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FRANCESCO PAOLO FULCI
Die Ethik des Positivismus
in Italien

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"Nicht innerhalb des individuellen Lebens vollzieht sich die Vervollkommnung des ganzen Menschen, wohl aber in der Gattung, die an verschiedenen Orten untergebracht ist und durch mehrere Jahrhunderte besteht, die mit gegebenen physischen Mitteln, gegebenen Traditionen und Einrichtungen in bürgerliche Gemeinwesen geordnet ist."

"Romagnosi geht wie 'Feuerbach vom Individuum aus, das mit dem Verlangen nach Glück erfüllt ist. Das Verlangen nach Glück ist auch bei ihm der Trieb aller Triebe. Romagnosi sieht sogar in der Natur eine Vorsehung, die alle Wesen mittels ihres eigenen Egoismus dazu bewegt, nach und nach ihre Absichten zu erfüllen."

"Wenn das Individuum tatsächlich durch die Weisheit der ganzen Gesellschaft belehrt, durch den Fleiß der ganzen Gesellschaft versorgt wird, so sind dies nur die gesammelten Kräfte aller Generationen, die vorhergingen und die sie durch ihre solidarische Arbeit in Zeit und Raum aufgespeichert haben."

"Sich stützend auf eine unmittelbare soziale Regung und geführt durch natürliche Gesetze, ist die Persönlichkeit nicht mehr jene Art von Gliederpuppe, die nach Belieben von der absoluten, willkürlichen Macht eines Gesetzgebers geleitet werden kann, sondern sie steht selbstverantwortlich da, sie erfüllt, was ihr die Natur aufträgt."

2. Kapitel
Romagnosis positive Ethik

1. Abschnitt
Grundlagen der Ethik

1. Wenn ROMAGNOSI, gleich den anderen Begründern des Positivismus, bewogen durch das Schauspiel der endlosen Anarchie, die der rationalistische Gedanke geboren hatte, sich der Natur zuwendet (sie umfaßt in dem zuletzt ausgebildeten Sinn auch die Geschichte der Menschheit), um von ihr Aufklärung zu erlangen, wie man die Menschen zum Besseren lenken könnte, so findet er, daß uns die Natur nur gerade so viel zu wissen erlaubt, als zu diesem Zweck nötig ist. Mehr zu suchen, ist für ROMAGNOSI - gerade wie für COMTE - unnütz und sogar schädlich, weil in jeder Weise unfruchtbar.
    "Die Natur", schreibt er seinem Freund Valeri, "erlaubt nur so viel zu denken, als wir bedürfen, um nach ihren Zwecken zu handeln, so daß sie jene Blätter ihres Buches verborgen hält, die nur eine nutzlose Neugier befriedigen würden. Sie hat das Feld des menschlichen Wissens zwischen zwei Grenzen eingeschlossen, dem Unfaßbaren und dem Nichtwahrnehmbaren."

    "Das Unfaßbare", fügte er hinzu, "ist absolut, das Nichtwahrnehmbare relativ."
Wir können nach ROMAGNOSI, stufenweise die Grenze des letzteren zurückschieben, aber vor dem ersteren müssen wir resigniert haltmachen. Für ROMAGNOSI ist es auch unnütz, "zu versuchen, in die wahrhafte Substanz und die letzten Ursachen einzudringen".

Dieselbe Absicht, die Wissenschaft in den Dienst der Menschheit zu stellen, um ihre Herrschaft über die Natur auszudehnen, führt ROMAGNOSI auch zu dem Glauben, die Vorbedingung dazu sei eine sichere Beweisführung über die Realität der äußeren Welt und deren Übereinstimmung mit unserem Geist.
    "Es würde sonst für immer ein oberstes und höchstes Prinzip fehlen" - sagt er in der Schrift «Che cosa é la mente sana?» - "in welchem die äußere Macht des Menschen sich mit seiner Intelligenz verbinden kann, weshalb seine Herrschaft über die Natur und die der Natur über ihn unbewiesen bliebe."
Bemüht, ein Werk zu vollbringen, woran - wie FERRARI sagt, - der menschliche Gedanke seit 25 Jahrhunderten vergeblich gearbeitet hatte, machte er sich mit Hilfe der Lösung eines metaphysischen Problems an das positive Studium der Welt. Er tut dies alles in dem Glauben, das Feld des Unfaßbaren unberührt zu lassen, während er sich in Wirklichkeit auf Vorannahmen stützt, die nur die Metaphysik geben kann. Um zu einer positiven Lösung des Problems kommen zu können, hinderte ROMAGNOSI vor allem das, was ARDIGÓ das Vorurteil des Subjekts nennt. Wie dem auch sei, er gelangt zur Auffassung eines fortschreitenden Zusammenhangs zwischen dem Ich und dem Nichtich, wodurch auf glückliche Weise die Entwicklung des Geistes und der Gesellschaft erklärt wird. Später allerdings entwickelt und ergänzt, blieb sie doch in der Formulierung ROMAGNOSIs in Einklang mit den späteren Lehren der positivistischen Philosophie, auch in ihrer zweiten Entwicklungsphase.

Unter der Voraussetzung der objektiven Realität der wirkenden Ursache und mit der Auffassung des Ich als Einheit und Individuum, schreitet ROMAGNOSI zur Lösung der Probleme aufgrund der ausschließlichen Betrachtung dessen, was dem Geist erscheint. Auch für ihn, wie schon für KANT und die Positivisten im allgemeinen, hat der Geist nichts zur Verfügung als die eigenen Erscheinungen: Wenn auch der Mensch seinen Blick zum Himmel erhebt oder in einen Abgrund versenkt, wird er doch niemals aus sich selbst herauskommen. Diese Erscheinungen zeigen eine so mannigfaltige Aufeinanderfolge, daß sie nicht nur einmal in Übereinstimmung, einmal im Gegensatz zu unserem Willen stehen, sondern daß auch auf verschiedene Art daraus folgt,
    "sie seien aneinandergereiht, ohne ein Band von gewöhnlicher Art, durch eine Verbindung, die auf tausenderlei Weise aufs mannigfaltigste gewoben ist, gleich dem Reim in der Poesie."
Nun ist ein solches Abwechseln der Erscheinungen vollkommen unvereinbar mit der Hypothese ihrer Ableitung von ein und demselben denkenden Ich, das von Natur aus eine Einheit und ein Individuum ist. Diese Hypothese annehmen, hieße tatsächlich dem Prinzip der Unvereinbarkeit entsagen, das in folgenden Sätzen eingeschlossen liegt: Es gibt keine Wirkung ohne Ursache - eine bestimmte Wirkung setzt eine bestimmte Ursache voraus - was nicht zusammengesetzt ist, kann nicht zum Teil bestimmt, zum Teil unbestimmt sein - gleichzeitige, entgegengesetzte Wirkungen können nicht von derselben Ursache herrühren usw. - (Grundansichten über die Logik)

Daraus schließt ROMAGNOSI, daß unsere Wahrnehmungen die Wirkung von Kräften, d. h. Ursachen sind, die außerhalb unserer selbst liegen. Darin ist jedoch nicht inbegriffen, daß sie Kopien äußerlicher Originale sind. Weder Kopien, noch Träume, aber reale und natürliche Zeichen von realen und natürlichen Dingen und Daseinsformen. ROMAGNOSI erfaßt damit augenscheinlich die Begriffsbildung nicht als eigentümlich für das kausal-organische Verhalten, wie heute ARDIGÓ. Trotzdem bringt ihn seine eigene Beweisführung den Resultaten der fortgeschrittensten realistischen Auffassung, zu der heute der Positivismus durch die Arbeit ARDIGÓs gelangt ist, sehr nahe. Auch für ROMAGNOSI, wie für ARDIGÓ, kann der Gedanke nur sich selbst bejahen und das Reale bejaht er nur insoweit, als er selbst dieses Reale ist. Und ebensogut, wie wir dies Realismus nennen, könnten wir es auch als Idealismus bezeichnen. ROMAGNOSI sagt genau in demselben Sinn, daß wir nur so weit das Reale erkennen, als wir das kennen, was in unserem Ich ist.

Weit entfernt von der einfachen Form des französischen Sensualismus, sieht ROMAGNOSI in der Erkenntnis nicht nur die bloße Wirkung des Nichtich auf das Ich, sondern das zusammengesetzte Resultat der ansich unbestimmten Energie, des denkenden Ich und der Wirkungen der äußeren Objekte. In ganz ähnlicher Weise bemerkte COMTE, daß
    "der Geist niemals passiv in seinem Verhältnis zur Welt ist. Der Zustand des Subjekts bringt immer eine Veränderung der Vorstellung des Objekts mit sich."
Das im Subjekt Ausgebildete ist - zum Teil zumindest - das Gesamtresultat der vorhergehenden Einwirkungen der Außenwelt auf das Ich, wie wir heute sagen würden, das Produkt des Milieus.

Das Ich empfängt von der Außenwelt, sammelt und häuft an, um der Welt zurückzugeben, von der es empfangen hat. Daraus ergibt sich, abgesehen von einigen Komplikationen der Lehre ROMAGNOSIs, die wir außer acht lassen können, die Vorstellung einer realen Wechselwirkung zwischen dem Ich und dem Nichtich als Basis der menschlichen Entwicklung. Diese Wechselwirkung ist die Aktion der äußeren Dinge auf die inneren und die Reaktion der inneren auf die äußeren. Aber "agieren und reagieren", sagt ROMAGNOSI,
    "ist gleichbedeutend mit dem Hervorbringen einer gegebenen Wirkung. Die Wirkung als solche setzt eine wirkende Kraft voraus." (1)
Reagiert das Ich daher auf dieselbe Weise auf das Nichtich wie das Nichtich auf das Ich einwirkt, so ist es an sich klar, daß die Intelligenz und die Kraft durch dasselbe erregt werden. Und nachdem die Kraft durch die Intelligenz bestimmt wird und diese durch die Wirkung und Gegenwirkung der äußeren Dinge, so folgt daraus, daß sowohl das Denken wie das Handeln den Gesetzen der äußeren Welt unterworfen ist. Daraus zieht ROMAGNOSI Schlüsse, die sich beiläufig in eine Formel COMTEs zusammenfassen lassen: "Die Außenwelt liefert dem Ich für sein Denken wie für sein Wollen die Nahrung, den Antrieb und die Regel." (2)

Und dies ist sicher einer der Hauptgedanken des Positivismus. Heute findet er seine tiefste Begründung in der Vorstellung der physiologischen Reflexhandlung, welche die Physiologie durch die Kenntnis vom Gesetz der Vererbung aufgeklärt und die Experimentalpsychologie übernommen hat im Sinne psychischer Reflexhandlungen, ohne sie dadurch genetisch in ihrer Natur zu verändern. Nur wird sie hier zusammengesetzter infolge der größeren Kompliziertheit, die in den psychischen Zentren gegenüber den rein physiologischen herrscht - eine Kompliziertheit, der ROMAGNOSIs Gedanke schon entgegenkommt, wenn er auch, wie FERRARI bemerkt, vielleicht den Prozeß der Intelligenz und der Erkenntnis zu stark verwickelt. Durch diesen Prozeß von Wirkung und Gegenwirkung, sei er wie auch immer kompliziert, ist das Ich nichts weiter als ein Mittel, mit welchem die Naturkräfte arbeiten. So sagt ROMAGNOSI: "Die menschliche Tätigkeit tritt als integrierender Bestandteil in den Kreis der natürlichen ein." (3) Das Ich ist nichts anderes als die Natur selbst, nach und nach empfindend und bewußt geworden; es kann daher auch nicht anders wirken als jeder andere Teil der Natur, nicht anders Einfluß nehmen als in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen im allgemeinen.

Auf diese Weise erhält der Positivismus eine wissenschaftliche Grundlage für die Ethik, soweit das Reich der Wahrheit und das der Zwecke eine homogene Basis gefunden haben und dies macht eine Moral möglich, die sich in gewissem Sinn wahr nennen kann. (4) Dadurch entfernt der Positivismus für immer jene Scheidewand, die von ARISTOTELES und PLATO angefangen, die Philosophie der Moral von der Philosophie der Natur so gründlich getrennt hat. Ein scharfer Kritiker jedoch, BELOT, der die Ethik des Positivismus erklärt, legt den Positivismus COMTEs in einem entgegengesetzten Sinn aus. (5) Nach ihm besteht das Verdienst COMTEs gerade darin, daß er die Moral in eine von der Wissenschaft ganz verschiedene Lage gebracht hat. Diese such - als Gegensatz zu jener - als Objekt die Wahrheit, d. h. gerade das, was wir nicht schaffen, sondern entdecken, wofür wir nicht den Inhalt liefern, sondern höchstens die Formel. Für COMTE, bemerkt dieser Schriftsteller, macht die Menschheit die Moral und macht sie zu ihrem eigenen Gebrauch.

