![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | |||
Über Welt- und Staatsweisheit [2/2]
Grundverschieden sind auch hier die Anschauungsweisen der beiden Philosophen, dennoch gelangen sie über Ziel und Mittel zu einer seltenen Übereinstimmung, und den Grund darf man in den Umständen ihres gemeinsamen Vaterlandes suchen. Die in Kleinstaaten zersplitterte Kraft der Nation erfüllte sie beide mit Sehnsucht nach einer allmächtigen Staatsgewalt. Diese Anschauung ist zum Ideal eines großen Kulturvolkes geworden und kommt unter gleichen Verhältnissen immer wieder zum Vorschein. In dem zerrissenen Italien ruft DANTE, der glühende Patriot und Bildner der italienischen Nationalsprache, die Fremdherrschaft des deutschen Kaisers an, weil dieses Haupt allein die Einheit der Nation und die Idee des italienischen Staates vertritt. In demselben Einheitsdrang schreibt MACCHIAVELLI eine Reihe von Anweisungen für einen kräftigen Fürsten, welcher nur danach trachtet, sein Gebiet immer weiter auszudehnen, die Herrschaft zu befestigen und das Volk nach Willkür zu leiten. Denn von der Kräftigung der Staatsgewalt erwartet MACCHIAVELLI das Heil seines Landes und er will einen Fürsten erziehen, welcher sein Verhalten diesem Ziel gemäß einrichtet und jede andere Rücksicht beiseite schiebt. Die kleine Schrift hat einen so seltenen Erfolg erreicht, daß die Tatsache erwähnt und erörtert zu werden verdient. Obgleich auf Ort und Zeit berechnet, hat sie ihre Wirkung doch auf fremde Staaten und nachfolgende Zeiten ausgeübt. Ich will nicht behaupten, daß sie jemals einen Herrscher oder Staatsmann bestimmt, wozu ihn nicht ohnehin Neigung oder Anlage veranlaßt hätte; aber für und wider den Grundsatz, welcher die ganze Arbeit durchwebt, haben Freunde und Gegner mit gleich erregtem Eifer gestritten und der Ruhm des Namens wuchs in dem lebhaften und andauernden Streit. Ein Teil des Erfolges beruth gewiß auf den äußeren Vorzügen des Werkes und auf der Gunst gewaltsamer Herrschernaturen, welche ihre heftigen Triebe in einschmeichelnder Sprache als Tugenden angepriesen fanden. Aber die nachhaltige Wirkung leite ich von dem Umstand ab, daß ein im Volk dunkel lebendes Gefühl einen kühnen Ausdruck gefunden hat. Für die zerrütteten Staatsverhältnisse, wie sie das Lehnswesen über die Kulturländer Europas gebracht hatte, paßte der Aufruf zur Willkürherrschaft eines rücksichtslosen Fürsten. So oft die Staatsgewalt sich lockert, lassen die Völker sich den Cäsar gern gefallen. Dagegen, sobald die Staatsgewalt genügend gefestigt ist, fühlt das Volk die Unzulänglichkeit dieses einen Segens; die Sicherheit und das Wohl des Einzelnen treten mit selbständigeren Ansprüchen hervor und werden das unmittelbare Ziel des bewußten Ringens. England war am frühesten mit seiner Staatsgewalt fertig und trat zuerst in den Kampf um gesicherte Rechte und gute Volkswirtschaft ein. Die Frucht dieses Kampfes war eine umsichtig begrenzte Staatsherrschaft, welche doch mit den Privatvermögen der Lehnsdienste nichts gemein hatte, welche die Rechte des Bürgers gegen den willkürlichen Eingriff sicherstellte, aber den Staatszweck nicht verkümmerte und die Macht des Staates keinem auftauchenden Bedürfnis gegenüber lähmte. In mißverstandener Auffassung dieses englischen Staatswesens entwirft MONTESQUIEU eine beste Verfassung für den modernen Staat. Neben die früheren Formen stellt er die durch eine geschriebene Verfassung geregelte (konstitutionelle) Monarchie, die nach Gebieten der Staatstätigkeit abgegrenzte Teilung zwischen dem Fürsten und den Vertretern des Volkes. Die Zeitverhältnisse der Entstehung erklären den inneren Ursprung des Unternehmens und den Grund der weit verbreiteten Wirkung. