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Prinzipien der Politik
Erstes Buch Das Wesen der Politik 1. Kapitel Die Politik als Wissenschaft Ob eine Politik im letzteren Sinne, als Wissenschaft anzunehmen sei, ist mehrfach, jedoch ohne genügenden Grund, bezweifelt worden. ARISTOTELES schrieb seine "Politik" als eine Staatslehre oder Staatswissenschaft. Die Angemessenheit der von ihm gewählten Bezeichnung ist auch niemals ernsthaft angefochten worden. Jene Streitfrage über das Vorhandensein einer Politik, als einer bestimmt begrenzbaren Wissenschaft, entstand erst, seitdem sich das Wort für einen von der aristotelischen Auffassung verschiedenen Gegenstand verwenden lassen mußte. Mit dem fortschreitenden Wachstum menschlicher Wissenschaft und ihres Inhaltes war es unmöglich, die Gesamtheit aller auf den Staat bezogenen Erfahrungen, Erscheinungen und Kenntnisse unter dem Gesamttitel einer Staatswissenschaft zusammenzufassen. Daher kam es, daß an deren Stelle die "Staatswissenschaften" als Mehrheit, in Frankreich die "sciences morales et politiques" Platz nahmen. MOHL nennt es mit Recht eine unentschuldbar unbegreifliche Begriffsverwirrung, wenn man in unserer Zeit noch einmal auf die ursprünglichen Bezeichungen zurückgeht. Die Titel der einzelnen zu den Staatswissenschaften zählenden Wissenszweige wurden in verschiedener, bald größerer, bald geringerer Zahl angegeben, je nachdem die Neigung zur Zusammenfassung verwandter oder zur Trennung unterscheidbarer Stoffe überwog. Zu den Staatswissenschaften in ihrem weiteren Umfang, innerhalb dessen nocht die Aussonderung eines besonderen größeren Gebiets der Gesellschaftswissenschaft (science sociale) vielfach befürwortet wurde, rechnen wir:
- das Staatsrecht, enthaltend die Normen für die Beziehungen der Staatsgewalt zu den ihr unterworfenen Staatsbürgern, entweder unter dem Gesichtspunkt der Vernünftigkeit, Sittlichkeit und allgemeinen Angemessenheit (das sogenannte allgemeine Staatsrecht) oder unter dem Gesichtspunkt ihrer tatsächlichen Geltung innerhalb bestimmter Staaten (das sogenannte positive Staatsrecht); - das Völkerrecht, enthaltend die Normen für den Verkehr selbständiger Staaten miteinander, wobei dieselben Gesichtspunkte einerseits der Vernünftigkeit und andererseits die positive Geltung von einigen Publizisten in der Darstellung gesondert werden; - die Volkswirtschaftslehre, enthaltend die Grundsätze, von denen Erzeugung, Verbrauch und Verteilung der materiellen Güter in der staatlich organisierten Gesellschaft beherrscht werden, entweder unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen im menschlichen Verkehr bestehenden Wirksamkeit oder des ihnen gegenüber gebotenen Verhaltens der Staatsgewalt; - die Finanzwissenschaft, enthaltend die Regeln für die Bestreitung der im Staat gegebenen Gesamtbedürfnisse und die Verwaltung des Staatsvermögens und beruhend auf einer Verbindung volkswirtschaftlicher und verwaltungsrechtlicher Grundsätze; - die Polizeiwissenschaft, enthaltend die Grundsätze, nach denen die Pflege des Gemeinwohls der staatlich organisierten Gesellschaft, oder die Abkehr der ihr drohenden Gemeingefahren bewirkt werden kann, oder bewirkt wird. (Nach MOHL, der höchsten literarischen Autorität auf diesem Gebiet: Anordnung der staatlichen Gesamtkraft zur Förderung erlaubter menschlicher Interessen, welche durch die vereinzelte Anstrengung der zunächst Beteiligten nicht genügend befriedigt werden könnten.
