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EDUARD LASKER
Über Welt- und Staatsweisheit
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"Richtig ist, daß der Eigennutz, jede, auch die nicht gewinnsüchtige Lust am Erfolg von der Forschung fern bleiben muß. Während ich forsche, darf allein die lautere sich selbst genügsame Wahrheit mich leiten; jeder vorgenommene Erfolg, ja schon die Lust nach einem vorgedachten Ausgang beeinträchtigt den Wert der Untersuchung und die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses. Gewinnsucht oder Lust nach der Entdeckung des viel umworbenen Geheimnisses hat kenntnisreiche Männer zum Aberglauben der Alchemie und zu verschwendeten Mühen und zu grober Sinnestäuschung verleitet."

"Seit Baco von Verulam tritt in England auch die dialektische Philosophie in vorsichtigeren, der Beobachtung nahen Formen auf; sie nimmt gern den Inhalt der Erfahrungslehre an. An diesen Vorgänger anlehnend, hat das englische Volk sich allmählich an seine heutige Ausdrucksweise gewöhnt, die Gesamtheit aller naturwissenschaftlichen Forschungen als Philosophie, die dialektische Bearbeitung von Systemen, nicht ohne einen Anflug von Ironie, als Metaphysik zu bezeichnen."

Ich habe mir nicht vorgenommen, aus Büchern oder eigener Erfahrung Regeln der Staatsweisheit vorzutragen; auch mit dem Willen hierzu, vermöchte ich es nicht, wie bald aus meiner dargestellten Anschauung sich ergeben wird. Meine bescheidenere Absicht ist, zu untersuchen, in welchem Abschnitt politischer Entwicklung wir uns befinden. Angeregt wurde in mir die Frage seit Jahren schon durch einen tiefgehenden Widerspruch, welchen ich zwischen einer geläufigen Weise des Ausdrucks und der Wahrheit des Lebens wahrgenommen habe. So weit ich zurückdenke, erinnere ich mich der Gewohnheit, das "19. Jahrhundert" mit rühmenden Zusätzen zu bezeichnen. Unter dem Namen des Jahrhunderts spenden wir uns ungemessenes Lob über den hohen Grad der Kultur und des heutigen Geisteslebens. Auch umschreibend bewundern wir das Jahrhundert der Eisenbahnen, der Telegraphen, Dampfmaschinen, hoher Entwicklung jeder Art. Als empfindlicher Tadel gilt der verwunderte Ausruf: "Im 19. Jahrhundert!" Und doch haben wir fast ununterbrochen in diesem Jahrhundert Ereignisse erlebt, welche einen niederen Bildungsgrad verraten, wie wir, in allgemeiner Betrachtung, ihn verbunden glauben mit den Zuständen längst überwundener Unwissenheit oder Barbarei. Denken Sie an Ereignisse, welche frisch in Ihrem Gedächtnis sind, welche sich noch abwickeln. Die jüngste Zeit hat für zahlreiche Millionen zwei neue Dogmen angefertigt und die Gläubigen erkennen das Unbegreiflich an als verbindliche Glaubenslehre und Bedingung des Seelenheils. Dieses Jahrhundert hat am Sitz verfeinerter Bildung und Gewohnheit den ziellosen Schrecken der Kommune, die Herrschaft der wenigen Fäuste über Hunderttausende abgeneigter Bürger gesehen. Fast täglich wird der denkende Beobachter, nicht selten auch die Menge aufgeschreckt durch überraschende Zeugnisse der Unkultur. Wo ist die Quelle der Widersprüche? Ist die theoretische Erkenntnis vorangeeilt und vermag die praktische Ausübung nicht überall gleichen Schritt zu halten? Oder fehlt es noch an Klarheit der Erkenntnis, und der noch nicht abgeklärte Gedanke verführt zu widersprechenden Unternehmungen? Vielleicht steht das Jahrhundert auf dem Gebiet des anwendbaren Wissens noch gar nicht so hoch, wie wir es einzuschätzen pflegen. In der Tat, zu dieser Ansicht bin ich gelangt. Wohlgefügte Sätze, streng durchdachte Lehren gelten mir nicht als wirkliche Erkenntnis und wahres Wissen; die Worte gestalten sich oft passend für einen noch nicht errungenen Inhalt. Die Anwendung allein ist das gültige Zeugnis. Weisheit bewährt sich nicht im geschickten Spruch, sondern allein im Tun. Wie lange schon herrscht die schöne Lehre: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst"; seit Jahrtausenden ist sie gegeben, über achtzehn Jahrhunderte der Mittelpunkt des weltbeherrschenden Glaubens. Mit dieser anerkannten Lehre vereinbar waren die Scheiterhaufen und die unsagbaren Matern für die Ungläubigen. Der Spruch war geläufig, aber es fehlte die Einsicht, wie der Mensch sich liebt. Der Ketzerrichter sagte, oft in gefälliger Selbsttäuschung: Und wäre ich selbst der Ketzer, so würde ich zum Heil meiner Seele die Qualen und den martervollen Tod erdulden. So paarte sich zügellose Wildheit mit der menschenfreundlichsten Lehre. Nicht allein auf dem schwankenden Boden des Sittengesetzes, sondern auf mannigfachen Gebieten des Geisteslebens habe ich erfahren und daraus den Satz als gemeingültig erkannt, daß der wahre Umfang allen Wissens weit hinter dem scheinbaren Umfang zurückbleibt. Wenn Faust, über seinen Lehrberuf verzweifelt, sich abquält mit dem Verlangen:
    "Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß
    Zu sagen brauche, was ich nicht weiß -"
so schildert er den unvollkommenen Zustand aller Wissenschaft, nicht bloß sein mangelhaftes Wissen. Nur hilft keine Magie über diese Unvollkommenheit hinweg, sondern der unbefriedigte Drang und bescheidenes Forschen müssen weiter helfen.

