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HERMANN LOTZE
Vom Skeptizismus
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"Doch gehen die Dinge nicht selbst in unsere Erkenntnis über, sondern nur Vorstellungen, die nicht Dinge sind, erwecken sie in uns. Die mannigfaltigen Vorstellungen in uns also, woher sie auch gekommen sein mögen, bilden das einzig unmittelbar Gegebene, von dem unsere Erkenntnis beginnen kann; in ihnen und im Verlauf ihres Wechsels und ihrer Verknüpfungen suchen wir eine gesetzliche Ordnung nach Anleitung der allgemeinen Grundsätze unseres Denkens aus, die uns bestimmen, was für eine Ordnung und Wahrheit, was für Widerspruch und Rätsel zu halten ist."

"Solange wir noch etwas irgendwie Verständliches unter Einsicht denken wollen, wird sie doch immer unter einen dieser Begriffe des Wissens, Anschauens, Erkennens fallen, d. h. sie wird nie die Sache selbst, sondern immer ein Ganzes von Vorstellungen über die Sache sein. Nichts ist einfacher als die Überzeugung, daß jeder erkennende Geist alles nur so zu Gesicht bekommen kann, wie es für ihn aussieht, wenn er es sieht, aber nicht so, wie es aussieht, wenn es Niemand sieht; wer eine Erkenntnis verlangt, welche mehr als ein lückenlos in sich zusammenhängendes Ganzes von Vorstellungen über die Sache wäre, welche vielmehr die Sache selbst erschöpft, der verlangt keine Erkenntnis mehr, sondern etwas völlig Unverständliches."

302. Gesetze seines Verfahrens kommen dem Denken erst nach vielfältiger Ausübung seiner Tätigkeit durch eine vergleichende Reflexion zum Bewußtsein, die sich auf diese verschiedenen Beispiele seines Tuns zurückwendet und die unbewußt in ihnen befolgten Regeln zu gesonderten Gegenständen der Betrachtung macht. Noch späteren Ursprungs ist die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit dieser Gesetze und nach den Grenzen, innerhalb deren ihre Befolgung Wahrheit der Erkenntnis verspricht; sie kann erst entstehen, wenn Erfahrungen von Irrtümern gemacht worden sind, zu denen nicht die Vernachlässigung, sondern die Anwendung jener Gesetze auf jeden vorkommenden Inhalt unseres Vorstellens verführt zu haben scheint. Mißlingen dann auch die zerstreut angestellten Versuche, entstandene Schwierigkeiten und Widersprüche durch eine bessere Deutung entweder dessen hinwegzuräumen, was uns Wahrheit schien, oder dessen, was wir als gegeben durch Wahrnehmung betrachteten, so bildet sich die Stimmung eines umfassenden allgemeinen Zweifels, der Skeptizismus. Vorübergehend und in größerer oder geringerer Nachhaltigkeit tritt diese Stimmung in der ernsten Entwicklung jedes Einzelnen auf; als normale Verfassung des Gemüts, die am Anfang der Wissenschaft alles überkommene Wissen als fragliches Vorurteil ansehen und der Prüfung vorbehalten soll, ist sie in der Geschichte der Philosophie mehrmals mit großem Nachdruck verlangt worden; als bleibendes Ergebnis hat sie sich in den skeptischen Schulen verfestigt, die zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit sicherer Erkenntnis gelangt zu sein glaubten. In dieser letzten Form, in welcher allein die skeptische Stimmung zu einem bestimmten Abschluß gekommen zu sein meint, werden wir sie nicht so durchgängig von überkommenen Vorurteilen frei finden, wie sie selbst sich zu sein rühmt; Eins aber ist vor allem klar: eine unbedingte Leugnung aller Wahrheit kann diese Endmeinung des Skeptizismus niemals einschließen, denn nicht bloß die Lösung des Zweifels, sondern der Zweifel selbst ist nur möglich unter der Voraussetzung irgendeiner anerkannten Wahrheit. Wer auf einen Ausweg aus dem Labyrinth der Skepsis zu irgendeiner sicheren Erkenntnis hofft, gibt dies von selbst zu; denn finden kann er diesen Weg nur durch eine Untersuchung; jede Untersuchung aber ist nur möglich, wenn wir zumindest formale Grundsätze der Beurteilung voraussetzen, nach denen die eine Verknüpfung von Gedanken als richtig von einer anderen als einer falschen oder von einer dritten als zweifelhaften unterschieden werden kann. Und wieder, wer jenen Ausweg leugnet, erkennt leugnend selbst das an, was er verneint. Als die antike Sophistik lehrte, es gebe keine Wahrheit, und wenn es eine gäbe, so wäre sie nicht erkennbar, wenn sie endlich selbst erkennbar wäre, so würde sie doch nicht mitteilbar sein, - so widersprach sie durch die Tat jedem einzelnen dieser Sätze. Denn das Ganze derselben gab sie doch für Wahrheit und konnte mithin nicht jede Wahrheit leugnen; sie suchte die Richtigkeit ihrer Behauptungen ferner zu beweisen und mußte deshalb eben die mittelbare Erkenntnis der Wahrheit, deren Unmöglichkeit sie am liebsten dargetan hätte, zu ihren eigenen Gunsten voraussetzen; die Mitteilbarkeit endlich leugnete sie in dem Augenblick, wo sie aufgrund derselben Andere überzeugen wollte. Diesen Widersprüchen entgehen auch diejenigen nicht, die im Ausdruck ihres Ergebnisses die Form der Behauptung scheuen und nicht die Nichtgeltung ihrgendeiner Wahrheit aussprechen, sondern nur ihr non liquet [Es ist nicht klar! - wp] auch aus diese allgemeine Frage anwenden möchten; gewiß können sie und wir mit ihnen diese Antwort oft geben, wo es sich um die Prüfung einzelner Behauptungen aufgrund gültiger Wahrheiten handelt; daß aber die Geltung aller Wahrheit zweifelhaft ist, läßt sich zwar mit Worten sagen, aber den Worten entspricht kein ausführbarer Gedanke mehr; wir könnten die Bedeutung jenes liquet nicht mehr angeben, das wir hier leugnen, wenn wir nicht gewisse Bedingungen denken, unter denen es stattfinden würde, wenn wir also nicht irgendeine unbedingt gültige Wahrheit voraussetzen, aus der die Berechtigung fließt, über dasjenige zweifelhaft zu sein, dessen Übereinstimmung mit ihr nicht nachweisbar ist. Aber nicht nur jeder Abschluß der Skepsis durch irgendeine Behauptung, sondern auch der Zweifel selbst als Tatsache ist unmöglich ohne diese Voraussetzung, unmöglich zumindest in dem Sinn, in welchem allein wir hier von ihm zu sprechen haben; denn Ungewißheit freilich würde es dann, wenn keine Wahrheit Notwendiges und Nichtnotwendiges unterscheiden lehrt, nicht zuweilen, sondern in Bezug auf Zukünftiges zumindest, immer geben, dafür aber auch nie eine Veranlassung zu der zweifelnden Frage, ob ein Gegebenes einem Maßstab entspricht, dem zu entsprechen oder nicht zu entsprechen nur dann einen Unterschied macht, wenn er als Maßstab als Bedingung als Wahrheit anerkannt ist. Wie ausgedehnt daher auch immer die Ansprüche des Skeptizismus sein mögen: er kann dennoch nicht nur die Anerkennung einer ansich gültigen Wahrheit, sondern auch die Voraussetzung nicht los werden, daß menschliches Denken Grundsätze besitzt, nach denen es zumindest die Unnachweisbarkeit der Übereinstimmung gegebener Vorstellungen mit dieser Wahrheit zu beurteilen vermag.