- die Staatsgeschichte, - die Statistik der Staatszustände Auf diese Kontroversen hier einzugehen, liegt außerhalb unseres Zwecks. Wir lassen es beispielsweise völlig dahingestellt, ob die Volkswirtschaftslehre zu den Staats- oder Gesellschaftswissenschaften, oder gar, wie einige wollen, zu den Naturwissenschaften zu zählen ist. Aus jenen Streitfragen, die ein vorwiegend dialektisches und methodologisches Interesse darbieten, scheint sich nach dem gegenwärtigen Stand mit Sicherheit so viel zu ergeben, daß eine scharfe Begrenzung der einzelnen Gebiete in dem Sinne, daß ein und dieselbe Materie nur je einer Disziplin zur ausschließlichen theoretischen Behandlung überwiesen werde, bei dem durch das gemeinsame Fundament des Staates vermittelten Zusammenhang aller, durchaus untunlich erscheint. Neben den Teilungen, welche durch praktische Lehrzwecke angeraten werden, steht vielfach das Miteigentum der Theorien an weiten Gebietsstrecken. Innerhalb der Staatswissenschaften ist jede einzelne Disziplin, die sich durch die Begründung eines eigenen Haushaltes zu emanzipieren trachtet, notwendigerweise die Hilfswissenschaft der anderen. Jede setzt zu ihrem vollen Verständnis die andere voraus; alle fordern die Erfassung des Staates in der Totalität seines Daseins. Wie verschieden nun auch immer die Anforderungen der einen Spezialwissenschaft gegenüber der anderen sein mögen - und jegliche unter ihnen nährt unter ihren Vertretern die Neigung, die einmal erwählte Aufgabe möglichst hoch zu stellen - die größte Unklarheit und der lebhafteste Zwist waltet hinsichtlich der Politik als einer Spezialwissenschaft innerhalb des gemeinsamen Rahmens der Staatswissenschaften. Als feststehend kann man nur betrachten, daß der moderne Sprachgebrauch sich mehr und mehr von der alten Begriffsbestimmung entfernte, welche die Politik für gleichbedeutend nahm mit der Gesamtheit aller Staatswissenschaften. Schon das klarer gewordene Bewußtsein der heutigen Zeit von einer Verschiedenheit zwischen Recht, Moral und Politik, die im Staat gleichzeitig zur Erscheinung kommen, würde jener Bezeichnung im Weg stehen und das Bedürfnis einer besonderen Terminologie erzeugen. In der Abgrenzung der Politik als einer besonderen Fachwissenschaft neben denjenigen, welche zu den Staatswissenschaften im Allgemeinen gerechnet werden, gehen wiederum die Meinungen weit auseinander. Ohne auf minder bekannte Variationen ein und desselben Themas einzugehen, sind insbesondere zwei Hauptgruppen unter den Definitionen auseinanderzuhalten.
"Das Recht verhält sich zur Politik, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zur lebendigen Bewegung in denselben, wie der Körper zu dem darin wirkenden Geist." "Die Politik als Wissenschaft betrachtet vorzugsweise die Strömungen und Wendungen des staatlichen Lebens." (BLUNTSCHLI) In dieser Auffassung begegnen sich: BLUNTSCHLI, FRÖBEL, ZÖPFL, ESCHER.
