ra-3von RümelinK. KniesB. ErdmannW. LexisA. QueteletA. Wagner    
 
EBERHARD JONAK
Theorie der Statistik
in Grundzügen


"Eine weitere Aufgabe war es nachzuweisen, ob und unter welchen Bedingungen dieselben Wirkungen sich äußern und ob und unter welchen Bedingungen die Erscheinungen als Wirkungen derselben oder verschiedener Kräfte anzunehmen sind. In dieser Richtung hin mußte das ursprünglich vage Kausalitätsverhältnis an Konsistenz gewinnen und allmählich zu einem Nachweis eines Verhältnisses der Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit führen. Dieser Prozeß wurde wesentlich durch die Einführung des Kalküls in die Statistik erleichtert und befördert."


Vorrede

In der Theorie der Statistik machen sich neue Ansichten und damit neue Meinungsdifferenzen geltend; die Gegensätze scheinen schroffer, die Widersprüche größer zu werden. Beinahe instinktmäßig ruft Alles nach einer Revision der Wissenschaft zur Feststellung ihrer wichtigsten Fundamentalsätze; die Revision wird versucht und erzeugt einen Bruch; statt eine harmonische Vermittlung und Vereinigung der Differenzpunkte zu erzielen, verlangt sie als Resultat die Trennung der Statistik in zwei neue völlig gesonderte Wissenschaften, die miteinander nichts gemein haben sollen.

Die Frage nach der Berechtigung dieser Trennung und einer neuen Organsiation war für die weitere Entwicklung der Wissenschaft wichtig genug, um einer sorgfältigen Prüfung unterzogen zu werden; bald genug mußte diese Prüfung zu der Überzeugung führen, daß die Trennung in zwei neue Wissenschaften weder im geschichtlichen Entwicklungsgang der Statistik begründet ist, noch für den Fortbildungsprozeß derselben die erwarteten Vorteile gewährt, daß es sich vielmehr darum handelt, trotz der wichtigen Meinungsdifferenzen die Einheit der Wissenschaft aufrecht zu erhalten.

Dieses Problem war vor allem anderen genau zu erfassen.

Das vorliegende Buch ist ein Versuch zur Lösung dieses Problems auf Grundlage der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft und macht, wie schon der Titel zeigt, keineswegs den Anspruch, eine endgültige und vollständige Lösung desselben herbeigeführt zu haben; es hat seinen vorzüglichsten Zweck erreicht, wenn die darin entwickelten Ansichten von Männern der Wissenschaft, vorurteilsfrei als berechtigt und beachtenswert anerkannt werden.

Wer sich heutzutage mit der Statistik beschäftigt, darf keinen Standpunkt mehr einnehmen, der ein halbes Jahrhundert hinter den raschen Fortschritten der Wissenschaft zurückgeblieben ist; andererseits muß er auch darauf verzichten, sei es in der Entwicklung von Prinzipien, sei es in ihrer Verkörperung wichtige Resultate im Flug zu erreichen, vollends gar nach jenen Richtungen hin, von welchen die Zukunft der Wissenschaft abhängt. Hier handelt ees sich vorerst nur darum, einen Ausgleich divergierender, wenn sonst berechtigter Ansichten zu erzielen und einen gemeinsamen Ausgangspunkt für die weitere Forschung zu gewinnen. Nur auf einer solchen gemeinsamen Grundlage kann der endgültige formale Abschluß der Statistik erfolgen; der Weg bis zum Ziel ist weit, wenn auch der Drang der Gegenwart ihn abzukürzen sucht.

Es mag die Bemerkung nicht überflüssig sein, daß dieses Buch zugleich als Leitfaden für akademische Vorlesungen benützt werden soll; sie dient zur Rechtfertigung der Form und Ausdehnung einzelner Abschnitte.