Uns erscheint gerade dies nicht der Gedanke COMTEs zu sein. Man kann wohl sagen, daß für COMTE die Moral durch die Menschheit geschaffen wird, aber nicht anders - gemäß unserer Auslegung COMTEs - als in letzter Linie durch den Gehorsam gegen die Naturgesetze. Dieselbe Moral, welche die Gesellschaft bildet, schafft sie daher als Ergebnis einer äußeren, natürlichen Ordnung. Die Gesellschaft mit der ganzen übrigen Natur macht die natürliche Ordnung aus und es ist bei genauer Analyse auch für COMTE die äußere Natur, die den Grund und die Einheit für die Gesellschaft selbst liefert. "Unvermögend, etwas zu schaffen", sagt COMTE, "verstehen wir nur, zu unserem Vorteil eine Ordnung zu modifizieren, die in ihren Hauptzügen höher ist als unser Einfluß." (6)

Man muß nun beachten, welche Kennzeichen nach COMTE diese abändernde Kraft hat. Er bemerkt, angenommen die Möglichkeit unserer absoluten Unabhängigkeit, wie es die hochmütige Metaphysik lehrt, müssen wir bald einsehen, daß unser Schicksal durchaus nicht verbessert, sondern jede reale Entwicklung unserer Existenz, auch der einzelnen, verhindert wäre. Die hauptsächliche Kunst der menschlichen Vervollkommnung besteht im Gegenteil darin, die Unentschiedenheit und Divergenz unserer wie auch immer gearteten Absichten zu verringern, indem wir an äußerliche Motive jene moralischen, intellektuellen und praktischen Gewohnheiten wieder anknüpfen, die ursprünglich ausschließlich aus inneren Quellen geflossen sind. Denn alle inneren Verknüpfungen unserer Kräfte sind unvermögend, die Stetigkeit zu sichern, wenn sie nicht außerhalb von uns selbst einen Stützpunkt finden, der den plötzlichen Varianten unzugänglich ist. (7)

Diese natürliche Basis ist dadurch, daß sie absolut unveränderlich ist, die gesündeste Grundlage für die menschliche Ordnung. "Sie ist", sagt COMTE, "unentbehrlich zur Leitung unserer Existenz, trotz der oberflächlichen Einwendungen so vieler hochmütiger Intelligenzen." COMTE selbst bringt dafür ein ebenso leicht faßliches, wie bezeichnendes Beispiel. Nehmen wir an, der Mensch könnte nach Belieben seinen planetarischen Aufenthalt wechseln, so würde jeder Begriff von Gesellschaft bald durch die vagabundierenden und trennenden Triebe zerstört werden, denen sich die verschiedenen Individuen hingeben. (8) Wenn auch das Unabänderliche manches Disharmonische in sich schließt, kann es zugleich sehr zu unserer Veredlung beitragen, indem es uns zu einer weisen Ergebung in alle wirklich unüberwindlichen Übel befähigt (8).

Was die von BELOT gegebene Interpretation der Gedanken COMTEs erklärt, ist die bei COMTE besonders deutlich entwickelte Idee, die in letzter Linie dem Positivismus ansich eigen ist, aber bisher wenig beleutet wurde und die sagt: Nicht die Abhängigkeit von irgendwelchen Offenbarungen der Natur stellt sich dem moralischen Willen entgegen, sondern zwischen der natürlichen Ordnung und der künstlichen muß eine Kritik der Natur stehen. Daran kann man bei den vier genannten Begründern des Positivismus nicht zweifeln. Für alle Positivisten ist die Natur die schaffende Herrin und Meisterin, aber sie erkennen auch mehr oder weniger deutlich, daß die Natur Irrtümer aufweist und durch deren Möglichkeit selbst Grenzen der Variabilität verrät, über die hinaus sie, in der Menschheit einmal wissend geworden, ihre Entwicklung beschleunigen kann. Es war somit unvermeidlich, daß im Geist der Positivisten die Idee einer Kritik der Natur aufgestiegen ist, um uns sowohl die Unvollkommenheiten der natürlichen äußeren Ordnung als auch die Variationsgrenzen derselben kennen zu lehren. Daraus mußte sich wirklich die Annahme einer gewissen schöpferischen Kraft des Menschen ergeben, aber es hebt die Tatsache nicht auf - wie wir noch sehen werden - daß die Menschheit, wenn sie die Natur verändert und verbessert, nichts anderes tut, als ihren Spuren immer und überall zu folgen.

2. In seinem "Discours sur l'ensemble de la philosophie" (9) schreibt COMTE:
    "Der allgemeine Dienst der Intelligenz für das gesellschaftliche Leben beschränkt sich nicht darauf, es mit der natürlichen Ordnung bekannt zu machen, von der es die unvermeidliche Herrschaft annehmen muß. Damit diese theoretische Beweisführung unsere Tätigkeit leiten kann, müssen wir die genaue Schätzung der verschiedenen Variationsgrenzen hinzufügen, die der äußeren Ordnung eigen sind, sowie ihre hauptsächlichen Unvollkommenheiten. Die positive Kritik der Natur wird daher immer ein wichtiges Attribut einer gesunden Philosophie bilden." (10)
Diese Kritik macht den Einfluß des menschlichen Handelns möglich und nützlich, obwohl er dem Gesagten nach niemals etwas anderes sein kann als eine Erweiterung der unwillkürlichen, natürlichen Ordnung. Dieses Handeln ist auch nichts anderes, - wie FERRARI den Gedanken ROMAGNOSIs glücklich zusammenfaßt - als die Natur selbst, die mittels der Menschen handelt. Für die Menschheit bietet dieses bewußte Handeln sicherlich eine gewisse Freiheit, soweit sie durch ihre kritische Fähigkeit und die verschiedenen Grenzen der Variabilität der äußeren Regeln nicht allein sich selbst vervollkommnen kann, sondern auch das, was außerhalb ihrer selbst ist. So wird die Menschheit zur Vorsehung des Weltwinkelchens, das sie bewohnt. (11) Und so ist es die Natur selber, die sich vermenschlicht, wie BELOT mit bedeutungsvollen Worten sagt. Wenn die Menschheit mit ihrer Wesenheit die Natur erfüllen kann, rührt es in erster Linie daher, daß sie selbst von der Natur erfüllt ist.

Wir haben schon auf die Ursache dieses scheinbaren Rätsels hingedeutet: Indem die Menschheit die Natur fortsetzt, kann sie sich dessen bewußt werden, was in deren Verlauf abnormal ist, kann es ausstoßen oder zumindest nicht erzeugen und auf diese Weise nur ihre normalen Prozesse weiterführen und sie dadurch auch beschleunigen. So kann der menschliche Geist gegen die Natur kämpfen, die Natur besiegen, sie wohl auch verändern, aber er besiegt und verändert nur, indem er ihr folgt. Wenn daher die Menschheit die Moral schafft, erzeugt sie diese einzig und allein durch Umsetzung des Instinktiven in Zweckbewußtes.

3. Dies führt ROMAGNOSI natürlich dahin, auch die alte Vorstellung der angeborenen moralischen Anlagen in ein Produkt der geistigen Erwerbung (als Resultat langsamer Anpassung) umzuwandeln. Daraus erkennt er dann
    "die ungeheure Verwechslung einiger, welche die abstrakten Verallgemeinerungen der Wirkungen als reale bewirkende Ursachen eben derselben Wirkungen annehmen"
und was, wie er sagt, noch schlimmer ist,
    "daß Wirkungen, die deutlich begrenzt und von entfernten Folgen sind, in eingeborene Ursachen verwandelt wurden, die a priori existieren sollen." (12)
Dies hebt er mit besonderer Eindringlichkeit und großem Scharfsinn in der Kritik des moralischen Sinnes hervor, wie ihn vornehmlich HUTCHESON (13) aufgefaßt hatte, nämlich als eine eingeborene Fähigkeit unseres Geistes, rasch das Gute vom Bösen unterscheiden zu können, auch moralischer Instinkt oder sechster Sinn genannt. Darin findet er eine Hypothese, deren Annahme unnötig ist, da ja die Erscheinungen des moralischen Sinnes als Resultat der Beziehungen des Ich zur umgebenden Außenwelt aufgefaßt werden können.
    "Durch eine aufmerksame Prüfung der menschlichen Natur und ihrer beständigen Beziehungen", schreibt er, "gelangt man dahin, zu entdecken, daß alle dem moralischen Sinn durch seine Verteidiger beigelegten Erscheinungen Erwerbungen sind, die sich aus der vereinten Tätigkeit der äußeren Verhältnisse und deren menschlichen Fähigkeiten herleiten lassen, gleich allen Kenntnissen und Affekten, die dem moralischen Sinn nicht zugeschrieben werden." (14)
Durch diese fortgesetzten Bereicherungen, während gleichzeitig die Individuen neue Strebungen und neue Anlagen erwerben, entwickeln sich auch die objektiven Beziehungen. Daher die Vorstellung einer doppelten, parallelen Entwicklung: der subjektiven und der objektiven.

Aus dieser dynamischen Anschauungsweise leiten sich die wichtigsten und charakteristischsten Folgerungen der Erkenntnislehre und der ethischen Lehren des Positivismus ab. Die Erkenntnis vor allem - indem sie von der Umgebung abhängig ist, soweit sie auf uns wirkt und von einem Organismus, soweit er für diese Wirkung empfänglich ist - wird überdies abhängig von den verschiedenen Graden der bezeichneten Entwicklung. Denn jede Erkenntnis wird vom Entwicklungsstandpunkt des Individuums und der Gattung bestimmt. Dies mußte notwendigerweise zu jenem geschichtlichen Charakter der Erkenntnis führen, den COMTE von allen am deutlichsten gesehen hat und woraus er jene Folgerungen zog, an denen er so fruchtbar war.

ROMAGNOSI hatte daher schon aus dem Gedanken der Entwicklung ein zweites Merkmal abgeleitet, das wohl das neueste in der Ethik des Positivismus ist. Nachdem sich für ihn die Gesetze des Seins in praktische Normen umwandeln, folgt auch, daß die dynamischen Gesetze in dynamische Normen verwandelt werden, oder, in der Sprache ROMAGNOSIs, das vorhergehende Entwicklungsgesetz in nachfolgende Gesetze.
    "Es ist ein übermächtiges, ursprüngliches Naturgesetz", sagt er, "daß die moralischen Fähigkeiten der Nationen einer gradweisen Entwicklung unterwirft, deren Gesetze von keiner menschlichen Macht übertreten werden können." (15)
Und daraus schließt er, daß wir ein moralisches Vernunftgesetz bilden müssen, das mit jenem gebietenden Entwicklungsgesetz übereinstimmt, also folgerichtig viele verschiedene moralische Vernunftgesetze, entsprechend den verschiedenen sozialen Entwicklungsstadien. Und nun, um an eine bei ihm typische Vereinfachung zu erinnern - da er, gleich den anderen Begründern des Positivismus, die einzelnen Phasen der Entwicklung einer Gesellschaft mit den Lebensaltern des Menschen verglichen hat - schließt er plötzlich:
    "Hier stellt sich das notwendige Gesetz in der Form der reinen Tatsache und als eine höhere Macht ein, der die Menschen gehorchen müssen. Ein früheres Naturgesetz ist jenes, woraus ein folgerichtiges hervorgeht, das eine Reihe mannigfaltiger Rechte feststellt, die den diversen Epochen im Leben der Nationen angepaßt sind." (16)
Für ihn ist die Autorität und die verpflichtende Kraft dieser von einem Entwicklungsgesetz abhängigen moralischen Vernunftordnung und ihrer den verschiedenen Entwicklungsstadien entsprechenden Varianten genau dieselbe, wie die der absoluten, moralischen Ordnung.
    "Die Regel", sagt er, "nach dem Bedürfnis der Zeit zu handeln, entfernt sich nicht von der Notwendigkeit, sondern ist diese Notwendigkeit selbst, im Sinne einer Aufeinanderfolge der Tatsachen im Leben der Menschen und der Gesellschaft." (17)
Durch diese neue Auffassung wurde die Gleichartigkeit der Grundlage des Wahren und des Guten vollständiger gemacht und daher auch die Übersetzung des Wahren in das Gute erleichtert.

Das Wahre, als Entwicklungsbeziehung erfaßt, zeigt tatsächlich dem Menschen auch seine Ziele, soweit die Natur selbst den Prozeß aufdeckt, mittels welchen wir zum Besseren fortschreiten (da die Entwicklung auch eine Vervollkommnung ist), soweit sie gleicherweise dies anzeigt durch die Stetigkeit gewisser historischer Tendenzen, letzter Zwecke der Menschheit und relativer Zwecke in ihren verschiedenen Stadien, die wieder zu Mitteln für entferntere Ziele werden. Mit anderen Worten: Sobald das Gesetz der Tatsachen zur Norm des Handelns wird, verwandelt sich die Verkettung von Ursache und Wirkung durch das menschliche Handeln in die Verkettung von Mittel und Zweck.