ROBERT von MOHL faßt die Politik in diesem Sinne, gegen welchen neuerdings besonders BLUNTSCHLI angekämpft hat; im Sinne der "Staatsklugheit". Der hauptsächliche Unterschied zwischen dieser letzteren und der ersten Bestimmung liegt wohl darin, daß der praktische, auf das Handeln hinweisende Zweck der politische Theorie bei MOHL erkennbarer wird, als in jener mehr abstrakt zu denkenden Bewegungslehre staatlich wirkender Kräfte, die BLUNTSCHLI im Auge hat. Gegen MOHL wendet BLUNTSCHLI (im Staatswörterbuch) ein, daß eine Definition zu eng ist, in der nur von den Mitteln des Staates, nicht auch von den Zwecken selbst die Rede ist. Und allerdings ist zuzugeben, daß jede Erörterung über die Mittel staatlicher Tätigkeit die Feststellung der Staatszwecke verlangt. Ohnehin scheint auf die bloße Kenntnis der geeigneten Mittel nicht viel anzukommen, da deren Aufzählung uns nur über ein Nebeneinander verschiedenartiger Dinge belehren könnte. Zu ein und demselben Zweck des Staates können möglicherweise zwanzig Mittel und Wege im Allgemeinen angegeben werden, ohne daß sich ein überall zutreffender, theoretische nachweisbarer Vorzug des einen vor dem anderen dartun ließe. Die Definition von MOHL scheint daher einer Ergänzung bedürftig. Die Politik, als Wissenschaft, hat in unseren Augen zum Objekt und Inhalt:
Die handelnden Subjekte, welche die Politik als Wissenschaft vorauszusetzen oder ins Auge zu fassen hat, sind daher: die Staatsgewalt mit ihren persönlich wirkenden Organen in der Staatsregierung. Sie sind die überall vorkommenden, zwar nicht ausschließlichen, aber doch schlechthin notwendigen Träger der politischen Handlungsfähigkeit. Zu ihnen treten demnächst hinzu als minder allgemein wirkende Subjekte der Staatshandlung: die politischen Parteien und möglicherweise auch andere Gemeinschaften korporativer Art, wie die selbstverwalteten Gemeinden. Übrigens liegt der Unterschied zwischen den drei Definitionen der Politik, welche wir gegeben haben, mehr in der Form des Ausdrucks, als in der Sache selbst. Auch für BLUNTSCHLI kommen die Materialien der politischen Wissenschaft, wie er selbst bemerkt, nur soweit in Betracht, "als sie auf bestimmte Ziele des öffentlichen Lebens gerichtet sind oder als Mittel benutzt werden, um die Staatszwecke zu erreichen." Die politische Theorie hat an die Notwendigkeit der fortwährenden und ununterbrochenen Tätigkeit bestimmter für den Staat handelnder Organe anknüpfend, zu ihrer Abschließung gegen andere verwandte Wissenschaften notwendigerweise ihren Inhalt zu begrenzen.
Zweitens: positiv durch den Zusammenhang der auf die Staatszwecke bezogenen Handlungen mit tatsächlich gegebenen Verhältnissen und Zuständen der Gegenwart. Eine allgemeine politische Theorie, welche über die Verhältnisse eines einzelnen Landes hinausgreift und nicht bloß einzelne Staaten wie Deutschland, England und Frankreich ins Auge faßt, ist somit nur möglich in der Voraussetzung allgemein gegebener Tatsachen. Da solche in einem gewissen Umfang für die Europäische Staatenwelt unter analogen Kulturverhältnissen und Staatsformen unleugbar bestehen, so sind auch Grundsätze für die Staatshandlungen aufzustellen, in denen sich allgemeingültige Regeln des Verhaltens darbieten. Jede politische Theorie ist abhängig von gegebenen Zuständen des Staates und der Gesellschaft; die moderne Politik somit von den heutigen Europäischen Verhältnisse und den Zuständen jedes einzelnen Staates zusammengenommen. Allgemein anwendbar kann ein politischer Lehrsatz für die in analoger Kultur stehenden Staaten nur dann sein, wenn alle erheblichen tatsächlichen Voraussetzungen überall vollständig gegeben sind. Häufiger ist das Resultat der politischen