Einleitung
Das Problem der Statistik

1. Der Entwicklungsgang der Statistik ist ein rascher geworden und drängt zum unendlichen Abschluß der Meinungen und Ansichten auf dem Gebiet ihrer Theorie. Die Erscheinung ist nicht neu, sondern datiert schon aus der ersten Periode der wissenschaftlichen Behandlung statistischen Stoffes, daß die praktischen Leistungen immer mehr an innerem Gehalt und an Ausdehnung gewinnen, daß für sie immer wieder neue und interessante Gesichtspunkte gefunden werden, und daß man immer mehr vollends heutzutage zur Überzeugung von der Unentbehrlichkeit statistischen Wissens zur Lösung einer jeden irgendwie wichtigen Frage des sozialen Lebens gelangt, während sich seither gerade in der Theorie fort und fort eine so vielfach gegliederte Divergenz der Ansichten vorfindet, daß der Ausspruch nicht ganz unbegründet erscheint, fast jedes neue Werk bietet eine neue von den bisherigen ganz abweichende Begriffsbestimmung dar, und daß man sogar Gründe für die Meinung geltend zu machen versucht, es seien unter demselben Namen verschieden geartete Leistungen gemeint. Wenn aus den sich in der Theorie der Statistik aufdrängenden Verschiedenheiten und Gegensätzen in den wichtigsten Punkten der Wissenschaft der Schluß gezogen wird, daß die Wissenschaft selbst noch in der Entwicklung zu einer bestimmten Konsolidierung und Fixierung der Begriffe fortschreitet, wenn, um das Gewirre der Meinungen zu einem Abschluß zu gelangen, die Notwendigkeit einer Revision der Wissenschaft im Allgemeinen zur Erforschung des Ursprungs, zur Erwägung der Größe und Bedeutsamkeit der einzelnen Divergenzen in ihrer Bedeutung für den Charakter einer einheitlichen und selbständigen Disziplin darzulegen versucht wird, so ist damit wohl der richtige Standpunkt für die Gegenwart gewonnen, vorausgesetzt, daß die Aussprüche der Theorie als geschichtliche Erscheinungen in ihrer Nach- und Aufeinanderfolge, in ihrer Gegenseitigkeit, in ihrem organischen Zusammenhang aufgefaßt, einzelne derselben, als durch den Fortbildungsprozeß der Wissenschaft für beseitigt, wenn auch ihn bedingend, andere aber als berechtigt, als die Summe der in einer bestimmten Zeit erkannten Wahrheiten der Wissenschaft ansich und in ihren Beziehungen zu den übrigen Wissenszweigen nach ihrem jedesmaligen Standpunkt, als das Verbindungsglied einer organischen Entwicklung selbst nachgewiesen werden.

Der ganze historische Entwicklungsgang der Wissenschaft in seinen hervorragendsten Erscheinungen muß vor allem klar werden, wenn man zu einem befriedigenden Resultat gelangen will. Allerdings darf dabei nicht auf gut Glück in die geschichtlichen Erscheinungen gegriffen werden, um die heterogensten Elemente, gleichgültig aus welcher Entwicklungsperiode, einander gegenüberzustellen und damit neue Gegensätze und Divergenzen gewaltsam hervorzurufen. Ein solcher Vorgang ist am Ende nur eine andere Form des Absolutismus in der Theorie, welcher oft genug die Wurzel des Übels in der Wissenschaft überhaupt und in der Statistik insbesondere war, des Absolutismus des bloß subjektiven Gedankens, der statt die Genesis der Wissenschaft Schritt für Schritt zu erforschen und zu verfolgen, statt in den geschichtlichen Ergebnissen die allmähliche Fortbildung des Gedankens aufzusuchen und aufzufinden, darauf nur Rücksicht nahm, um alle bedeutenden und unbedeutenden, wenn nur irgendwie abweichenden Meinungen mit allem Aufwand der Phrase abzuweisen, und durch die übereinstimmenden sich selbst als alleinberechtigt, als ein wissenschaftliches Dogma für alle Zeiten hinzustellen. Es ist dann nicht zu verwundern, daß bei einem ähnlichen Vorgang, der bisher mit wenigen Ausnahmen in der Theorie der Statistik befolgt wurde und bei der Unbestimmtheit der Begriffe, welche sich zur Zeit der Begründung der Statistik als Wissenschaft und auch später kundgab, der Gegensatz umso schroffer, der Meinungskampf umso erbitterter werden mußte, je beharrlicher jede einzelne subjektive Ansicht festgehalten und verteidigt wurde. War dies schon unter den Deutschen der Fall, so daß selbst LÜDER in Verzweiflung über seine Lieblingswissenschaft geriet, "die Waffen gegen sich selbst kehrte" und es sich zur Aufgabe machte, die "vermeintliche Wissenschaft" zu vernichten, so mußte der Streit an Ausdehnung gewinnen, seitdem auch Engländer und Franzosen, gleich absolutistisch, das Gebäude ihrer Theorie aufgerichtet haben.

Zu diesem Absolutismus der Theorie gesellte sich noch ferner der Umstand, daß man auf die gleichzeitig fortschreitende und einem Abschluß viel näher gebrachte Entwicklung der übrigen Staatswissenschaften wenig oder gar keine Rücksicht nahm, die Abgrenzung der Domäne zwischen ihnen und der Statistik nicht scharf genug zog, und dadurch verleitet wurde, Fragen in die Statistik zu ziehen, deren Lösungen anderen wissenschaftlichen Disziplinen obliegt.