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war Frankreich, das Vaterland MONTESQUIEUs, bereits im unangefochtenen Besitz der Einheit und der modernen Staatsmacht. Das Streben nach diesen Gütern hatte verbriefte Rechte zerstört und den Absolutismus gefördert. Jetzt war der Sinn des französischen Volkes, wie vor Jahrhunderten in England, auf Sicherheit des Rechtszustandes und maßvolle Ausübung der Staatsgewalt gerichtet. Unzufriedenheit lebte in den Gemütern und es zeigten sich bereits die Vorzeichen jenes äußersten Gegensatzes, welcher später in den unklaren Vorstellungen eines "Gesellschaftsvertrages" sich nebelhaft ansammelten und in einem völligen Umsturz jeder gesetzlichen Ordnung wie ein Gewitter ausbrachen. MONTESQUIEU war entfernt von der Verleugnung des Staatszwecks, welche doch den Hintergrund des "Gesellschaftsvertrages" bildet. Er wollte die gemäßigte Freiheit im wohlgeordneten Staat, er sah das Beispiel in England und glaubte den Inbegriff vorhandener und bewährter Zustände in wissenschaftliche Regeln zu bringen. Der Irrtum des Verfassers verbreitete sich. Bei jeder Freiheitsbewegung, welche sich maßvolle Grenzen zog, berief man sich auf das Muster Englands, wie es MONTESQUIEU gemeinverständlich machte. Gelehrte hielten das Buch für eine aufgezeichnete Staatsweisheit. Verfassungen wurden nach dem vorgeschriebenen Muster entworfen und eingeführt. Der Versuch der Ausführung ordnete nicht, sondern verwirrte die Verhältnisse; aber das wohlgefügte System und das Mißverständnis des englischen Musters hat selbst praktische Staatsmänner so eingenommen, daß uns heute noch die Mühe zufällt, das erlernte Falsche aus den Köpfen, die verfehlten Proben aus den Einrichtungen zu entfernen. In flüchtigen Zügen habe ich einige Zustände berührt und Namen erwähnt, welche auf die Gestaltung und Kenntnis der drei bis heute vorwiegenden Staatsformen: Republik, absolute und konstitutionelle Monarchie von Einfluß gewesen sind. Zahllos sind die Schriften und Ideen, welche Gelehrte und Staatsmänner aus Erlebnissen oder fremden Lehren, eingehenden Forschungen oder lebhaft angeregter Phantasie über die Gesamtheit oder einzelne Zweige der Staatsweisheit niedergeschrieben haben. Manches habe ich durchstudiert, anderes aus zweiter Hand überliefert erhalten. Das Bemühen war nicht ganz ohne Lohn. Denn dies ist der Segen redlicher Gedankenarbeit, daß sie nebenher Gutes einstreut, wenn sie auch ihren Hauptzweck verfehlt, und nicht selten ist die Anschauung der Arbeit und des Mannes, welcher sie vollbracht hat, ein reichlicher Gewinn. Wir empfangen anregende Ideen, nützliche Beispiele aus der Geschichte, belehrende Mitteilungen über fremde Völker und Länder. Hier ergreift der heilige Eifer und das selbstlose Streben, dort überrascht der richtige Blick und das sicher treffende Urteil. Aber in den leitenden Plänen herrscht ein Zusammenfluß von Irrtum, Willkür und Einseitigkeit. Falsche Beschreibungen dringen fortwährend aus gelehrten Büchern in die Stätten öffentlicher Beratung, wo die Unkenntnis heimischer Zustände und das mangelnde Geschick selbständiger Hervorbringung fremde Muster für Gesetz und Verwaltung anpreist. Seit MONTESQUIEU bietet namentlich der kunstvoll verschlungene Bau der englischen Verfassung den Tummelplatz für die mißverstandenen Erfahrungen erprobter Staatsweisheit. Das Studium fremder Verfassungen und Gesetze ohne Kenntnis der ergänzenden Anschauungen, Sitten und Einrichtungen verführt zu unpassenden Mustern und mißlungener Nachahmung. Mit den Beschreibungen wetteifern die Systeme, denen ursprüngliche Gedanken oder Erfahrungen zugrunde liegen. Vom Herkömmlichen, den alten Lehren in den neuen Redewendungen schweige ich; meine kurze Andeutung gilt nur den Versuchen des Fortschritts, welche durch einiges Verdienst sich Eingang verschaffen, nicht ohne Nachwirkung vielleicht auch nicht ohne Nutzen vorübergehen, auf die Dauer aber durch ihre Einseitigkeit als untauglich sich erweisen. Eine Idee, welche neuerdings eine weitere Geltung erlangt hat, wird zum Staatsgedanken erhoben; eine Erscheinung, die neuerdings durch nützliche Untersuchungen entdeckt oder in ihren Einzelheiten besser erkannt worden ist, wird aus der Erfahrungslehre erborgt und zum Leitfaden der Regierungskunst gemacht. Als die Landwirtschaft zu höherer Blüte sich entfaltete und der freißige Ackerbau zu Ehren kam, folgte die Lehre der Staatsweisheit: Unerschöpflich produktiv sei allein die Pflege des Bodens, jedes andere Gewerbe diene dieser höchsten Arbeit gegen angemessenen Lohn; auf den Grundbesitz müsse der Staat sich stützen, die Grundbesitzer seien der feste Unterbau der Gesellschaft; aus den Erträgen des Bodens müsse der Staatshaushalt seine Mittel holen, auf die Erhöhung des Bodenertrags müsse die Regierung ihre Mühen verwenden; die übrigen Interessen der Wirtschaft und Kultur würden sich von selbst danach regeln. Als der weit überlegene Reichtum des Gewerbefleißes, die Wertvermehrung durch Transport und Handel in