Beobachtung ein negatives im Nachweis unzulässiger Generalisierung der in einzelnen Staaten gemachten Erfahungen. Je mehr sich die Geschichte derjenigen Epoche, in der wir selbst stehen, mit den Mitteln der Forschung und Darstellung bemächtigt, desto größer wird ihre Bedeutung für die Theorie der Politik. Aus der nächst vorangegangenen Entwicklung ist der haltbarste Schluß zu ziehen auf die tatsächliche Bedeutung, Festigkeit oder Wandelbarkeit der uns umgebenden Zustände und Einrichtungen. Umgekehrt: je größer die Entfernung der Zeiten, deren Lebensinhalt die Geschichtsschreibung darstellt, desto seltener wird der Fall eintreten, daß die Theorie der Politik durch eine nutzbare Analogie gewesener Tatsachen und Ereignisse bereichert werden kann. Nächst den Subjekten des politischen Handelns im Staat muß daher die Politik als Wissenschaft notwendigerweise diejenigen Tatsachen des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes bezeichnen, deren Vorhandensein als feststehend anzunehmen ist, oder als streitig hingestellt werden darf, insofern als dadurch der Erfolg des staatlichen Handelns bedingt wird. Es ist lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob dieser beschreibende Teil der gegebenen Zustände einer gesodnerten, gleichsam einleitenden Darstellung aus äußerlichen Gründen überwiesen werden soll oder nicht. Jedenfalls bildet er eine unerläßliche Grundlage für die wissenschaftliche Entwicklung der politischen Grundsätze. Vorzugsweise bestimmende, gleichsam präjudizielle Tatsachen der Politik sind:
Dichtigkeit, Bildung, Beschäftigung, Reichtum, Charakter der Bevölkerung. Jene sogenannte Idealpolitik, welche eigentlich gar keine Art der Politik ist, sondern vielmehr Poesie, besteht vielmehr darin, daß deren Lehrer sowohl unter Verkennung aller physischen Tatsachen und Gesetze, als auch unter Mißachtung der allgemein geltenden Ideen Entwicklungsziele aufstellen, welche völlig außerhalb des menschlichen Pflichtbewußtseins oder der staatlichen Machtsphäre gelegen sind. Die Staatsdichtung PLATONs in seiner Republik, die religiösen Anforderungen mehrerer älterer Kirchenväter an den Staat, die Utopie des THOMAS MORUS und zahlreiche Schöpfungen romantischer Art gehören hierher. Eine Bedeutung in der allgemeinen Literaturgeschichte ist solchen Werken gewiß nicht abszusprechen. Sie können, wie PLATONs Republik, als Anregungen der menschlichen Gedankentätigkeit und der philosophischen Forschung eine welthistorische Bedeutung erlangen. Es ist möglich, daß sie ihre Zeit mit Besorgnis erfüllen, wegen der Verirrungen, zu denen sie Anlaß bieten. Sofern etwas anderes als eine Staatsdichtung überhaupt beabsichtigt war, können die Verfasser indessen nicht beanspruchen, zu denjenigen gerechnet zu werden, die das Wesen der Staatshandlungen erkannt hatten.
Die näheren Bestimmung der Verhältnisse der Staatshandlung in ihrer Vermittlung zwischen bestimmt gegebenen Zielen des staatlichen Lebens und den realen Tatumständen. Und zwar ist diese Bestimmung zu treffen aus dem Gesichtspunkt der erfahrungsmäßigen Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des Handelns.
Durch die Hilfe der Statistik ist es der politischen Theorie ermöglicht, in ganz anderer Weise, als dies ehemals denkbar war, die Grundlagen und Voraussetzungen staatlicher Wirksamkeit kennen zu lernen, eine Einsicht in den Zusammenhang der staatlichen Dinge zu gewinnen, welche früheren Jahrhunderten versagt blieb. Freilich wäre es ein Irrtum zu glauben, daß die Statistik für sich allein imstande wäre, eine sichere Berechnung der politischen Erfolge zu gewährleisten. Wie sehr diese Wissenschaft, möge man sie nun als selbständig für sich bestehende, oder als eine aushelfende