303. Bis zu diesem Zugeständnis nun läßt sich die skeptische Stimmung leicht treiben; sie wird einräumen, von der Anerkennung einer ansich gültigen Wahrheit durchdrungen zu sein und zugeben, daß denknotwendige Gesetze unser Untersuchen und Zweifeln beherrschen; aber darüber ist sie bekümmert, ob diese beiden Glieder zusammenpassen. Eben weil wir wissen, daß es eine Wahrheit geben muß, und hierdurch zugleich wissen, daß es einen Irrtum geben kann, wie werden wir gewiß, ob nicht auch jene denknotwendigen Gesetze in unserem Geist dieser Seite des Irrtums angehören, ob also nicht Alles ansich ganz anders ist, als es uns denknotwendig scheinen muß zu sein? Es ist klar, daß diese Skepsis, die zum Zweifel nicht durch einen positiven Grund getrieben wird, der in der Natur des bezweifelten Inhalts liegt, die vielmehr die allgemeine Möglichkeit Zweifel zu erheben für einen Rechtsgrund ihrer wirklichen Erhebung ansieht, niemals eine demonstrative Widerlegung zulassen kann. Denn jeder Grund, den man gegen sie in das Feld führen kann, wird sich nur auf die Evidenz und Notwendigkeit stützen können, mit welcher er selbst gedacht wird, und gehört also mit zum Bereich des Denknotwendigen, in Bezug auf welches jene öde Frage, ob nicht dennoch Alles ganz anders ist, ins Unendliche wiederholt werden kann. Auch diese Frage ist in der Geschichte der Philosophie mehrmals aufgestellt worden; noch am Anfang der Neuzeit hat DESCARTES, nachdem er vom Vorhandensein einer unserem Geist angeborenen denknotwendigen Ideenfülle sich überzeugt zu haben glaubte, sie in der anschaulichen Gestalt der Vermutung vorgetragen: ob nicht ein böser Dämon unsere Natur so eingerichtet haben könnte, daß alle unsere Gedanken falsch sind und uns dennoch als evidente denknotwendige Wahrheiten vorkommen? Und diese Vermutung meinte er nur widerlegen zu können durch den Hinweis darauf, daß auch die Vorstellung eines unbedingt vollkommenen heiligen Gottes unter jenen angeborenen Ideen vorhanden ist; aus sich selbst aber kann der endliche Geist nicht den Gedanken dessen erzeugt habe, was größer ist als er selbst, den Gedanken des Unendlichen; nur ein wirklicher heiliger Gott könnte ihn in uns gelegt haben, diesem heiligen Gott aber widerspricht es, uns zu täuschen. Es ist ein Zug in dieser Beweisführung, der unsere Aufmerksamkeit reizen könnte: der hindurchblickende Gedanke, in unserer unmittelbaren Zuversicht zur Bedeutung er sittlichen Idee liegt zuletzt die Bürgschaft auch für die Wahrheit unserer Erkenntnis; aber so wie der Schlußsatz hier kurzerhand Beides zusammenstellt, wird er allerdings Niemanden überzeugen. Denn was läßt sich am Ende mit Grund den religiösen Auffassungen entgegenstellen, die auch vom Glauben an einen heiligen Gott ausgehen, aber es mit seiner erziehenden Weisheit sehr wohl verträglich finden, daß er einen großen Teil der Wahrheit unserer menschlichen Erkenntnis ganz entzogen hat? Und wenn er uns nun nicht nur einen Teil, sondern alle Wahrheit versagt, dafür aber unseren Geist mit ihm denknotwendigen Einbildungen ausgestattet hätte, welches Recht hätten wir, mit dem tadelnden Namen einer Täuschung diese Versagung der Wahrheit und die Verleihung des Irrtums zu belegen, bevor wir nachgewiesen hätten, daß auf die Gewährung der ersten unser Geist ein Recht besitzt, welches Gott nicht ohne Abbruch seiner eigenen Heiligkeit unbeachtet lassen dürfte, und daß die Erkenntnis alles Seienden, wie es ist, die notwendige Vorbedingung zur Erfüllung der Zwecke ist, die wir den Absichten dieser Heiligkeit zutrauen? Diesen Beweis hat DESCARTES weder erbracht, noch versucht; er überläßt sich in diesem Gedankengang sehr sorglos gewissen Annahmen, die bei der Beurteilung des inneren Verkehrs der Menschen untereinander ihre beschränkte Berechtigung haben, aber zu grundlosen Urteilen werden, wenn sie auf diese umfassendste Frage nach dem Sinn einer in endlichen Geistern sich offenbarenden Denknotwendigkeit angewandt werden; seine Erörterung würde uns wirklich nicht hindern anzunehmen, daß zwar kein boshafter Dämon, aber eine gestaltende Macht uns überhaupt so gebildet hat, daß uns in der Tat Alles denknotwendig anders zu sein scheint, als es ist. Zweierlei nun bleibt uns übrig. Wir können zuerst denjenigen, der dieser Annahme beizutreten geneigt ist, sich selbst überlassen, da wir die Unmöglichkeit seiner Widerlegung einsehen, solange er sein Zweifeln nicht auf bestimmte Gründe stützt, die den Zweifel notwendig machen, sondern nur auf die Möglichkeit, ihn stets ohne allen Grund zu wiederholen; dieser Neigung gegenüber würden wir uns wissenschaftlich auf einen Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft zurückziehen, dem im Leben auch unser Gegner zu folgen nicht umhin kann und nicht verschmäht: wir würden Denknotwendiges so lange für wahr halten, bis es durch seine eigenen Folgerungen eine andere Aufklärung über sich gibt und uns nötigt, es zu einem Schein zu erklären, der dann kein schlechthin ungültiger Schein ist, sondern in einer angebbaren Beziehung zu der Wahrheit steht, welcher er nicht mehr gleicht. Dieses Verhalten beobachtet man im Leben; denn solange die Welt steht, ist jener grundlose Skeptizismus zwar immer zuweilen wieder zum Vorschein gekommen; aber ebenso oft hat man ihm einfach den Rücken gekehrt. Einer wissenschaftlichen Betrachtung geziemt dies nicht ganz; der andere Weg scheint mir nützlicher, die innere Haltlosigkeit jener wunderlichen Bekümmernis aufzudecken, ob nicht am Ende Alles ansich anders ist, als es uns als denknotwendig scheint? Was heißt doch endlich dieses Ansich, oder dieses Ansichsein von irgendetwas, das wir unserer denknotwendigen Auffassung desselben Etwas entgegenstellen und das anders sein könnte als diese? Hierin liegt, wie wir jetzt ausführen wollen, ein Vorurteil unserer zusammengesetzten Bildung, das unbesehen in diese Skepsis, die jedes Vorurteil abgetan zu haben glaubt, übergegangen ist.