Gewiß wären manche Irrtümer der Statistiker beseitigt worden, wenn sie die Lösung dieser Fragen, die Aufstellung der Begriffe, wie sie in anderen Wissenszweigen auf deren jedesmaligem Standpunkt gegeben wurden, einfach angenommen und sich lediglich auf die weitere Ausbildung des der Statistik zugewiesenen eigentümlichen Gebietes beschränkt hätten.

2. Die "jüngste der Staatswissenschaften", die Statistik zeigt uns, wie gesagt, in ihrer Genesis bestimmt ausgedrückte, wenn auch sich verschlingende Entwicklungsstufen.

Anfangs und beinahe bis zum 17. Jahrhundert tritt statistisches Wissen mit dem Wissen vom Staat überhaupt, mit Geographie, Geschichte und Politik vermengt auf und es war daher, sobald man es als irgendwie berechtigt ansah, selbständig in die Systematik der Wissenschaften einzutreten, die erste Aufgabe, statistisches Wissen nach und nach von den übrigen Wissenszweigen loszulösen und für es eine eigene Domäne zu begründen. Dieser Lösungsprozeß ging nur langsam und nicht ohne Schwierigkeiten vor sich, es es gelang, festere Grenzen zwischen der Statistik und jenen Wissenschaften zu ziehen, die mit ihr ein gleiches Objekt und nur eine davon verschiedene Aufgabe zu erfüllen hatten, ehe man zur Klarheit gelangte, inwiefern selbst nach vollbrachter Lösung ein Verhältnis der Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit zwischen ihnen noch übrig blieb. Dies bezog sich zumeist auf die Statistik einerseits, auf die Geschichte, das Staatsrecht und die Politik andererseits. Dabei ist nicht zu übersehen, daß das Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen den genannten Wissenschaften selbst dann noch insofern ein wandelbares blieb und bleiben mußte, als auch die Ansichten über das Wesen der letzteren im Verlauf der Zeit ein Wandlung und Läuterung unterlagen.

War aber der Boden für die neue Wissenschaft ein gewonnen und ihr Verhältnis zu verwandten Wissenschaften zumindest einigermaßen nachgewiesen, so war zunächst das Objekt und die Aufgabe der Statistik genauer festzustellen.

Die Anschauung, welche die ersten wissenschaftlichen Statistiker darüber hatten, war einfach. So wie nämlich die Geschichte den Staat und seine Zustände in der Vergangenheit darstellt, so sollte, meinte man, die Statistik den Staat und seine Zustände in der Gegenwart beschreiben, der Staat und was an ihm "wirklich merkwürdig" war, erschien als Objekt, die einfache Beschreibung des Staates in der Gegenwart als Aufgabe der Statistik. Selbst noch zu CONRINGs und ACHENWALLs Zeiten waren die geschichtlichen Darstellungen zumeist nur auf die politische Geschichte beschränkt, es war somit auch die Statistik auf den Staat in der damaligen Auffassung als Objekt gewiesen und es konnte sich daher selbst ACHENWALL, ohne in einen Widerspruch zu geraten, zunächst auf die politische Verfassung, auf das durch Grundgesetze und gesetzliche Normen aufgeführte äußere Gerüst der Staaten, "in der gegenwärtigen Zeit" beschränken.

Allmählich aber war der Begriff des Staates unter dem Einfluß der Philosophie zu Ende des 18. Jahrhunderts ein anderer, erweiterter geworden und gleich wie die Geschichte unter dieser Voraussetzung an Intensität gewann, mußte auch die Statistik unter Festhaltung des prinzipiell angewiesenen Objekts, jedoch bei der durch die Philosophie herbeigeführten Ausdehnung desselben, neben den früheren noch andere Richtungen und andere "staatliche", nicht bloß "rein politische" Zustände zur Anschauung bringen. Ob man nun mit dem Begriff des Staates die ältere oder neuere Ansicht verband, immer blieb der Staat die Form, der äußere Rahmen, in welchem das gesamte gesellschaftliche Leben der Menschen geordnet und einheitlich zur Erscheinung gebracht wurde.