ihrem vollen Umfang erkannt wurden, sprach die Lehre der Staatsweisheit: Nichts als Freihandel. Viele Perioden standen unter der Herrschaft des leitenden Gedankens, daß die Wachsamkeit des Staates (Polizei) verantwortlich sei für alle Beziehungen der Bürger, welche mit dem öffentlichen Leben zusammenstoßen; aus dieser Auffassung leitete der Polizeistaat seine ungemessenen Rechte und Pflichten her. Nachdem die vervielfältigten Interessen die Unzulänglichkeit der Staatsgewalt für jene Aufgaben bloßgelegt hatten, entstand ein System der Staatsweisheit, welches lautete: Nur unbeschränkte Freiheit fördert; unterdrückt den Zwang und läßt geschehen. Nachdem aufmerksame Reisende die Beschaffenheit des Erdboden und der Länder untersucht, die Gewohnheiten der Menschen geprüft und Wechselwirkungen zwischen der Beschaffenheit des Bodens und den Sitten wahrgenommen haben, entwickelt sich die Lehre, daß Gesetz, Religion und Sitte der äußeren Lage folgen, und demnach gestalten sich verschiedene Staatslehren für Gebirgsländer, Täler, Ebenen, für die verschiedenen Zonen. Neulich hat die Chemie die nährende Kraft der Speisen, die Physiologie deren Einfluß auf das Gemüt erforscht. Sofort erläutert ein hochstudierter Lehrer der Staatsweisheit aus dem Wachstum und den Bestandteilen von Reis die Verfassung der Inder, aus der chemischen Zusammensetzung von Fleisch die Verfassungen nordischer Staaten. Schroffe Einseitigkeiten, welche im gewöhnlichen Leben als fixe Ideen gemieden werden, erheben sich zuweilen zu ernsten Staatslehren. Ich erinnere mich eines unbekannten Korrespondenten, der mir jahrelang umfangreiche Briefe zusendete, mit verständigem Inhalt, nebenher aber in dem immer wiederkehrenden Grundton: Der Katholizismus sei der Erbfeind, von ihm rühre alles Übel und Wehe her. Trotz der verständigen Beitaten schien mir der Schreiber im bürgerlichen Sinn krank an einer fixen Idee. Aber nicht wenig überrascht war ich, den verwandten Gedankengang mit gleich starkem Nachdruck in einem staatsgelehrten Buch behandelt zu finden, welches in Europa großes Aufsehen erregt hat. Ungefähr in demselben Verhältnis, in welchem die Systeme aus herrschenden oder geläufigen Anschauungen entnommen sind, dringen sie in das Leben wieder ein und behaupten sich dort. Die bloß erdachten verschwinden spurlos, die besseren, nachdem sie für einige Zeit den Büchermarkt und das feinere Gespräch belebt haben. Aber die aus herrschenden Gedankenkreisen, den Urteilen oder Instinkten des Volkes entsprungen sind, wirken oft auf das öffentliche Leben mächtig zurück; je nach der ihnen innewohnenden Wahrheit, nachhaltig oder vorübergehend, wohltätig erläuternd oder verwirrend. Viele Wechselwirkungen zwischen der Herrschaft von Lehren und der Gestaltung von Staatszuständen habe ich geprüft und am Verlauf der Entwicklung habe ich in weit getrennten Zeiträumen und unter verschiedenartigen Erscheinungen dieselbe Regel zum Ausdruck kommen sehen. An großen Epochen ist die aufregende Macht des Gedankens zu erkennen. Ganze Völker, Herrschende und die regierte Menge sind durch Wort und Lehre zur entschlossenen Tat hingerissen worden. Aber nachdem die Tatkraft den kritischen Höhepunkt überschritten hatte, sonderten sich die Begebenheiten nach den Quellen, aus denen sie geflossen waren. Was im Verständnis der Vielen bis zur Klarheit der Handlung gediehen war, behauptete sich mit nachdauernder Wirkung; was dagegen in klugen Schlüssen bevorzugter Köpfe seinen Ursprung oder eine weitere Ausbildung empfangen hatte, verschwand oder führte zu Irrtümern, welche in schwerer Arbeit wieder entwirrt werden mußten. Drei Revolutionen in drei Jahrhunderten unter drei Völkern bestätigen diese Regel. Die Revolution der Independenten befestigte in England die Herrschaft der Gemeinen und das Recht des Widerstandes gegen königliche Willkür. Von HEINRICH VIII. bis zu CHARLES hatte sich die Alleinherrschaft, erst unter dem Beifall, dann unter dem wachsenden Widerspruch des Volkes ausgebildet. Seit des Protektors Zeiten hat sie nie wieder eine anerkannte Macht erlangt, sondern von ab galt der König, welcher sich absolutistische Rechte anmaßt, als Verschwörer, bis die zweite Revolution auch die Kraft der Auflehnung für immer gebrochen hat. Das aus sich selbst schöpfende Recht der Legitimität kehrte mit der legitimen Dynastie nicht zurück, sondern