ra-2Kritische ParanoiaExperiment SurrealismusDie Bildsprache Margrittes    
 
JUDI FREEMAN
Das Wortbild in
Dada und Surrealismus


Auf die Frage 'Was ist der Sinn dieser Bilder?' antworten zu können, hieße soviel wie den Sinn, das Unmögliche, auf ein mögliches Denken zurückzuführen. Auf diese Frage anworten zu wollen, hieße, anzuerkennen, daß sie einen gültigen Sinn hat.

Und plötzlich war das Wort. Sein Erscheinen in der bildenden Kunst der frühen zwanziger Jahre als integrierter Bestandteil und zugleich völlig eigenständiges Element eines Gemäldes oder einer Skulptur war neu. Selbstverständlich war Kunst schon seit der Antike vom Betrachter  gelesen worden, hatten Künstler  zu lesende Kunstwerke geschaffen. Ebenso haben Kunstwerke in der Geschichte der Kunst natürlich schon immer Titel gehabt, Etiketten, mit denen sie untrennbar verknüpft waren und ohne die ihre Bedeutung nicht leicht zu erschließen war.

Grundsätzlich aber zielte Kunst immer auf visuelles Verstehen, ohne jeden dafür erforderlichen Rückgriff auf Wörter. Bücher sollten Wort für Wort und Zeile für Zeile gelesen werden; Kunst hingegen Motiv für Motiv betrachtet, vielleicht analysiert. Las man Kunstwerke, dann in Hinblick auf die Ikonographie (wissenschaftliche Erklärung). Motive und Bilden ließen vielschichtige Interpretationen zu; offensichtliche Zusammenhänge wurden unmittelbar einbezogen, symbolische Verweise deckte man zum tieferen Verständnis des Kunstwerks auf. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen der Entstehung des Kunstwerks und seiner Rezeption wurde eine Symbolik deutlich, und so wurde die Interpretation eines Kunstwerks immer mehr zum Dechiffrieren verschlüsselter Botschaft einer vergangenen Generation.

Dadaismus und Surrealismus enstanden zu einer Zeit in der Geschichte der Kunst - etwa zwischen 1918 und 1940 -, als in allen Künsten Konventionen über Bord geworfen werden sollten. Die Dadaisten und Surrealisten unterstützten derartige Bemühungen nachdrücklich. Sie wählten zwar traditionelle Foren - von der Performance bis zu der Bildenden Kunst -, aber all ihre Äußerungen zielten auf eine Veränderung allgemein akzeptierter künstlerischer und kultureller Normen. In ihrer visuellen Bildersprache galt die Faszination der Dadaisten und Surrealisten nicht dem, was das ästhetische Empfinden, sondern dem, was den Intellekt ansprach.

Das Wort-Bild (ein in der heutigen Werbesprache gängiger Begriff) wurde zum Mittel, mit dem sich die bildenden Künstler des Dadaismus und des Surrealismus der Sprache, so wie man sie damals verstand, nähern konnten. Buchstaben, Wörter und Sätze gabe es als Bestandteil von Kunstwerken schon lange, bevor sich die Dadaisten und Surrealisten für ihre Verwendung zu interessieren begannen. Diese Künstler fanden auch in der Literatur eine Tradition des Visuellen, der sie nachspüren konnten.

Die dadaistischen und surrealistischen Künstler waren fasziniert von den Möglichkeiten, diese beiden Fäden - den visuellen und den literarischen - zu einer Kunst zu verknüpfen, die die ästhetischen Konventionen in Frage stellen würde. Wer Wort-Bilder schuf, widmete ihnen zwar jeweils nur wenige Jahre, und diese Bilder stellen auch nur einen relativ geringen Teil des jeweiligen Oeuvres, gleichwohl gingen diese Künstler in der Erforschung von Sprache so weit - bis ihnen alle Möglichkeiten ausgeschöpft schienen. Ihre Werke zeigen das ausgeprägte, von allen Seiten geteilte Streben, akzeptierte Kunstpraktiken zugunsten rätselhafter, schwer zu erschließender Bildgestaltung über Bord zu werfen.