Aber das alles wird noch besser beleuchtet durch die neue, vergrößerte Tragweite, welche die Kritik der Natur aus dieser Auffassung ableitet. Wenn tatsächlich die Natur irrt, kann der Irrtum - das Entwicklungsgesetz einmal angenommen - nur als Abweichung von ihrem normalen Prozeß erfaßt werden und da die Entwicklung bloß dank einer fortschreitenden Anpassung entsteht, ist der Irrtum nur mangelnde Anpassung, bedingt durch vorübergehende und ausnahmsweise Umstände. Und folgerichtig liegt es im Begriff eines Normaltypus der Entwicklung, daß wir nach dem Prinzip der Korrekturen suchen müssen, welche das zweckbewußte Handeln an der Natur vornehmen darf.

Indem ROMAGNOSI, gleich COMTE, den Entwicklungsgedanken auf die menschliche Entwicklung beschränkt, weil er noch im Dogma der Unveränderlichkeit der Arten befangen war, hatte er - verglichen mit späteren Anschauungen der Soziologie - auch eine beschränkte Vorstellung der individuellen und sozialen Veränderungen. Dennoch ist er weit davon entfernt, zu übersehen, daß eine beachtenswerte Veränderlichkeit der sozialen Temperamente, neben den Veränderungen der Entwicklungsstadien, von der Verschiedenheit des Milieus herrührt. Er entsinnt sich des Grundprinzips, das er selbst aufgestellt hat - der moralische Zustand der menschlichen Art sei auf ihrem physischen gegründet und durch diesen befestigt - und stellt die Veränderlichkeit der moralischen Charaktere, die den verschiedenen Typen der menschlichen Bevölkerung eigen ist, unter einem glücklich gewählten Bild dar:
    "Stellt euch eine Pflanzschule vor", sagt er, "woraus ihr einige Stämmchen entnehmt, um sie in einem anderen Boden einzusetzen. Die Pflanze, die ihr in ein ebenes und fruchtbares Erdreich bringt, wo der Luftzug und die Sonnenstrahlen freien Zutritt haben, sprießt gerade empor, gedeiht und vermehrt sich. Jene andere, die ihr auf den Gipfel eines hohen Berges verpflanzt, wo die Vegetation schon klein ist, wächst kümmerlich und unfruchtbar, eine andere, die ihr auf den Grund eines düsteren Tales oder auf schlechten Boden setzt, nimmt andere, unglückliche Eigenschaften an. Dennoch sind der Bau und das Vegetationsgesetz bei all diesen Pflanzen gleich. Woher stammt die Ungleichheit ihres Gedeihens? Ihr werdet leicht antworten, daß sie von den verschiedenen Verhältnissen stammt, in welche die Pflanzen versetzt wurden. Dasselbe ist auch die Ursache der Verschiedenheit der moralischen Temperamente bei den verschiedenen Völkern der Erde, wenn wir sie auch als auf demselben Kulturgrad befindlich sehen." (18)
Und so bezeichnet ROMAGNOSI, durch das Eliminieren aller Verschiedenheiten und Widersprüche, inbegriffen alle abnormalen Abweichungen, einen abstrakten Entwicklungstypus als den bestmöglichen. Dies ist eine Abstraktion, die dennoch in der Wirklichkeit einem vollkommenen Urbild entspricht. Diesen Typus zu bestimmen ist nichts Subjektives, wie es nichts Subjektives ist, die allgemeinen Gesetze der biologischen Entwicklung zu bestimmen. Es ist immer die Natur, die deutlich zeigt, wie sie sich entwickelnd das Beste erreicht, wenn die augenscheinlich abnormalen Formen eliminiert sind.

Aufgrund dieses Typus nun, der sein ganzes Wesen von der Wirklichkeit ableitet und der Kritik der Wirklichkeit als Modell dient, fügt ROMAGNOSI ein anderes Merkmal hinzu, durch welches die Natur - in den höchsten Graden menschlichen Seelenlebens reflektierendes Bewußtsein geworden - sich selbst übertreffen kann: Die Verlängerung der Richtungslinie des sozialen Prozesses aus der Vergangenheit gegen die Zukunft und die daraus abzuleitende Möglichkeit, den neuen Weg zu verfolgen, der wohl noch nicht durchlaufen, aber auf diese Weise schon bekannt geworden ist.

Für ROMAGNOSI hat daher die Moral - wachgerufen, angeeifert und geleitet durch die Kenntnis und Kritik der Naturvorgänge - zwei Aufgaben:
    1. Den Entwicklungsgang der verschiedenen sozialen Aggregate an den absoluten Entwicklungstypus anzunähern, nach diesem die Abweichungen bestimmend, welche vorübergehenden und ausnahmsweisen Bedingungen entstammen.

    2. Den natürlichen Lauf über die erreichten historischen Grenzen hinaus zu beschleunigen durch das Weiterschreiten auf jener Richtungslinie, die durch die Verlängerung der schon durchlaufenen Richtungslinie vorgezeichnet ist.
Für ROMAGNOSI ist somit unzweifelhaft - entsprechend dem durch COMTE mit Klarheit formulierten Prinzip - die willkürliche und künstliche Ordnung nur eine Fortsetzung der natürlichen und unmittelbaren Ordnung der Dinge.

4. Immerhin läßt sich nicht leugnen, daß ROMAGNOSI (ebenso oder noch mehr wie COMTE) seine Lehre in Anbetracht der Verwicklung des Realen zu sehr vereinfacht hat. Diese Verwicklung entsteht aus dem doppelten Wachstum, dem biologischen und dem soziologischen, das er für schon für vollendet angesehen hat. Wenn daher auch unleugbar die Lehre des großen Meisters gegenüber den neuen Errungenschaften der Wissenschaft zu große Vereinfachungen enthält, - sind jene vielleicht heute derartig, daß sie uns nötigen, die aus ROMAGNOSIs Lehre gefolgerten ethischen Grundsätze zu verwerfen? Gewiß: das, was SPENCER "das schwerwiegende, irrige Vorurteil" COMTEs nennt, ist auch ROMAGNOSI eigen. Es ist die Annahme,
    "daß die von den wilden und zivilisierten Völkern auf dem ganzen Erdkreis dargebotenen verschiedenen Formen der Gesellschaft nur verschiedene Stufen der Entwicklung einer einzigen Form sind".
Demgegenüber ist in Wahrheit richtig,
    "daß gesellschaftliche Typen, gleich den Typen individueller Organismen, keine Reihe bilden, sondern nur in divergierenden und stets aufs Neue divergierenden Gruppen zu klassifizieren sind." (19)
Und gerade auf dieser soziologischen Basis zog BELOT in unseren Tagen den Schluß, daß eine Wissenschaft der Elementargesetze der sozialen Natur unmöglich ist, vor allem als Basis für eine sichere, moralische Praxis. Das hieße, sowohl die Veränderlichkeit der sozialen Organismen als auch die Bedeutung ihrer Eigentümlichkeiten verkennen. BELOT glaubt auch, daß die einheitliche Auffassung der sozialen Natur etwas so Allgemeines und Unbestimmtes werden müßte, wie jene der menschlichen Natur, die besonders seitens der zeitgenössischen Soziologen den Philosophen des 18. Jahrhunderts so sehr zum Vorwurf gemacht wird. Auch wir finden darin eine richtige Einwendung mit Bezug auf gewisse übereilte Generalisierungen, wobei ein einziger Typus der sozialen Natur oder der sozialen Entwicklung angenommen wird, mehr aus einem Drang zur Einheitlichkeit der Forschenden heraus als der Wirklichkeit entsprechend. Dennoch glauben wir nicht, daß die Soziologie und die Geschichte uns eine so große Verschiedenheit der Geistesbeschaffenheit und der menschlichen Einrichtungen zeigen, daß diese es unmöglich macht, eine Gruppe gemeinsamer Merkmale für alle spezifischen Formen der sozialen Natur sowie gemeinsame Gesetze ihrer Entwicklung aufzufinden und dadurch eine überaus nützliche Grundlage für die soziale Praxis zu bauen.

Derselbe SPENCER, der die Vorstellung COMTEs von der Einheit der sozialen Entwicklungsreihe als allerschwersten Irrtum bezeichnet, hat doch an mehreren Stellen seiner Werke gezeigt, daß die Gesellschaften bis zu den ungleichartigsten und niedrigsten herab wie gewisse gemeinsame Züge der Struktur und Funktion sowie der Entwicklung aufweisen.

Auch in der Biologie gibt es tatsächlich eine große Variabilität und Spezialisierung der Organismen. Aber gibt es deshalb in der Biologie keinen Komplex allgemeiner Gesetze? Haben nicht gerade die vergleichende Anatomie und die Physiologie eine bedeutende Anzahl von gemeinsamen Struktur- und Funktionsmerkmalen aufgefunden, denen ein Komplex unveränderlicher Entwicklungsgesetze entspricht? Und dient diese Gesamtheit von Gesetzen und Merkmalen vielleicht nicht den verschiedenen Betätigungen, wie dem Ackerbauern, dem Züchter, der Medizin und Chirurgie?

Allerdings beantwortet BELOT diese zweite Frage negativ. Er sagt:
    "Was besonders in Rechnung gebracht wird in der Praxis des Ackerbauern, des Züchters, des Arztes, sind die Eigenheiten, die Dispositionen, die eigentümlichen Merkmale der bestimmten Organismen, mit denen sie es zu tun haben. Zwei Varianten derselben Art verhalten sich ganz verschieden. Manches Tier ist immun gegen gewisse Gifte, ein anderes, obwohl verwandt, überempfindlich. Die Medizin hat gar nicht die allgemeinen biologischen Gesetze anzurufen, sondern ruht fast ausschließlich auf der Kenntnis der speziellen Struktur und Funktion des menschlichen Organismus. Daher ist es dieses spezielle biologische System," schließt er, "das man studieren muß." (20)
Ohne Zweifel, so schließen wir mit ihm, ist es sowohl in der Biologie als auch in der Soziologie das Spezialsystem, das wir vor allem studieren müssen. Aber verhindert dies vielleicht, daß auch für die mit der Biologie in Zusammenhang stehenden praktischen Betätigungen allgemeine Gesetze, die allen Organismen gemeinsam sind, die ersten Grundlagen bilden? Gewiß sind in der spezialisierten Praxis auch die spezialisierten Studien von unmittelbarem Nutzen; aber die allgemeinen Gesetze sind in jedem Fall die unvermeidliche Grundlage. Um von den allgemeineren, biologischen Gesetzen auszugehen: kann man leugnen, daß von einem ganz allgemeinen Gesetz der Anpassung an das Milieu der Ackerbauer, der Züchter, der Erzieher usw. Vorteil schlagen zu dem Zweck, eine gewollte Entwicklung hervorzurufen oder gewisse unbedeutende Anomalien auszuscheiden? Ist es vielleicht nicht das allgemeine Gesetz der fortschreitenden Verkümmerung ungeübter Organe, aus welchem der Züchter und der Erzieher die Notwendigkeit ableiten, alle Organe entsprechend zu üben und besonders diejenigen, die wir am meisten zu entwickeln wünschen?

Oder gehen wir von der Biologie auf das Gebiet der Soziologie über, so kann man auch nicht leugnen, daß hier das Studium der sozialen Besonderheiten von größtem Interesse ist. Aber die positive Ethik, wie die Ethik COMTEs und ROMAGNOSIs, die als Grundlage für die soziale Praxis einen Komplex von Gesetzen annimmt, die allen sozialen Organismen gemeinsam sind - sei es als Reihe, wie COMTE will, oder als abstrakter Entwicklungstypus, wie ROMAGNOSI will - schließen sie vielleicht die Wichtigkeit solcher Studien aus? Im Gegenteil: dem Geist der positiven Ethik nach liegt in der Verbindung des Allgemeinen mit dem Besonderen die wesentliche Basis der moralischen Praxis. Oder auch, um die Sprache der Schule ROMAGNOSIs, besonders die von FERRARI und CATTANEO, zu gebrauchen: halten wir das konstante Prinzip fest, demzufolge die Politik Geschichte, in Praxis umgesetzte +Geschichte ist, so können wir auch mit sicherer Anwendung der Prinzipien ROMAGNOSIs sagen, daß die vollständige Geschichte, welche die allgemeinsten Beweggründe und die genauesten Details enthält, das ist, was sich in soziale Moral umwandeln läßt.

Es zeigt nämlich niemand besser als ROMAGNOSI die Notwendigkeit, das Studium der Einzelheiten jedes sozialen Zustandes mit jenem Allgemeinen zu verbinden, das im Gedanken eines abstrakten Entwicklungstypus, fortschreitend zu einem abschließenden Ideal, gipfelt. Er will die Anomalien der Entwicklung bestimmen durch eine Gegenüberstellung der spezifischen Natur jedes Zustandes und des abstrakten Entwicklungstypus samt dessen Endziel. Darin fand ROMAGNOSI den besten Weg, um die Verzögerung, die Abzweigung und die Zusammenhanglosigkeit der Entwicklung, wie auch den erreichten Grad ihres Wachstums zu ermessen. Er übt dabei nur das, was COMTE später mit der Formel bezeichnete: "das Gegenwärtige werten als Basis für das Zukünftige, abgeleitet vom Vergangenem."