die Quelle der Herrschaft blieb immer die gewollte Staatsordnung. Aber das Haus der Lords erstand sofort, nachdem der Druck des Protektors entfernt war, in seiner früheren Bedeutung; die Aristokratie setzte sich unbestritten in ihre unverminderten Rechte ein und ist seit Jahrhunderten ungestört in dem Besitz, welchen die Revolution der Independenten ihr nur vorübergehend entrissen hatte. Die gegen beide gerichtete Lehre vom göttlichen Recht konnte sich nur gegen die überwundene Legitimität behaupten, nicht gegen die Aristokratie, welche dem gemeinen Verstand noch nicht anstößig gewesen war. Die französische Revolution fegte mit einem Hauch die feudale Belastung des Bodens weg, beseitigte für immer die Rechtsungleichheit der Stände, die persönlichen und erblichen Vorrechte der bevorzugten Klassen, die Erbparlamente und das käufliche Patent ihrer Mitglieder und stieß unwiderruflich das erbliche Königtum von Thron. Aber die phantastischen Versuche einer plötzlichen Umbildung des Menschengeschlechts führten zu flüchtigen Erscheinungen, welche den Tag mit vielem Ernst ausfüllten, mit schicksalsreihen Handlungen gepaart waren, bald aber aus den Gemütern verschwanden. Manche dieser ernst betriebenen Dinge bilden sich in unserer Vorstellung wie Fastnachsspiele ab. Bis auf die Kleidung erstreckte sich der Mummenschanz. Selbst von manchen berechtigten Unternehmungen solcher Aufgaben, denen die Entwicklung des Menschengeschlechts zustrebt, hatte die Nachwelt keinen Gewinn, weil die Revolution der kommenden Erkenntnis voraneilte, sich selbst mit unklaren Begriffen belastete und unbrauchbare Lösungen hinterließ. Nicht ohne empfindlichen Verlust für den ganzen Verband der Völker, welche in gleicher Bildungsarbeit sich befinden, muß das Gewebe jener Zeit vielfach aufgelöst und mancher falsche Faden mühsam entfernt werden. Den größten Schaden trägt das unmittelbar betroffene Frankreich, welches bis auf den heutigen Tag an den unheilvollen Folgen unklarer oder nicht aus dem Leben geschöpfter Lehren leidet und doch die Revolution nicht verleugnen kann, weil sie so viele gereifte Wünsche erfüllt, vorbereitete Aufgaben zur Reife gebracht und gelöst hat. Die wunderliche Art der heutigen Franzosen rührt zu einem nicht geringen Teil von der Unsicherheit her, welche die Revolution geschaffen hat, indem sie lebensvolle und erkannte Wahrheiten mit erdachten und unklaren Regeln vermischt hat. Was ich aus fremden Ländern und früheren Jahrhunderten nur in den größten Umrissen erfassen kann, nehme ich bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich an den miterlebten Begebenheiten der eigenen Heimat wahr. Ich habe die Erschütterlung von 1848 in voller Empfänglichkeit des aufstrebenden Jünglings erlebt und mit der bewegten Menge habe ich unter ihrem Gesamteindruck gestanden. Seit zwanzig Jahren verstehe ich zu unterscheiden, was jene Umwälzung begonnen und was sie vollendet, was sie von Dauer geschaffen, nützlich angeregt oder nur vorübergehend aufgeregt hat. Seit damals beobachte ich, wie die Besten der Nation bemüht sind nachzuholen, zu erhalten oder auszuscheiden. Dieselbe Bewegung hat einige Gebiete des öffentlichen Lebens ganz umgewandelt, andere ganz unberührt gelassen, andere in Unruhe und Ungewißheit versetzt. Mit einem Schlag und unwiderruflich vollendete sich die Befreiung des Bodens, die Selbständigkeit der Richter, das öffentliche Verfahren, die Wahlvertretung des Landes mit der vorbehaltenen Zustimmung zu Gesetzen, Steuern und anderen Staatslasten. Die Privatgerichte der Gutsherren wurden mit einem festen Strich außer Wirksamkeit gesetzt und aufgehoben, viele andere Exemtionen [Freistellung von der "normalen" Gerichtsbarkeit - wp] wurden beseitigt und die reaktionärste Strömung der folgenden Jahre konnte sie nicht wieder ins Leben rufen, so sehr die einflußreichsten Kreise sich darum bemühten. Die Gleichheit der persönlichen Rechte wurden im Großen und Ganzen aufrecht erhalten, obgleich in Einzelfällen dieser Grundsatz oft vernachlässigt wurde und noch jetzt angefochten wird. Die Vereinsbildung und ein gewisses Maß der Pressefreiheit behaupteten sich gegen heftige Anfechtung; so weit hatte die literarische Bewegung der vorangegangenen Jahrzehnte den Sinn für das freie Wort gezeitigt. Dagegen wurden ohne großen Kraftaufwand Gewährungen zurückgenommen, bündige