Dada und Surrealismus sind eingehend erforscht worden, wobei der Rolle der Sprache in der Kunst dieser Epoche besondere Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Die neuere Literatur zu diesem Thema ist überwiegend semiotisch, strukturalistisch oder poststrukturalistisch ausgerichtet und einem Verständnis von Sprache und Diskurs verpflichtet, über das man in den entscheidenden Jahren des Dadaismus und Surrealismus noch nicht verfügen konnte.

Die differenzierteste Forschungsarbeit über Sprache war bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges das Werk FERDINAND de SAUSSUREs, dem anerkannten Begründer der modernen Linguistik, dessen Sprachtheorie auf dem Studium der Zeichen beruhte. De SAUSSURE hatte lediglich in kleinem Kreis gelehrt, nach seinem Tod 1913 aber faßten einige seiner Studenten drei Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft, die er zwischen 1906 und 1911 als Professor der Universität Genf gehalten hatte, zu einem Band mit dem Titel  Cours de linguistique générale (1916) zusammen. Seine Auffassung, das Zeichen sei dem von ihm Bezeichneten als Element willkürlich zugeordnet, wurde Ausgangspunkt sowohl für die darauf folgende Sprachforschung wie für spätere Generationen von Literaturkritikern.

In der neueren Literatur über Dadaismus und Surrealismus gibt es offenbar ein methodologisches Ungleichgewicht. Die dadaistischen und surrealistischen Dichter und Maler interessierten sich sehr für die Wechselwirkungen zwischen Sprache und Bildern, aber es läßt sich nur schwer feststellen, inwieweit sie mit den zeitgenössischen philosophischen und linguistischen Arbeiten zu Sprache - z.B. die von de SAUSSURE und seinen Schülern - vertraut waren.

Die neuere Forschung über Dada und Surrealismus - vor allem über Wort-Bilder - bewegt sich in den Begriffsrastern des Strukturalismus und des Poststrukturalismus. Viele dieser wissenschaftlichen Arbeiten wollen die komplexen Kriterien jener Methoden auf Kunst und Literatur übertragen. Falls jedoch diese Künstler überhaupt mit der sprachwissenschaftlichen Forschung und Theorie dieser Zeit vertraut waren, so ging ihre Beschäftigung damit gewiß nicht sehr tief, während es andererseits die Wissenschaftler jener Zeit offenbar nicht interessiert, ob Künstler etwas über Zeichen wußten, und ob sie ein solches Wissen gezielt in ihre Kunstwerke integrierten oder nicht.

Unstrittig ist, daß die Dadaisten und Surrealisten Bedeutungen erweiterten - und häufig auch völlig vernichteten, indem sie künstlerische Konventionen manipulierten oder verletzten. Sie wollten die traditionellen Methoden, Sprache in ein Kunstwerk zu integrieren, verhöhnen. Um verstehen zu können, wie sich das Phänomen des Wort-Bildes in den ersten vier Jahrzehnten unseres Jahrhunderts in der avantgardistischen Kunst herausbildete, muß man in Betracht ziehen, welche Auffassung von Sprache die dadaistischen und surrealistischen Maler und Dichter hatten.

Dada und Surrealismus entstanden genau zu der Zeit, als der neue Rationalismus der strukturalistischen Methode (die aus der Sprachwissenschaft kam) zum einen gegen die schwächeren Rationalismen des 19. Jahrhunderts (wie Positivismus und Philologie), zum anderen gegen den Antirationalismus der Mystik und der nicht-NEWTONschen Wissenschaft der Anfangsjahre unseres Jahrhunderts kämpfte.

In gewissem Sinne thematisierten die unterschiedlichen Praktiken des Dadaismus und Surrealismus indirekt zahlreiche Komplikationen und Widersprüche der damaligen Debatte zwischen Rationalem und Irrationalem, zwischen Ordnung und Unordnung. Entscheidend für jede Diskussion über Dada ist das Aufeinanderprallen von Sinnlosigkeit und Nicht-Logik mit der kalkulierten Haltung logischer Formulierungen. Von den Aussagen des Dadaismus und Surrealismus geht immer etwas verloren, wenn man ihre Praktiken der maschinengleichen Ordnung übermäßig rationalisierter (formalistischer oder strukturalistischer) Beschreibungen und Analysen unterwirft.