All das gab für die Ethik eine neue starke Beleuchtung ab. Die moralischen und juridischen Vorschriften konnten nicht mehr Normen sein, die in gerader Linie von den allgemeinen Prinzipien abstammend, sich infolge der großen Zufälligkeiten auf den Anwendungsgebieten in vielen Punkten vom Feld der Wirklichkeit entfernt haben. In der Tat blieben diese geraden Linien für immer dem tiefen Tal fern, sobald sie die Gipfel berührten; berührten sie aber das tiefe Tal, so erreichten sie niemals auch nur annähernd die Höhe der Gipfel. Diese Unvereinbarkeit war auch den Rationalisten nicht entgangen, als sie zur konkreten Anwendung dieser Lehre schreiten wollten. Daher kam es, daß einige dieser Metaphysik des Rechts das positive Recht [amerkl_recmac] mit dem natürlichen durch das Prinzip versöhnten, daß das positive Recht dem natürlichen sowohl etwas entzieht, als auch etwas hinzufügt.

Offenbar endete man hiermit - die theoretische Basis als unzulänglich für die praktischen Bedürfnisse erkennend - bei der Substituierung des Unbestimmten, Subjektiven anstelle des Bestimmten, Objektiven. Die Basis der Ethik ROMAGNOSIs dagegen hatte durch ihre eigene Natur eine solche Biegsamkeit, daß sie sich ganz genau allen Zufälligkeiten des realen Bodens anpassen konnte. Entgegen dem Grundsatz, daß das positive Recht dem natürlichen "einerseits etwas entzieht, andererseits etwas hinzufügt", ruft ROMAGNOSI aus:
    "Würde das wahre, natürliche Recht in einer algebraischen Formel oder einem abstrakten philosophischen Lehrsatz bestehen, dann müßte, ich gestehe es, sicherlich das gute, bürgerliche dem natürlichen etwas entziehen oder hinzufügen. Aber da es aus der gebietenden Ordnung der Güter und Übel besteht, welcher der Mensch dienen muß, so ist das Recht ebenso ausgedehnt, biegsam und vielförmig, wie die notwendigen Umstände ausgedehnt, biegsam und vielförmig sind, - jene Umstände, die das Geschick der Menschen tatsächlich beherrschen." (21)
5. Auf dieser Basis einer Kenntnis der gesamten statischen und dynamischen Gesetze der Natur, vervollständigt durch eine Kritik der Wirklichkeit, deren Prinzipien letzten Endes der Wirklichkeit selbst abgeleitet waren, legte ROMAGNOSI der Menschheit die Fähigkeit bei, ihre eigenen Geschicke zu bestimmen. Jedoch nicht anders - es ist klar - wird, nach den Gedanken ROMAGNOSIs, die Menschheit zur Herrin ihres Schicksals, als indem sie im Sinne COMTEs das "große Wesen" ist, das völlig der nötigen Herrschaft aller biologischen und kosmischen (konsequenterweise statischen und dynamischen) Notwendigkeit einer äußeren, sozialen Ordnung untersteht. Eben durch die fortschreitende Erkenntnis dieser Notwendigkeit, welche die Menschen befähigt, ihr eigenes Schicksal zu verbessern, läßt ROMAGNOSI die Menschheit gewissermaßen auch zur Vorsehung der umgebenden Natur werden. Daher kommt es, um mit ROMAGNOSI selbst zu sprechen,
    "daß in einer Weise die Erde das Menschengeschlecht vervollkommnet und andererseits das Menschengeschlecht die Erde zu verbessern scheint." (22)
Aber das Geheimnis all dessen liegt zuletzt nur im Prinzip BACONs: "natura non nisi parendo vincitur." [Die Natur wird besiegt, indem man ihr gehorcht. - wp] In Wirklichkeit folgt die Natur den Menschen, aber nur so weit, als die Menschen der Natur folgen. In diesem Sinne ist die Menschheit der Werkmeister ihrer selbst.

Der Ruhm des Positivismus besteht daher vornehmlich darin, alles latente Licht in BACONs Prinzip frei gemacht zu haben.


2. Abschnitt
Die Quellen der Entstehung der Moral

1. Also nicht die Ordnung schaffen, wohl aber sie betrachten, um sie zu verbessern: das ist auch für ROMAGNOSI die höchste Aufgabe, die sich der Philosoph der Moral und des Rechts stellen kann. Aber diese natürliche Ordnung, welche die Menschen nicht schaffen, sondern nur betrachten und verbessern können, zeigt auch in der Geschichte der eigenen Entwicklung die Gesetze und somit auch die Bedingungen und Grenzen ihrer Vervollkommnung. In Anbetracht dessen versucht ROMAGNOSI mit scharfem Blick zu erforschen, woher und in welcher Art dieses so zusammengesetzte Ganze der gegenwärtigen sozialen, ethischen Ordnung entstanden ist. Es gibt darüber großzügige Aufklärungen, welche die geheimsten Tiefen des menschlichen Lebens erhellen.

An der natürlichen menschlichen Arbeit zur Erlangung des moralischen Gutes deckt ROMAGNOSI vor allem die Seite der Anstrengung auf. Seiner Ansicht nach wird das Gute als mühselige Errungenschaft des Menschen betrachtet, jeder Fortschritt als Kind der Zeit und der Mühe. Eine Mühe, die überdies umso größer und fruchtbarer ist, als die Einwirkung der Natur mittels des Ansporns des Schmerzes und der Freude, die ROMAGNOSI "Faktoren des Interesses" nennt, intensiver wird. Mit anderen Worten: jene Wechselwirkung zwischen den inneren Impulsen und den äußeren Einflüssen (worin auch die anderen Menschen inbegriffen sind) zeigt sich den Augen ROMAGNOSIs als eine fortschreitende Reihe von Gegensätzen und Ausgleichungen.

So geht aus der Anschauung ROMAGNOSIs langsam eine Moral hervor, die eine Gesamtheit von Normen darstellt, abgeleitet aus Erfahrungen, bezogen auf Hindernisse und Anstrengungen, sie zu überwinden, auf unbequeme Existenzmöglichkeiten und auf Bemühungen, sich ihnen anzupassen. Es ist eine Summe von Erfahrungen, die durch den Kampf aufgespeichert wird. Erst unbewußt, dann bewußt, umringt von Hindernissen, die der rohen Natur und den anderen Menschen entspringen, lernt der Mensch mit Schmerzen und Mühen und so gut es eben geht, ohne Schmerzen und mit einem Minimum an Mühen, zu leben. Dies ist die konkrete, fundamentale Ansicht von der Anpassung an die Umgebung als Basis der Moral, wie sie zuerst in den Gedanken der Positivisten erscheint und die als direkte Anpassung von jener anderen Form der indirekten Anpassung unterschieden werden muß, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders durch DARWIN und SPENCER aufgezeigt und erklärt wurde und speziell als "das Überleben des Passenden" bezeichnet wird. Diese zweite Auffassung ist nichts anderes als eine Spezifizierung der ersten. Die allmähliche Ausdehnung jener auf diese kann in der Entwicklung des Gedankens durch SPENCER überdies als zunehmendes Wachstum eines einzigen Keimes angesehen werden. Wie man aus seiner Autobiographie (23) tatsächlich ersehen kann, war es allein die direkte Anpassung, die sich anfangs dem Geiste SPENCERs als Schlüssel für das Verständnis der menschlichen Evolution dargeboten hat. Und nur die Hartnäckigkeit in der Anwendung dieses Erklärungsmittels brachte den großen Denker spontan auf die zweite Form der Anpassung, noch bevor DARWIN sie als Schlüssel der ganzen biologischen Evolution entwickelt hatte. Die Grundauffassung der direkten Anpassung, die schon im Gedankengang der ersten Positivisten so viel Licht auf die Geheimnisse des menschlichen Lebens zu werfen vermochte, hatte ihre Wurzel in jenen realistischen Anschauungen der positivistischen Philosophie, die in verwandter Form bei den vier großen Nationen Europas einen Faktor der gleichzeitigen Erscheinung der Ethik des Positivismus bilden.

Der Gedanke findet sich überdies für den tief genug Blickenden in allen philosophischen und historischen Vorstellungen jener großen Denker, die ihre Anschauung auf den Grund der Tatsachen aufbauen. So findet MACCHIAVELLI im fortwährenden Kampf zwischen Patriziern und Plebejern das große Geheimnis der mächtigen Rechtsentwicklung in Rom. Hier entsteht tatsächlich die Harmonie durch eine kontinuierliche und fortschreitende Reihe von Gegensätzen und Ausgleichen. So auch VICO, dem die Welt der Nationen einen heftigen Kampf enthüllt, durch welchen die gezähmten gegnerischen Interessen, unablässig streitend, die Erlösung der Schwachen und den Triumph von Ordnung und Gesetz vorbereiten und durch den die Vorsehung mittels dieser Interessen aus den schädlichen Leidenschaften die Gerechtigkeit lockt, indem sie dieselbe nach und nach in der Welt verwirklicht. Es ist leicht, in der Reihe der englischen Realisten manche Theorien zu entdecken, welche die große Fruchtbarkeit der menschlichen Gegensätze hervorheben, angefangen von HOBBES, für den jede moralische und zeitliche Ordnung nur die Folge eines allgemeinen Antagonismus ist, der dem Naturzustand anhaftet und durch seine eigene Unerträglichkeit dahin führt, sich selbst auszuschließen, indem er die Menschen anspornt, gemeinsam eine einzelne Macht einzuführen, die fähig ist, jede andere Sonderkraft niederzuhalten. Hierin lag ja schon die ganze neue Idee, wenn auch auf das einfachste reduziert. Im Verlauf des englischen Denkens tritt sie immer wieder auf, bis sie, ebenso wie bei ROMAGNOSI, aus einfacher, natürlicher Ursache des Fortschritts, auch künstliches Mittel des Fortschritts wird, wie sich bezüglich MILLs besonders aus einem Brief entnehmen läßt, den er an COMTE geschrieben hat und worin er die von diesem erbrachte Beweisführung bekräftigt, daß geistliche und weltliche Macht getrennt sein müssen und diese Trennung eine Grundbedingung moralischer und politischer Wiedergeburt ist. So ist auch für den Positivismus das menschliche Werden - sei es bewußt oder unbewußt, möge es natürlich oder künstlich heißen - eine Folge von Kontrasten, die sich bilden und wieder lösen.

Jedoch verbindet sich mit dieser Annäherung des Positivismus an den Hegelianismus auch ein tiefgründiger Unterschied. Bei Hegel hat dieser Prozeß zu viel Regelmäßigkeit, es ist ein dialektischer Prozeß in drei Momenten: Das Böse (d. h. der Irrtum, das Häßliche, das Falsche usw.) bezeichnet in diesem Prozeß die Antithese, die unabänderlich jeder These folgt und ebenso unabänderlich in der Synthese endet. So hat das Böse nichts Abnormales. Bei den Positivisten dagegen ist das Böse ein Abnormales, das beständig den normalen Lauf der Natur behindert, ein Abnormales, das selbst seine Austilgung nach sich zieht und das Wiedererscheinen des Normalen auf einer höheren Stufe der fortschreitenden graduellen Reihe, die es bildet, zur Folge hat. Das Normale selbst bewegt sich auf diese Art nicht nach einem Rhythmus von gleichmäßiger Schwingung, sondern von sehr veränderlichem Gang, während überdies Normales und Abnormales in ihrem besonderen Verlauf niemals absolut sind, sondern jedes seinerseits Schwingungen von relativ geringer Stärke erleidet. Man könnte sagen, die großen Wogen haben, jede für sich, ihr zarteres Gekräusel. Der Hegelianismus selbst hat sich übrigens in einer seiner letzten, glänzendsten Entfaltunen dieser Auffassung genähert. So verneint der Neuhegelianismus KOHLERs den dialektischen Prozeß mit drei Stufen und behauptet, das Rationale finde sich in der Geschichte nur in großen Zwischenräumen.

Besonders bemerkenswert ist bei ROMAGNOSI die Aufstellung des Verhältnisses zwischen dem Grad des Normalen in der Entwicklung und dem Grad des Normalen in den Ursachen derselben, die in einem Gegensatz der Kräfte und deren Versöhnung bestehen - ein Verhältnis, das ihm später die Umsetzung des normalen Naturprozesses in praktische Vorschriften zu künstlicher Entwicklung erleichtert.