Der stets vorhandene Unterschied zwischen dem scheinbaren und dem wahren Umfang des Wissens erinnert mich an das Gesetz der optischen Täuschung. Der erklärenden Grund finde ich in den verschiedenen Wegen, auf denen der ausübende und der forschende Mensch zum Wissen streben. Das gewöhnliche Leben führt den geraden Weg zur Kenntnis der Dinge, mit denen der Mensch sich beschäftigt. Der Bauer kennt den Pflug, die Furche, das Saatkorn, Jahreszeit, Wetter und was sonst in Betracht kommt, woran die Ernte von der Aussaat bis zum Einheimsen sich entwickelt; er kennt gerade so viel, wie er nach seinem Verständnis zur Anwendung braucht. Anders geht es her in den höheren Regionen des Forschens. Hier fehlt dem Anfang oft die Kenntnis des Stoffes, für welchen die Regel gesucht, gefunden und in einem passenden Satz gebracht wird. Nennen Sie es Ahnung, aber in wunderbarer Weise gibt die bloße Arbeit des Gedankens nützliche und verwertbare Winke, eröffnet Blicke auf die Wahrheit, noch ehe der Stoff erkannt ist, an welchem die Arbeit sich vollzieht. Solche unvollkommene Anfänge der Wissenschaft erscheinen dem Fernstehenden reich und voll. Der an Alltagsgeschäfte gewöhnte Mann vermutet beim Forscher die Kenntnis von gleicher Art, wie seine eigene Kenntnis der Dinge, welche er im Gebrauch handhabt. Hier beginnt die Täuschung. Noch mehr zum Überschätzen neigt, wer über den Wirkungskreis der unmittelbaren Handhabung versuchsweise hinausschreitet und seine Kenntnisse ein wenig über den Bedarf erweitert; dieser erfährt die Mühe des Vordringens und bewundert die Fülle des Vorrats, welcher außerhalb seiner Erfahrung liegt. Besonders stark überschätzt wird aus diesem Grund die berufsmäßige Gelehrsamkeit. Hat ein Zweig der Wissenschaft sich durch Menschenalter fortgebildet, werden die beobachteten Tatsachen und Regeln immer vermehrt jedem späteren Nachkommen überliefert, so sammelt sich allmählich ein Vorrat, welcher den möglichen Erwerb eines Einzelnen bei weitem übersteigt. Der uneingeweihte Beurteiler mißt mit dem Maßstab seiner vereinzelten Kraft und darum erscheint ihm das ererbte Wissen viel größer, als es wirklich ist. Wie das Kind das Wissen des Erwachsenen für unerschöpflich hält, so denkt oft die Menge der Laien über den Berufsgelehrten. Aber auch, wie nicht selten eine harmlose Frage des Kindes den Erwachsenen selbst überrascht über die engen Grenzen des eigenen Verständnisses und wie hieran die Enttäuschung des kindlichen Glaubens beginnt, so geschieht es oft im Verhältnis der Gelehrten und der Laien.

Viel verbreitet ist die Erfahrung in zwei Wissenszweigen, welche uns häufig beschäftigen, weil der Mensch ihnen der unmittelbare Gegenstand des Forschens ist. Den Arzt glauben wir vertraut mit der Kunde unseres Körpers, mit den Ursachen unseres gesunden oder kranken Befindens. Auf diesem Glauben ruht unser Zutrauen, das Sehnen nach dem Arzt, sobald eine besorgliche Störung der Gesundheit eintritt. Sein überlegenes Wissen drängt sich uns auf; wir gehorchen gern seinen Anweisungen und in der Gefahr beruhigt sein Beistand. Aber wie erstaunen wird, wenn wir ihn täglichen Krankheitserscheinungen gegenüber ratlos sehen, und wenn er auf die an ihn gerichtete Frage redlich bekennt, daß der Heilkunde noch verborgen ist, was wir Laien für den ersten Anfang dieser Fachwirtschaft halten. Aus solchen gelegentlichen Wahrnehmungen sind die viel verbreiteten Scherze gegen die Heilkunde und den Arzt entsprungen, aber die Laienwelt kehrt doch zu ihrem Glauben zurück und das Auge des Kranken haftet an den Bewegungen des Arztes. Ähnlich ergeht es uns mit der Geschichtslehre, einer Grundsäule unserer Bildung. Der Bericht aus der Vorzeit und über unsere Vorfahren zieht uns mächtig an [Zebra, Nashorn und Giraffe & Co. - wp]. Wir empfangen früh [ab 9 Uhr auf allen Kanälen - wp] eine Vorstellung der Vergangenheit bis in die bekannten ältesten Zeiten; wir bewundern die mühsame Arbeit, welche so viele Einzelheiten aufdeckt, die Kunst, welche Gewesenes zu beleben und ein Gesamtbild zu entwerfen versteht. Aber wir werden aus unseren Träumen gerissen, wenn wir erfahren, wie kurz im Verhältnis zum Vorleben zivilisierter Völker die Spanne Zeit ist, über welche die "Weltgeschichte" sich erstreckt. Noch tiefer sinkt unsere Vorstellung, sobald wir uns überzeugen, wie wenig aus der Vergangenheit berichtet wird, und dieses Wenige wird ungenau. Von dem steten Wirken und Schaffen des Volkes, von den tausendfältigen Gestaltungen der gesellschaftlichen Beziehungen, von der allmählichen Vorbereitung, den im Stillen waltenden Beweggründen großer Begebenheiten erfahren wir beinahe nichts. In der Tat,
    "Die Zeiten der Vergangenheit
    Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln."
Neue Verlegenheiten bereitet uns der Wandel, welchen nicht selten die Forschung an hervorragenden Namen der Geschichte vollzieht. Aus denselben Überlieferungen entstammen die entgegengesetzten Schilderungen eines TIBERIUS, eines CICERO, CÄSAR oder TILLY. Oder es beweist gar ein genialer Forscher, daß ein umfangreicher und höchst bedeutender Geschichtsabschnitt, welcher seit Jahrhunderten überliefert und mit Ausschluß einiger Zutaten wörtlich geglaubt ist, von der ersten bis zur letzten Nachricht ein bloßes Märchen ist. Die Geschichte der römischen Könige erweist sich vor den Angriffen NIEBUHRs als eine kunstvoll gewebte Sage; beinahe zweitausend Jahre hatten die Berichte des LIVIUS als Ergebnisse gewissenhaftester und einsichtiger Prüfung gegolten, jetzt ist der älteste Abschnitt als eine urteilslos übernommene Dichtung erwiesen, und für lange später verlieren die Berichte dieses Schriftstellers ihre Beweiskraft. TACITUS, ein Muster der Erzählung und beinahe das verkörperte Gericht in der Weltgeschichte, wird jetzt, nicht ohne jeden Anhaltspunkt, als Schriftsteller von wohlüberlegter Parteitendenz enhüllt. Aus verhältnismäßig junger Vergangenheit wird eine der großartigsten Perioden, deren Folgen noch in unserem Zeitalter nicht ganz verbraucht sind, wird die Periode der Völkerwanderung so lückenhaft, unvollkommen und verworren dargestellt, daß Niemand eine Übersicht auch nur der allgemeinsten Begebenheiten erhält, aus den vielen Namen kein Charakter klar, keine Person körperhaft hervortritt. Und neulich habe ich mit vielem Geschick als Unkenntnis und Irrtum bezeichnen hören, daß überhaupt in jener Zeit die Periode einer Völkerwanderung gewesen ist. Seit unserem Gedenken soll die Geschichtsschreibung große Fortschritte gemacht haben; sie soll umfassender und zuverlässiger geworden sein. Unter die Herrschaft dieses Fortschritts fallen die Romane THIERS' über den ersten NAPOLEON, welche sogar die Phantasie der Deutschen lange beherrscht haben und die Phantasie der französischen Nation noch lange beherrschen werden. Ich nehme mit eigenen Augen wahr, wie sich die Geschichte unserer Tage für die Zukunft vorbereitet und sehe die schiefen Bilder und die Halbwahrheiten voraus, welche Nachkommen über uns mit reinem Gewissen als geläuterte Wahrheiten mitteilen werden. Doch ich will über die jüngste Geschichtsschreibung nicht urteilen; mag sie alt werden und dann die Probe bestehen. Aber in meiner Schätzung, welche ich an den Urteilen Sachkundiger geprüft habe, ist heute noch, über zweitausend Jahre nach seinem Tod, THUKYDIDES mustergültig. THUKYDIDES hat nur über zeitgenössische Ereignisse geschrieben, mit vorurteilslosem Sinn, geschicktem Griffel, zutreffender Gewandtheit des erzählenden und des gesprochenen Wortes, mit unbestechlichem Charakter, glühender Liebe seines Landes. Seine Erzählung erstreckt sich nur auf den kleinen Raum Griechenlands, nur auf Begebenheiten, welche er miterlebt und gefühlt hat; darum ist er zuverlässig, erfüllt er Personen und Ereignisse mit wirkendem Leben. Aber dieses in jeder Hinsicht noch unerreichte Werk gibt aus der Zeit seiner Darstellung vom Leben des griechischen Volkes nur ein kleines Bruchstück, verfolgt fast nur einen Faden aus den unzählbaren Fäden eines treibenden Volkslebens, den Ursprung und den Fortgang des peloponnesischen Krieges. Von der treuen und kunstvollen Erzählung gewinnen wir freilich nebenher manche wertvolle Kunde über das Wesen der Athener und anderer Griechen; hier und dort werden wir freudig überrascht mit einem kurzen Durchblick auf Sitten und Anschauungen der Nation, sogar auf das wechselreiche Treiben des Volkes. Aber zuletzt haben wir doch nur eine Reihe von Einzelheiten. Dies nach Jahrtausenden musterwürdige Geschichtswerk, welches nur über Zeitgenossen und zeitgenössische Ereignisse berichtet, ersetzt an unmittelbarer Anschauung nicht einen Tag des geselligen Zusammenlebens.