Nachdem im Laufe der Zeit der Begriff des Staates seinem Inhalt nach immer mehr bereichert worden war und an Intensität gewann, hat sich die Philosophie der neuesten Periode mit der noch immer nicht definitiv gelösten Frage beschäftigt, ob der Staat als jene Form des gesellschaftlichen Organismus aufzufassen ist, die neben seinem ihm eigentümlichen Leben alle übrigen, wenngleich berechtigten, gesellschaftlichen Kreise umschlingt und vereinigt, oder ob diese letzteren nicht innerhalb, sondern nur neben dem Staat in ihrer selbständigen Gliederung un Entwicklung aufzufassen sind. War die Entscheidung in der ersten Richtung gefällt, so blieb unter der gewiß nicht unrichtigen Voraussetzung, daß die Statistik die durch die Philosophie in ihrem geschichtlichen Fortschreiten bewirkte Erweiterung des Begriffs des Staates einfach anerkennen und danach ihre Aufgabe zu lösen versuchen mußte, das einmal prinzipiell angenommene Objekt der Statistik nach wie vor unverändert. Aber auch bei einer Entscheidung in der zweiten Richtung konnte keine wesentliche Änderung des Objekts, sondern nur eine neue begriffliche Formulierung desselben stattfinden, weil wenn man in Konsequenz dessen "staatliche" und "gesellschaftliche" Erscheinungen als gesonderte Sphäre unterschied, und nur die einen der Statistik zuwies, die andern aber davon ausschied, man schließlich in den Widerspruch fallen mußte, einen Teil des Objekts ohne innere Notwendigkeit, sondern nur als formalen Gründen fallen zu lassen, der bisher unzweifelhaft zum Terrain der Statistik gehörte und als solcher behandelt worden war. Selbst von jener Seite her, welche bloß gesellschaftliche Tatsachen (faits sociaux) zum Gegenstand der Statistik machen will, dürfte nicht geleugnet werden können, daß diese Tatsachen in der innigsten Verbindung mit "staatlichen Zuständen" stehen, durch diese in ihrem ganzen Sein und werden bedingt sind und ohne vollständiger Kenntnis jener nicht erfaßt werden können (1). Ganz abgesehen davon, daß die "Gesellschaftswissenschaft" kaum noch im ersten Stadium ihrer Entwicklung stehen, daß die Kreise der einzelnen Gesellschaften noch nicht abgegrenzt sind, wird man wegen des organischen Zusammenhangs, in welchem das Leben der Menschen im "Staat" und in der "Gesellschaft", sich äußert, beides Sphären zumindest auch formal gesonderte Objekte der Statistik anzuerkennen bemüßigt sein, ohne dadurch die Einheit der Wissenschaft für gefährdet erachtet.

3. Wenn ACHENWALL als Gegenstand der Statistik "den Inbegriff der wirklichen Staatsmerkwürdigkeiten" bezeichnet und ihn auf die Gegenwart beschränkt, so ist der Vorwurf der Unbestimmtheit den man dagegen erhoben hat gerechtfertig. Die Staatsmerkwürdigkeiten ließen sich zuletzt auf all jene Erscheinungen zurückführen, welche überhaupt auf den Staatszweck von Einfluß sind und es war ein entschiedener Fortschritt, als man diese Staatsmerkwürdigkeiten nicht etwa als starre, leblose Schemen, als bloße Kuriositäten, sondern als die wirkenden Kräfte im lebendigen Organismus des Staates und als ihre Resultate ansah.

Einer bedeutenden Wandelung unterlag auch der ansich unbestimmt Begriff der Gegenwart und bereits die nächsten Nachfolger ACHENWALLs waren bemüht diese Grenze zwischen der Vergangenheit und Zukunft irgendwie genauer zu bestimmen und zu fixieren, und an die Stelle der bloßen Fluxion [Fluß - wp] das Moment der Dauer zu setzen. Hatte man aber diesen Standpunkt einmal erreicht, die "Gegenwart fixiert", so war damit auch die enge Schranke dieser Gegenwart gebrochen und es ließ sich die Statistik auch auf das Gebiet der Vergangenheit ausdehnen. Sobald nun auch in der Vergangenheit ein Territorium für die Statistik gewonnen und auf diese Art auch die bisherige Schranke zwischen der Statistik und der Geschichte gebrochen wurde, mußte wohl das charakteristische Merkmal gesucht und gefunden werden, welches die statistische von der geschichtlichen Behandlung desselben Stoffes schied.

Dies lag im Begriff des Zustandes, der freilich in mannigfacher Weise aufgefaßt und formuliert wurde, ehe man zu einer genaueren Bestimmung desselben gelangte. Daß aber auch trotz der möglichen Ausdehnung der Statistik auf die Vergangenheit die Zustände der Gegenwart vorwiegend den Gegenstand statistischer Arbeiten gebildet haben, beruhte weniger auf einem Prinzip der Wissenschaft als auf einem praktischen Bedürfnis.

Die wirklichen "Staatsmerkwürdigkeiten" konnten zunächst nur mit der Wortphrase geschildert werden und der Zweck war, ein einfaches treues Bild derselben zu erlangen. Aber bald genug zeigte sich das Bedürfnis, die so geschilderten Erscheinungen im Staatsleben genauer und bestimmter zu erfassen, und dies führte einerseits zu dem schon von SCHLÖZER bevorzugten Pragmatismus, andererseits zu der umfassenderen Handhabung der Ziffer. Damit war der Schwerpunkt, um den sich der eigentliche Fortschritt in der Wissenschaft in der neuesten Zeit dreht, wesentlich vorbereitet.