304. Wer über die Berechtigung und die Quellen seiner Erkenntnis nachzudenken beginnt, findet sich zunächst in all die Voraussetzungen verstrickt, die unbewußt im Laufe seiner Bildung aufgrund eigenen Erlebens oder durch Überlieferung ihm entstanden sind; denn die Anfangsstimmung des Geistes kann nicht der Zweifel, sondern nur das Zutrauen zu allen seinen Wahrnehmungen sein. Keine von jenen Voraussetzungen ist allgemeiner, als die Vorstellung einer unabhängigen Welt der Sachen, zu der wir alle gewohnt sind unsere Gedankenwelt in einen Gegensatz zu bringen. Irrtümer, welche uns innerhalb dieser Gedankenwelt begegnen, unterscheiden wir als leicht heilbare Schäden vom befürchteten großen Irrtum, in welchem sich vielleicht die gesamte Folgerichtigkeit der Gedankenwelt gegenüber jener Welt der Sachen selbst befindet. Die zweifelnde Frage, ob nicht doch Alles anders sein könnte, als es uns scheinen muß, hat daher zunächst nur unter der Voraussetzung einen verständlichen Sinn, daß unser Erkennen zum Abbilden einer Sachenwelt bestimmt ist, und in der Tat hat man am häufigsten die Wahrheit, über deren Möglichkeit für uns man ungewiß ist, als die Übereinstimmung unserer Erkenntnisbilder mit dem Verhalten der Sachen definiert, welches sie abzubilden behaupten. Das gewöhnliche Bewußtsein verläßt im Leben diesen Standpunkt nie; die Philosophie hat ihn öfters, im Verlauf ihrer Untersuchungen und aufgrund von Erkenntnissen, die sie schon zu besitzen glaubte, aufgegeben; einer Skepsis aber, welche bei der Erforschung der Möglichkeit unserer Erkenntnis allen Vorurteilen entsagen wollte, war es zunächst Pflicht, nicht eine Definition der von ihr gesuchten Wahrheit stillschweigend beizubehalten, die auf das unerörterte Vorurteil vom Vorhandensein einer Außenwelt der Sachen gegründet ist. Bestreiten, daß diese Annahme ein Vorurteil ist, könnte derjenige, der nie einen Zweifel erhebt, sondern an der unmittelbaren Wahrnehmung sich vollständig genügen läßt, daß sie ihm zugleich ein zwingendes Zeugnis für das Dasein und zugleich eine fehlerlose Offenbarung über die Natur dieser Außenwelt scheint; wer aber einmal an der Wahrheit einer Wahrnehmung zweifelt und dabei als selbstverständlich die Voraussetzung vom Dasein der Sache festhält, der sie eigentlich entsprechen sollte, der kann zuerst seinen Zweifel nur erheben aufgrund gewisser ihm selbst denknotwendig erscheinenden Überzeugungen über die Natur jener Sache selbst, die ihm verbieten, die gegebene Wahrnehmung als ihr wahres Abbild anzusehen; da ihm aber ferner die Sache selbst nun nicht mehr durch unmittelbare Wahrnehmung gegeben it, so kann auch die Nötigung, ihr Dasein überhaupt festzuhalten, nur auf dem Zwang einer ihm selbst angeborenen Denknotwendigkeit beruhen, die ihn nötigt, das mannigfache Wahrgenommene durch den Gedanken jenes Nichtwahrgenommenen zu ergänzen, um das Ganze seiner Vorstellungen in eine innerliche, den Gesetzen seines Denkens entsprechende Übereinstimmung zu bringen. Unserem unmittelbaren Glauben nicht, wohl aber unserer wissenschaftlichen Rechtfertigung über unser Beharren bei der Annahme der Wirklichkeit jener Sachenwelt, liegt eine philosophische Erörterung dieser Gedanken zugrunde, und die Systeme des Idealismus und des Realismus sind hierüber zu entgegengesetzten Ergebnissen gekommen. Diese umfassende Frage hier zur Entscheidung zu bringen, ist nicht im Mindesten unsere Aufgabe; im Gegenteil ist unsere Absicht zu zeigen, daß sie methodologisch nicht in diesen Beginn erkenntnistheoretischer Überlegungen hätte eingeflochten werden sollen. Ein und derselbe Gedanke ist zu diesem Zweck in zwei Formen zu verfolgen; zuerst ist zu erinnern, daß jede Entscheidung über jene Frage die Anerkennung der Kompetenz des Denkens voraussetzt; dann ist zu zeigen, daß nie etwas Anderes als der Zusammenhang unserer Vorstellungen untereinander den Gegenstand unserer Untersuchungen ausmachen kann.