In Übereinstimmung mit diesem Proportionalgesetz findet ROMAGNOSI, daß einige Völker in der Kultur zu langsam fortschreiten, andere wieder ungemein rasch, woraus für ihn der Gedanke folgt, die Zivilisation sei größtenteils nichts Spontanes, sondern etwas Gegebenes, aber auch soweit sie gegeben ist, ist sie es nicht gänzlich. Und er vergleicht die gegebene Zivilisationsbewegung mit der Arbeit des Ackerbauers, der ja nur ein Wachstum zu beschleunigen und zu regeln vermag, das auch ohne ihn zustande kommen würde, jedoch langsam und armselig. Infolge jenes selben Gesetzes kann die Entwicklung niemals ganz aufhören, es sei denn, man nähme an, die gegensätzlichen Kräfte würden in einem gegebenen Fall ganz erlöschen; dies ist aber in einem absoluten Sinn niemals möglich. Würde auch eine Gruppe Menschen dahinkommen, in völliger Übereinstimmung zu leben, so fehlten doch die Hindernisse der äußeren Natur nicht und die Harmonie jener Menschengruppe könnte wieder nur durch den beständigen Kampf gegen diese Hindernisse bestehen. Ja, diese Harmonie wäre überdies nur so weit möglich, als sie selbst ein wohldisziplinierter Kampf gegen die Natur ist, entsprechend dem durch LEOPARDI verkündeten ethischen Prinzip: Er lobe denjenigen, der die Natur
    "... Feindin nennt; und gegen sie
    Vereint sich denkt, wie es auch Wahrheit ist,
    Das menschliche Geschlecht.
    Verbündet möge er sie schätzen,
    Die Menschen alle, sie mit wahrer Liebe
    Umfassen, hilfsbereit und hilfeheischend,
    In ewiger Gefahr, in Not und Sorgen
    Des allgemeinen Kriegs!" (24)
Das Variieren der Umstände, die infolge des angeführten Gesetzes Abweichungen von der normalen Entwicklung hervorrufen, oder das Variieren der Schnelligkeit des Prozesses bringen ROMAGNOSI dahin, den Fortschritt als Kind der Zeit und der Glücksfälle anzusehen. Aber diese Glücksfälle schließen bei ROMAGNOSI durchaus nicht in sich, daß die Entwicklung ihren letzten Grund im Zufall hat, wie jener enge Positivismus annehmen muß, der die Mitwirkung der Notwendigkeit ausschließt. Die Glücksfälle bewirken, wie wir erkannt haben, hauptsächlich das Fortschreiten der Entwicklung in der rein normalen Richtung oder auch ihre Verzögerung bzw. Beschleunigung. Aber die Entwicklung ruht nach ROMAGNOSI in letzter Linie auf einer kosmischen Notwendigkeit. Sie ruht sogar auf einer metaphysischen Gestaltung des Universums. Es ist wahr, daß ROMAGNOSI mitunter seinen Positivismus ein pantheistisches Element zugesellt, aber es bleibt so sehr im Dunkel und ist so ganz ohne Zusammenhang mit seiner konsequent positivistischen Lehre von den Grenzen der Erkenntnis, daß er nicht nur im allgemeinen als Positivist betrachtet werden muß, sondern mitunter geradezu als Atheist bezeichnet werden könnte. Infolge jenes pantheistischen Zuges leitet er die Entwicklung, nach seinen eigenen Ausdrücken, von einer natürlichen Kraft her, nämlich "jener großen Einheit, die alles bewegt und alles treibt". (25)

2. Der Gedanke der Anpassung leitete ROMAGNOSI dann zu einer anderen Vorstellung, die ein neues und bedeutendes Licht verbreitete und eine der sichersten Stützen der Ethik des Positivismus wurde. Es war die Idee der freiwilligen Zustimmung, Übereinstimmung (consensus), die später von COMTE ihrem ganzen Gehalt nach, mit allen ihren Konsequenzen, entwickelt wurde.

Doch hatte ROMAGNOSI früher als COMTE wenigstens ihre wichtigsten Eigentümlichkeiten und Bedingungen erkannt. Der Gedanke der Anpassung, den er in der angegebenen Weise erfaßt hatte, mußte ihn notwendig darauf führen. Wenn nichts Menschliches leben, gedeihen und sich entwickeln kann, ohne das Gleichgewicht zwischen dem eigenen Wesen und den Hindernissen seiner Existenz herzustellen; wenn, mit anderen Worten, nichts überlebend bleibt, außer es wird ein harmonischer Teil all dessen, was es umgibt und es bekundet dadurch eine gewisse Einheit in der Vielfältigkeit: so folgt naturgemäß, daß nichts Lebendiges unabhängig von allem anderen, was existiert, sein kann. Alles besteht, wie eine wirksame Formel ARDIGÓs lautet, durch seine Verbindung mit anderen Dingen.

Die daraus abzuleitende Forschungsmethode ist klar. Nur wer die unzähligen Fäden aufdeckt, die es mit der umgebenden Welt verbinden, wird das Objekt der eigenen Forschung bis in seine Tiefe verfolgen können. Und andererseits, gleichwie in der Anatomie, ermöglicht die genaue, allgemeine Kenntnis des geheimen Zusammenhangs eines Ganzen, die verschiedenen Beziehungen jeder einzelnen Daseinsform, eine aus der anderen, zu folgern. Diese Anschauungsweise zeigt die Welt in immer vollkommenerer Harmonie, durch welche sich jeder dauerhafte Gegenstand gleichsam immer fester dem Herzen des Universums verbindet. So wird das Geheimnis der intimsten Weltharmonie aufgrund eines Prozesses zu erklären gesucht, der vom Äußeren beständig in das Innere geht. Darin scheint für den Positivismus jenes Geheimnis zu bestehen, von dem SCHILLER spricht, das vor aller Augen steht, alle umgibt und vielleicht von keinem wahrgenommen wird. Jenes offene Geheimnis, das für den Idealismus die göttliche Idee der Welt ist.

Und diese Zustimmung (consensus), das Geheimnis alles Seienden, offenbart sich noch deutlicher als Daseinsgrund alles Bestehenden in seinem beständigen Werden. Wenn alles, was Leben hat, soweit lebt, als es mit der übrigen Welt verbunden ist, so folgt daraus, daß besonders in ihrer Entwicklung die verschiedenen Elemente der Welt notwendigerweise solidarisch und unzertrennlich sind und kein völlig isolierter Fortschrittsprozeß Realität haben kann. Infolgedessen muß, wie COMTE bemerkt, die Erklärung jeder Sache, ehe sie speziell werden kann, auf einer allgemeinen und allgemein gültigen Grundvorstellung der Entwicklung beruhen. Kurz, der Forscher muß versuchen, sich die natürliche Verknüpfung des ganzen Komplexes von Verbindungen zu erklären, die aus den verschiedenen Dingen ein Ganzes bilden.

Diese Verbindungen verwickelns sich durch die fortschreitende Anpassung der Menschheit und verändern sich. Infolge ihrer fortschreitenden Veränderung scheinen wirklich einige zu verschwinden, um neuen Platz zu machen. So werden die kurzen, zarten Wurzeln, die eine junge Pflanze in den ersten Jahren ihres Lebens hat, in große, unterirdische Stämme verwandelt. Das erste Würzelchen schien so verschwindend und doch dauert sein Wert, solange die Pflanze Leben hat. Auf diese Weise hatten gewisse Gefühle, gewissen Gedanken, gewisse Hemmungen der Vergangenheit, die uns nun überflüssig und falsch erscheinen, nicht allein großen Wert und stellen die große Wahrheit der Vergangenheit dar, sondern sie haben auch einen dauernden Wert und bilden eine unvergängliche Realität. So haben auch für jedes Gebäude während seiner Dauer die unterirdischen Grundmauern Wert, obwohl sie den Augen verborgen sind und der Mensch sich ihrer nicht unmittelbar bedient. Ebenso ist nach COMTE unsere Schuld an die Vergangenheit beschaffen.

All dies faßte ROMAGNOSI selbst mit Bezug auf den sozialen Fortschritt in eine Formel zusammen, die umso wirksamer ist, je einfacher sie ist: "Im Triebwerk der Zivilisation verliert die Natur nichts Nützliches der Vergangenheit."

Von all dem, was COMTE ebenso klar unter einem statischen wie unter einem dynamischen Gesichtspunkt gesehen hat und was die letzten Untersuchungen in den Entwicklungslehren SPENCERs durch einen größeren Zusammenhang ergänzten, erkannte auch ROMAGNOSI die Hauptpunkte und hob mit Energie die Notwendigkeit der daraus folgenden Forschungen hervor.

In den "Grundanschauungen der Logik" lehnt er sich gegen die bisher in der Philosophie gebräuchliche Maxime auf, die sozialen Elemente so zu betrachten, als hätten sie ein abgesondertes Leben. "Man kann nur aus der vernünftigen Anordnung eines lebendigen Ganzen die Anordnung eines seiner Teil feststellen" (26), sagt er. Und er behauptet, daß von einer Sache durch die Feststellung ihrer Eigentümlichkeiten nur äußere Zeichen gegeben werden, nicht aber die Kenntnis ihrer Natur; und dies nicht allein in statischer Beziehung; er verbindet es mit ihrem Werden, ihrem Leben durch die Jahrhunderte.

War die allgemeine Vorstellung einer gegenseitigen organischen Abhängigkeit alles Bestehenden einmal gefaßt, dann ergaben sich daraus a priori vielfältige Ansichten über diese gegenseitige Abhängigkeit, die veränderlich war nach dem Grad ihrer Allgemeinheit und Verwicklung, bezüglich deren es COMTE vorbehalten blieb, die Abhängigkeit von der abnehmenden Allgemeinheit der Erscheinungen und ihrer zunehmenden Verwicklung zu bestimmen. ROMAGNOSI jedoch hatte davon die bezeichnendsten Züge gesehen und besonders jene, welche die Sozialwissenschaft betrafen, also den Gegenstand seiner vorzüglichsten Bemühungen. Tatsächlich beleutete er in erster Linie auf die wirksamste Weise die Übereinstimmung des Menschen mit der Natur im allgemeinen, in zweiter Linie die Übereinstimmung der Menschen untereinander. Aus dem Umstand, daß die Menschen in der Natur und mittels der Natur wachsen und sich erhalten, schließt er, daß die Zusammensetzung und Anordnung des Menschen einen integrierenden und harmonischen Bestandteil der Ordnung des Universums bilden muß und daher auch die Tätigkeit des Menschen einen integrierenden Bestandteil der Tätigkeit der Natur. Woraus weiter der Schluß folgt, daß kein wirkliches, menschliches Vermögen bestehen kann, wenn es nicht "zusammenhäng mit jener Ordnung, welche die Erhaltung des Lebens der Gesamtheit bedingt." (27)

In ähnlicher Weise entwickelt er durch Deduktion die soziale Auffassung vom Zusammenhang des Menschen mit seinesgleichen. Wenn jedes Ding besteht, soweit es mit unzähligen Fäden an alle anderen bestehenden Dinge geknüpft ist, besteht der Mensch nicht allein, soweit er mit der Natur im allgemeinen, sondern insbesondere, insofern er wie jedes andere Ding den seinigen analoge Bedürfnisse haben, verbunden ist. Daher in der Auffassung ROMAGNOSIs die Vorstellung des sozialen Charakters des Menschen als dessen innerste Wesenheit.

Ohne Zweifel war es, wie JODL erkannt hat, ein Verdienst COMTEs, das noch sehr wenig gewürdigt und äußerst wenig benutzt wird, den methodologischen Gesichtspunkt energisch festgestellt zu haben, daß keine fruchtbare Kenntnis des individuellen menschlichen Geistes erreicht werden kann, ohne das Studium der menschlichen Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Aber mit nicht geringerer Eindringlichkeit hat ROMAGNOSI denselben Gedanken ausgesprochen, obwohl er besser als COMTE - jede Einseitigkeit vermeidend - ihren relativen Wert für die direkte Untersuchung der menschlichen Fähigkeiten erkannte.