Nebendisziplin oder als Methode der tatsächlichen Feststellung betrachten, auch noch der Vervollkommnung fähig sein mag: es wird ihr voraussichtlich niemals gelingen, alle ursächlichen Zusammenhänge des staatlichen oder gesellschaftlichen Lebens in der ihr eigentümlichen Weise zur Anschauung zu bringen, oder alle Gesetzmäßigkeiten auf ihren eigenen arithmetischen Maßstab zu reduzieren. Mindestens darf man sagen, daß diese Aufgabe bisher noch nicht gelöst worden ist. Ein sehr weites Gebiet von Tatsachen gehört der Psychologie an. Ihr Verständnis ist unerläßlich, wo die politische Aktion auf den Inhalt des Bewußtseins staatlich organisierter Nationen oder gewisser eng zusammenhängender Gesellschaftsklassen Rücksicht zu nehmen hat, oder gar durch den Volkswillen zu bestimmen ist. Stimmungen, Gefühle, Leidenschaften, Überzeugungen, religiöse Meinungen, Vorurteile werden durch ihre allgemeine Verbreitung im Volkskörper zu sehr bedeutenden Faktoren des öffentlichen Lebens. Wieweit dieselben einer planmäßig angelegten Einwirkung durch Staatshandlungen unterliegen, welcher Grad von Festigkeit oder Beweglichkeit ihnen zukommt, ist eine der schwierigsten Fragen. An ihrer Lösung arbeitet die Völkerpsychologie. Geschichte, Statistik und Völkerpsychologie liefern somit die Werkzeuge zur Feststellung der politisch erheblichen Tatsachen, aus denen zusammengenommen die Schlußfolgerungen hinsichtlich der Erreichbarkeit bestimmter Ziele zu ziehen sind; Werkzeuge, mit welchen die politische Theorie aufgebaut werden muß, damit sich erkennen läßt,
- welche Wechselbeziehungen zwischen der menschlichen Freiheit in ihrer Richtung auf die Staatszwecke und den gegebenen Tatsachen angenommen werden dürfen, - inwieweit vorhandene Gesellschaftszustände als unabänderliche oder gestaltungsfähige zu erachten sind. Ein Rückblick auf die bisherige Entwicklungsgeschichte der politischen Ideen zeigt uns, daß frühere Jahrhunderte, nachdem man mit der absoluten Autorität kirchlicher Systeme gebrochen, die Leistungsfähigkeit der staatlichen Organe für die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände bei weitem zu hoch veranschlagten. Für alle Mißstände, für alle Fortschritte, für Hungersnot und Reichtum, für menschlichen Tugenden und Laster, sogar für das Erscheinen der Kometen pflegte man schlechthin Staatsregierungen verantwortlich zu machen. Daher jene lange Reihe heute meistenteils vergessener Schriften, in denen das XVII. und XVIII. Jahrhundert die moralischen und intellektuellen Eigenschaften der Fürsten zu bestimmen unternahm, durch deren Vorhandensein das Glück der Völker und Staaten gewährleistet werden sollte. Daher die Schrecken erregenden Schilderungen idealer Tyrannen. Hervorragende Männer schrieben mit Eifer über die Erziehung der Prinzen, ohne durch FENELONs vergeblichen Versuch belehrt zu sein. Die persönliche Herzensgüte eines Monarchen galt für die beste Verfassung der Völker. Noch VOLTAIRE teilte diesen Irrtum. Neuerdings scheint die entgegengesetzte Richtung in der Würdigung der Verhältnisse vielfach zu überwiegen. Nicht gering ist die Anzahl derjenigen, welche die Regierungen gleich ohnmächtig halten zum Guten wie zum Schlechten. Die von Menschen gemachten Gesetze sollen nur insofern einen Wert haben, als sie die Eigenschaft eines Naturgesetzes der menschlichen Gesellschaft an sich tragen, deren Entwicklungen, wie man glaubt, sich von selbst vollziehen. Die Geschichte erscheint hiernach als eine Reihe von vollendeten Tatsachen, in deren Hervorbringung die menschliche Person und der Wille der größten Staatsmänner nur scheinbar beteiligt sind. So schwankte das Gesetz der politischen Zurechnung gleichsam zwischen den Extremen