Der Pragmatismus bestand zu jener Zeit, wo man die Statistik nur auf die Gegenwart beschränkte, lediglich in dem Nachweis eines mitunter zweifelhaften Kausalitätsverhältnisses; später und in dem Maße, wie der Begriff der Statistik sich erweitert hatte, als nicht nur Zustände der Gegenwart, sondern auch jene der Vergangenheit in den Bereich der Wissenschaft gezogen wurden, konnte und mußte der kausale Zusamenhang unter ihnen genauer dargelegt werden, sollte eben das Wesen dieser Zustände und ihre Bedeutung gründlich erfaßt werden. Es waren nicht mehr einzelne, von jedem organischen Zusammenhang isolierte Erscheinungen, die gewissermaßen bloß ihrer äußeren Form und Gestalt nach zur Darstellung gebracht werden sollten, sondern organische Gebilde, die auch ihrer Genesis, ihrem materiellen Inhalt nach aufzufassen waren und Teile lebenskräftiger Organismen in ihrem einheitlichen Zusammenhang mußten sie ebenso als Kräfte, wie als Wirkungen von Kräften betrachtet werden. Sofort war es eine weitere Aufgabe nachzuweisen, ob und unter welchen Bedingungen dieselben Wirkungen sich äußern und ob und unter welchen Bedingungen die Erscheinungen als Wirkungen derselben oder verschiedener Kräfte anzunehmen sind. In dieser Richtung hin mußte das ursprünglich vage Kausalitätsverhältnis an Konsistenz gewinnen und allmählich zu einem Nachweis eines Verhältnisses der Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit führen. Dieser Prozeß wurde wesentlich durch die Einführung des Kalküls in die Statistik erleichtert und befördert.

Ursprünglich erscheint die Ziffer lediglich als der bestimmteste Ausdruck eines Begriffs und die Schilderung der Staatsmerkwürdigkeiten in der Gegenwart fand darin ein willkommenes Darstellungsmittel, eine konkrete Form ihrer Begriffe. Weniger aus innerer Notwendigkeit in der Gestaltung der Wissenschaft, als teils der Bequemlichkeit in der Darstellung wegen, teils aber wegen des praktischen Bedürfnisses wird später die in verschiedenen Gebieten zerstreute Ziffer in die "Tabelle" gefaßt und dieser Teil des Ganzen besonders der letzteren Rücksicht halber als Ganzes, das bloße Unterstützungsmittel als Hauptsache betrachtet. Die Tabelle, sobald sie sich einmal eingebürgert hatte, führte beinahe mit Notwendigkeit zu einer mehr oder weniger umfassenden Anwendung der Rechnung.

War man aber einmal dahin gelangt, die Erscheinungen als Zustände aufzufassen und nach ihrem Gegenseitigkeitsverhältnis zu forschen, so war unter steter Benützung der Ziffer die weitere Bahn für die Rechnung geebnet und die durch sie gewonnenen Resultate konnten nicht ohne Einfluß auf ein genaueres Erfassen der behandelten Zustände bleiben.

Noch bedeutender mußten diese Resultate werden, nachdem sich die "politische Arithmetik" des wie nicht zu leugnen ist, sehr willkommenen Stoffes bemächtigt hatte. Sie konnte zwar nur jenen Teil des gesamten statistischen Materials bewältigen, der auf der unumstößlichen Basis der Ziffer stand, aber innerhalb dieser Sphäre mußte ihre Darstellung, wie ihr Beweis exakter, der Nachweis eines Kausalitätsverhältnisses sicherer und die Ableitung eines Verhältnisses der Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit genauer erfolgen, als dies durch die bloße Wortphrase möglich war.

Bei aller Berechtigung, die diesem Prozeß zuerkannt werden muß, bei aller Anerkennung der dadurch gewonnenen Resultate, die ihm gebührt, ist doch der Schluß ein wenigstens gewagter, daß die Möglichkeit der Handhabung des Kalküls ein wesentliches Kriterium statistischen Stoffes, der "gesellschaftlichen Erscheinungen" ist, da selbst nach der Ausscheidung dieses Stoffes aus der Summe der gesellschaftlichen Erscheinungen ihrer organischen Verbindung nach noch viele andere übrig bleiben, die sich unter keiner Bedingung unter die Beschränkung der Ziffer eindrängen lasen und für die "Gesellschaft", man mag sich diesen Begriff in einem Umfang denken, wie man will, zumindest dieselbe, wo nicht gar eine größere Wichtigkeit haben, als die ziffernmäßigen Erscheinungen; ganz abgesehen davon, daß das bloß formale Kalkül bei allen Vorzügen, die es bei der Lösung statistischer Fragen gewährt, eben am Formalismus scheitern muß, wenn er nicht durch den Nachweis des inneren Gehaltes der Erscheinungen belebt wird; dies aber kann nur dann geschehen, wenn man "die Gesellschaft" als Ganzes auffaßt, d. h. auch die unziffernmäßigen Erscheinungen in den Kreis der Betrachtung zieht.