ROMAGNOSI ist in der Aufzeigung der sozialen Natur des Menschen ebenso wirksam wie einige der bedeutendsten Soziologen unserer Zeit. So könnte man an die Gedanken ROMAGNOSIs als Ergänzung die tief wissenschaftlichen und fruchtbaren Ausführungen DURKHEIMs schließen, daß
    "das Individuum nicht außerhalb der Gesellschaft leben kann, ohne sich zu verneinen. Etwas anderes wollen als die Gesellschaft, heißt sowohl etwas wollen, das uns übertrifft, als gleichzeitig uns selbst wollen." (28)
Und dasselbe kann man von den scharfen Auseinandersetzungen BELOTs sagen, der in der Gesellschaft die gemeinsamen, irdischen Bedingungen aller menschlichen, wie auch immer gearteten Ziele findet und folgerichtig im Willen zur Gesellschaft das hauptsächliche Wollen der Menschheit. Im Vergleich mit COMTE geht ROMAGNOSI vielleicht mehr in die Tiefe bei der Bestimmung, wie die menschliche Natur zu studieren ist. Er wendet auf diesen Gedanken jene Kraft, mit der auch FEUERBACH gegen das abstrakte Studium des Menschen Protest einlegt und stattdessen das Studium des konkreten Menschen empfiehlt, des Menschen mit Augen und Ohren, mit Händen und Füßen. So ruft ROMAGNOSI aus:
    "Es tut uns not, nicht den spekulativen, sondern den wirklichen Menschen zu kennen und wenn wir zu den allgemeinen Gesetzen emporsteigen wollen, geschieht es gerade, um diesen wirklichen Menschen zu ergründen, den wir weder durch Platos Visionen, noch durch peripathetische [ariostotelische - wp] Ruhe, weder durch das transzendentale Räucherwerk, noch durch kleinliche, akademische Experimente erkennen, sondern einzig durch das Studium der Gesetze, durch die er auf Erden lebte und lebt. Dies leitet den Geist zum Studium des geselligen Menschen, denn außerhalb dieses Zustandes steht er niedriger als die Tiere." (29)
Und zugleich führt in die Auffassung der individuellen Entwicklung als Funktion der sozialen, die ihm ganz klar ist, zu jenem Studium der gleichzeitig statischen und dynamischen sozialen Entwicklung als Mittel zum Studium des menschlichen Geistes, das COMTE verlangte:
    "Nicht innerhalb des individuellen Lebens vollzieht sich die Vervollkommnung des ganzen Menschen", schreibt er, "wohl aber in der Gattung, die an verschiedenen Orten untergebracht ist und durch mehrere Jahrhunderte besteht, die mit gegebenen physischen Mitteln, gegebenen Traditionen und Einrichtungen in bürgerliche Gemeinwesen geordnet ist." (30)
Und ebenso wie COMTE zeichnet auch ROMAGNOSI die Solidarität der Generationen untereinander mit höchster Eindringlichkeit:
    "Was wir sind, dazu haben uns die vorhergehenden Geschlechter gemacht. Wenn ihr in die Hand des Kindes ein Alphabet legt, bereichert ihr es durch eine herrliche Erfindung, eine Arbeit vieler Menschen und vieler Zeiten. Wenn ihr ihm eine geographische Karte erklärt und ihm die Oberfläche eines Globus erblicken laßt, schenkt ihr ihm die Arbeitsfrucht Tausender von Menschen, ihre Beobachtungen, ihren Schweiß, ihr Suchen, ihre Weisheit. Wenn ihr es eine ausländische Pflanze einsetzen oder ein Gebiet nach einer bestimmten Methode bearbeiten lehrt, so übergebt ihr ihm einen Schatz, der seinen Voreltern viele Mühe, viele Opfer gekostet hat."
ROMAGNOSI formulierte zuletzt in wirksamster und verständlichster Weise diesen doppelten statischen und dynamischen Zusammenhang in zwei Sätzen: "Der Mensch ist das vollkommene Symbol seines Jahrhunderts." Er ist "durch die ganze Erbschaft bereichert, die ihm seine Vorfahren hinterlassen haben."

3. Noch mehr als durch den Begriff der Anpassung scheint ROMAGNOSI - innerhalb der Grenzen ethisch-sozialen Lebens - DARWINs Entwicklungsgedanken sich zu nähern durch eine der Erblichkeit analoge Idee, die er mit der Anpassung als konstantes Mittel zur Aufbewahrung dessen, was die Anpassung stufenweise erwirbt, verbindet.
    "Dieser Fortschritt", so faßt er seinen Gedanken zusammen, "entsteht und wird immer entstehen nach den Gesetzen des Antriebs (stimoli) und der Trägheit, die in der physischen Welt vorherrschen."
Dabei ist es klar, daß ROMAGNOSI mit der "Antriebe" die Ursachen begreift, welche die Anpassung an die Umgebung bestimmen, während er mit dem Ausdruck "Trägheit" - der Physik entlehnt - nichts anderes als jenes Gesetz bezeichnen will, das wir wegen seines deutlichen Erscheinens bei individuellen biologischen Übertragungen mit DARWIN "Erblichkeit" nennen, das aber bei HAECKEL "Gedächtnis" heißt und von ihm als eine allgemeine Eigenschaft der Natur angesehen wird.

Es fehlt bei ROMAGNOSI von den Grundprinzipien der Entwicklungslehre DARWINs nur noch die Idee des Überlebens des Passendsten durch den Kampf ums Dasein. Doch finden sich Elemente, die auf eine solche Auffassung hinweisen, in der Doppelidee, daß die Natur niemals eine nützliche Erwerbung wieder verliert und daß das Schlechtgeratene sich früher oder später auflöst, was überdies mit sich bringt, daß im Grunde auch für ROMAGNOSI das Prinzip HEGELs wahr ist: die Weltgeschichte ist das Weltgericht.

Vergleichen wir ferner die Entwicklungslehre ROMAGNOSIs mit der Lehre SPENCERs, so ist es bemerkenswert, daß die Kennzeichen der Integration und Differenzierung und des Übergangs vom Unbestimmten zum Bestimmten bei ROMAGNOSI höchst klar sind und daß auch die Formulierung, die ROMAGNOSI all dem gegeben hat, vielleicht sogar etwas Exakteres in sich birgt als SPENCERs Formel. Mir scheint, als enthielte sie etwas, das gleichsam ein Vorläufer der letzten Vervollkommnungen ist, die ARDIGÓ der positivistischen Lehre von der Entwicklung gegeben hat. In der Tat sagt ROMAGNOSI:
    "Die Natur schreitet aus dem unentwickelten, derben, kompakten Zustand zu einem entwickelten, verfeinerten und zerteilten Zustand vor und verbindet überdies die Einheit mit der Vielheit, die Einfachheit mit der Mannigfaltigkeit, den Gegensatz mit der Übereinstimmung." (31)
In dieser Formel, so scheint mir, nähert sich die Stelle vom Übergang des "kompakten" in einen "zerteilten" Zustand, dem Gegensatz des "Unbestimmten" und "Bestimmten", womit ARDIGÓ eine der wichtigsten Verbesserungen der Entwicklungslehre geschaffen hat.


3. Abschnitt
Die konkrete Entwicklung der Moral

Im Zusammenhang mit den angedeuteten Grundlagen baut ROMAGNOSI das Werden und Wachsen der Moral in Natur und Gesellschaft auf. Er geht wie FEUERBACH vom Individuum aus, das mit dem Verlangen nach Glück erfüllt ist. Das Verlangen nach Glück ist auch bei ihm der Trieb aller Triebe. ROMAGNOSI sieht sogar in der Natur eine Vorsehung, die alle Wesen mittels ihres eigenen Egoismus dazu bewegt, nach und nach ihre Absichten zu erfüllen. Darin ist deutlich etwas Verwandtes mit HEGELs Idee von der Klugheit der Natur, einer Idee, die übrigens schon bei VICO und LEIBNIZ vorkommt. Vom primitiven Wesen, das nur von diesem Trieb erfüllt ist, bis zu den höchsten moralischen Kräften ist der Aufstieg sehr langsam. Jedes Gut ist so für die Menschheit eine mühsame Eroberung, die sie vollbringt, unter dem immerwährenden Verlangen nach Glück, einem Verlangen, dem die äußere Welt, in der wir zu leben gezwungen sind, die Richtung gibt.
    "Es muß", sagt er, "eine lange Periode vorhergehen, in welcher durch die Anstrengungen von Millionen Versuchen, Irrtümern, guten und schlechten Unternehmungen der rohe und unwissende Mensch allmählich in den Zustand der Vernunft und des Wissens übertritt; der nackte, schwache Mensch, entblößt aller nützlichen Werkzeuge, in den Zustand der Industrie und Bequemlichkeit, des Genusses; der vereinzelte oder auf seine Familie angewiesene Mensch in die Gemeinsamkeit des Stammes, des Volkes, der Nation. Dieser notwendige Lauf, bedingt durch die Wesenheit seiner eigenen Natur in Verbindung mit der physischen Ordnung, kann als ein tatsächlich notwendiges Gesetz der Natur betrachtet werden." (32)
Indem ROMAGNOSI diese Entwicklung verfolgt, findet er,
    "daß die ersten Ursachen, die dem menschlichen Herzen eine gewisse Richtung geben, aus der physisch-moralischen Konstitution der Menschen fließen. Die Bedürfnisse, die Freuden und Schmerzen, die Wünsche, die aus seiner Organisation stammen, sind die ersten Veranlassungen für die Regungen seines Herzens."
Die Liebe zur Selbsterhaltung, der Haß gegen das, was der Selbsterhaltung feindlich ist, sind die Grundursachen, welche den Trieb der Abwehr des Schädlichen, d. h. die Verteidigung auslösen. Daher auch die Leidenschaft des Zorns, der die natürliche Leibwache der menschlichen Unversehrtheit ist. Aber derselbe Trieb der Selbsterhaltung, der die Menschen durch den Hunger zwingt, sich zu nähren und durch die unbehaglichen Einflüsse der Atmosphäre, sich zu bekleiden, treibt auch dazu, die Mittel zur Befriedigung jener Bedürfnisse zu sammeln und zu verwahren, daher die Liebe zum Besitz der materiellen Güter. (33)

Übereinstimmend mit diesen Anfängen könnten wir aus verschiedenen Stellen von ROMAGNOSIs Werken einen vollständigen, bewunderungswürdigen Entwurf der ethisch-sozialen Entwicklung zusammenstellen, der sich in verschiedenen Teilen seiner Werke zerstreut findet und dadurch zeigt, wie er sich in seinem Geist stufenweise vervollkommnet hat, ohne daß ROMAGNOSI so weit gekommen wäre, eine systematische Einheit dafür zu finden. Meiner Meinung nach ist letzteres einer der Gründe, weshalb sein Werk nicht denselben Erfolg hatte wie die ähnlichen Werke der anderen Positivisten.

Vergegenwärtigen wir uns unterdessen die Hauptpunkte dieser Gedankenentwicklung, so ist durch die Übereinstimmung mit den anderen großen Begründern des Positivismus besonders die Lösung des Grundproblems der Moral ausgezeichnet, wie nämlich aus dem egoistischen Trieb zur Glückseligkeit - der einzige, der ursprünglich angenommen wird - die freiwillige Einschränkung seiner selbst zum Wohl der anderen entstehen kann.

Sein scharfer Blick befähigt ROMAGNOSI, sich als erster über alle vorübergehenden utilitaristischen Systeme zu erheben und gleichsam das Beste zu erreichen, was darüber gesagt worden ist. Er verweist deutlich auf zwei Grundlagen, die oftmals vermengt worden sind, jedoch in Wirklichkeit gesondert erscheinen, weil die eine ohne die andere bestehen kann, obwohl sie dahin drängen, sich zu vermischen und dadurch die objektiven Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen zum höchsten Gefühl der Solidarität sich erheben können. Die eine dieser Grundlagen ist das Phänomen der Synaesthesis, die ROMAGNOSI das Gleichgefühl nennt, durch welches wir gemeinsam leiden und uns freuen. (34) Für ROMAGNOSI ist dies nicht das geheimnisvolle und eingeborene Gefühl der Sympathie, das von ADAM SMITH angenommen worden war, so daß er es durch den Ausdruck "Gleichgefühl" unterscheidetf. Er bezeichnet damit einfach die Phänomene Lust und Schmerz, die gemeinsam erfahren werden, weil sie Folgen derselben Triebe unter denselben Bedingungen sind. Daraus entsteht eine Art Kollektivegoismus, der ROMAGNOSI enthebt, einen ursprünglichen Altruismus anzunehmen, den COMTE bekanntlich als unabweisbar betrachtet hat. Dieser Kollektivegoismus funktioniert tatsächlich als Altruismus und ist der Keim des wahren Altruismus.

Die andere Grundlage besteht in dem Umstand, daß die Menschen auch ihre einfachsten Bedürfnisse nicht ohne die anderen Menschen befriedigen können. Lebt der Mensch in der Natur und durch die Natur, so lebt er auch inmitten der anderen und durch die anderen Menschen. Wie der Mensch mancherlei physische Dinge der ihn umgebenden Natur entnimmt, um sich den Existenzbedingungen anzupassen und dadurch in gewisser Weise genötigt wird, sie zu lieben, als Werkzeug des eigenen Wohles; wie er sich um der eigenen Erhaltung willen auch zu Tieren herabläßt, die er nicht nur als Mittel des eigenen Wohlseins liebt, sondern die er auch lehrt, ihn zu lieben, da er sie durch Gewalt allein nicht unterwerfen könnte - so läßt sich der primitive, wilde und ganz egoistische Mensch auch allmählich zu den anderen Menschen herab, ohne es selbst zu gewahren und wird naturgemäß dahin geführt, sie zu lieben, soweit sie Mittel seiner Zwecke. Auch wird er durch das eigene Bedürfnis getrieben, sich Liebe zu erwerben, da er weder so stark noch so mächtig sein kann, um
    "beständig und gewohnheitsmäßig durch Gewalt sich viele seinesgleichen dienstbar zu machen. Daher der Mensch, auch abgesehen von einem bestimmten Freundschaftsgefül, gezwungen ist, sich das Wohlwollen der anderen zu erringen, um sie zu seinem Besten beitragen zu lassen." (35)
und auf dieser vollkommen natürlichen Basis, die noch frei ist von einem wahrhaft moralischen Inhalt, beginnt der Egoismus als Altruismus zu funktionieren. Es ist in Wahrheit noch nackter Egoismus, der wirkt, aber die Folge ist doch die eines Bandes, das rein persönlich das menschliche Interesse von Mensch zu Menschen leitet, nicht um zu schaden, sondern um zu genießen. Die Gefühle, die hervorgehen, sind, mit anderen Worten, jene, welche SPENCER als pro-altruistisch und ego-altruistisch bezeichnet. Dies sind die zwei Grundlagen des Altruismus.