Versprechen blieben unerfüllt und großartige Vorschriften ohne jede Anwendung. Als eine schönste Zierde der preußischen Verfassung galt der Satz: die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Bestimmt genug ist die Vorschrift, sie gestattet keine Ausnahmen und es ist keine Bedingung ihr hinzugefügt im Stil der Zusätze, welche andere Vorschriften unausführbar machen; dennoch hat die Revolution das Verhältnis der Obrigkeit zur Wissenschaft und zu ihren Lehren nicht um eine Haaresbreite verändert. In abgerundeten Sätzen hat das Jahr 1848 die Ansprüche des Systems anerkannt, daß der Staat mit der Kirche abfinden soll, die Leitung und Aufsicht der Religionslehre zwischen beiden geteilt wird. Die großen Grundsätze, welche das System gegeben hatte, wurden als Grundrechte niedergeschrieben, die Ausführung wurde versprochen, zum Teil sogar begonnen, der gute Wille zur gänzlichen Erfüllung war bei der Regierung, der lebhafte Wunsch bei den Religionsgesellschaften vorhanden. Aber fast nach einem Menschenalter erwägen wir noch, wie Staat und Kirche sich auseinandersetzen sollen, und in den jüngsten Tagen haben wir erfahren, daß nicht eine bewußte Reaktion uns zurückgehalten, sondern daß das System im Jahr 1848 uns auf Irrwege verlockt hat, daß der abgerundete Satz die vielseitigen Beziehungen zwischen Staat, Kirche und Schule nicht erfaßt. An den fremden und heimischen Vorgängen habe ich die Regel bestätigt gefunden, daß ihre Wirkungen danach bemessen sind, ob die anscheinend erfüllte Forderung aus dem Leben entsprungen oder in gelehrter Ausbildung ersonnen, ob sie vorher schon bis zur Krisis vorbereitet, oder ob sie noch in den Anfängen des ersten Strebens begriffen war. Wie am beseelten Leib die Lebenskraft schwer ringt, um den eingedrungenen fremden Körper, welcher die Gesundheit stört, aus dem Organismus auszuscheiden, so im lebensvollen Staat die Kraft der Nation, um das Fremdartige und Unerträgliche aus den Einrichtungen zu entfernen. Selbst an den vorbereiteten Fortschritten läßt die geschichtliche Entwicklung keinen Sprung gelten. Je länger in ruhiger Zeit der Weg bis zur Erfüllung noch gewesen wäre, umso wirksamer wird das Erreichte angefochten; es wird erhalten, sofern die fehlende Arbeit mit schwerem Ringen sich ersetzen läßt, oder es wird entrissen und muß aufs Neue erobert werden. Heillose Verwirrung haben die Einbrüche unfertiger Gedanken angestiftet. In einem biegsamen Geist gleichen sich die Gegensätze leicht aus, Widersprüche bleiben unentdeckt oder werden verträglich gemacht; aber will die Idee in die Zustände gestaltend eingreifen, so muß sie vorher von jedem Widerspruch sich gereinigt haben. Bricht die Bewegung hervor, ehe der gährende Stoff bis zum durchsichtigen Gedanken sich geklärt hat, ungeklärt hervor, so gerät sie bald mit der wirklichen Außenwelt in einen Zusammenstoß, und je nach den Kräften, welche sie sich dienstbar macht, zerstört sie, was erhaltenswert ist oder sie entstellt sich selbst in wunderlichen Erscheinungen. Was in der Schule wie Weisheit klingt, erweist sich an den Tatsachen als Torheit, und ist erst die Zuversicht geschwunden und der leitende Grundsatz, weil er sich als untauglich erwiesen hat, aus den Händen gelassen, so drängt sich die Verwirrung in alle Schichten ein, welche von der Bewegung ergriffen werden. Kenntnis der einfachsten Dinge fehlt in der unmittelbaren Behandlung des Lebens und die gute Absicht arbeitet gegen sich selbst, weil die Voraussetzung verkannt wird und die mißverständliche Folgerung zum entgegengesetzten Ziel führt. Ein hochbegabtes Nachbarvolk leidet schwer an diesen Irrungen; kaum verstehen die Besten noch Wirkliches von Eingebildetem zu unterscheiden, und wie im Fieber wechselt der Zustand des öffentlichen Lebens zwischen Auflehnung und willenslosem Gehorsam. Ein anderer Nachbarstaat verbringt müßige Jahre mit abwechselnden und unaufhaltbaren Versuchen entgegengesetzter Staatsmaximen. Wenn unsere deutsche Heimat, trotz der wiederholten Erschütterungen, das entgegengesetzte Schicksal erfährt, so verdanken wir es zumeist dem kräftigen Aufschwung des nationalen Geistes. Mit Unlust sehen wir auf fruchtvolle Jahre zurück, da wir auf dem Gebiet innerer Gestaltung planlos herumirrten und Mühen verschwendeten. Am gereiften Gedanken des Nationalstaates haben wir uns aufgerichtet; die in der