. bei den deutschen Kameralisten [Staatswirtschaftslehrer - wp] Diese übertragen die Idee der Selbstgenügsamkeit vom engen Gebiet der mittelalterlichen Stadtwirtschaft auf ganze Reiche. Bei BECHER und bei HORNICK wird die "Independenz", die Selbstgenügsamkeit als oberstes Ziel der der staatlichen Politik hingestellt. (9)


II.

Dieses Ideal der Selbstgenügsamkeit hat die praktische Politik in hohem Maße beeinflußt. Die Selbstgenügsamkeit ist nur dann ein erstrebenswerter Zustand, wenn eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit allen notwendigen Bedürfnissen gesichert ist. Zu diesem Zweck ist nötig:

1. eine soziale Ordnung, bei der zwischen den arbeitsteilig organisierten Ständen das richtige Verhältnis herrscht. Wo zwischen Landwirten, Handwerkern und Kaufleuten zahlenmäßige Unstimmigkeiten vorhanden ist, so daß die Produktioni des einen Teils über die Bedürfnisse des anderen hinausgeht, bzw. nicht ausreicht, ist durch Ausfuhr oder Einfuhr eine Verweisung auf fremde Volkswirtschaften nötig; daher wird eine zahlenmäßig richtige Arbeitsteilung (Berufsbildung), wie sie schon in beiden platonischen Staaten vorgesehen ist, immer wieder gefordert, ganz besonders auch bei den deutschen Kameralisten. (10) Dieser Gedanke wird später bei den Physiokraten und bei MALTHUS wieder aufgenommen; nur daß man dann die richtige Teilung nicht der Obrigkeit, sondern den natürlichen Kräften überläßt.

2. Nur bei ausreichender Versorgung der Konsumenten und nur bei entsprechender Entlohnung der Produzenten läßt sich der ununterbrochene Kreislauf innerhalb der sich selbstgenügenden Volkswirtschaft sichern. Infolge des Risikos der Produktion, das in Zeiten mangelhafter Verkehrsverhältnisse auch auf dem größten Wirtschaftsgebiet nicht ausgeschaltet werden kann, tritt jedoch die Politik des Konsumentenschutzes in den Vordergrund.

Die angemessene Versorgung und damit die Selbstgenügsamkeit ist nur aufrechtzuerhalten, wenn beim Verkehr der einzelnen Berufsgruppen Monopole, Ringbildungen usw. ausgeschlossen sind; daher eine tiefeinschneidende, obrigkeitliche Marktgesetzgebung, die den Ausgleich zwischen beiden Teilen auf der Grundlage des gerechten Preises herbeizuführen sucht.

Die Selbstgenügsamkeit wird nur soweit erstrebt, als sie die ungestörte Versorgung sichert. Die Mittel bestehen einmal in der Anwendung von Ausfuhrverboten, bald allgemeinen, bald speziellen - bald lokalen, bald territorialen. In normalen Zeiten erzeugen jedoch gewisse Länder bestimmte Waren im Überfluß. Bei diesen wird die Ausfuhr gestattet, wie bei der englischen Wolle, dem sächsischen Silber, gelegentlich auch bei Getreide. Bei jeder Krisis aber erschallt der Ruf nach Ausfuhrverboten. So sollte z. B. die Krisis im 16. Jahrhundert in Sachsen dadurch bekämpft werden, daß das sächsische Silber in unterwertigen Münzen ausgeprägt werden sollte, um seinen Abfluß leichter zu verhindern. (11) Die Mehrzahl der Waren aber, besonders die notwendigen Waren, sollten nicht ausgeführt werden. Für sie gelten dauernd Ausfuhrverbote, wie besonders die Geldausfuhrverbote. Diese Geldausfuhrverbote stellen keine eigenartigen Maßregeln dar. Sie suchen nur die seltensten und wertvollsten Waren im Lande zu halten. Dieser Gedanke tritt dann auch in denjenigen Ländern, die keine eigenen Bergwerke haben, in der Münzpolitik hervor. Man bekämpft die Münzverschlechterung, weil sie das gute Geld außer Landes treibt. "Bald frißt das Silber das Gold, bald frißt das Gold das Silber," sagt in Vorwegnahme des GRESHAMschen Gesetzes die Universität von Paris schon um 1400 (12) Auf der anderen Seite gestattet man die Einfuhr notwendiger Waren, auf die man vielfach den Bürgern Vorkaufsrechte sicherte. Diese Bestrebungen treten ganz deutlich in der Regulierung des auswärtigen Handels zutage, die man als "Kaufgeschäftsbilanz" bezeichnet. Gewisse Landesprodukte, die im Übermaß vorhanden sind, dürfen an bestimmten Punkten (Stapelstädten) ausgeführt werden; Gold und Silber befinden sich selten darunter. Der Gegenwert muß in bestimmten Waren bestehen. So wird 1403 in England verlangt, daß der Gesamterlös fremder Waren in englischen Waren angelegt werden müsse. Spanien bestimmt 1491, daß die Einfuhr von Schweinen aus Frankreich nicht mit Gold bezahlt werden darf. Ein spanisches Gesetz von 1550 sieht sogar vor, daß wer zwölf Sack Wolle ausführt, zwei Stück Tuch und eine Elle Leinwand einbringen muß. (13)