4. Die leitenden Ideen im Entwicklungsgang der Statistik, wie sie soeben angedeutet wurden, lassen sich nur von der Höhe der Betrachtung aus entnehmen, ohne den stets regen Kampf um wichtige und nicht wichtige Positioinen auf dem Gebiet der Wissenschaft in allen seinen Einzelheiten bis zu einem unerquicklichen Zank und nutzlosen Hader zu verfolgen. Geht man aber selbst auf diese Einzelheiten ein, so läßt sich nicht verkennen, daß manche differierenden Anschauungen, weil auf bloßer Willkür beruhend, an ihrer Berechtigung verlieren, andere aber durch den Entwicklungsgang der Wissenschaft selbst in seinen verschiedenen Stadien bedingt, bald von größerem, bald von geringerem Belang sind. Die durch die Philosophie bewirkte Änderung in den Anschauungen über das Wesen des Staates und das soziale Leben überhaupt, die Bereicherung der Ideen auf dem gesamten wissenschaftlichen Gebiet, die intensive und extensive Ausbreitung anderer Wissenschaften und ein genaueres Begreifen ihrer innersten Wesenheit mußten dahin führen, manchen Gesichtspunkt in der Statistik fallen zu lassen, der nach früheren Anschauungen maßgebend geworden war und einen anderen aufzunehmen, der bisher nicht gekannt wurde. Gelang es aber nur überhaupt die wichtigsten Ansichten von der unwichtigen Beigabe gesondert zu vereinen, unter Nachweis der einzelnen geschichtlichen Entwicklungsstufen der Wissenschaft zu vermitteln und auf diese Art bis zur Gegenwart fortzuschreiten, so war an einer schließlichen Konsolidierung [Zusammenfassung - wp] der Begriffe in der Wissenschaft nicht zu zweifeln.

Statt dieses Problem als ein vollständiges und als das notwendige Endziel zu erfassen, seine Notwendigkeit allseitig zu erkennen und die Lösung desselben zumindest zu vermitteln, wo nich endgültig herbeizuführen, hat man es in neuester Zeit vorgezogen, statt der vielen einzelnen Gegensätze nur einen, aber diesen umso schroffer hinzustellen, das Gebiet der Wissenschaft in zwei zu trennen und damit gewissermaßen zwei Heerlager unter den Vertretern der Wissenschaft zu organisieren (2). Die bisher als eine anerkannte Wissenschaft, die Statistik sollte, so hieß es, sich in zwei Disziplinen spalten, zwischen welchen als durch Quellen und Zwecke verschieden, keine oder nur eine Übereinstimmung in geringfügigen Dingen zu finden wäre.

Folgendermaßen werden diese zwei neuen Wissenschaften formuliert. Die eine derselben, Staatskunde der Gegenwart oder Staatszustandskunde, von ACHENWALL begründet, sich an die Geschichtsschreibung anlehnend, gibt eine geschichtliche Beschreibung der staatsmerkwürdigen Zustände in der Gegenwart (historische Schule). Die andere, die Statistik, von der politischen Arithmetik ausgehend beschränkt sich nur auf die in Zahlen ausdrückbaren Erscheinungen der Gesellschaft, sucht die Gesetze dieser Erscheinungen aufzufinden und wird sofort zu einer Physiologie der Gesellschaft (mathematische Schule).

Diese so formulierte Trennung des bisher stets als eines betrachteten wissenschaftlichen Gebietes in zwei Disziplinen konnte nur dadurch bewirkt werden, daß man der sogenannten historischen Schule jede weitere Entwicklungsfähigkeit absprach, sie auf den ursprünglich in den ersten Stadien der Wissenschaft eingehaltenen Standpunkt beschränkte und jeden inneren Fortschritt, der sich geschichtlich auf dem von ihr nach der Absonderung von den übrigen Wissenschaften eingehaltenen Terrain ergeben mußte, als einen Übergriff zurückweisen wollte; daß man ferner für die mathematische Schule durch ihren rein formalen Ausgangspunkt verleitet, die Lösung der für die Entwicklung der Menschheit wichtigsten Fragen als eine ausschließliche Domäne und nur auf diesem Weg für erreichbar erachtete.

Es ist keine Härte, die so beantragte Trennung trotz einer im Beginn konsequenten, in den Schlußfolgerungen aber nur scheinbar richtigen Beweisführung zum Teil auch als eine Äußerung des Absolutismus in der Theorie anzusehen, der diesmal nur in einer neuen Form auftritt.