305. Wenige Worte genügen, um das Erste zu wiederholen. Jede Kritik unseres gesamten Erkenntnisvermögens P, unternommen in der Absicht, seine Übereinstimmung mit der Natur von Dingen zu untersuchen, würde zur Entscheidung eine andere Quelle Q der Wahrheit voraussetzen, welche uns diese Natur unverfälscht kennen lehrte; denn nur Bekanntes mit Bekanntem können wir vergleichen, nicht Bekanntes mit Unbekanntem. Sei nun dieses Q uns gegeben, gleichviel ob in Gestalt einer umfassenden, unserem Geist ursprünglich mitgeteilten Offenbarung oder in Gestalt einer Gewißheit, die uns in Bezug auf einzelne Fragen jedesmal in dem Augenblick ihrer Aufwerfung plötzlich überkäme, wie werden wir es mit den Aussprüchen jenes P vergleichen, welches uns unsere Einzelvorstellungen nach bestimmten Gesetzen zu verknüpfen gebietet? Sind P und Q einstimmig, wodurch würden wir sie beide unterscheiden können, um die Überzeugung zu gewinnen, daß nicht nur unsere subjektive Erkenntnis P hier zu Wort gekommen ist, sondern außerdem noch durch jene höhere objektive Wahrheit Q bestätigt und in ihrer Übereinstimmung mit den Dingen selbst bezeugt worden ist? Wir würden es gar nicht können, sondern der vereinigte Ausspruch beider würde genau denselben Zweifeln unterliegen, denen der von P allein ausgesetzt wäre. Wenn aber Q uns etwas anderes lehrt als P, wie würden wir den Streit entscheiden? Gesetzt auch, daß tatsächlich Q die Wahrheit und P den Irrtum lehrt, auf welche andere Weise könnte unser Glaube an diese höhere Berechtigung von Q erweckt werden als durch die größere unmittelbare Gewißheit, mit welcher sein Ausspruch gegenüber dem von P auftritt? Aber diese Gewißheit ist undenkbar, ohne daß Q mit eben derjenigen Wahrheit übereinstimmt, die das allgemeine Gesetz unserer subjektiven Erkenntnisfähigkeit P bildet; was dieser widerstreitet, würde, auch in unmittelbarer Wahrnehmung gegeben, uns stets für ein Rätsel, aber nicht für Offenbarung gelten. Bleiben daher Q und P einander entgegengesetzt, so erfahren wir nicht eine Widerlegung des P durch das höhere Recht des Q, sondern wir erleben einen inneren Widerstreit zwischen zwei Äußerungen desselben unserem Geist eigentümlichen Erkenntnisvermögens, einen Widerstreit, der entweder beim Mangel einer anrufbaren höheren Instanz niemals oder nur dadurch geschlichtet werden kann, daß eben dieses selbe Erkenntnisvermögen einen ihm selbst angehörigen höheren Gesichtspunkt auffindet, von welchem aus die eine oder andere jener entgegengesetzten Äußerungen berichtigt und den nun bloß scheinbare Widerspruch zwischen ihnen beseitigt wird. Auf das mithin, was uns denknotwendig ist, sind wir tatsächlich in jedem Fall beschränkt; das Selbstverstrauen der Vernunft, daß Wahrheit überhaupt durch Denken gefunden werden kann, ist die unvermeidliche Voraussetzung allen Untersuchens; welches der Inhalt der Wahrheit ist, kann immer nur durch eine Selbstbesinnung des Denkens gefunden werden, das seine einzelnen Erzeugnisse unablässig an einem Maßstab der allgemeinen Gesetze seines Tuns mißt und prüft.

306. Über den hierin enthaltenen Zirkel bedenklich zu sein, ist nicht nur nutzlos, da seine Unvermeidlichkeit nun doch handgreiflich ist, sondern auch überflüssig, weil niemals, und dies ist das Andere, was wir zu zeigen haben, ein Augenblick kommen kann, welcher den in einem dunklen Argwohn von dorther befürchteten Schaden uns bemerkbar werden läßt. Alles, was wir von der Außenwelt wissen, beruth auf den Vorstellungen von ihr, die in uns sind; es ist zunächst völlig gleichgültig, ob wir idealistisch das Vorhandensein jener Welt leugnen und nur unsere Vorstellungen von ihr als das Wirkliche betrachten, oder ob wir realistisch am Sein der Dinge außerhalb von uns festhalten und sie auf uns wirken lassen; auch im letzteren Fall gehen die Dinge doch nicht selbst in unsere Erkenntnis über, sondern nur Vorstellungen, die nicht Dinge sind, erwecken sie in uns. Die mannigfaltigen Vorstellungen in uns also, woher sie auch gekommen sein mögen, bilden das einzig unmittelbar Gegebene, von dem unsere Erkenntnis beginnen kann; in ihnen und im Verlauf ihres Wechsels und ihrer Verknüpfungen suchen wir eine gesetzliche Ordnung nach Anleitung der allgemeinen Grundsätze unseres Denkens aus, die uns bestimmen, was für eine Ordnung und Wahrheit, was für Widerspruch und Rätsel zu halten ist. So oft wir ein solches Gesetz entdeckt haben, nach welchem sich der Zusammenhang zweier bestimmter Vorstellungen B und F in uns allgemein und immer richtet, so oft haben wir ein Stück von dem erreicht, was wir Erkenntnis der Sache nennen; scheitern wir in der Bemühung, einen so beständigen Zusammenhang zwischen B und F aufzufinden, so liegt ein Rätsel vor, dessen Auflösung wir immer darin suchen, allgemeingültige Beziehungen zwischen B und einem anderen Vorstellungsinhalt M, zwischen F und einem vierten N aufzusuchen, und dann zu zeigen, daß wegen eines veränderlichen Zusammenhangs, der zwischen M und N stattfindet, derjenige zwischen B und F nicht durch das versuchte einfache Gesetz, sondern nur durch ein anderes, das auf M und N Rücksicht nimmt, ausgedrückt werden kann. Zweifeln wir endlich daran, ob eine Relation, die wir zwischen zwei Vorstellungen B und F in uns gefunden haben, sachlich richtig ist, so heißt das nie etwas anderes als: wir zweifelns daran, ob allgemein und immer, so oft B und F in unserem Bewußtsein als Vorstellungen auftreten werden, zwischen ihren Inhalten dieselbe Relation stattfinden wird, die wir vorher aus nur einigen ihrer Wiederholungsfälle abstrahiert hatten. Was man aber mit der wiederholten Frage will, ob eine für unser Bewußtsein immer sich bestätigende Beziehung zwischen B und F auch ansich richtig ist, ist nur in einem Fall begreiflich: dann nämlich, wenn diese hier tatsächlich bestehende Beziehung den allgemeinen Voraussetzungen nicht gemäß ist, welche wir nach der eigenen Notwendigkeit unseres Denkens über alle Beziehungen des Mannigfaltigen überhaupt und so auch über diejenigen machen müssen, die wir uns als bestehend zwischen verschiedenen von uns unabhängigen realen Wesen denken wollen. Nicht dieses Reale einer vorausgesetzten Außenwelt selbst tritt hier zwischen unsere Vorstellungen als ein Maßstab, an dem die Wahrheit dieser Vorstellungen zu messen wäre; sondern immer nur die uns notwendige Vorstellung vom möglichen Verhalten einer solchen Welt, wenn sie ist, also einer unserer eigenen Gedanken, ist das Maß, an dem wir die unmittelbar evidente oder einer Aufklärung bedürftige Wahrheit anderer Gedanken messen.