3. Der gleiche Gesichtspunkt beeinflußt auch die Luxusgesetzgebung, in der gewisse sittliche Momente neben den Momenten der Selbstgenügsamkeit, ausgefüllt werden könnte. Daher untersagt man z. B. im Jahre 1549 in Spanien die Produktion feiner Tuche, denn sie sind "so fein gewoben, daß Städter und gemeines Volk sich nicht mehr kleiden können." (14) Kamen die Luxuswaren vom Ausland, so waren die Gründe der Bekämpfung noch stichhaltiger: man konnte sie ja nur durch Ausfuhr notwendiger, die Existenz und damit die Selbstgenügsamkeit verbürgender Waren bezahlen.


III.

Diese Aufassung, bei der die Versorgung durch Schaffung eines selbstgenügenden Gemeinwesens gesichert werden soll, beginnt langsam abzubröckeln. Es entwickelt sich der Gedanke, daß die Versorgung durch eine regelmäßige Ausfuhr weit besser gewährleistet werden kann, als durch Grenzsperren. So befürwortet z. B. WILLIAM STAFFORD die Ausfuhr von Getreide: "Und wenn nachher ein teures Jahr eintreten sollte, so würde das Korn aller der Pflüge, die in einem guten Jahr überschüssig sind, in einem unfruchtbaren Jahr wenigstens ausreichen, um das Reich zu versehen." (15) Auf der anderen Seite müssen regelmäßig bestimmte Waren vom Ausland bezogen werden, was, wo es sich nicht um Tributzahlungen handelt, nur durch Ausfuhr möglich ist. Es entsteht eine Wirtschaftstheorie und eine Wirtschaftspolitik, die die ausreichende Versorgung des Landes nicht durch Abschluß und ausschließliche Nutzung des eigenen Wirtschaftsgebietes erzielen will, sondern durch auswärtigen Handel: der Merkantilismus. Die Eigenart der merkantilistischen Auffassung liegt eben darin, daß sie die Bedürfnisse des eigenen Volkes nicht durch Selbstversorgung, sondern durch internationalen Handel decken will. (16) Er ist daher im Prinzip ein Gegner der Idee der Selbstgenügsamkeit; er ist weltwirtschaftlich gestimmt. Die besseren Köpfe des Merkantilismus erstreben aber nicht nur die Versorgung durch internationale Verflechtung, sondern auch die Bereicherung. Die Ausfuhr soll zwar zur Bezahlung der Einfuhr verwendet werden. Die eingeführten Güter sollen aber wenn möglich nicht Konsumgüter sein. Es sollen Güter sein, die nicht im Gebrauch verbraucht werden, sondern Bestand haben und infolge allgemeiner Absatzfähigkeit jederzeit Dienste und Waren kaufen können. (17) In diesem Sinne sind die geeignetsten Einfuhrgüter die Edelmetalle. "Eines der für Glück und Wohlfahrt eines Reiches notwendigsten Dinge ist eine große Menge Geldes dauernd bei sich zu haben und Gold und Silber, da in dieser Substanz alle zeitlichen Güter des Lebens bestehen oder sich alle in ihr auflösen müssen. Wer Geld hat, verfügt gewissermaßen über alles." (18) Das Land, das Edelmetalle einführt, erhält damit dem Ausland gegenüber die Verfügung über Waren und Dienste, wie etwa heute unsere Zentralbanken durch Ankauf von Golddevisen.

Je nach den Produktionsmöglichkeiten des Landes mußten die Methoden des Merkantilismus verschieden sein. Bald hat man den Export von Agrarprodukten, bald den von Industrieprodukten im Auge; das eine Land erstrebt das Monopol des Gewürznelkenhandels oder des internationalen Zwischenhandels, das andere die Versorgung der spanischen Kolonien mit Sklaven. Immer handelt es sich darum, fremden Volkswirtschaften Waren und Dienste anzubieten, aus denen Forderungen auf diese entstehen mußten. Da die Idee des gerechten Preises noch die Geister beherrschte, nach der im normalen Tausch Gleiches gegen Gleiches gegeben wurde, so konnte eine Bereicherung im internationalen Tauschverkehr allerdings nur durch Betrug, bzw. Ausbeutung zustande kommen.