Erkenntnis des Volkes erhärtete Idee übt ihre unwiderstehliche Gewalt aus. Umsonst haben Staatskünstler und Gelehrte sich bemüht, die Wohltaten der Zersplitterung an kleinen Vorteilen der Vielstaaterei nachzuweisen; vergeblich haben die Interessen sich aufgelehnt und zu bestehen versucht. Im Volk selbst hatte die nationale Idee den Boden bereitet, jedes Körnchen wurde zum Samen und gedieh. Es gereichte uns zum Segen, daß die beiden großen Kriege die Idee der Nationaleinhei völlig gereift und geklärt antrafen. Der Krieg rüttelt immer die Völker auf. Ist der aufgeregten Kraft kein angemessenes Ziel angewiesen, so artet sie in Nichtigkeiten aus, legt meist zerstörende Keime und im günstigsten Verlauf erschöpft sie sich ohne Ergebnis. Uns aber hat das bewußte Streben nach dem Nationalstaat den richtigen Weg gewiesen und die Kraft wurde verwertet durch die Ausführung der vorbereiteten Tat. Am großen Beispiel eines zielbewußten Strebens und seiner fruchtbaren Verwirklichung treten wir in einen neuen Abschnitt staatlicher Entwicklung ein. In Wahrheit, wir stehen an einem bedeutenden Wendepunkt und die ersten Erscheinungen erinnern lebhaft an das, was auf dem Gebiet der Naturwissenschaft sich heute vollendet. Auch über den Staat hatte der Gedanken sich in fruchtlose Formeln hineingespielt, und die berufen waren, die wechselseitigen Beziehungen des Lebens zu befriedigen, ergaben sich unverwendbaren Theorien. Jeder Politiker kam mit einem fertigen Plan; ein Verzeichnis mußte die geläufigen Tagesfragen zusammenstellen und ein Bekenntnis sie erledigen. Es galt für verdächtig, ohne ein erschöpfendes Programm in das öffentliche Leben einzutreten. Jetzt wollen bei weitem die Meisten von einer theoretischen Betrachtung der Dinge nichts wissen. Eine Anzahl altgebildeter Gelehrter hält an der Unübertrefflichkeit der Systeme fest und sieht auf die systemlosen Geschäftsmänner mit vornehmer Geringschätzung herab; eine andere Zahl altgebildeter Politiker verehrt mit religionsartigem Eifer die schroffen Grundsätze und weist mit Verachtung die ausgleichenden Natur zurück. Doch mit gleicher Verachtung der Grundsätze wird ihnen erwidert, und die altmodische Theorie wird, wie früher die altmodische Philosophie, mit Spott überhäuft. Die allgemeinen Sätze sind in Verruf. Wer an eine gewisse Schlüssigkeit der Gedanken erinnert, ist ein Doktrinär, wer an eine Gleichmäßigkeit des Handelns, ist ein Prinzipienreiter. Keine Vergangenheit und keine Zukunft; handeln wir, ruft der heutige Politiker, wie der Tag es erfordert. Wer sich in schwierigen Umständen zurechtfindet, wird ein anerkannter Führer; wie nach der beseitigten Verlegenheit die Zukunft sich gestalten wird, bleibt außer Frage. Gegenüber der einmal bewährten Kraft verhallt die Kritik, weil der Mangel an Einheit, der Wechsel selbst als Zeugnis der Tüchtigkeit gilt. Ist die Wendung zuträglich und ohne Gefahren? Solange die Nation nur von einem Gedanken getragen wird, schadet keine Einseitigkeit und keine Methode des politischen Handelns. Auf allen Wegen ströt die gesamte Kraft dem einen Gedanken zu und hilft ihn verwirklichen. So in den letzten Jahren der Aufbau des deutschen Nationalstaates. Sobald aber die Aufgaben sich wieder vervielfältigen und die Naturgewalt nicht mehr ausreicht, die versprengten Tätigkeiten nach dem einen Ziel zu lenken, kommt der Wert der Methode wieder in Anschlag. Daher ist jetzt die Frage an der Zeit, ob die Wendung zuträglich und ohne Gefahren ist. Die unmittelbare Gegenwart leidet unter den Nachteilen des Übergangs. Nicht ohne Schaden entbehrt man einen lange benutzten Maßstab, bis ein bewährter Ersatz gefunden ist. Während den nützlichen Gelegenheitsmaßregeln gehuldigt wird, gerät die Ethik selbst ins Schwanken. Wenn bisher Überzeugungstreue die Probe des tüchtigen Mannes war, so fällt dieses wichtige Erkennungszeichen jetzt weg. Auch die guten Gesinnungen stehen unter der Herrschaft der wandelbaren Nützlichkeit. Der umfassende Geist wendet sich mit einigem Zwang von der Betrachtung des Allgemeinen ab; leicht drängt sich die bewegliche Menge hinzu. Der Eigennutz sieht die Scheidewand niedergerissen, welche ihn von der Gemeinschaft mit den Uneingennützigen ausgeschlossen hat. Der kleine Sinn bläht sich auf, als ob er sich, nach dem Gebot der Zeit, in freiwilliger Einschränkung auf den kleineren Gesichtskreis