Daran fügt ROMAGNOSI die Kraft der Gewöhnung, die schon von LOCKE entwickelt worden war und die er ganz klarlegt und jene der Assoziation der Ideen, die vor allem anderen auf der Basis des Gleichgefühls das Mitleid hervorbringt. Das gemeinsame häufige Erfahren von Leid und Freude bringt beim Anblick von fremdem Leid
    "durch eine Ideenassoziation ein Schmerzgefühl hervor, welches antreibt, den Betrübten, den Bedürftigen, den Unterdrückten zu Hilfe zu kommen, um sich selbst von der Beklemmung zu befreien." (36)

    "So steigt beim Anblick fremder Beleidigungen ein Zorngefühl auf, durch den Gedanken der eigenen Beleidigung eingeflößt, das zu einer gemeinsamen Rache anspornt, die ich", sagt er - "Mitrache heiße." (37)
Ähnlich bildet sich das Gefühl der Befriedigung beim Anblick von fremdem Wohl und jenes der Dankbarkeit und des Wohlwollens in Verbindung mit dem Urheber der Wohltat, sowie viele andere moralische Regungen, "die ihrerseits alle Erscheinungen des tugendhaften Empfindens wiedergeben und vereinigen." (38) Diese rein affektive Gestaltung der Gefühle und Gewohnheiten wächst, breitet sich aus, erhellt sich durch die Arbeit der Intelligenz und erreicht schließlich dasjenige, was wir Humanität nennen, Menschenliebe, Philanthropie. (39)

So zeigt ROMAGNOSI den Charakter der natürlichen, si entwickelnden Moralbildung auf der gemeinsamen Basis des Triebes zur Glückseligkeit und nennt die Natur vorsehend, weil sie
    "in das menschliche Herz den Anstoß zu den tugendhaften Affekten gelegt hat, ohne die Einheitlichkeit des Prinzips der Eigenliebe zu zerstören." (40)
Jene primitiven Triebe, die durch die Reize der Existenzbedingungen zu Trieben des sozialen Interesses und zu tugendhaften Affekten sich verwandeln und vervielfältigen, durch ein bloßes Gefühl der Gewohnheit handelnd, die ganze Wissenschaft von der öffentlichen und privaten Gerechtigkeit ersetzen, ehe die Vernunft vom Licht der Prinzipien erhellt wird - sie diktieren dem Geist die Urteile, dem Herzen die Impulse, der Hand die Tat. (41) Dies nennt er "Moral des Herzens"; sie erfüllt, wenn auch in gröberer WEise, dieselben Funktionen, wie die Moral der Vernunft.

Sie war durch lange Zeit die Führerin der Menschheit. Die vernunftgemäße Moral selbst empfängt Kraft, Richtung und Inhalt von der affektiven Moral.
    "Die vernünftige Moral ist nichts anderes als die Entwicklung der natürlichen Moral, wie die Logik der Vernunft nichts anderes ist als verbesserte natürliche Logik." (42)
In den natürlichen, affektiven Trieben liegt die Quelle aller Energie der Moral und in der spontanen, zur Gewohnheit gewordenen Anpassung dieser Triebe ihr grundlegender Inhalt. Damit ist für ROMAGNOSI, wie für COMTE, die Intelligenz nicht schaffend, sondern bloß formgebend für die Elemente, die uns durch die allgemeine Weltordnung gespendet werden.

Ferner stimmen ROMAGNOSI, COMTE und FEUERBACH in einem Punkt vollständig überein. Der Egoismus, sei er Vorgänger oder Begleiter des Altruismus, ist immer dessen unvermeidliche Bedingung. So FEUERBACH, wenn er gegen SCHOPENHAUER bemerkt, daß jedes Mitgefühl für die anderen nur auf der Basis des eigenen Glücksinstinkts möglich ist und wenn COMTE findet, "daß der Begriff des Wohls anderer oder eines allgeme
    inen Interesses nur mittels des persönlichen Interesses verstanden werden kann",
was nach allem, was ich angeführt habe, bei ROMAGNOSI ebenfalls feststeht. Ähnlich ist es, wenn FEUERBACH gegen KANT hervorhebt, daß die Stimme des Gefühls der erste kategorische Imperati ist und ROMAGNOSI in anderer Form sagt: "Die moralische Handlung hat ihren Ursprung im Gefühl", (43) - einen Ursprung, aus dem zugleich der Inhalt und die treibende Ursache der moralischen Handlung fließen, daher auch ein kategorischer Imperativ.

Und wieder ist es die natürliche Basis der Anpassung an die Umgebung, auf die ROMAGNOSI die Entwicklung der Gesellschaft und der Individualität als Werk der Natur und in Übereinstimmung mit den einfachsten biologischen Gesetzen baute. So erreichtet er auf streng wissenschaftlichem, soziologischem Untergrund die Vorstellung der moralischen Persönlichkeit. In COMTE analogerweise zeigt er sehr lichtvoll, wie die Natur durch dieselbe Arbeit der Kollektivpersönlichkeit und die individuelle Persönlichkeit formt.

Diese Arbeit schreitet durch doppelte Hilfsmittel fort: auf der einen Seite wird durch die Reize der Umgebung eine beständige Zunahme der Vermögen, sowohl der Gesamtheit als auch der Individuen, herbeigeführt, auf der anderen Seite wird durch den Druck der Elemente aufeinander und somit auch des Ganzen auf jedes Element die Grenze der persönlichen Sphäre gezogen. ROMAGNOSI erfaßt die Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft auf analoge Weise, wie LEIBNIZ sie zwischen der Monade und dem Universum angenommen hat. Er sieht in erster Linie, daß aller Wert des Menschen ihm von der Gesellschaft zukommt. "Aus der sozialen Konstitution und Handlungsweise der menschlichen Wesen fließt ihre Vernunft und Moralität", sagt er. Aber noch eindringlicher stellt er das Individuum als die Gegenseite der Gesellschaft dar, die ihrerseits wieder die umgekehrte Individualität ist.

Mittels der Reize der Außenwelt vollziehen sich Wirkung und Gegenwirkung zwischen Individuen und Gesellschaft in der Weise, daß eines das andere mit seinem ganzen Wesen und seinen ganzen Kräften durchtränkt.
    "Zerlegend und wieder gestaltend, flößt das Individuum nach und nach dem Gesellschaftskörper die verschiedenen Fähigkeiten ein; aus dieser Übertragung empfängt die individuelle Monade ihr wohlwollenden Kräfte und der Imperativ eine stets größere Macht."
Daher ist es die Gesellschaft selbst - indem sie ihre Kraft und ihre Herrschaft befestigt - die gleichzeitig in wunderbarer Weise das nötige persönliche Gebiet und die gerechte Befriedigung jedes ihrer Mitglieder erwirkt.
    "Das Herz und die Hand des Menschen sind frei und mächtig geworden", sagt er, "durch die ungeteilte Mithilfe der gesamten Staatsverbindung, worin der Mensch Güte, Genugtuung, Würde und Vervollkommnung findet." (44)
Diese Macht strömt der individuellen Persönlichkeit nicht allein aus dem ganzen lebenden, sozialen Körper zu, sondern auch aus der Gesamtheit seines gegenwärtigen Zustandes und aller Generationen, die vorhergegangen sind. Wenn das Individuum tatsächlich durch die Weisheit der ganzen Gesellschaft belehrt, durch den Fleiß der ganzen Gesellschaft versorgt wird, so sind dies nur die gesammelten Kräfte aller Generationen, die vorhergingen und die sie durch ihre solidarische Arbeit in Zeit und Raum aufgespeichert haben. Dies zeigt höchst deutlich, daß der Mensch für die anderen lebt und deckt den tiefsten Wesensgrund des Satzes auf, der heute von DURKHEIM verkündet wird: "Die Gesellschaft wollen, heißt zu gleicher Zeit uns selbst wollen." (45)

Umgekehrt begrenzt auch wieder das Zusammenleben und der gegenseitige Verkehr die Persönlichkeit, insofern sie nämlich ihrer ursprünglichen Natur nach mit ungeheurer Energie dahin drängt, sich auszudehnen. ROMAGNOSI sieht darin die vollkommene Wiederholung der biologischen Gesetze in der sozialen Welt.
    "Die moralische Ordnung", sagt er, "ähnelt der physischen, worin die einzelnen Kräfte, mit unbestimmter Macht ausgestattet und wechselweise zurückgehalten, zu jenen wichtigen Übertragungen gelangen, die das Leben gebären und alle Dinge des Universums hervorbringen." (46)
Daraus folgt für die Persönlichkeit die Erscheinung und der Charakter des Gemäßigten, den ROMAGNOSI als den wahren, vorherrschenden und deutlichen Charakter der Moralordnung der Vernunft bezeichnet. Die Mäßigkeit, als Tugend betrachtet, stimmt damit überein; die Besonnenheit, die jedes Extrem meidet, nimmt sich diesen Charakter zum Vorbild. Der zur Gewohnheit gewordene Einfluß der Erziehung, bis zu den kleinsten sozialen Funktionen herab, besteht in dieser Mäßigung. Was wir Höflichkeit oder Gattung nennen, löst sich bei genauer Analyse in ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Übereinkommen der Eigenliebe auf und die gegenseitigen Rücksichten sind dessen Folge.

Auf zwei Voraussetzungen beruth die individuelle Persönlichkeit: auf der individuellen Kraft, die dem Individuum durch das Ganze zufließt und den Grenzen, die ihm durch den Druck der anderen Persönlichkeiten (und daher wieder durch das Ganze) gezogen werden. Dieser Druck erzeugt jedoch keine Schwächung jener Kraft, sondern eine Spannung, die sie vermehrt. Mit anderen Worten: während er sie zusammenpreßt, steigert er sie. Jedes Individuum kann sich als unendlichen Ausgangspunkt der Tätigkeit betrachten. Diese Tätigkeit kann jedoch eine für den Menschen selbst nützliche Richtung nur durch den Druck des sozialen Gefüges und nach und nach durch dessen Entwicklung erlangen. Durch diese doppelte Kraft unterscheidet sich das Individuum selbst und schätzt sich als Individuum und als intimen Teil eines Ganzen. ROMAGNOSI vervollkommnet auf diese Weise das Prinzip des LEIBNIZ, daß die wahre Existenz der Elemente darin besteht, sich zu einer zusammenhängenden Einheit zu verbinden. Für ein Einzelwesen heißt existieren: den Teil eines Ganzen bilden.

Die Gesellschaft leitet nun den Prozeß der Verschmelzung und Verbindung durch eine soziale Arbeitsteilung ein, die eine objektive Organisation herbeiführt und das Individuum durch die Gemeinschaft umso mächtiger und freier macht, je abhängiger und weniger mächtig es als einzelnes ist.
    "Darin", sagt er, "besteht das geheime und wunderbare Triebwerk der Zivilisation, herbeigeführt nicht durch Verfügungen der Menschen, sondern durch den positiven, langsamen, unsichtbaren und allmächtigen Prozeß der Natur."
Es ist demnach die Natur der höchste Faktor der Persönlichkeit, wenngleich durch die Vermittlung der Gesellschaft. Diese, wie alles andere, kann keine andere Aufgabe haben, als den natürlichen Prozeß zu fördern und vor Abweichungen zu behüten.

Die praktischen Folgerungen ROMAGNOSIs stimmen mit denen COMTEs darin überein, daß sie in vollkommenen Gegensatz zu den unhaltbaren, damals wie heute noch herrschenden Bestrebungen stehen, auf politische Vorgänge einen grenzenlosen Einfluß ausüben zu wollen. Und damit hat ROMAGNOSI in völliger Übereinstimmung mit COMTE auch eine festere Basis für die Würde der menschlichen Persönlichkeit gelegt. Sich stützend auf eine unmittelbare soziale Regung und geführt durch natürliche Gesetze, ist die Persönlichkeit nicht mehr jene Art von Gliederpuppe, die nach Belieben von der absoluten, willkürlichen Macht eines Gesetzgebers geleitet werden kann, sondern sie steht selbstverantwortlich da, sie erfüllt, was ihr die Natur aufträgt.