Auch an anderen mir bekannten Zweigen des Wissens könnte ich erweisen, wie weit der wahre Umfang hinter dem scheinbaren Reichtum zurückbleibt, und dieselbe Regel gilt gewiß allgemein, weil sie in der bisher entwickelten Eigenart des Menschen begründet ist. Ich will jedoch nicht länger bei diesem Nachweis verweilen, denn die Aufgabe, welche ich mir gestellt habe, erschöpft sich nicht in der entmutigenden Darlegung unserer geringfügigen Kenntnisse, sondern erfaßt ein höheres und fruchtbareres Ziel. Sie leitet mich an, das Gesetz des Fortschritts zu beobachten, welches unmittelbar an jene wenig tröstliche Erscheinung anknüpft. Nach vielen Menschenaltern befriedigter Selbsttäuschung erwacht ein Geschlecht von Denkern, welches, beschämt von der erkannten Armut des weit überschätzten Wissens, nach neuen Quellen sucht, und nicht ohne Erfolg. Ich lasse dahin gestellt, wie weit jenes Aufraffen führt, ob nicht nach Abschluß einer solchen Epoche die frühere Wahrnehmung auf den etwas erweiterten Inhalt paßt. Aber ein Fortschritt ist vollzogen und ein neuer Ring ist eingefügt in die menschliche Entwicklung. Auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens und der gesellschaftlichen Beziehungen nehmen wir Merkmale wahr, welche den Anfang eines durchgreifenden Fortschritts andeuten. Der Geist arbeitet sich aus genügsamer Befangenheit heraus und zwingt auf unausgetretene Pfade. Wohin streben wir, und mit welchen Mitteln werden wir das Neue erreichen? Schwer ist es freilich, in der Mitte einer so viel verschlungenen Bewegung zur Klarheit über die werdenden Zustände zu gelangen. Glücklicherweise liegt in der Entwicklung eines anderen Kulturzweiges ein Beispiel vor mir, welches für die Absicht meiner Darlegung paßt. Die in heftiges Ringen eintretende Staatsweisheit mag sich messen an dem gleichartigen Kampf und den Errungenschaften der Weltweisheit. Im Kampf der Dialektik mit den Naturwissenschaften schließt sich soeben eine Epoche des Fortschritts ab, welche vom ersten Anfang aufgezeichneter Überlieferungen bis zu den jüngsten Arbeiten unserer mitlebenden Naturforscher sich erstreckt. Die letzten lehrreichen Bewegungen dieser Epoche haben viele von uns an sich selbst erfahren, und die Wandlung der Anschauungen, welche ich für den letzten Abschluß der Epoche halte, ist noch im Vollzug begriffen. Die letzten lehrreichen Bewegungen dieser Epoche haben viele von uns an sich selbst erfahren, und die Wandlung der Anschauungen, welche ich für den letzten Abschluß der Epoche halte, ist noch im Vollzug begriffen. Die Dinge sind bereits einer ruhigen Betrachtung fähig, aber unser eigener Anteil erhält die Teilnahme lebendig und fördert das Verständnis. Dies ist der günstigste Zeitpunkt zu untersuchen und die Ergebnisse für das Leben zu verwerten.