Im Folgenden geht es um das Sprachmolekül der Wort-Bild Verbindung in Dada und Surrealismus. Er widmet sich der veränderten Sicht von Sprache sowie ihrer Erforschung in den ersten beiden Jahrzehnten unseres Jahrhunderts und untersucht die Wechselwirkung zwischen einer geregelten Auffassung der Sprachmechanismen und der Bedeutungsauflösung und -verweigerung, die sich am deutlichsten in den Wortspielen und Anagrammen von Sprachwissenschaftlern und Künstlern wie auch von Sammlern und Kunstmäzenen zeigen.

Der Surrealismus - vor allem bei JOAN MIRÒ und RENÈ MARGRITTE, den beiden Künstlern, deren Versuche mit den Verbindungen von Wort und Bild am fundiertesten waren - war ähnliche Fragen der Referenz auf, auch wenn sie schließlich (und auf recht unbefriedigende Weise) durch die ständige Verwendung und Neudefinition metaphysischer Begriffe wie  pensèe (Gedanke) und  poèsie (Dichtung) gelöst wurden.

Das möglicherweise wichtigste Vermächtnis der Dadaisten und Surrealisten ist ihre Kritik an und ihr Mißtrauen gegenüber einigen zentralen Themen der Moderne: Abstraktion, Autonomie und utopische Ordnung. Viele dieser Kritikpunkte wurden in jüngster Zeit von den Poststrukturalisten, die sowohl gegen die idealistischen Annahmen des Strukturalismus wie gegen den Humanismus der Zeit der Prä-Moderne antraten, mit großem Nutzen neu formuliert und angewandt. Heute erkennen wir, daß Dada, als die Moderne ihre Vorherrschaft zu festigen begann und sogar noch zu deren Blütezeit, bereits eine Opposition zur Logik dieser Moderne mobilisierte.

Die Erforschung von Sprache wurde im 19. Jahrhundert erheblich erweitert und die Betonung veränderte sich ganz beträchtlich. Dies geschah vor allem in in Form einer geographischen Erweiterung, als immer mehr Sprachen und Sprachfamilien entdeckt und mit neuen Methoden beschrieben, klassifiziert und historisch plaziert wurden. Die evolutionär arbeitende Sprachforschung, die sich etymologischer wie philologischer Arbeitstechniken bediente, wurde um die Jahrhundertwende sukzessive durch interkulturell vergleichende Studien verdrängt (aber nicht plötzlich ersetzt).

Diese Studien betonten die besonderen Charakteristika des sprachlichen Ensembles und wollten analysieren und aufdecken, wie das jeweils zur Diskussion stehende Sprachsystem - sei es das einer bestimmten natürlichen Sprache, sei es das das Sprache generell - funktioniert. De SAUSSUREs Vorlesungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft gehören zu den hervorragendsten Beispielen dieser neuen Annäherungsweise an Sprache.

Seit dem zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts wurde das Modell einer sprachlichen Ordnung systematisch erweitert und auf andere (wissenschaftliche) Ordnungssysteme der Kulturgeschichte übertragen: Anthropologie, Literaturkritik, Soziologie, Psychologie, Philosophie, Psychoanalyse sowie Kunstgeschichte. Sprache wurde so zu einem dominierenden Ordnungssystem für die Analyse kultureller Strukturen; und es verstärkte sich die Auffassung (vertreten vor allem von EDWARD SAPIR, BENJAMIN LEE WHORF und NOAM CHOMSKY), daß Sprachstrukturen nicht nur durch die Gesellschaft entstehen, sondern umgekehrt, daß sie ihrerseits die Gesellschaft bilden: Gesellschaft werde durch Sprache gesprochen. Diese Auffassung hat beträchtliche Implikationen.