Gerade aber, weil die Forderung nach einer Trennung der Statistik in die zwei genannten Disziplinen so scharf formuliert wird, drängt sich die Frage auf, ob denn eine solche Trennung in Wahrheit eine Notwendigkeit, ob eine jede Vereinigung unter ihnen für immer abgebrochen ist oder nicht, wenn auch jede dieser zwei neuen Wissenschaften sich auf dem anfänglich noch so starr gezogenen Standpunkt fort entwickeln würde, eine neue Vereinigung angebahnt und vermittelt werden müßte, sei es um nach einer Behebung der Schranken zur Einheit der Wissenschaft zurückzukehren oder aber in den gesonderten Disziplinen Glieder einer neuen, ihnen beiden übergeordneten Wissenschaft, Teile eines Ganzen zu erkennen.

5. Obenan steht der Satz: Nicht in einer Trennung der bisher als eine Wissenschaft behandelten Statistik in zwei dem Ursprung, Fortgang und dem Zweck nach gesonderte Disziplinen liegt das Heil derselben, sondern vielmehr in einer organischen Verbindung dieser zwei als verschieden bezeichneten Richtungen, in einer zweckmäßigen Anordnung und Benützung beider zu einem Ganzen, in der Vermittlung und Vereinbarung der bloß nur anscheinend kontradiktorischen Gegensätze. Darin liegt auch zur Zei das Problem der Statistik.

Die Möglichkeit einer solchen Vereinbarung liegt aber eben in der Genesis der Statistik, ebenso wie dies bei den Naturwissenschaften der Fall war; gerade der Vorgang, der sich beim Entwicklungsgang der letzteren geäußert hat und ihnen zu jenem hohen Standpunt verhalf, den sie in der Gegenwart wirklich einnehmen, ist der, wie kaum anderswo zulässigen Analogie wegen, ein wichtiger Fingerzeig, ihn auch bei den Staatswissenschaften und namentlich bei jenen anzuwenden, die wie die Statistik in der Erfahrung ihre Erkenntnisquelle suchen (3).

Will man aber diesen Vorgang gelten lassen, dann wird die Statistik von den Tatsachen und Erscheinungen des gesamten sozialen Lebens im Sinn der historischen Schule ihren Ausgangspunkt nehmen, diese Tatsachen ihrem organischen und ursächlichen Zusammenhang nach erklären und daraus die Regelmäßigkeit oder Gesetzmäßigkeit derselben im Sinne der mathematischen Schule ableiten, um damit die Verwirklichung der das Leben der Menschheit beherrschenden Entwicklungsgesetze und dadurch den wirklichen Fortschritt oder Rückschritt im Leben, den Standpunkt der menschlichen Kultur nachzuweisen. Dies wird die höchste Aufgabe der Statistik sein, die jedoch nur durch den ganzen oben angedeuteten Prozeß gelöst werden kann, wobei es eine Frage der Zukunft bleibt, ob nicht etwa die Größe und der Umfang der zu lösenden Aufgabe die Abzweigung besonderer Disziplinen wie bei den Naturwissenschaften zum Bedürfnis machen wird, die jedoch stets unter sich organisch verbunden, Teile eines Ganzen bilden werden und bilden müssen.

6. Der Weg, um zu einer befriedigenden Lösung dieses Problems zu gelangen, ergibt sich zum Teil aus dem früher Gesagten (1.4) und ist einfach vorgezeichnet.

Die tatsächliche Verschiedenheit in den Ansichten der Theorie über die wichtigsten Punkte der Wissenschaft zeigt zwar, daß diese noch in der Fortbildung begriffen, zu einem Abschluß nicht gelangt ist, aber da jeder einzelne Standpunkt, den sie erreicht hat, nur eine Stufe in ihrer gesamten historischen Entwicklung bildet, so muß der ganze Entwicklungsgang der Wissenschaft von ihrem selbständigen Auftreten, bis zur Gegenwart in ihren hervorragendsten Erscheinungen klar dargelegt, kritisch geprüft und die Fortbildung der wesentlichsten Begriffe Schritt für Schritt in den einzelnen aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen verfolgt werden, um die Bedeutung der differierenden Ansichten richtig würdigen zu können. Manche dieser Differenzen werden ohne Schwierigkeit als unberechtigt zurückgewiesen werden können, die übrigen werden sich umso entschiedener geltend machen, wenn sie selbst als der mehr oder weniger gemeinsame Ausdruck einzelner wissenschaftlicher Richtungen erscheinen.