Früh, im Verhältnis zu unserer Geschichtskenntnis, hat das Tasten der Menschen nach ewigen Wahrheiten (Ethik) und nach dem Verständnis des Ursprungs (Genetik) begonnen. Die ältesten Anfänge sind nur vermittelt durch einen mündlichen Bericht an uns gelangt. Nach getrennten Richtungen, welche durch Eindrücke oder Anlagen der Einzelnen bestimmt sein mögen, haben sich zwei Methoden der Gedankenarbeit entwickelt. Das Forschen nach dem Ursprung der Dinge lehnte sich an die mächtigsten Erscheinungen, an die Ausbrüche erzeugender oder zerstörender Kraft. Von demselben Ausdruck der Gewalt wurden das naive Gemüt und der forschende Geist ergriffen, und es entstand in jenem die bestimmte Form der Religion, in diesem die bestimmte Methode des Denkens. Hervor tritt zu allererst die Allmacht des Wassers und des Feuers. Das Wasser: an allen Orten ist es anzutreffen, mit allen Abstrufungen der Kraft wirkt es ein und die entgegengesetzten Folgen ruft es hervor. Vom Himmel kommt es, aus der Erde quillt es; es zerstört und belebt die Saaten; macht die Wüste wohnlich und die Wohnstätten zur Wüste; wiegt im sanften Geplätscher das Gemüt zur Ruhe, erschreckt es im donnernden Fall; bricht sich Wege durch den sonst unbezwingbaren Felsen und meidet den Widerstand der lockeren Scholle. Jetzt erst hat es alles Leben getötet und nun weicht es und läßt unendliche Keime neuen Lebens zurück. Noch herrscht das Wasser auf weiten Strecken unnahbar; Spuren tun dar, daß es dereinst auf dem jetzt festen Boden gewaltet hat und noch weilt es überall zurückgezogen unter der Oberfläche, nicht selten zum Durchbruch bereit. Ohne Wasser verschmachtet jedes lebende Geschöpf. Diese ganze Welt ist nur vom Wasser erzeugt. - Das Feuer: der Odem stockt vor der nahenden Glut; alles Erschaffene verzehrt die Flamme und in denselben Rest löst sie alle ergriffenen Körper auf. Dasselbe Feuer, das zerstörende, erwärmt und belebt; der menschliche Leib verspürt die Wärme als Leben, die eisige Kälte als den beginnenden Tod. In der Wärme erwachen die lieblichsten Gefühle. In der Wärme reifen Korn und Baumfrucht zur Nahrung; am Feuer verwandeln sich die rohen Nahrungsstoffe zum Genuß. Mit der Gewalt des Feuers zwingt der Mensch das harte Metall zum Werkzeug und Gefäß. Die Mühen vieler Jahre zerstört die Flamme in einem Tag. Mit unbändiger Kraft wühlt das Feuer im Schoß der Erde, veränder nach Willkür die Gestalt der Oberfläche. Sein Schein erhellt das Dunkel, erquickt und blendet das Auge. Feurige Körper erleuchten Himmel und Erde, und der mächtige Feuerball der Sonne bewirkt alle Wunder dieser Welt, scheidet den Tag von der Nacht, den Sommer vom Winter, und alles Lebende empfängt von ihm sein Gedeihen. Das Feuer hat das All erschaffen und erhält die Welt. Das naive Gemüt verehrt. Der forschende Geist dringt in den Zusammenhang ein, untersucht die Kraft und den Zwang, Ursache und Wirkung, prüft die Bestandteile und aus einer Anzahl von Merkmalen leitet er die allgemeine Regel ab. Das Leben des Einzelnen ist flüchtig und viele Leben hintereinander sind zu kurz für die Prüfung aller Erscheinungen; so wird dann die an vielem bewährte Regel als gültig angenommen für den ungeprüften Rest. Dieser nennt das Wasser, der andere das Feuer den Erzeuger.

Dies sind die ersten uns bekannten Überlieferungen aus der griechischen Philosophie, die elementaren Systeme der Schöpfung. An sie reiht sich die Untersuchung über den Ursprung, die Bestandteile und Zusammensetzung des Stoffes. Ein beschauliches Auge richtet sich auf die Außenseite der Dinge, entdeckt an den Formen die Wiederkehr gleichartiger Erscheinungen, findet Regeln und Gesetze, empfindet die Harmonie der Gestalt und nimmt eine Verwandtschaft der Formen wahr, welche verschiedene Körper unter einen Gesichtspunkt bringt. Alle Körper ordnen sich nach ihrer äußeren Gestalt, der Raum ist erfüllt mit Dingen, von denen jedes in sich selbst und zu den anderen in einem gesetzmäßigen Verhältnis steht. Wie an den unbelebten Sachen, so nimmt der weiter forschende Geist auch an den belebten Gliedern des Tiers, am Ausdruck und an den äußeren Beziehungen des Menschen eine gewisse Wiederkehr der Formen wahr und erkennt zuletzt das Gesetz der Ruhe und der Bewegung, den Ursprung der Harmonie, ihre Störung und Wiederkehr. In beiden Methoden dringen die forschenden Geister der nachfolgenden Geschlechter immer weiter vor, erfassen immer größere Gesichtskreise, unterwerfen immer mehr Dinge, Ereignisse und Eigenschaften ihrer Prüfung. Spärlich sind die Berichte aus den ältesten Zeiten, doch sind die Bahnen an den vereinzelten Spuren aufzufinden, wie die Quellen auf den Höhen der Berge den Augen des Wanderers sich bald zeigen, sich bald entziehen, bis zuletzt der Weg sicher an den Ufern des Stroms führt. Von der Herrschaft eines Elements über das Ganze und in den einzelnen Dingen gehen die Nachfolger über zur Anerkennung mehrerer Elemente, und sie untersuchen, aus welchen Bestandteilen der Stoff zusammengesetzt ist und welche Anlagen hiernach dem Körper eigen sind. Die belehrte Erfahrung vermutet in jedem Ganzen unterscheidbare Bestandteile, das geschärfte Auge sucht sie stets, findet sie oft und mit ihnen das Gesetz ihrer Zusammensetzung. Gestalt, Kräfte, Anlagen, die Stufen der Entwicklung und des Untergangs erklären sich aus der Beschaffenheit des Stoffs, aus dem Verhältnis der Bestandteile und aus der Wirkung der Körper aufeinander. Von neuen Entdeckungen weiter geleitet, erfaßt die Untersuchung Gestein und Pflanzen, den Stoff und die Bewegung der Tiere, den Menschen mit all seinen Werken und Einrichtungen, bis zur Sitte, der Familie und dem Staat. Auf dem anderen Weg vertieft sich der Gedanke schnell in die Wunder der Form, aus welcher die Schönheit erblüht und alles, was den Menschen erfreut. Die Allherrschaft des Maßes läßt die waltende Hand und eine bewußte Ordnung der Welt dunkel ahnen. Hier ist der Weg zum Vorschreiten mehr geebnet, denn es widersteht nicht der spröde Stoff, die Gesetze der Formen sind biegsam und folgen leicht dem Flug der Phantasie. An den einfachsten Grenzen, an dem Punkt, an der Linie und an der Fläche baut PYTHAGORAS sein gedankenreiches System auf. Mit unwiderleglicher Beweiskraft erschließt er an den Grenzen der Körper Gesetzes des Maßes (Mathematik). Angezogen durch ähnliche Erscheinungen, überträgt er die an den Körpern gefundenen Regeln auf eine Welt des reinen Geistes (Ethik); es gestaltet sich, den Eingeweihten sichtbar, eine höchste Weltordnung und das Abbild erscheint in den Einrichtungen der Menschen.