des Heroenkults und einem blinden Fatalismus. Für die Gegenwart kommt es darauf an, an den im Voraus berechenbaren Erfolgen des politischen Handelns einen Maßstab aufzufinden für die Verantwortlichkeit derer, denen der Vollzug staatlicher Handlungen obliegt, die Grenzen der Fahrlässigkeit, der Pflichterfüllung, der Verdienstlichkeit aufzufinden. Die politische Theorie muß nach einem Maßstab suchen, der uns befähigt, sowohl der Anmaßung derer entgegenzutreten, welche in einer unermeßlichen Reihe von politischen Kombinationen das Gelingen ihrer Pläne vorausverkünden wollen, als auch die Geringschätzung abzuweisen, welcher der Scharfblick des politischen Genies und die tiefere persönliche Einsicht in den Zusammenhang der Dinge nichts gilt. Schon das ist sicherlich ein großes Resultat, daß durch die Statistik gewisse Faktoren des öffentlichen Lebens annähernd den Charakter des Berechenbaren angenommen und einzelne bestimmte Objekte der politischen Voraussicht gewonnen worden sind. Die Verhältnisbestimmungen zwischen politischer Aktion und nachweisbar gegebenenn Gesellschaftszuständen können natürlich nicht als unabänderlich gelten. Sie sind dem bald langsameren, bald beschleunigten Wechsel unterworfen, zumal insoweit sie dem Gebiet der geistigen Entwicklungsprozesse angehören. Ein Vergleich zwischen dem Volksgeist in orientalischen Staaten und der europäischen Kultur würde genügen, um darzutun, welchen Widerstand und welche Förderung ein und dieselbe Staatshandlung innerhalb ein und derselben Zeitperiode bei verschiedenartig entwickelten Nationen finden kann; von wie ungleicher Dauer die Entwicklungsepochen im Leben der Völker sind. Die politische Kultur ist zu messen an der Tatkraft des Volksgeistes, wo es der Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten, wo es der Erfassung und Aneignung staatlicher Zwecke gilt. Wieweit die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten auf diese Eigenschaften rechnen kann, das wird vorzugsweise in der Gegenüberstellung der höher oder geringer entwickelten Volkskörper annähernd zu ermitteln sein. Schließlich fragt sich noch an dieser Stelle, welche Gegenstände im einzelnen der Betrachtung in der politischen Theorie unterworfen werden können? In Deutschland wird es nicht zwei Lehrbücher der Politik geben, deren Inhalt vollständig miteinander übereinstimmt: eine Erscheinung, die schon aus der Verschiedenartigkeit der Ansichten über das Wesen und die Aufgaben der Politik hinreichend erklärt wird. Im Allgemeinen ist auf die eben aufgeworfene Frage zu antworten:
Schon oben wurde bemerkt, daß nach gewissen Richtungen hin auch das Privatrecht der politischen Betrachtungsweise unterzogen werden könnte. Dasselbe gilt vom positiven Recht überhaupt. Für die Politik wäre dabei indessen immer nur dies zu prüfen, ob die fernere Beibehaltung oder die Aufhebung eines Gesetzes als Staatshandlung anzuraten ist oder nicht. Das Eigentümliche der politischen Methode liegt hier somit lediglich im Gesetzgebungszweck, auf welchen die Beseitigung eines als nachteilig erkannten oder die Herstellung eines neuen Rechtsbestandes zu beziehen ist. Jeder Gesetzgebungsakt ist eine freie Staatshandlung. Ehe derselbe vorgenommen werden kann, ist nicht nur die ethische und juristische Seite der Gerechtigkeit und Folgerichtigkeit einer vorgeschlagenen Maßregel innerhalb der bereits bestehenden Normen des positiven Rechts zu untersuchen. Auch die zeitlichen Verhältnisse der Publikation, die allgemeine Ratsamkeit eines Übergangszustandes, wie bei Zahlungen nach einem veränderten Zinsfuß, die Wahrscheinlichkeit einer gesicherten Durchführung gegen widerstrebende Elemente sind zu erwägen. Und gerade hierin zeigt