Wir sagen mit Absicht und Bestimmtheit die Natur, nicht die Gesellschaft. Denn wenn CRAID bei COMTE tadelt, daß er wohl eingesehen hat, daß eine Täuschung der Abstraktion ist, das Individuum von der Gesellschaft zu trennen, aber nicht erkannt hat, daß es dieselbe Täuschung ist, uns von der Welt zu trennen, in der wir leben, so ist dies, ganz abgesehen vom Metaphysischen, das der Gedanke CRAIDs in sich schließt, nach dem oben Gesagten schon ein Irrtum mit Bezug auf COMTE, aber ein noch augenscheinlicherer Irrtum in Bezug auf ROMAGNOSI, für den tatsächlich der Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft nur so weit geht wie der Zusammenhang von Individuum und Natur.

Die menschliche Persönlichkeit ist nach ROMAGNOSI, gleichwie bei jeder anderen evolutionistischen Lehre, vergänglich und dadurch scheint die Persönlichkeit aus etwas Verschwindendem zu bestehen, wie eine einzelne Welle im Wogen eines Stromes. Dies wurde dem Positivismus wie dem Neuhegelianismus vorgeworfen. Bemerkenswert ist die Erwiderung MARCHESINIs zur Verteidigung des Positivismus, sowie die KOHLERs zur Verteidigung des Neuhegelianismus. (47) Die MARCHESINIs, insofern sie betont, daß das Vorübergehende mit dem Dauernden verknüpft ist und diese Verknüpfung im Vorübergehenden die Einheit und das dynamische Prinzip des Wachstums sichert, das nur durch das Fortbestehen der vorhergehenden Momente in den nachfolgenden möglich ist. Die KOHLERs durch seine Ausführungen, daß einerseits die fliehende Gegenwart doch für die Bildung des Zukünftigen notwendig ist und die reife Frucht des Vergangenen enthält und andererseits wir wohl im Gegenwärtigen stehen, uns aber auf niedriegere Stufen stützen, die einen dauernden Wert haben, weil sie uns unserem letzten Ziel näher bringen. (48)

Nicht viel anders sind ROMAGNOSIs Gedanken. Für ihn ist die Persönlichkeit einerseits die Monade, welche die ganze Gegenwart und die ganze Vergangenheit widerspiegelt - unmittelbar die der Gesellschaft, mittelbar die des Universums - andererseits ist sie das Organ, welches die letzte Entwicklung des Ganzen befördert. So vergänglich sie ist, ist sie doch Produkt und Organ der Weltentwicklung und hat als solche einen unendlichen Wert. Unendlich zumindest im positiven Sinn, soweit sie, wie ARDIGÓ sagen würde, "den Punkt bildet, worin sich die unendlichen Linien des Raumes und der Zeit schneiden".

Ein solches Organ ist keineswegs einer verhängnisvollen Notwendigkeit unterworfen. Die menschliche Persönlichkeit empfängt wohl ihre Gesetze durch die Natur, aber sie kann sich über denjenigen Teil der Natur erheben, dem sie selbst angehört, soweit sie als "bewußt gewordene Natur" das Abnormale in diesem Teil austilgt, ihre Kraft einer weiteren Sphäre der Natur entnehmend und damit mittelbar dem Ganzen. Diese Auffassung berührt heute in gleichem Maße die fortgeschrittenste soziologische, wie die fortgeschrittenste metaphysische Schule.

So bemerkt DURKHEIM, der bedeutendste Vertreter der ersteren, daß dasjenige, was uns vorschreibt, die Gesellschaft zu wollen, "nicht die Gesellschaft ist, wie sie sich selbst erscheint, sondern die Gesellschaft, die wirklich ist oder zu werden drängt", während
    "das Bewußtsein von sich selbst, das die Gesellschaft in und mit der öffentlichen Meinung voll von Überlebtem ist, das auf den realen Gesellschaftszustand verzögernd einwirkt; es kann geschehen, daß unter dem Einfluß vorübergehender Umstände auch gewisse Hauptprinzipien der bestehenden Moral für einige Zeit ins Unbewußte zurückgeworfen werden und dann ist es, als wären sie nicht. Die Wissenschaft der Moral gestattet, diese Irrtümer zu berichtigen."
Heißt dies im Grunde etwas anderes, als "einen Teil der Wirklichkeit (diese Wirklichkeit ist sicher die öffentliche Meinung DURKHEIMs) aufgrund eines viel weiteren Kreises der Wirklichkeit zu korrigieren?"

Auf der entgegengesetzten Seite betrachten wir eine der fortgeschrittensten metaphysischen Richtungen: Im Neuhegelianismus KOHLERs ist die Möglichkeit weiter irrationaler Sphären zugegeben. Aber das Rationale, indem es sich in großen Zwischenpausen erhebt, erlaubt es der bewußten Persönlichkeit, das Irrationale in jenem Teil der Wirklichkeit, in dem es sich befindet, wahrzunehmen und sich gradweise dem normalen Prozeß wieder anzunähern. Dies schließt ebenfalls in sich, "einen Teil der Wirklichkeit aufgrund eines viel weiteren Kreises der Wirklichkeit zu verbessern".

So erhalten die Hauptpunkte der Ethik des Positivismus (auf der ersten Phase) noch indirekte neue Stützen durch die neuesten Fortschritte des Wissens. Wurden dabei diese Hauptpunkte einerseits von irrigen Ansichten gereinigt oder durch tiefere Ansichten ergänzt - seien es positivistisch oder metaphysische - so erhielten sie andererseits durch die ungeheure Arbeit der nachfolgenden Zeiten auch eine immer mehr gesicherte Grundlage.
LITERATUR - Francesco Paolo Fulci, Die Ethik des Positivismus in Italien, Stuttgart und Berlin 1911
    Anmerkungen
    1) Romagnosi, Opere, Bd. 1, § 30.
    2) §§ 66f der Schrift "Che cosa é la mente sana?" Äußerst interessant! - Die Reize der Umgebung, die sich ihrer allgemeinen Natur nach auf Lust- und Schmerzreize zurückführen lassen, nennt er mit Bezug auf die Erkenntnis "logische Erreger"; von ihnen sagt er, daß sie eine Form und bestimmte Weihe nicht nur dem Geist mitteilen, sondern auch dem Herzen. Durch dieses Mittel bewirkt die Einheit der Natur eine menschliche Einheit. - Das im Text angeführte Prinzip, als Hauptprinzip des Positivismus, daß nämlich die Außenwelt dem Ich Nahrung, Reiz und Regel liefert (oder, besser gesagt: das Gesetz des SEins und die Norm des Handelns) ist in groben Umrissen von Comte und von Romagnosi enwickelt worden.
    3) a. a. O., § 68, Seite 499
    4) Wenn Belot dies für Comte hat konstatieren können (was ich übrigens nicht berechtigt finde, wie ich in der Folge ausführen werde), ist es unzweifelhaft für Romagnosi wahr, der in der eindringlichsten Weise sagt: "Alles ist so einheitlich im innern des Menschen, daß man die Bezeichnungen umstellen könnte, die sich auf die Erkenntnis, den Willen und das Handeln beziehen. Das Wahre, das Gute und das Wirkliche offenbaren sich in so einheitlicher Weise, daß man das Wahre gut nennen könnte. Ebenso könnte man das Gute ein wahres und wirkliches Herzliches nennen und endlich das Tatsächliche ein wahr und wirklich Handelndes." (Opere, Bd. 1, Seite 7)
    5) In der Sammlung: "Études sur la Philosophie Morale au XIX. siécle", Paris 1804. Vgl. die Studie von Belot, "Les Principes de la Morale Positiviste et la Conscience Contemporaine", Seite 9f.
    6) Siehe den "Discours sur l'ensemble du Positivisme" im ersten Band des "Systéme de politique positive ou traité de sociologie, instituant la réligion de l'humanité", Seite 28. In dieser Schrift, scheint uns, hat Comte am klarsten seine Gedanken über die behandelte Frage ausgedrückt.
    7) ebd. Seite 28
    8) ebd. Seite 28
    9) ebd. Seite 29
    10) ebd. Seite 32
    11) Ein glücklicher Satz von Belot (a. a. O.)
    12) Opere, Bd. 1, Seite 45.
    13) Über die Ethik Hutchesons siehe Jodl, Ethik, a. a. O., Seite 336-342.
    14) "Assunto primo del diritto naturale", § 26, Seite 190.
    15) ebd.
    16) ebd.
    17) ebd.
    18) "La Filosofia del diritto", erste Auflage, § 14, Seite 150.
    19) Herbert Spencer, Einleitung in das Studium der Soziologie, hg. von Heinrich von Marquardsen, zweite Auflage, Leipzig 1896 (Internationale wissenschaftliche Bibliothek Bd. XIV und XV) II. Teil, Seite 161.
    20) "Ètudes de morale positive", die eine Arbeit wiedergeben, welche schon in der "Revue de Metaphysique et de Morale", Jahrgang 1904, veröffentlicht wurde.
    21) "Filosofia del diritto", § XVII, Seite 193.
    22) ebd.
    23) Herbert Spencer, Eine Autobiographie, autorisierte deutsche Ausgabe von Ludwig und Helene Stein, 2 Bde., Stuttgart 1905.
    24) Aus dem "Canto alla Ginestra".
    25) Opere, Bd. 1, § 1027, Seite 461.
    26) Opere, Bd. 5, 1, Seite 223.
    27) "Che cos' é la mente sana?" § 68, Seite 499. Mit größter Eindringlichkeit schildert Romagnosi vor allem die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur: "Wir sehen den Menschen als Teil dieser Natur, durch diese Natur regiert, mächtig durch diese Natur, in seinem Bewußtsein ein unerschütterliches Vertrauen zu dieser Natur tragend." (Suprema Economia dell' Umano Sapere, II. Teil, § 199, Seite 599)
    28) Emilé Durkheim, "Determination du fait moral" im Bulletin de la Société francaise de Philosophie, Sitzung vom 11. Februar 1906.
    29) "Arte logica", § 592, Seite 222.
    30) ebd. § 605, Seite 226. Die Übereinstimmung Romagnosis mit Comte, soweit dieser das Studium der Soziologie als Notwendigkeit für das psychologische Studium bezeichnet, kann insbesondere aus nachfolgendem Passus Romagnosis entnommen werden: "... ohne das Studium der Staatsphilosophie würde alle Psychologie, alle Metaphysik und jede kritische Ausführung unnütz sein. Diese alle stehen zur Wissenschaft des vergangenen Menschen wie die Chemie zur Naturgeschichte und zur Physiologie, oder höchstens wie das Studium des Eies zum Studium der Natur und der Instinkte des Tiers. Nun will aber die wahre Philosophie die Beschaffenheit und die Gesetze dieses Lebens kennen, das sich nur in der durch die Jahrhunderte vervollkommneten Gesellschaft offenbart." (ebd. Seite 223, § 596) - Woraus sich gleichzeitig ersehen läßt, welche Wichtigkeit - wenn auch in einem untergeordneten Sinn - Romagnosi der analytischen Psychologie beimißt.
    31) "Incivilimento", § 1027, Seite 461.
    32) Assunto Primo § 9 in "Filosofia del diritto", Seite 133.
    33) ebd.
    34) "Incivilimento", § 990.
    35) "Filosofia del diritto", Seite 147f.
    36) ebd. Seite 148
    37) ebd. Seite 148
    38) ebd. Seite 148
    39) ebd. Seite 149
    40) ebd. Seite 148
    41) ebd. Seite 149. Es ist eine Anschauungsweise, welche die heutige Soziologie bestätigt. So findet Durkheim in jenen Impulsen die groben Werkzeuge, welche die soziale Arbeitsteilung seither verfeinert hat.
    42) a. a. O. Seite 151.
    43) Jenes Prinzip ist ganz nebensächlich formuliert in "Assunto Primo", § IV, Seite 119; aber es geht aus jeder Stelle hervor, wo Romagnosi von der Entwicklung der Moral spricht.
    44) ebd. § XV, Seite 154.
    45) In der oben angeführten Schrift von Durkheim im "Bulletin".
    46) "Assunto Primo", § 15, Seite 155 und "Incivilimento", Seite 423.
    47) Über den wissenschaftlichen Begriff der Persönlichkeit bei Marchesini, "Il Dominio della Spirito", Seite 37f und "L'Intolleranza", Seite 92, Bocca 1909.
    48) Siehe Josef Kohler, "Moderne Rechtsprobleme", Leipzig 1907. Ich halte fest, daß Kohler nicht allein Poet, Philosoph und Rechtslehrer vorzüglichster Art ist, wie Majetti von ihm sagt, sondern insbesondere daß nichts so geeignet ist, sowohl das philosophische Studium des Rechts wie gleichzeitig die Entwicklung der Gesetzgebung vorwärts zu bringen, als die Grundansichten über das Recht von Kohler und die Anweisungen und Beispiele, die er in seinen Forschungen über alle Zweige des Rechts gibt.