So haben auf beiden Wegen die Denker ihre Gedankenarbeit ausgedehnt von den einzelnen Dingen auf die Gesamtheit, vom greifbaren Körper auf alles, was die Sinne erproben, die Phantasie sich nachgestaltet oder die Einbildung für wahr hält. Nicht völlig getrennt bleiben die gesonderten Arten des Forschens; die eine entlehnt von der andern oft wichtige Hilfsmittel der Erkenntnis und der Darlegung. Aber die gesonderten Ursprungsquellen bleiben erkennbar. PLATO und ARISTOTELES haben nach den beiden Methoden den Aufbau der Systeme vollendet. Ich darf über jeden von ihnen sagen, daß er in seiner Weise den Umfang aller bekannten Erscheinungen erfaßt, die gesamten damals bekannten Hilfsmittel der Beobachtung und der Forschung erschöpft und als Regeln verwertet hat. Darum sind die beiden Namen heute noch lebendig in der Vorstellung der Gebildeten, ihre Lehren und deren Vortrag im Gedächtnis der Kenner. Doppelt wichtig aber sind sie uns, weil in unseren Tagen der Ring sich abzuschließen beginnt, dessen Anfang in ihnen verkörpert erscheint. Im Fortgang der griechischen Bildung und in allen nachfolgenden Zeitaltern, welche die griechische als Grundlage der eigenen Bildung benutzten, bleiben PLATO und ARISTOTELES die Wegweiser auf dem Gebiet des Forschens. Neue Begebenheiten treten ein, unbekannt gebliebene Erscheinungen werden enthüllt und in den Ideengang eingereiht, aber es wird der umfangreiche Raum jener ersten Anlagen nur ausgefüllt, nicht erweitert. Viele praktische Männer, unmittelbare und spätere Nachfolger beschäftigen sich damit, die Lehren der Meister für das Leben zu verwerten. Von Zeit zu Zeit tritt jemand auf, welcher das eine oder das andere System im Ausdruck verfeinert oder zu einem beschränkteren Zweck zuspitzt. Ein anderes verdienstliches Bemühen macht eine neuere Sprache zur genauen und gemeinverständlichen Wiedergabe der Ideen geschmeidig. Wie nun aber die Sprache biegsam genug ist und dem Ausdruck keine Schwierigkeit mehr darbietet, werden die philosophischen Systeme unter den gelehrten Kennern der beiden Meister häufiger; oft verführt ein willkürlich gewählter Mittelpunkt oder eine neue Kombination von Gedanken, eine entdeckte oder besser durchforschte Erscheinung zu einem neuen System. Und wie die Kenntnis dieser Dings sich gemeinverständlicher auf den Durchschnitt der Gebildeten ausdehnt, gestalten sich gar viele wie zum Hausgebrauch ein eigenes System und die Luft ist vom Streit der Systeme erfüllt. Daher FICHTEs Klage über seine Zeitgenossen, daß die Zunft der Philosophen unendlich ist. Nicht alle Philosophen schränken sich bescheiden auf den persönlichen Gebrauch ein oder auch auf den mündlichen Verkehr in geselligen Kreisen. Viele dringen in die Literatur ein; einige bieten ihr System als die wahre Weisheit an, und mancher erobert sich einen flüchtigen für seine Spanne Lebens gewaltigen Ruhm unter den angeworbenen Jüngern. Aber die geschäftige Welt hat an dieser Fülle keine Freude; sie sucht nach Körnern und die Systeme sind in leeres Stroh geschossen. Die wechselseitigen Beziehungen der Zunft und der arbeitsamen Welt erkalten. Während die bewunderungswürdigen Anfänge, aus der Anschauung der Dinge entsprungen, in steter Anschauung sich entfaltet haben, entfremdet sich jetzt die Philosophie vom wahren Leben. Die Sprache folgt auf den Irrwegen, sie erstrebt nicht mehr und bewirkt nicht mehr das gemeine Verständnis. So konnten dem letzten und höchsten Meister dieses abirrenden Philosophierens die verehrenden Jünger als Ruhm in den Mund legen, daß nur Einer ihn verstanden habe und dieser Eine nicht ganz. Wer nicht die Mühe scheut, in die Willkür der zweiten Sprache einzudringen, entdeckt oft hinter schwerfälligen Worten einen einfachen und bekannten Gedanken; häufiger schließt der verworrene Ausdruck sich der verkrüppelten Vorstellung an. Doch die größte Zahl der Verständigen meidet die unlohnende Mühe und verteidigt sich gegen die aufdringliche Zunft der verständnisschweren Denker mit der Waffe des Spottes. Im heftigen Gefühl der Abneigung verborgen liegt der Keim der Kraft, welche die Philosophie zur ihrer früheren Größe zurückführt.

Indem ich an diesen Wendepunkt gelange, muß ich ein wenig verweilen bei den Beziehungen der Wissenschaft zum geschäftigen Lebensverkehr. In diesen Beziehungen liegt der Antrieb zum Fortschritt, im Zustand der Krankheit die Reaktion zur Heilung, und an ihnen hat die Rückkehr der verirrten Philosophie zum rechten Weg sich vorbereitet. Die Gelehrten von Beruf sträuben sich meist gegen den Anspruch an die Wissenschaft, daß sie für die Bedürfnisse des Verkehrslebens verwertbar sein soll. Ich habe redliche Männer bis zu der Antithese ereifert gesehen, daß der Anspruch der Anwendbarkeit die Wissenschaft entheiligt; dem Handwerker gebührt diese niedrige Arbeit. Mangel an richtiger Begrenzung der Begriffe hat den Eifer erzeugt. Richtig ist, daß der Eigennutz, jede, auch die nicht gewinnsüchtige Lust am Erfolg von der Forschung fern bleiben muß. Während ich forsche, darf allein die lautere sich selbst genügsame Wahrheit mich leiten; jeder vorgenommene Erfolg, ja schon die Lust nach einem vorgedachten Ausgang beeinträchtigt den Wert der Untersuchung und die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses. Gewinnsucht oder Lust nach der Entdeckung des viel umworbenen Geheimnisses hat kenntnisreiche Männer zum Aberglauben der Alchemie und zu verschwendeten Mühen und zu grober Sinnestäuschung verleitet. Der Vorsatz, den allverbreiteten Reichtum mikroskopisch wahrnehmbarer Tiere nachzuweisen, hat dem sonst geübten Auge des sonst gewissenhaften Beobachters fabelhafte Wesen vorgegaukelt. Die meisten Irrtümer dürften wohl in den Lieblingsthemen begangen sein. Darum soll, während die Tätigkeit des Forschens sich vollzieht, der Hinblick auf die Anwendung ausgeschlossen werden, weil er die Reinheit des Strebens trübt. Aber hat die Wissenschaft ihr Werk getan und liegt das Ergebnis vor, so bleibt die Anwendung doch die letzte Probe seines Wertes. Nützlich ist nur, was für das Leben verwertbar ist. Nur darf man den Wert nicht zu ängstlich den gemeinen Begriffen anpassen, nicht in den engen Raum der Wohlhabenheit und des leiblichen Behagens einschließen. Wertvoll ist, was die Kenntnis der Sprache vermehrt, das Verständnis der Vorzeit erleichtert, den Sinn für Schönheit gegen die Verirrung des Geschmacks sichert. Zahllos sind die feineren Interessen, welche durch Ergebnisse der Forschung gefördert werden können. Unter einer solchen Schätzung des Wertes ist das Verlangen der Anwendbarkeit gestattet, sogar geboten. Mag die Ausbeute neuer Formeln und anscheinend neuer Tatsachen noch so groß sein: wenn ihnen die Anwendbarkeit fehlt, sind sie unfruchtbar und die Arbeit erfüllt nicht den hohen Zweck der Wissenschaft, führt nicht weiter auf dem Weg zur Weisheit.