sich die politische Natur der Gesetzgebung, deren Regeln die Gesetzgebungspolitik ausmachen, wobei die Kodifikationsfrage den ersten Rang einzunehmen pflegt. Vom politischen Standpunkt aus ist das schlechteste Gesetz das undurchführbare. Für das Strafrecht wurde diese Art der Betrachtung des bestehenden Gesetzes aus dem Gesichtspunkt seiner Beibehaltung, Abschaffung oder Änderung so wichtig, daß die vorteilhaften oder nachteiligen Wirkungen der Strafgesetze unter dem besonderen Titel der Kriminalpolitik ihre Darsteller fanden. Die reichste Fülle nach der gegenständlichen Seite bietet sich der politischen Theorie in den Objekten der staatlichen Verwaltung. Die große Mehrzahl der Verwaltungshandlungen kommt staatsrechtlich nur in Betracht unter dem Gesichtspunkt ihrer Zulässigkeit auf der Grundlage einer Kompetenz und der stehenden Organisation der Verwaltungsbehörden. Außerdem nach ihren Beziehungen zu den anerkannten Rechten der einzelnen Staatsbürger. Über die juristische Seite ragt hier die politische empor. Während jene, nach der Häufigkeit ihres Vorkommens bemessen, bei normalen Zuständen als nebensächlich erscheint oder doch bei einem fest ausgebildeten Verwaltungsrecht so erscheinen sollte, tritt die politische Wirksamkeit der Verwaltungsakte unter den Zweckbestimmungen derselben entscheiden in den Vordergrund. Im Anschluß an die hauptsächlichsten Gebiete der Staatsverwaltung spricht man deswegen von der Finanz-, Steuer-, Wirtschafts-, Handels- oder Militärpolitik. Hierbei kann in Frage kommen, wie weit die allgemeine politische Theorie auf einzelne Objekte einzugehen hat? Welches Verhältnis zwischen der Politik als Wissenschaft und den einzelnen Zweigen der Staatsverwaltungslehre anzunehmen ist? Ob beispielsweise die Lehre von den Finanzen auch in der Politik abgehandelt werden muß? Im Allgemeinen sind diese Fragen nicht so schwer zu beantworten, wie man häufig anzunehmen pflegt. Die Politik schlechthin kann sich zur Finanz- oder Wirtschaftspolitik überhaupt nicht anders verhalten, als das Ganze zu seinen Teilen. Wenn die politische Seite der Finanzverwaltung in einer zu selbständigem Dasein gelangten Disziplin der Finanzwissenschaft gleichzeitig mit den staatsrechtlichen Momenten derselben in herkömmlicher Weise verbunden wird, so kann diese Einteilung als durch praktische Lehrzwecke und Arbeitsteilung bedingt, völlig unangefochten bleiben. Das Gleiche gilt von der Wirtschaftspolitik und der Polizeiwissenschaft. Diese eigentümlich benannten Zweige der Staatswissenschaft könnte man gleichsam, soweit nicht staatsrechtliche Grundsätze nach den Methoden der Jurisprudenz zu erörtern sind, als spezielle Politik im Verhältnis zur allgemeinen politischen Theorie bezeichnen. Unter Anerkennung dieser Lostrennungen vom Gesamtkörper der politischen Wissenschaft bliebe nur übrig festzusetzen, bis zu welchem Maße die Objekte der Verwaltung überhaupt noch außerhalb jener Fachwissenschaften (Finanzen, Polizei) in der politischen Theorie zu berücksichtigen wären? Ob die Politik wenigstens das Hauptsächlichste und Wichtigste aus jenen Spezialfächern zur Darstellung bringen soll? Auf dem Weg einer theoretischen Auseinandersetzung ist hier wenig zu entscheiden. Wie man den Stoff verteilen will, bis zu welchen Grenzen eine Arbeitsteilung in der Behandlung ohne Nachteil fortgeführt werden, ob nicht vielmehr in einzelnen Teilen wiederum eine Zusammenfassung der zerstreuten Elemente stattfinden kann: das sind Dinge, die zumeist die Einrichtung des staatswissenschaftlichen Unterrichts auf den Universitäten und Akademien angehen. Das Mangelhafte in der staatswissenschaftlichen Bildung unserer Zeitperiode liegt vorzugsweise in der zu stark