307. Es ist vielleicht überflüssig, vielleicht aber doch nützlich, diese einfache Überlegung noch von entgegengesetzter Seite her zu wiederholen und zu fragen, wie es denn zugehen muß, wenn wir irgendeine angebliche Erkenntnis Z als einen Irrtum erkennen sollen? Gesetzt, wir wüßten aus unseren Beobachtungen, daß zwischen wiederholt in uns entstehenden Vorstellungen B und F die unveränderliche Beziehung Z nicht stattfindet, diese Beziehung sich vielmehr ändert je nach den veränderlichen Verhältnissen, in denen B mit M und F mit N verbunden vorkommt; ein anderer unserer Mitmenschen aber lebt in einem Erfahrungskreis, in welchem ausschließlich die Bedingungen gelten, unter denen die Relation Z zwischen B und F stets bestehen muß: so wird für ihn weder jemals die Veranlassung zu einem Zweifel an Z kommen, noch wird der Glaube an Z den Zusammenhang seiner übrigen Vorstellungswelt beeinträchtigen, solange Z mit den allgemeinen Gesetzen seines Denkens verträglich ist. Allerdings wird die Voraussetzung, Z sei eine von weiteren Bedingungen unabhängige Relation zwischen B und F, es ihm sehr erschweren können, für die Verhältnisse anderer Bestandteile U und W seines Erfahrungskreises ein einfaches Gesetz zu finden, das er finden würde, wenn er die Abhängigkeit des Z von Bedingungen erkannt hätte, die auch das Verhältnis zwischen U und W mitbestimmen; aber solange er seinen Glauben an Z nicht weiter als auf die Gegenstände seiner Vorstellungswelt ausdehnt, wird es ihm doch gelingen, das in dieser Zusammengehörige in einen wenn auch schwerfällig ausgedrückten Zusammenhang zu bringen. Wir nun, im Besitz der Beobachtungen, die ihm fehlen, sehen seinen Irrtum; ihn selbst aber können wir von demselben nur dadurch überzeugen, daß wiri ihn aus seinem beschränkteren Erfahrungskreis herausreißen und in einen weiteren versetzen; dann, wenn in ihm selbst neue Vorstellungsverknüpfungen entstehen, die sich von seinen früheren unterscheiden, wird er zugestehen, sich geirrt zu haben; und auch dann nur zugestehen, daß die Allgemeinheit falsch war, mit der er die Relation Z zwischen B und F dachte, während sie immer wahr bleibt, wenn die Bedingungen hinzugedacht werden, unter denen sie ihm unbewußt gegolten hat. Wie nun, wenn wir an die Stelle dieses einen in ungünstige Verhältnisse gebannten Beobachters die menschliche Vernunft überhaupt setzen und sie eingeschränkt in eine zusammenhängende Vorstellungsweise denken, die dem wahren Verhalten einer außerhalb von ihr befindlichen Sachenwelt nicht entspricht? Auf welche Weise wird der beständige Irrtum, in welchem wir uns dann alle befinden, zu unserer Kenntnis kommen und welchen Schaden wird unsere Erkenntnis von seinem Fortbestand haben? Sehen wir zunächst ab von der Belehrung, die uns ein Engel erteilen könnte, so finden wir: die Sachen selbst sind es gewiß nicht, die sich plötzlich einmal selbst zwischen unsere Gedanken drängen und deren Falschheit aufdecken; käme auch die Welt der Dinge in ihrem selbständigen Verlauf einmal in neue Konstellationen, die ganz schneidend den Auffassungen widersprechen, welche wir uns über sie gebildet hätten: merklich würde uns dieser Widerspruch immer nur dadurch, daß ihre Einwirkung auf uns jetzt Vorstellungen in uns erweckt, deren Verknüpfung den früher für sie angenommenen Regeln nicht mehr folgt. Dann haben wir einen jener inneren Irrtümer begangen, deren Vorkommen wir natürlich zugestehen; wir haben die veränderliche Welt der Vorstellungen in uns, das einzige Material, das unserem Erkenntnisbestreben vorliegt, falsch interpretiert; wir erkennen jetzt, daß wir dazu gelernt haben und daß der Satz Z die früher von ihm geglaubte Allgemeingültigkeit nicht besitzt, aber auch, daß er zu gelten fortfährt, wenn die jetzt bekannt gewordenen Bedingungen seiner Gültigkeit zu ihm hinzugedacht werden. Und da nun die Allgemeingültigkeit des Z ein Irrtum ist, so ist auch die so beschränkte Gültigkeit des Z eine Wahrheit, und wir lernen einsehen: weil Irrtum uns zuletzt immer nur durch einen inneren Widerstreit in unserer eigenen Vorstellungswelt bemerkbar werden kann, so besteht auch das Erkennen der Wahrheit nur in der Auffindung von Gesetzen, nach denen dieser innere Zusammenhang unserer Vorstellungswelt sich immer richten wird, wie unendlich wir auch ihren veränderlichen Lauf fortgesetzt denken mögen. Gewiß ist diese Auffindung ein unvollendbares Unternehmen und wir haben die ganze Wahrheit nicht, sondern wir suchen sie; so oft wir jedoch eine frühere Überzeugung Z auf Veranlassung neuer Erfahrungen in unserer Vorstellungswelt berichtigen, haben wir zwar noch nicht die volle Wahrheit erreicht, aber diejenigen Irrtümer aufgehoben, die ohne diese Berichtigung fortgedauert hätten.