Auf jeden Fall stellt die merkantilistische Idee eine Verneinung der Idee der Selbstversorgung dar. Sie ist am konsequentesten in Holland durchgeführt worden, das ganz bewußt den internationalen Zwischenhandel an sich reißen wollte und die Deckung seiner eigenen Bedürfnisse durch Forderungen aufs Ausland sicherte. (19) Der Merkantilismus konnte jedoch die Ideen der alten Versorgungspolitik und damit die Ideen der Selbstgenügsamkeit nicht völlig überwinden.

Bei den schlechten Verkehrsverhältnissen des Binnenlandes war z. B. die Interlokale Versorgung mit Getreide sehr schwer. Der systematischste Vertreter des Merkantilismus - COLBERT - hat daher im großen und ganzen die Getreidepolitik der Versorgung fortsetzen müssen. Er hat wohl häufig die Ausfuhr von Getreide unterstützt, aber aus Angst vor Hungersnöten die Erlaubnis zur Getreideausfur stets nur vorübergehend erteilt - nicht etwa, um die Preise der Lebensmittel aus Industriefreundlichkeit zu drücken, sondern im Hinblick auf die Erregung der Bevölkerung. "Wenn man Getreideausfuhr spricht," meint BOISGUILLEBERT, "erhebt sich sofort die ganze Welt, sowohl das Volk, das blind ist, als auch diejenigen, die sich als erleuchtet betrachten." Wie berechtigt derartige Besorgnisse waren, mußte TURGOT erfahren, als seiner Befreiung des Getreidehandels der Mehlkrieg gefolgt war. (20)

Der Merkantilismus muß indessen nicht nur in manchen Punkten der Idee der Versorgung nachgeben; er sucht vielmehr oft das Ideal der Selbstgenügsamkeit auf erweitertem Raum durchzuführen. Die Erkenntnis, daß eine dauernde, territoriale Arbeitsteilung unvermeidlich ist, da viele Waren, an die man sich in Europa gewöhnt hatte, dort nicht erzeugt werden konnten, hatte schon lange Platz gegriffen. Man konnte sich diese einmal durch Beförderung des auswärtigen (indischen) Handels sichern. Man konnte aber - und das ist der Ausgangspunkt der modernen Kolonialpolitik - dem Mutterland Gebiete mit anderen Produktionsbedingungen als "Kolonien" angliedern, um auf diese Weise unter der gleichen politischen Herrschaft eine nationale, aber natürliche Arbeitsteilung vorzunehmen. Daher war die Gewinnung von Tropenprodukten das Hauptziel; man betrachtete alle "Kolonien", die solche nicht zu erzeugen vermochten, mit einer gewissen Besorgnis. Nur einzelne Ausnahmen, z. B. Marschall VAUBAN, betonten den Nutzen der Siedlungskolonien. Die Mehrzahl der Merkantilisten sah aber in Kolonien mit gemäßigtem Klima, die eine europäische Bevölkerung beherbergten, Konkurrenten, nicht Ergänzungen der einheimischen Volkswirtschaft. (21) Der leitende kolonialpolitische Gedanke erstrebte eine Gliederung der Produktioni nach - wenn man will - Provinzialgebieten. Während England z. B. sich die Tuchproduktion vorbehielt, sollte Irland der Leinenindustrie obliegen; die neuenglischen Kolonien sollten Holz und Felle liefern, aber der Verarbeitungsindustrie fernbleiben. Die Tropenkolonien sollten Tropenprodukte erzeugen, deren Anbau, z. B. des Tabaks, im Mutterland verboten wurde. Diese Ausgleich - le pacte colonial - enthält die merkantilistische Annäherung an das Ideal der Selbstgenügsamkeit. (22) Er konnte nicht verwirklicht werden, da die Kolonien häufig die Waren, die das Mutterland brauchte, nicht in der nötigen Menge oder in der nötigen Qualität erzeugten oder weil das Mutterland nicht imstande war, die gesamt koloniale Erzeugung aufzunehmen. Umgekehrt waren die Kolonien häufig darauf angewiesen, ihren Bedarf aus fremden Gebieten zu decken, während sie bei anderen Waren die mutterländische Produktion nicht aufzunehmen vermochten Sie waren überdies vielfach nicht gewillt, die ihnen auferlegte Produktionsbeschränkung zu beachten; sie wurden aus Gliedern Gegner. (23)