entwickelten Tendenz auf das Einseitige und Spezielle einer übermäßigen Fachteilung, während früher die Neigung zu allgemeinen philosophischen Abstraktionen und Kategorien überwog. Mehr und mehr beginnt das Bewußtsein zu schwinden von der Zusammengehörigkeit und Einheit der rein staatlichen Funktionen. Hierin scheint mir der Grund zu liegen, weswegen der Politik als Wissenschaft eine gleichsam zentrale Stellung innerhalb der Konföderation der einzelnen einander verwandten Fachwissenschaften zu wünschen wäre. Ihre Aufgabe würde somit darin zu setzen sein, daß sie die den Sonderobjekten der politischen Spezialwissenschaften (Finanzen, Polizei, Kriegswesen) gemeinschaftlichen Grundlagen aus dem Gesichtspunkt der wirksamen Staatshandlung darzustellen hätte. Es würde ihr obliegen, die Verwandtschaftsverhältnisse unter den hauptsächlichsten Gebieten der Staatsverwaltung in den näheren oder entfernteren Graden nachzuweisen. Der Nutzen einer solchen Behandlungsweise für die staatswissenschaftliche Einsicht könnte sich darin zeigen, daß der Neigung zur Einkapselung in bloßer Routine und Geschäftsordnung ein Gegengewicht gegeben und die Wirksamkeit der Staatsfunktionen in demselben maß gesteigert, als der Blick in den Zusammenhang der staatlichen Dinge erweitert würde. Für den richtigen Gang der Regierung ist die Kenntnis aller in Betracht zu nehmenden Einzelheiten wichtig, noch wichtiger aber der Überblick über das Ganze. Jede Angelegenheit des Staates kann wissenschaftlich für die Zwecke der Erforschung isoliert werden. Das Heerwesen beispielsweise bietet eine besondere finanzwissenschaftliche, volkswirtschaftliche, internationale Seite der Betrachtung dar. Sobald es Gegenstand der politisch wissenschaftlichen Betrachtung wird, ist der Gesichtspunkt nicht eines besonderen Interessenkreises, sondern der staatlichen Einheit entscheidend. Hat die Politik als Einzelwissenschaft mit dem Zweck: zu Staatshandlungen nicht juristisch prozeßualer Natur zu befähigen, einen wirklichen Wert, so würde ihr in der Gesamtheit der Staatswissenschaften für den Lehrzweck etwa folgende Stellung anzuweisen sein. Ihr vorausgehend sind zu denken: diejenigen Disziplinen, in denen die begriffsmäßigen Voraussetzungen, Materialien, Objekte und Schranken der staatlichen Wirksamkeit überhaupt vorliegen:
Auf den deutschen Universitäten zeigt sich, so weit unsere Beobachtungen reichen, folgendes: Die Unsicherheit der stofflichen Begrenzung erklärt es, daß trotz der großen Neigung zur Abfassung von Lehrbüchern, welche in Deutschland erfahrungsgemäß besteht, seit DAHLMANN (dessen Werk unvollendet blieb) keiner derjenigen, welche Politik lehren, ein vollständiges Kompendium verfaßt hat. Nur in der Schweiz, an deren kleineren Hochschulen die einzelnen Disziplinen weniger zahlreich vertreten waren, machte ESCHER von Zürich eine Ausnahme in der Abfassung eines Handbuchs. Außerdem WAITZ in seinem Leitfaden. In den akademischen Vorlesungen über Politik scheinen heute drei Richtungen gleichzeitig zu bestehen:
- sodann eine rechtsphilosophisch-juristische, welche den Zusammenhang mit dem Recht vorzugsweise festzuhalten sucht und die ethischen Lehrsätze berücksichtigt; - eine statistisch-verwaltungsrechtliche, welche vorwiegend die gegebenen statistisch nachweisbaren Staatszustände berücksichtigt. Diese Verschiedenartigkeit der Richtungen erklärt sich sehr leicht, sobald man erwägt, daß in Deutschland gleichzeitig von Historikern (SYBEL, WAITZ, von TREITSCHKE, RIEHL) von Rechtsphilosophen (AHRENS und ROEDER) und von Juristen (MOHL, BLUNTSCHLI) Vorlesungen unter demselben Titel gehalten worden sind, oder noch gehalten werden.
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