Viele Wissenschaftler räumten der Sprache im kulturellen wie im politischen Leben eine zentrale, ja determinierende Rolle ein. Nun konnten die sozialen Interaktionen und das Bewußtsein der Menschheit als solches, als auch einzelne Tätigkeitsbereiche wie die zur Bildenden Kunst gehörigen, mit Hilfe der "Wissenschaft von den Zeichen" oder die der FREUDsche Psychoanalyse zugrundeliegenden Methode ("talking cure") interpretiert werden. Man sollte den Einfluß der neueren Sprachtheorien nich überbewerten, und man darf auch nicht annehmen, die strukturalistische Linguistik und ihre Ableger (wie die Semiologie) seien - vor allem in den zwanziger Jahren - unter den bestehenden Theorien die wichtigsten und verbreitetsten gewesen, aber Sprache erhielt zu jener Zeit eine verblüffend neue Rolle im Entstehen und Verstehen von Gesellschaft; und nur wenige Bereiche menschlichen Handelns blieben von dem theoretischen Expansionsdrang der neuen Sprachwissenschaft verschont.

Es ist daher naheliegend, den Einbruch von Sprache in die materielle Praxis der Malerei und ihr Vorhandensein in vielen hybriden visuellen Praktiken zu Zeiten von Dada und Surrealismus (wie Kabarett, dadaistischen "Aufführungen" und Spektakel, surrealistische Veröffentlichungen) als weiteres Symptom des rasch voranschreitenden Imperialismus dieser diskursiven Erweiterung linguistischer Theorien und Modelle zu sehen.

Dies ist zwar zum Teil zutreffend, im Grunde jedoch geht es um die ungeschmälerten Implikationen, die diese Invasion der Wörter für das Verständnis von Dada und Surrealismus hat, und um den Platz der dadaistischen und surrealistischen Wort-Bilder in dem komplexen Problem der Referenz, das sich zu Beginn unseres Jahrhunderts stellte. Zwischen den surrealistischen Praktiken und dem Problem der Sprache mag es eine diskursive, nicht zwingend jedoch eine strukturelle Entsprechung geben. Daher wäre es vermutlich wenig sinnvoll, die Biographien einzelner Dadaisten und Surrealisten nach Beweisen für eine intensive Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Sprachtheorien zu durchforsten.

Und angesichts des Fehlens derartiger Hinweise ist es auch nicht angemessen, einfache oder vermutete Vergleiche zwischen, sagen wir, den zentralen Begriffen von SAUSSUREs  Cours und den Bedingungen der Collage zu ziehen. Die Beziehung von Dadaismus und Surrealismus zur zeitgleichen neuen Annäherungsweise an Sprache dürfte denn doch komplizierter und schwerer faßbar sein.

Zum einen hörten bildende Künstler in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ganz sicher von der neuen Herangehensweise an Sprache, und zwar über die Schriften von Denkern wie FRIEDRICH NIETZSCHE, HENRI BERGSON und SIGMUND FREUD, die damals sehr in Mode waren. Zum anderen kann man den Zusammenbruch traditioneller Genregrenzen und die Öffnung für neue Materialien (vor allem Texte) in einen Bezug setzen zu vergleichbaren Zusammenbrüchen und Öffnungen in anderen Diskursen und dies auch andererseits einer bewußten Weigerung - innerhalb wie außerhalb der bildenden Künste - gegenüberstellen, Materialien zu vermischen.

CHRISTINE POGGI beispielsweise deutet die Entscheidung der Kubisten, in ihren Werken Zeitungsfetzen zu benutzen, als Reaktion auf eine zur  hohen Kunst (N) gehörenden weltfremden Gelehrsamkeit und Verschlossenheit der symbolistischen Theorie. Und schließlich machten Dada und Surrealismus ihre ganz eigenen Spiele mit Bild und Wort, die keinem Vergleich und keiner strukturellen Beziehung untergeordnet werden können.
LITERATUR - Judi Freeman, Das Wortbild in Dada und Surrealismus, München 1990