Beziehen sich nun diese Differenzpunkte auf die wichtigsten Begriffe der Wissenschaft und ist eine Vermittlung unter ihnen nicht möglich, dann wäre allerdings die Notwendigkeit einer Scheidung und selbständigen Gestaltung einzelner wissenschaftlicher Zweige gegeben. Ist aber eine Vermittlung solcher Differenzpunkte zu erzielen, dann entfällt diese Notwendigkeit und die Einheit der Wissenschaft wird aufrechterhalten. Allein selbst im letzteren Fall können diese Differenzpunkte für die Ausbildung der Wissenschaft nicht bedeutungslos sein, sofern sie im historischen Entwicklungsgang überhaupt eine Berechtigung haben, nur muß diese Bedeutung klar aufgefaßt werden. Entweder führen sie nämlich nach einer harmonischen Vermittlung verschiedener Standpunkte dahin, den einheitlichen Inhalt der Wissenschaft zu erweitern, zu bereichern und eine intensive Behandlung des Stoffes zu ermöglichen und auf diese Art den wissenschaftlichen Fortbildungsprozeß neu anzuregen, oder sie sind wichtig genug, um eine neue Gliederung der einen Wissenschaft in mehrere organische Teile nach Maßgabe einzelner Gesichtspunkte zu veranlassen.

Der historische Entwicklungsgang der Statistik wird aber die Möglichkeit einer Vermittlung der bestehenden Differenzpunkte und die Berechtigung der Lösung des Problems, wie es früher formuliert wurde, nachweisen und das Bestreben, die bestrittene Einheit in der Wissenschaft aufrecht zu erhalten, rechtfertigen. Da es sich aber dabei wesentlich darum handdelt, Wesentliches vom Unwesentlichen zu sondern, bloß subjektive Anschauungen als unberechtigt zurückzuweisen, die Berechtigung anderer Ansichten zu prüfen, die Einheit der objektiven Entwicklung des Gedankens aufrecht zu erhalten und zu verfolgen, so ist damit auch der zum Teil polemische Charakter in der Darstellung des historischen Entwicklungsganges der Statistik gerechtfertigt.

Hat aber die historische Forschung zu einer bestimmten Lösung des Problems geführt, dann handelt es sich bloß darum, die wichtigsten Fundamentalsätze der Wissenschaft, wie sie dem historisch aufgefundenen Resultate entsprechen, zu formulieren und dogmatisch auseinander zu setzen, ohne in eine weitere Polemik einzugehen.

Der Strebepunkt dieses ganzen Prozesses ist, wie gesagt, vorläufig nur der eine, die Einheit der Statistik als Wissenschaft aufrecht zu erhalten, in ihr auch die verschiedenen divergierenden Richtungen zu vereinigen und zu zeigen, welche Bereicherung die Wissenschaft durch sie erhalten hat. Aber keineswegs ist ausgesprochen, daß damit die endgültige Lösung des Problems in der Statistik gefunden ist. Im Leben und in der Wissenschaft tauchen tausendfach neue Gesichtspunkte auf; gerade für die Statistik, welche sich mit den tatsächlichen Erscheinungen des Lebens beschäftigt, gibt es noch unzählige unbekannte, jedoch maßgebliche Gesichtspunkte, jeder Zeitpunkt, jeder Erscheinungskreis weist deren nach; für sie ist noch lange der Abschluß ihrer formalen Entwicklung nicht möglich, es ist deshalb auch die Frage nach einer Gliederung der Statistik in einzelnen Teildisziplinen eine verfrühte; aber das Eine läßt sich wohl behaupten, daß jede weitere Entwicklung vom Standpunkt, der ihr gegenwärtig angewiesen wird, nicht abweichen können und sich nur auf dieser Basis fortbewegen muß.
LITERATUR: Eberhard Jonak, Theorie der Statistik in Grundzügen, Wien 1856
    Anmerkungen
    1) Man sehe darüber später die Ansichten DUFAUs, der unter die Sociéte ausdrücklich auch die sociéte politique (état, den Staat) einbezieht.
    2) "Die Statistik als selbständige Wissenschaft" von CARL GUSTAV KNIES, Kassel 1850.
    3) Wie lange hat man sich in der Botanik darauf beschränkt, die Pflanzen als Ganzes und ihren Teilen nach bloß zu beschreiben, und sie nur nach äußeren Momenten in Systeme zu bringen, ehe man dazu gelangte, die Gesetze für das Pflanzenleben, sei es für einzelne Pflanzen, ihre Arten, sei es für die gesamte Pflanzenwelt zu erforscher, festzustellen und in ein geordnetes System zu brinen. Dennoch hat niemand an der Einheit der Botanik gezweifelt, wenngleich die Einteilung in eine deskriptive und komparative Botanik als berechtigt zugestanden wird, wobei wohl nicht übersehen werden dürfte, daß jene als die primitive ohne dieser, diese aber nicht ohne jener richtig erkannt werden kann.