An diesem Merkmal wurde die unfruchtbare Verirrung des in Systemmacherei ausgearteten Philosophierens entdeckt. Gerade jetzt vor 350 Jahren ist der Mann gestorben (BACO von VERULAM), welcher in der Mitte scholastischer Entartung zuerst unternommen hat, die Wissenschaft auf die Anschauung der Dinge zurückzuführen. Er forderte zu neuen Beobachtungen auf und zeigte die Wege. So weit das aufmerksame und geübte Auge die Eigenschaften der Dinge ohne kunstvolle Werkzeuge wahrnehmen kann, hatten die echten Forscher der ältesten Zeit die Arbeit getan. Aber jetzt forderte BACO auf, neue Hilfsmittel der Beobachtung aufzusuchen, vermehrte Geschicklichkeit aufzuwenden und die Gedanken nur anhand neuer Tatsachen wirken zu lassen. Ihm selbst fehlten noch die Werkzeuge, welche erst später zusammengesetzt und tauglich gemacht wurden. Aber die wahre Richtung war angedeutet, die der Sinn auf das richtige Ziel, die Geschicklichkeit auf Erfindung lenkt. Seit jener Zeit tritt in England auch die dialektische Philosophie in vorsichtigeren, der Beobachtung nahen Formen auf; sie nimmt gern den Inhalt der Erfahrungslehre an (HOBBES). An diesen Vorgänger anlehnend, hat das englische Volk sich allmählich an seine heutige Ausdrucksweise gewöhnt, die Gesamtheit aller naturwissenschaftlichen Forschungen als Philosophie, die dialektische Bearbeitung von Systemen, nicht ohne einen Anflug von Ironie, als Metaphysik zu bezeichnen. Doch mehr als die strengere Weise des reinen Philosophierens wirkt BACO durch den unmittelbaren Hinweis auf die Naturwissenschaften. Er steht mit seinem Wunsch nicht vereinzelt, sondern er faßt nur planmäßig zusammen, was in den höchst zivilisierten Ländern die Köpfe bewegt.

Namentlich in Italien und in Deutschland tritt das gleichartige Streben nach unmittelbarer Beobachtung hervor. BACO ist der vorzüglichste Ausdruck dieses tatkräftigen Geistes auf dem Gebiet der Forschung, und der Kreis der Forscher folgt dem Anstoß. Die bessere Beobachtung ist vor allem bedingt durch eine verbesserte Sehkraft. Die Regeln des Sehens müssen ergründet, das Auge muß durch Gläser zum zuverlässigen Blick in der Nähe, zum ausgedehnteren Blick in die Ferne geschärft werden. So beginnt der Aufschwung der höheren und angewandten Mathematik, der kunstvollen Gläser, der Mechanik, Optik und Astronomie. Ich brauche nur KOPERNIKUS, TYCHO de BRAHE, KEPLER, NEWTON zu nennen, deren Lebenszeiten zu bezeichnen, und Sie überblicken, wie naturgemäß die Forschung sich in den von BACO angedeuteten Bahnen bewegt. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts treten die vornehmen Geister Frankreichs in dieselbe Richtung ein, im regelmäßigen Anschluß an England, beinahe wie eine Ablösung desselben. Mit der Erforschung der Anlagen (Physik) beginnt diese rühmliche Periode französischer Wissenschaft, dann geht sie zu der genauen Ordnung der äußerlich wahrnehmbaren Merkmale (Naturbeschreibung) und den feineren Untersuchungen der Bestandteile (Chemie) über. Gegen das Ende des Jahrhunderts, während Frankreich in einem tödlichen Ringen für und gegen die Völkerfreiheit sich abmühte, übernahm Deutschland die Arbeit, um nach redlichem Bemühen die Führerschaft, innerhalb der ganzen gebildeten Welt unbestritten, zu erlangen. Und bei diesem Abschnitt muß ich um einiges länger verweilen; nicht aus bloßer Liebe zu meinem Land, sondern weil in unserem Deutschland der große Kampf zwischen der Philosophie des alten Stils und den Naturwissenschaften den am meisten belehrenden Verlauf nimmt, durch den lebhaften Anteil der Gebildeten einen großen Umfang gewinnt, allmählich zu einer gesunden Krisis drängt und vor unseren Augen sich abzuschließen beginnt.

Den sichtbaren Übergang aus der herkömmlichen in die neuere Methode bildet KANT. Mit allen Hilfsmitteln der Dialektik, mit dem vollen Wissen der Systeme drängt er zur Beobachtung, und obgleich er sich selbst in die gedankliche Untersuchung vertieft, weist er die anderen doch in erster Linie zur sinnlichen Wahrnehmung an. KANT ist der Geistesverwandte BACOs von VERULAM, aber seine selbständige Bedeutung liegt in dem letzten Zusammenfassen aller Systemlehren seit PLATO und ARISTOTELES. Hierin finden wir seine Schwächen und seinen Wert. Eine schwerverständliche Sprache für einfache Gedanken ist das Erbteil seiner Studien, die Folge seiner Methode: aber bei ihm wird die aufgewendete Mühe noch belohnt, weil der aus der Umhüllung ausgeschälte Gedanke von einfacher Größe ist und einen tiefen Eindruck hervorbringt. Wie das System eine Vermittlung mit dem Leben, so läßt der Ausdruck noch eine Vermittlung mit dem gemeinen Verständnis zu. Die ihm nachfolgen, sind bereits im Inhalt und Ausdruck vom gemeinsamen Verständnis abgeirrt, befinden sich bereits in jener Feindschaft mit dem Verkehrsleben, welche ich bereits geschildert habe (1). Jedoch unter den Mitlebenden staunen gelehrte Kreise die großen Schöpfer der Systeme an. FICHTE, HEGEL, SCHELLING werden mit KANT zusammengenannt und gleich verehrt. Vier Sonnen an demselben Horizont und um sie zahlreiche Sterne kleinerer Ordnung: die Welt hatte Gleiches noch nicht gesehen; an Zahl und Größe der Gleichzeitigen auch nicht Griechenland.