zurückziehen würde. Die Vornehmheit des Geistes wird verdrängt und an ihren Platz rückt die virtuose Geschicklichkeit, welche des Tages Bedürfnis mit einem knappen Tagesvorrat versorgt. Gewiß sind solche Erscheinungen nicht frei von Besorgnis. Dennoch leben wir in keinem Zustand des Verfalls, sondern der Schritt ist nach vorwärts geneigt. Sehen wir uns nur um, woher wir kommen. Der Nutzen älterer Forschungen war verbraucht, die Schulweisheit hatte keinen Keim der Frucht mehr. Im heutigen Drang liegt doch der Antrieb zu neuen Schöpfungen. Darum ist Eifer an die Stelle der selbstgenügsamen Abgeschlossenheit getreten, die bloß tadelnde Unzufriedenheit wird ersetzt durch arbeitsames Handanlegen, das Niederreißen des Veralteten genügt nicht mehr, sondern wird ergänzt durch den Trieb zur Neubildung. So fruchtbar verändert sind die Motive des Handeln. Den Mangel großer durchdachter Pläne und die Nachteile dieses Mangels müssen wir tragen, denn wir gewinnen nichts, sondern fügen nur Schaden hinzu, wenn wir den neuen Geist verleugnen. Die Rückkehr zu den großen Grundsätzen und zu fruchtbaren Systemen ist unmöglich, ehe wir nicht neuen Stoff angesammelt haben; die Ordnung wartet auf eine neue Zufuhr. Freilich in der jetzigen Weise dürfen wir nicht genügsam verharren. Auf dem Scheideweg der beiden Richtungen kann die rechte Grenze allein durch eine genaue Kenntnis gefunden werden und das Wissen fehlt. An der Entwicklung der Naturwissenschaften haben wir gelernt, daß die verbrauchten Systeme abgelöst werden müssen durch die beschwerliche Arbeit der Einzelerkenntnis. Indem ich den Vergleich ziehe, entgeht mir nicht der Unterschied in den Hilfsmitteln. Die Erscheinungen und Kräfte der Natur werden durch Beobachtung und Versuche erforscht. In den Aufgaben des Staates ist das Gebiet der Versuche sehr eingeschränkt. Öffentliche Einrichtungen dürfen nicht auf Probe eingeführt, Gesetze nicht erlassen werden, ehe der Gesetzgeber das Bild ihrer Wirkung mit plastischer Deutlichkeit vor sich sieht. Im Bewußtsein, daß unsere Kenntnis unzulänglich, der willkürliche Versuch ungestattet ist, haben wir durch eine entfesselte Freiheit das Feld allgemeiner Konkurrenz eröffnet und die freie Tätigkeit der Einzelnen folgt dem Zug der Zeit in zahlreichen Experimenten, welche nicht unter der Leitung der Gesetze stehen und für welche die Regierer nicht verantwortlich sind. Die massenhafte Bildung von Vereinen und Genossenschaften, Umwandlungen in Aktiengesellschaften, die Häufung neuer Banken und der Andrang zu Börsenmärkten, die Arbeitseinstellungen, die Organisation der Arbeitnehmer in Gewerkvereinen und der Arbeitgeber in Verbänden, die Internationale, die Religionsbewegungen; - diese und ähnliche Vorgänge entspringen aus dem Drang, neue Grundlagen zu gewinnen. Aber auch unter der Verantwortlichkeit der Einzelnen rufen die Experimente ein vielfaches Mißbehagen hervor. Die meisten leitet der Eigennutz und die Empfindung kommt über uns, als ob in anderer Weise zwar, doch nicht ganz unähnlich, wie in den den Zeiten des Faustrechts, die Verkehrsverhältnisse in einen Krieg Aller gegen Alle ausarten und die beunruhigte Gesellschaft abermals zum Schutz durch freiwillige Verbände ihre Zuflucht nimmt. Wenn das Gleichgewicht erschüttert, die Bedingungen einer guten Wirtschaft gelockert werden, Mißbehagen um sich greift und alles dies die Folge der in Freiheit entfesselten Experimente ist, so fordert man von der Staatsgewalt den Ausgleich. Der kräftige Staat darf sich nicht lange Erscheinungen gefallen lassen, welche an die überwundenen Zustände der Staatenlosigkeit erinnern. Er hat die Freiheit geschaffen, damit die Gesellschaft zu einer fruchtbaren Entfaltung gelangt, aber nicht um einen zerstörenden oder hemmenden Kampf frei zu geben. Aber wie ist zu helfen? Zu den bloßen Verboten und dem einschränkenden Konzessionswesen lassen wir uns durch die Verlegenheiten des Übergangs nicht zurückdrängen, denn wir haben diese Mittel soeben als schädlich und unzulänglich aufgegeben. Nach einem der vielen Ratschläge eine gesetzgeberische Ordnung versuchen? Die verfehlten Experimente der Gesetze sind nicht weniger schädlich, als die freiwilligen, welche sich aus der Mitte des Verkehrs sich entwickeln; sie mögen manchen Mißbrauch verhüten, aber dafür bieten sie den großen Nachteil, daß sie entweder das