308. Ich müßte mich sehr täuschen, oder diese Erörterung Niemandem genügen. So bleiben wir dennoch, wird man einwerfen, wenn wir auch innere Widersprüche in uns tilgen, in den umfassenden Irrtum unseres ganzen in sich verwachsenen Vorstellens eingeschlossen und sehen nie die Wahrheit ansich, sondern nur was uns Wahrheit scheinen muß. Rufen wir dann jenen Engel zu Hilfe, der aus seiner reinen Atmosphäre herab die Dinge schaut, wie sie sind. Wie sehr, bilden wir uns ein, würden wir erschrecken, wenn plötzlich durch ihn der Schleier vor unseren Augen gelüftet würde, und wir nun sehen, wie alles ganz anders ist, als wir es uns vorgestellt hatten! In der Tat, einen sehr freudigen Schrecken würden wir empfinden, wenn dieser Augenblick uns offenbart, wie dieselben inhaltvollen Vorstellungen, die wir früher hatten, durch einfache uns verborgen gebliebene Mittelglieder nach denselben Gesetzen, nach denen unser Denken sich früher bewegte, lückenlos und ohne Widerspruch begreiflich würden. Aber auch nur unter dieser Bedingung. Wäre es eine ganze neue Welt, die uns jetzt aufginge, ohne Ähnlichkeit und Zusammenhang mit der, in der wir früher lebten, so würden wir ja nicht sehen, daß alles anders ist, als wir dachten; das ganze neue Schauspiel, das keinen Vergleich mit dem vorigen zuließe, würde, aus dem Grund zumindest, den wir hier im Sinn hatten, uns weder freudig noch ängstlich erschrecken; selbst überaschen könnte es nur durch den Gegensatz, also doch durch eine Beziehung auf den Inhalt unseres früheren Irrens. Aber auch wir, die nun Sehenden, müßten dieselben sein, die wir früher blind waren. Hätte jener Offenbarungsaugenblick auch die Gesetze unseres Denkens umgewandelt und die Bedingungen verändert, die für uns Wahrheit und Irrtum unterscheiden, so würden wir zwar, wenn die neueröffnete Welt diesen neuen Bedingungen der Wahrheit durchgängig entspräche, keinen Anlaß haben, irgendeinen einzelnen Bestandteil derselben in Zweifel zu ziehen; aber was sollte uns vor dem allgemeinen Zweifel schützen, ob nicht auch diese in sich zusammenstimmende neue Vorstellungswelt die wahre Natur der Dinge verfehlt und ob nicht ansich wieder alles anders ist, als auch sie uns alles erscheinen läßt? Will man diesen Zweifel dadurch ausschließen, daß nach unserer eigenen Voraussetzung ja eben die Wahrheit der Dinge selbst es ist, die den Inhalt der neuen Anschauungen ausmacht? Aber es würde ja, um die Möglichkeit des Zweifels auszuschließen, nicht die Tatsache hinreichen, daß unsere Abbildung der Dinge die richtige ist; wir müßten auch Mittel haben, um sie mit Gewißheit als die richtige zu erkennen. Dieses Mittel besitzen wir nun in Bezug auf einzelne Bestandteile unserer Erkenntnis; ihre Richtigkeit können wir daran ermessen, daß sie nach den allgemeinen Gesetzen unseres Denkens beurteilt im Einklang mit allen übrigen Bestandteilen derselben Erkenntnis sind; das Ganze unserer Vorstellungswelt können wir in Bezug auf seine Wahrheit nicht durch einen Vergleich mit der Realität beurteilen, welche, solange sie nicht erkannt wird, für uns nicht vorhanden ist, sobald sie aber vorgestellt wird, denselben Zweifeln unterliegt, welche allen anderen Vorstellungen als solchen gelten. Und endlich, die Tatsache selbst ist ja unmöglich und sinnlos, die wir oben noch zugaben; was kann es heißen, daß jenes höhere Anschauen, Vorstellen oder Erkennen die Sache selbst gibt, wie sie ist? Wie hoch wir auch die Einsicht vollkommenerer Wesen über die unsere erheben mögen: solange wir noch etwas irgendwie Verständliches unter ihr denken wollen, wird sie doch immer unter einen dieser Begriffe des Wissens, Anschauens, Erkennens fallen, d. h. sie wird nie die Sache selbst, sondern immer ein Ganzes von Vorstellungen über die Sache sein. Nichts ist einfacher als die Überzeugung, daß jeder erkennende Geist alles nur so zu Gesicht bekommen kann, wie es für ihn aussieht, wenn er es sieht, aber nicht so, wie es aussieht, wenn es Niemand sieht; wer eine Erkenntnis verlangt, welche mehr als ein lückenlos in sich zusammenhängendes Ganzes von Vorstellungen über die Sache wäre, welche vielmehr die Sache selbst erschöpft, der verlangt keine Erkenntnis mehr, sondern etwas völlig Unverständliches. Man kann nicht einmal sagen, er wünscht die Dinge nicht zu erkennen, sondern geradezu sie selbst zu sein; er würde vielmehr auch so sein Ziel nicht erreichen; könnte er es dahin bringen, das Metall etwa selbst zu sein, dessen Erkenntnis durch Vorstellungen ihm nicht genügt, nun so würde er es zwar sein, aber umso weniger sich, als nunmehriges Metall, erkennen; beseelt ihn aber wieder eine höhere Macht, während er Metall bleibt, so würde er auch als dieses Metall sich gerade nur so erkennen, wie er sich selbst in seinen Vorstellungen vorkommen würde, aber nicht so, wie er dann Metall wäre, wenn er sich nicht selbst vorstellt.

309. Warum sollte, in diesen grundlegenden Frage, die Weitläufigkeit zu schelten sein, die ich mir gestattet habe? Ihr Ertrag ist freilich gering. Wir haben uns überzeugt, daß das veränderliche Ganze unserer Vorstellungen der einzige uns gegebene Stoff unserer Arbeit ist; daß Wahrheit und ihre Erkenntnis nur in allgemeinen Gesetzen des Zusammenhangs besteht, die sich an einer bestimmten Mehrheit von Vorstellungen ausnahmslos so oft bestätigt finden, als diese Vorstellungen wiederholt in unserem Bewußtsein auftreten; daß im weiteren Verlauf der Gedanken, die solche Wahrheiten suchen, sich uns notwendig, ebenfalls unserer Vorstellungswelt angehörig, der Gegensatz zwischen unseren Vorstellungen und Gegenständen ausbildet, auf welche wir sie gerichtet glauben; daß die Frage über die Wahrheit dieses Gegensatzes und über die Bedeutung, die je nach ihrer Beantwortung unseren Vorstellungen zukommen kann, eine Frage der Metaphysik, ganz mit Unrecht in diesen Anfang erkenntnistheoretischer Untersuchungen verwickelt wird; daß wir zwar in Bezug auf einzelne unserer Gedanken zweifeln können an der Möglichkeit, sie mit allem anderen Inhalt unseres Bewußtseins in Einklang zu bringen und daß dieser auf bestimmten Gründen beruhende Zweifel auch den Versuch seiner allmählichen Widerlegung zuläßt; daß dagegen eine Skepsis, welche befürchtet, es könnte alles anders sein, als es scheinen muß, ein in sich widersprechendes Beginnen ist, weil sie stillschweigend voraussetzt, es könnte überhaupt ein Erkennen geben, welches die Dinge nicht erkennt, sondern sie selbst wäre und dann nur zweifelt, ob unserem Erkennen diese unmögliche Vortrefflichkeit beschieden ist; daß endlich, auch wenn man diese unzulässige Beziehung der Vorstellungswelt auf eine ihr fremde Welt der Objekte fallen läßt, dennoch eine Untersuchung übrig bleibt, welche innerhalb der Vorstellungswelt die festen Punkte, die ersten Gewißheiten aufzufinden strebt, von denen aus die veränderliche Menge der übrigen Vorstellungen annähernd in einen gesetzlichen Zusammenhang zu bringen gelingen kann. Ich werde verschiedene Gelegenheiten haben und benutzen, diese Auffassungsweise zu verdeutlichen; ich werfe zunächst einen Blick auf die Verfahrensweisen der Skepsis, deren verschiedene Wendungen das Altertum im Ganzen mit mehr Vollständigkeit verfolgt hat, als die neuere Zeit, die für viele derselben ein lebhaftes Interesse nicht mehr haben kann.