Inzwischen hatten sich rüstige und arbeitsame Geister den Beobachtungen und Experimenten zugewendet. Äußere und innere Eigenschaften, Bestandteile, Verhältnisse des Raums, Gesetze der Formen werden untersucht, neue Werkzeuge zum Trennen und Zusammensetzen klug ersonnen, Maße und Gewichte für immer kleinere Bruchteile, die Waffen des Auges für immer kleinere Körper empfindlich gemacht, neue Meßinstrumente entdeckt; Kräfte, welche bis dahin für geistige Eigenschaften gegolten hatten, den Gesetzen des Stoffs unterworfen und zur sinnlichen Wahrnehmung gebracht. Was sich auf diese Weise bezwingen hat lassen, galt als würdiger Gegenstand gelehrter Forschung, aber mißtrauische wurde zurückgewiesen, was sich den Werkzeugen unzugänglich erwiesen und sich den Hilfsmitteln der Sinne entzogen hat. An den unbelebten Stoffen ist die Untersuchung besonders ergiebig, die Entdeckung sicher. Noch die Gefäße des Lebens, das Instrument, auf welchem der Ton sich abspielt, die Leiter der freiwilligen Bewegung lassen sich mit Nutzen beobachten. Aber das Leben selbst mit seinen geheimnisvollen Kräften und Zielen, letzter Ursprung und Zweck, mögen aus den Stätten der Wissenschaft ausgeschlossen, den Scheindenkern zum Wortspiel überlassen werden. Am großen Stamm der Naturwissenschaft entwickeln sich neue Äste und Zweige, an den alten Sprossen neue Blüten (verschiedene Zweige der Physiologie, organische Chemie, physiologische Pathologie usw.), aber von der reinen Gedankenwelt wenden sich die Forscher ab (Psychologie, Moral, Metaphysik). Viele von uns haben persönlich erfahren, mit welcher Geringschätzung die Naturforscher über die Philosophie gesprochen haben; sogar bis zur Feindschaft und zum Haß steigerte sich der Widerwille, weil die Philosophie unsere Vorgänger mißleitet hat, und weil sie tüchtige Anlagen und redlichen Willen zur Verschmelzung der Kräfte verführt. SCHELLING und HEGEL galten als Beispiele; KANT und alle erhaltenen Namen der Philosophie wurden, meist aus Unkenntnis der Werke, in gleicher Weise geschätzt und als Träger der inhaltsleeren Dialektik verworfen. Die Natur, der Inbegriff aller begreiflichen Dinge, ist das einzige Buch der Weisheit, die Beschreibung und das Experiment allein wissenschaftliche Arbeit, Entdeckung ungekannter Eigenschaften, Bestätigung der bisher nicht unerschütterlichen Experimente und Beobachtungen allein sind verdienstlich. Wie bei den Jüngern der alten Philosophie in Formeln und abgerundeten Systemen, war für die unduldsamen Jünger der ausschließlichen Naturwissenschaft in den Laboratorien und Seziersälen, auf den Sternwarten, bei den Retorten, Waagen und Mikroskopen ein unendlicher Vorrat des Ruhmes. Beweisen denn nicht die Maschinen und die zahlreichen Hilfsmittel welche der Gewerbsfleiß davon getragen hat, die Überlegenheit der Naturwissenschaften? Der Wohlstand der Nationen wird durch sie umgestaltet, Gesellschaft und Staat werden der Umwandlung folgen müssen. Die billigen Gewebe und Farben erheben die unteren Gesellschaftskreise höher und schneller als die Religion der Liebe.

Auch am Ideal fehlt es nicht. Die treue Beschreibung entfaltet ungekannte Schönheiten. Das Mikroskop legt Selbständigkeit und Schönheit am kleinsten Wesen dar. In der Astronomie überwiegt das ideale Wissen. Ein neu entdeckter Planet ist ein größerer Gewinn des Geistes, als ein ganzes Buch der Moral. "Achtundzwanzig Planeten, welch' ein bevorzugtes Jahrhundert!" habe ich den Astronomen und Akademiker ENKE in der Berliner Akademie der Wissenschaften ausrufen hören. Bis auf unsere Tage hat man nur sieben Planeten gekannt und unser großes Jahrhundert hat die Zahl auf 28 gebracht; wer weiß, um wie viele die Kenntnis der Menschen noch wird bereichert werden. LEVERRIER schwang sich zu einem der gefeiertsten Namen auf, indem er selbst Planeten entdeckte und von Gehilfen neue Planeten aussuchen ließ. So war für das Ideal und das Leben innerhalb des engeren Kreises gesorgt, für die Philosophie gab es keinen Raum. Ich erinnere mich an einen Streit unter studierenden Jünglingen. Lebhaft steht mir im Gedächtnis die Unterredung mit einem jungen Freund, welcher seitdem seinen geachteten Platz in der Naturwissenschaft erhöht und befestigt hat. Auch ihn beherrschte der Eifer und die Verachtung gegen das Philosophieren. Ungläubig nahm er meine Gegenrede auf: Nur die moderne Systemmacherei und besonders die späteren Ausläufer sollen ausgeartet, an Inhalt leer und dem Leben fremd geworden sein. Ursprünglich habe jedes Philosophieren auf Beobachten, Zusammenfassen und Verwerten des Gefundenen beruth.