Wenn so die merkantilistischen Ideen in den Kolonialreichen mit der Idee der Selbstgenügsamkeit zusammenflossen, so mußten sie sich in ihrer ganzen Reinheit in den Ländern zeigen, die keine Kolonialgebiete besaßen, wie z. B. Italien. Es ist daher kein Zufall, daß der Gedanke des Merkantilismus, Versorgung und Bereicherung durch auswärtigen Handel, bei den Italienern, z. B. bei SERRA, am schärfsten zum Ausdruck kommt. (24)
LITERATUR Moritz Julius Bonn, Die Idee der Selbstgenügsamkeit, Festschrift für Lujo Brentano zum 70. Geburtstag, München und Leipzig 1916
    Anmerkungen
    1) MAURENBRECHER, Thomas von Aquinos Stellung zum Wirtschaftsleben seiner Zeit, Seite 54 und 55
    2) BÜCHER, Entstehung der Volkswirtschaft, Seite 117
    3) PÖHLMANN, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus, Seite 270f
    4) PÖHLMANN, a. a. O., Seite 349-354
    5) PÖHLMANN, a. a. O., Seite 510 und 511
    6) W. SCOTT FERGUSON, Greek Imperialism, Seite 62, 72 und 73
    7) PÖHLMANN, a. a. O., Seite 224, 230, 232, 508, 512
    8) EDMUND SCHREIBER, Die volkswirtschaftlichen Anschauungen der Scholastik seit Thomas von Aquino; daselbst die Zitate Seite 20-23
    9) WILHELM von HORNICK, Österreich über alles, wann es nur will, 1780, Seite 2, 23, 44-50. "Die Übertrefflichkeit, worauf die ganze Frag' gestellet ist, setze ich in den  von anderen Nationen independierenden,  es sey wirklich gegenwärtigen oder doch möglichen Überfluß, menschlicher Notdurften und Bequemlichkeiten, in specie Goldes und Silbers." "Wo einem Lande alle oder doch die Vornehme und mehrste, zur menschlichen Not und Wohlfahrt gehörige Dinge in Sattsamkeit und Independenz von anderen beschert sind und denen Einwohnern die genugsame natürliche Fähigkeit, sich deren recht zu gebrauchen beiwohnt, da muß notwendig entweder Reichtum, Überfluß und Macht zu genügen oder wofern nicht, alsdann aller Mangel am bloßen Willen zu sein." Ausführliche Darstellung bei KURT ZIELENZIGER, Die alten deutschen Kameralisten, Seite 280f
    10) J. J. BECHER, Politische Diskurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte, Länder und Republiken, 1673, Seite 9. - ZIELENZIGER, Seite 212
    11) W. LOTZ, Die drei Flugschriften über den Münzstreit der sächsischen Albertiner und Ernestiner um 1530, Seite 6, 8, 46
    12) J. RAMBAUD, Histoire des Doctrines Économiques, Seite 69
    13) CUNNINGHAM, Growth of English Commerce and Industry, Bd. II, Seite 395 und 432. - BONN, Spaniens Niedergang während der Preisrevolution des 16. Jahrhunderts, Seite 139
    14) BONN, a. a. O. Seite 145
    15) WILLIAM STAFFORD, Drei Gesprüche über die in der Bevölkerung verbreiteten Klagen, Seite 61
    16) Das hat ADAM SMITH, wie die Überschrift beweist, richtig erkannt: Buch IV, Kap. I: Of the principle of the Commercial or Mercantile System.
    17) CANNAN, Theories of Production and Distribution
    18) BONN, a. a. O. Seite 18
    19) E. LASPEYRES, Geschichte der volkswirtschaftlichen Anschauungen der Niederländer und ihrer Literatur zur Zeit der Republik.
    20) CLEMENT, Histoire de Colbert II, Seite 53-59, 346-364. BOISGUILLEBERT, Traité des Grains, Seite 347
    21) JOSIAH CHILD, A new discourse of Trade, Seite 163. - J. J. BECHER, a. a. O. - L. DESCHAMPS, Histoire de la Question Coloniale en France, Seite 224
    22) G. L. BEER, The old Colonial System I, Seite 106 und 107
    23) G. B. HERTZ, The Old Colonial System, Seite 49 und 58
    24) ANTONIO SERRA, Breve Trattato delle Cause usw., 1613. - In Ländern ohne Goldgruben usw. lassen sich die Edelmetalle nur in großen Mengen gewinnen durch: a) allgemeine und überall vorhandene Ursachen und überall anwendbare Maßnahmen; b) Sonderursachen und Sondermaßnahmen. Die allgemein und überall vorhandenen Ursachen sind 1. Gewerbetätigkeit; 2. industrielle und kaufmännische Begabung der Bevölkerung; 3. Handelstätigkeit; 4. gute Regierung (Seite 154-162). Die besonderen Ursachen sind: 1. Überfluß an Rohstoffen, die ausgeführt werden können. Sie sind an bestimmte Orte gebunden und können nicht beliebig vermehrt werden; 2. Die Verkehrslage.