310. SEXTUS EMPIRICUS hat uns zusammengefaßt hinterlassen, was der antike Skeptizismus vor ihm erarbeitet hatte. Die sinnlichen Wahrnehmungen, die Gefühle der Lust und Unlust, die wir leiden, leugnet auch der Skeptiker nicht; sie drängen sich ihm mit Notwendigkeit auf und hängen nicht von seinem Urteil ab; aber alles, was ihnen, den Phänomenen, als Noumenon gegenübersteht, als ein Gedanke, der, in der Erscheinung selbst nicht gegeben, den Inhalt der Wahrnehmung in eine innere Verknüpfung bringen möchte, all das ist dem Zweifel unterworfen und jeder in diesem Sinn gewagten Behauptung läßt sich mit gleichem Recht eine andere ihr widerstreitende entgegensetzen; nichts bleibt dem Weisen übrig, als sich jeder Bejahung oder Verneinung der einen oder der anderen zu enthalten und in dieser Suspension des Urteils die Seelenruhe zu finden, die er vergeblich sucht, solange er zwischen verschiedenen Annahmen glaubt entscheiden zu müssen. Aber die Skepsis, indem sie die Enthaltsamkeit vom Urteil nicht bloß als tatsächlichen Zustand ihrer Anhänger schildert, sondern sie mit Gründen als die einzig richtige Verfassung des Gemüts beweisen will, wird in diesem Anfang schon sich selbst untreu und setzt nicht bloß, hier zumindest, die Wahrheit der logischen Gesetze voraus, auf deren Macht sie die Triftigkeit ihrer Demonstrationen stützen muß, sondern um die Unmöglichkeit einer dogmatischen Entscheidung darzutun, muß sie mancherlei Dogmen voraussetzen, die nie unter den Phänomenen vorkommen können, sondern immer aus ihnen durch eben die Schlußfolgerungen entstehen, deren Zuverlässigkeit bestritten werden soll. Die zehn Tropen oder Rechtsgründe des Zweifels, die SEXTUS zunächst anführt, laufen alle darauf hinaus, daß sich aus Empfindungen nicht ermitteln läßt, wie der Gegenstand ansich beschaffen ist, der sie erzeugt. Der erste Tropus macht auf die Verschiedenheit der tierischen Organisationen aufmerksam; indem er fortfährt: jedem Tier muß deshalb ein Gegenstand sinnlich anders erscheinen als dem andern, stützt er sich auf das Dogma, Ungleiches kann von Gleichem nicht auf gleiche Weise affiziert werden; nur durch diesen Schluß war jene Fortsetzung möglich; denn da wir uns in das Innere der Tiere nicht versetzen können, so ist die angebliche Verschiedenheit ihrer Sinnesempfindung eine erschlossene Behauptung, die durch keine unmittelbare Wahrnehmung bestätigt wird. Sie sagt außerdem zu viel; nichts beweist, daß die sichtbare Verschiedenheit der körperlichen Organisation von durchgängiger Bedeutung auch für die Empfindung ist, denn Niemand wird leicht glauben, daß die Katze um ihrer elliptischen Pupillenspalte willen die Raumwelt anders anschauen müßte als der Mensch mit seiner kreisförmigen. Der zweite Tropus wiederholt denselben Gedanken in Bezug auf die Menschen; auch sie sind verschieden organisiert; wollte man daher auch, ohne triftigen Grund, die menschliche Empfindung der tierischen als die richtige und der Sache selbst angemessene vorziehen, so scheitert doch an ihrer Verschiedenheit auch dieser Versuch; man kann daher nur sagen: dem einen erscheint die Sache so, dem andern anders; wie sie selbst ist, bleibt unentschieden. Zum gleichen Ergebnis führen die folgenden beiden Tropen; der dritte beruft sich auf die Verschiedenheit der Sinne; dem Auge ist Honig gelbt, der Zunge süß; vielleicht gibt es noch andere uns mangelnde Empfindungsweisen, denen er noch anders erscheint; wie er selbst ist, muß daher dahingestellt bleiben, denn kein Grund liegt vor, die Aussage des einen Sinnes für richtiger zu halten als die eines andern. Blieben wir aber selbst bei einem Sinn stehen, so zeigt doch der vierte Tropus, wie auch dessen Empfindungen veränderlich sind nach dem Lebensalter, dem Gesundheitszustand, nach Hunger und Sättigung, Schlaf und Wachen; wie ein Ding unseren Sinnen in jeder dieser Dispositionen erscheint, läßt sich sagen, aber nicht wie es ansich erscheinen würde für ein Subjekt, das sich in gar keiner von diesen veränderlichen Lagen befindet. Diese vier Tropen bezogen sich auf die Natur des Beurteilers; auf die der zu beurteilenden Objekte die folgenden vier; der fünfte lehrt, daß Entfernungen und Lagen die Erscheinung desselben Dings ändern; der sechste zeigt, daß kein Ding seinen Eindruck unvermischt mit den Eindrücken anderer in uns hervorbringt, der siebente, daß auch die Zusammensetzung scheinbare Eigenschaften erzeugt, die den einfachen Bestandteilen fehlen, und andere aufhebt, die ihnen zukamen; immer läßt sich daher nur erzählen, wie Jedes unter diesen zusammengesetzten Bedingungen erscheint, nicht wie es ansich und einzeln und abgesehen von seinen verschiedenen Zuständen ist. Man kann die Beispiele dieser Tropen nicht ohne Verwunderung darüber lesen, daß sie der antiken Skepsis durchaus nur als Hindernisse wissenschaftlicher Erkenntnis erscheinen; der modernen Forschung sind sie sämtlich zu Ausgangspunkten von Untersuchungen geworden; indem man sich nicht begnügte, summarisch über die Veränderlichkeit der Erscheinungen unter wechselnden Umständen zu klagen, sondern der Beobachtung die einzelnen Verknüpfungen abfragte, die zwischen einem dieser Umstände und einer bestimmten Änderung der Erscheinung stattfinden, ist man zur Erkenntnis der allgemeinen Gesetze gelangt, welche dieses mannigfaltig wechselnde Spiel der Ereignisse beherrschen. Wie freilich ein Ding-ansich ist, wenn es unter gar keiner Bedingung des Erscheinens steht, haben wir dadurch nicht gelernt; aber daß diese Angabe widersinnig ist, wußte die antike Skepsis auch und drückte es im achten Tropus aus: Alles steht eben in irgendwelchen Verhältnissen, wenn nicht zu anderen Dingen, so doch jedesmal, wenn es erkannt werden soll, zum Erkennenden; wie es relationslos ansich ist, bleibt daher unsagbar. Von geringerem Interesse für uns sind die beiden letzten Tropen; der neunte erinnert daran, daß unser Urteil über Größe und Wert der Dinge durch ihre Seltenheit oder Häufigkeit, durch Gewohnheit und Kontrast mitbedingt wird; der zehnte beruft sich auf die Verschiedenheit der Völkersitten, um zu zeigen, daß auch hier nur gesagt werden kann, was dem Einen oder Anderen gut oder schlecht scheint, nicht was ansich gut oder schlecht ist.