Das Beobachten allein ist auch heute nur ein Teil des Philosophierens; es tritt jetzt stärker hervor, weil die Vermehrung dieser Kenntnis ungebührlich vernachlässigt worden und nachzuholen ist. Bald wird die Masse der losen Einzelheiten zwingen, den zweiten jetzt vernachlässigten Teil des Philosophierens wieder aufzunehmen. Zwanzig Jahre sind seitdem verflossen und öfter wiederholte sich später das Zwiegespräch mit begabten und strebsamen Freunden. Mir fehlte damals die genügende Übersicht, daß die Rückkehr bereits vorbereitet wurde. Jetzt liegt es klar vor uns. Die Fülle der Entdeckungen macht einen Leitfaden unentbehrlich, wenn nich zwecklos fortexperimentiert werden soll, wie ehedem zwecklos Wortsätze aufgelöst und zusammengesetzt wurden. Hervorragende Forscher haben die Arbeit in die Hand genommen, und die Naturwissenschaften selbst leiten an auf dem Rückweg zum vermiedenen Gebiet. Kräfte, welche für geistige Eigenschaften gegolten haben, erwiesen sich als Gesetze des Stoffes, verfeinerte Werkzeuge brachten sie zur sinnlichen Wahrnehmung. Nerven und Muskeln ließen sich untersuchen: an lebenden Tieren sogar beobachtet man, wie das System des Lebens gegen die empfindliche Berührung bloßgelegter Nerven und Muskeln zurückwirkt (Vivisektion). Von verschiedenen Seiten nähert sich das Experiment den Aufgaben und Lehren der alten Philosophie. Durch die seinen Untersuchungen der Hör- und Sehorgane gelangt HELMHOLTZ zur Seelenkunde und Ästhetik. Durch die beobachteten Wandlungen der Zucht geht DARWIN dem Ursprung der Dinge entgegen, mit reicheren Hilfsmitteln, doch auf dem Weg der alten Genetik. VIRCHOW, der mit ungewöhnlich scharfem Auge erstaunliche Massen von Einzelheiten geprüft hat, sucht sich in den vereinzelten Tatsachen zurecht zu finden, und nimmt einen Leitfaden auf, welcher an das alte Sittengesetz (Ethik) erinnert. An der Spitze ihrer Fachwissenschaft schreiten diese und geistesverwandte Männer in natürlicher Fortentwicklung zum Zusammenfassen, zur Erforschung der höchsten zulässigen Fragen, zur Philosophie zurück. Der besser erkannte Stoff wird zum Inhalt der Auseinandersetzung, erweiterte Kenntnis wird zur Grundlage für neues Wissen. Eine Epoche des Fortschritts schließt sich ab; wir treten bereichert in die neue Epoche ein, aber zur abschließenden Weisheit sind wir nicht gelangt. Wahrscheinlich wird dieselbe Methode sich wiederholen und vielleicht werden Nachkommen dereinst über unsere Zeiten so urteilen, wie wir über die Zeiten des PLATO und des ARISTOTELES.

Über den Staat und seine Ordnung, über beste Verfassungen und Regierungen, gute Gesetze und nützliche Einrichtungen ist viel geforscht und gelehrt worden. Fast jeder Philosoph betrachtet, was den Staat angeht, als einen Teil seiner Wissenschaft, und je nach der mehr praktischen oder idealen Richtung trägt der eine Regeln der Staatskunst, der andere ein System der Staatsweisheit vor. Außer den Philosophen fühlen sich die Staatsmänner zur Aufgabe berufen. Auf kürzerem Weg, als durch Lehren, führen die Regierer durch Gesetze und Vorschriften ihre Ideen ins Leben ein, die Gewalt verschafft selbst dem Irrtum einen vorübergehenden Sieg und mit dem augenblicklichen Nutzen stellt sich zuweilen der Schein der Wahrheit ein. Aber im Zusammenhang der Dinge überwiegt die Abneigung des Lebens gegen den Zwang; selbst die vorzeitig aufgedrängte Wahrheit strebt das Leben wieder auszuscheiden. Beratende Lehre und zwingende Vorschrift, freiwilliger Irrtum und Abwehr des Zwangs, Eigensinn der Regierer, Unbestand der Menge und Not der Umstände haben einen überreichen Wechsel erzeugt und die zahllosen Erscheinungen, welche zu einiger oder zu größerer Geltung gelangt sind, lassen sich an keinem Leitfaden übersichtlich ordnen. Doch aus der Fülle der Erscheinungen ragen einige Punkte hervor und an diese knüpfe ich an, um dem prüfenden Blick die erste Richtung zu geben.

Es ist belehrend, an jenen hervorragenden und anderen, durch Zufall stärker hervortretenden, Punkten zu beobachten, wie die Lehren und Vorschriften sich aus den Verhältnissen entwickeln, sich in die Bewegungen des Lebens einfügen, diese beeinflussen oder von ihnen ausgeschieden werden. Die erste Aufzeichnung umfassender und tiefdurchdachter Forschungen beginnt gleichfalls mit PLATO und ARISTOTELES. Auf verschiedenen Wegen gelangen beide zu demselben Ziel und von demselben Beweggrund werden sie geleitet. Beide finden die beste Einrichtung des Staates in der aristokratischen Republik, in welcher Wenige als die Besten nach Gesetz und Recht herrschen. PLATO schafft sich den Staat und die Verfassung nach seinem Ideal. Nicht die Geburt, sondern die Vollkommenheit des Charakters bestimmt die Besten; die Herrschaft fällt den Weisen zu. Unter den Kindern werden die mit den besten Anlagen zum guten Herrschen herangebildet, und die sich zu Weisen gestaltet, zum Herrschen berufen. Die Übrigen werden zum guten Gehorchen erzogen. Strenge Zucht schafft und erhält den eigentümlichen Willen, ohne welchen diese Republik nicht bestehen kann; gemeinsame Arbeit stellt die Gleichheit aller Beherrschten her. Der Plan erscheint dem Denker selbst nicht durchführbar, denn nach der ihn leitenden Idee müßten mit den Hilfsmitteln des bereits vollendeten Staates die Geschlechter herangezogen sein, unter denen allein der Versuch gelänge. Aber der Ernst des Gedankenbildes liegt darin, daß jeder einzelne Mensch mit seinem Beruf, Familienband und Eigentum, daß die Gesellschaft mit ihren natürlich entwickelten und freiwillig geschaffenen Einrichtungen der Gesamtheit zu Gebote stehen, damit der höchste Staatszweck erreicht wird. ARISTOTELES weist den willkürlichen Aufbau eines bloß gedachten Staates zurück, faßt auch nicht den Staat in dem engen Rahmen einer Anstalt für Weisheit, Zucht und Tugend auf, aber auch sein Ausgangspunkt ist die Allmacht des Staatszwecks. Mit diesem Ziel vor Augen prüft er die bestehenden Verfassungen und findet an ihnen, daß die vernünftige, nach Gesetzen geleitete Herrschaft einer maßvollen Aristokratie am besten den Staatszweck erfüllt. Unter Aristokratie versteht ARISTOTELES freilich keine geschlossene Zunft geprüfter Weiser, sondern den kleineren Kreis, welchen die Gunst der Verhältnisse und eigener Trieb zur Herrschaft befähigen.
LITERATUR: Eduard Lasker, Über Welt- und Staatsweisheit, Berlin 1873
    Anmerkungen
    1) Ich nehme selbst Fichte nicht aus, der auch als Philosoph meine Jugend erfreut, den alten Goethe aber zu treffendem Spott veranlaßt hat (Faust, 2. Teil, Akt 2: Zwiegespräch zwischen Mephisto und Bacealaurens). Mein Urteil richtet sich nur gegen die fruchtlose Bildung der Systeme, während ich die anderweitige Wirksamkeit jener Männer unbesprochen lasse. Die großen Verdienste Fichtes als Redner und Patriot beweisen, daß nicht die Unzulänglichkeit der Anlagen, sondern die entartete Richtung der System die Ergebnisse des Philosophierens so nichtig gemacht hat.