311. Den weiteren Verlauf der pyrrhonischen Hypothesen des SEXTUS, aus deren erstem Buch das Angeführte stammt, lasse ich hier unbeachtet. Man wird sich überzeugt haben, daß bis hierher diese Skepsis nicht die Geltung einer Wahrheit leugnet; denn sie klagt ja eben darüber, sie nicht fassen zu können; nur das aber kann man suchen, dessen Wirklichkeit man glaubt. Auch zweifelt sie nicht daran, daß in unseren Denkgesetzen die Bedingungen enthalten sind, durch deren Erfüllung allein ein Gedanke Wahrheit sein kann; unaufhörlich wiederholt sich das Bemühen, in vollständigen Disjunktionen [Unterscheidungen - wp] die verschiedenen Fälle aufzuzählen, die aufgrund dieser Gesetze möglich sind und einander ausschließen; durch dieselbe Konsequenz unseres Denkens sollten wir dahin geführt werden, die Enthaltung vom Urteil als notwendig anzuerkennen. Aber dieses Verhalten erfährt allerdings nachträglich eine Berichtigung; die skeptische Schlußfolgerung befleißigt sich, auch sich selbst mit in die Ungewißheit einzuschließen, welche sie in der Form einer Behauptung vorher über alle unsere angebliche Erkenntnis verhängte. Die Wendungen sind mannigfach und seltsam, die hierzu gebraucht werden. Wenn der Skeptiker beweisführend zu seinem verneinenden Ergebnis kommt, so lehrt er auch da nichts, sondern erzählt nur, daß ihm, jetzt, in diesem Augenblick seines Lebens, und in dem Zustand, in dem er sich befindet, die von ihm vorgetragene Meinung die richtige scheint; er bürgt nicht dafür, daß sie ihm selbst so in jedem anderen Augenblick erscheinen wird; wenn er genötigt ist, die Argumentation eines Andern als zwingend anzuerkennen, so kann er immer antworten: die Wahrheit Z, die dieser lehrt, ist ja bis zu diesem Augenblick unbekannt gewesen, hat aber doch, wenn sie Wahrheit ist, immer schon bestanden und gegolten; was versichert uns nun, daß nicht in späterer Zeit ein Dritter eine neue auch dieses Z widerlegende Wahrheit entdecken und beweisen wird, die in diesem Augenblick, obwohl sie bereits gilt, doch weder bekannt ist noch begriffen oder bewiesen werden kann? Diese Fragen sind unabhängig von der Beziehung unserer Erkenntnis auf einen ihr jenseitigen Gegenstand; sie betreffen allgemein den Grund unserer Gewißheit und das Recht zu einem Zutrauen, welches wir der Wahrheit eines in uns enthaltenen Gedankens schenken; in dieser Hinsicht behalten wir sie einem Späteren vor. Im Übrigen aber waren die Darstellungen des SEXTUS in ein Vorurteil und in einen Irrtum verwickelt: in das Vorurteil vom Vorhandensein jener Welt ansich, zu der das Erkennen in einen Gegensatz gestellt wurde; dieses Vorurteil kann richtig oder falsch sein, aber es ist hier unentscheidbar; ferner in den Irrtum, die Vorstellung eines Erkennens, welches die Dinge faßt, nicht wie sie erkannt werden, sondern wie sie sind, bedeutet noch etwas Verständliches, über dessen Besitz oder Nichtbesitz ein Streit geführt werden kann; hierüber ist vielmehr das Denken völlig mit sich selbst einig, daß alles, was Erkennen heißt, Dinge nur vorstellen, aber nicht sie selbst sein kann.

312. Man wird geneigt sein, diesen Satz in der Form: daß wir nur Erscheinungen, nicht das Wesen der Dinge selbst erkennen, als die erste Wahrheit jeder Erkenntnistheorie auszusprechen und anzuerkennen; ich scheue diese Form, weil sie immer noch ein Vorurteil enthält, das ich aufgegeben wünsche. Dies zwar, daß die kategorische Gestalt des Satzes eben das Vorhandensein jener Dinge voraussetzt, würde durch Umwandlung in hypothetische beseitigen: wenn Dinge sind, so erkennt das Erkennen nur ihre Erscheinung, nicht ihr Wesen. Auch so aber enthält der Satz sichtlich den Nebengedanken einer verfehlten Bestimmung; jenes nur deutet an, daß unser Erkennen, eigentlich bestimmt, das Höhere, das Wesen der Dinge, zu erfassen, sich mit dem Schlechteren, der Erscheinung begnügen muß. Diese Wertverteilung ist ein Vorurteil; ein richtiges vielleicht, vielleicht ein unrichtiges, je nachdem der weitere Fortschritt der Wissenschaft entscheiden wird, den wir hier nicht vorausnehmen können. Willkürlich erscheint es jedoch schon hier, das Erkennen in die Stellung eines Mittels zu rücken, das seinem Zweck, Dinge zu erfassen wie sie sind, keineswegs entspricht; denkbar ist schon hier eine entgegengesetzte Ansicht, welche die Dinge als Mittel betrachtet, das ganze Schauspiel der Vorstellungswelt in uns hervorzubringen. So, wie sie sind, würden wir dann die Dinge nicht erkennen, aber wir würden darum keinen Zweck verfehlen; in den Erscheinungen, die sie uns geben, würde dann jenes Höhere und Wertvollere liegen, das wir mit dem Namen des Wesens zu bezeichnen suchen und in der Auffindung des Sinnes, des Zusammenhangs und der Gesetze, welche diese innerliche Erscheinungswelt beherrschen, würde die Erkenntnis der Wahrheit zwar nicht allein, aber vorwiegend und mindestens ebenso sehr bestehen, als in der ängstlich gesuchten Einsicht in die uns und jeder vorstellenden Seele jenseitig bleibenden Mittel, durch welche der Ablauf der inneren Erscheinungen in uns hervorgebracht wird. Aber diese Überlegungen fortzusetzen, würde die Grenzen meiner Aufgabe überschreiten; ich wiederhole noch einmal, was ich unter diesen verstanden wünsche: lassen wir gänzlich den Gegensatz unserer Vorstellungswelt zu einer Welt der Dinge beiseite; sehen wir allein jene als den Stoff unserer Arbeit an; suchen wir zu ermitteln, wo innerhalb derselben die ursprünglichen festen Punkte der Gewißheit liegen, und wie es gelingen kann, andere Gedanken, die diese Eigenschaft nicht ebenso unmittelbar teilen, mittelbar ihrer teilhaft zu machen. Auf einigen Umwegen, die dennoch nicht Abwege sein werden, erreichen wir vielleicht hierüber Klarheit.
LITERATUR - Hermann Lotze, System der Philosophie, Erster Teil: Drei Bücher der Logik (vom Denken, Untersuchen und Erkennen), Leipzig 1912