allgemeine Bewußtsein kränken und das Ansehen des Staates schwächen, oder unter dem Namen der höchsten Gewalt irre leiten und verderbliche Folgen für die Zukunft vorbereiten. Die volle Kenntnis der Dinge muß dem Gesetz vorangehen und doch kann die Gesetzgebung nicht ruhen; je weniger klare Erkenntnis das Gegengewicht hält, umso mehr werden die Gesetzgeber vom Drang der öffentlichen Meinung zu undurchdachten Schritten fortgerissen. In der Verlegenheit dieser Gegensätze befinden wir uns jetzt. Zahlreicher als je zuvor treten die Forderungen an uns heran und wir fühlen uns nicht vorbereitet genug zum nützlichen Eingreifen. Was die bisher geklärten Ideen über den Staat sicher zu stellen vermochten, ist bereits verwertet, die Theorien und Grundsätze führen nicht weiter und werden mißachtet, neue Quellen der Erkenntnis sind noch nicht aufgefunden oder doch nicht ergiebig gemacht. Nach solchen aber müssen wir suchen und die gewissenhafte Beobachtung muß diesen Dienst leisten. Es ist nicht genug, daß das Recht der freien Äußerung eine Fülle von Ansichten und Ratschlägen hervorlockt. Die gehäuften Wahlrechte, die freiwilligen Versammlungen, gewählten Korporationen und ihr bereiter Wille zu Beratungen, Beschlüssen und Gutachten helfen der Not nicht ab. Der ungeordnete Gedankenstoff ermüdet. Uns fehlt weder die Kraft der Kombination noch die Kunst der Schlußfolgerungen, sondern die Kenntnis der bewegenden Ursachen; sogar die Kenntnis der Zustände, für welche die Regel gegeben werden soll, reicht nicht aus. In das Studium der Einzelheiten müssen wir uns vertiefen. Was den offenkundigen Bewegungen des Lebens gewissermaßen mit unbewaffnetem Auge abzuschauen war, haben unsere Vorgänger begriffen, behandelt und verwertet. Die Weisheit der Grundrechte hat sich erschöpft; alte Forderungen werden nur noch mechanisch nachgesprochen, während der wahre Sinn ihnen nicht mehr beiwohnt, weil das Geforderte entweder, wie die Gleichheit der Stände, schon erreicht oder, wie die Freiheit der Religionen, noch nicht genügend vorbereitet ist. Die Volkswirtschaftslehre bewegt sich nach einem früher gegebenen Anstoß, aber sie arbeitet am alten Vorrat. Solche Erscheinungen kennzeichnen die Überlebtheit bisheriger Verhältnisse. Der Anfang des neuen Zustandes zeigt sich darin, daß das massenhafte Ansammeln vereinzelter Tatsachen zu hoher Schätzung gelangt ist. Aus der spielenden Neugierde ist ein sehr ernstes und sehr mühevolles Geschäft geworden, aber in der Mitte der Dinge stehen wir lange noch nicht. Das zu großer Wirksamkeit bestimmte Hauptinstrument, die Statistik ist noch zu roh, wenig ergiebig und noch weniger zuverlässig. Über die offenbarsten Tagesereignisse fehlt uns eine sichere Auskunft. Selbst wo amtliche Aufzeichnungen uns die Grundlage bieten und fortgesetzte Zählungen Gewißheit verschaffen, müssen wir uns mit einem Ungefähr begnügen. Über den offenkundigen Besitz haben wir keinen Ausweis, von der Bewegung der Arbeitskräfte keine rechte Vorstellung, von der Bewegung des Kapitals geringe und wenig verwertbare Kenntnis, die Besteuerung des Einkommens hat keine Unterlage in erkennbaren Tatsachen. Verhältnisse, welche eine spätere Zeit mit Recht für die ersten Elemente eines gedeihlichen Beisammenlebens halten wird, sind völlig unbekann, werden vielleicht nicht einmal in erster Linie für wissenswert gehalten. Und wie weit entfernt sind wir noch vom Verständnis der Gesetze, welche den gewöhnlichsten Ereignissen des täglichen Lebens zugrunde liegen. Selbst wo wir mit der größten Gewißheit ein streng gesetzmäßiges Zahlenverhältnis, eine unmittelbare wirkende Verbindung der Tatsachen als vorhanden annehmen, ist uns das Wie ein ungelöstes Rätsel. Für die meisten Beziehungen fehlt das Geschick, auch nur die Fragen richtig aufzuwerfen, und vielfach fehlt jene innere Wahrheitsliebe, welche die Tatsachen belauscht ohne die vorgesetzte Absicht eines bestimmten Beweises. Ich spreche nicht von bewußten Fälschungen, welche unter dem Deckmantel der Wissenschaft selten vorkommen, sondern von jener Vorliebe, welche sogar in der reinen Naturbeobachtung, beispielsweise in der Mikroskopie, dem voreingenommenen Forscher Sinnestäuschungen bereitet. Es sei mir gestattet, einige meiner Worte über die selbstlose Hingabe des Forschers zu wiederholen. Jeder vorgenommene Erfolg, ja schon die Lust nach einem vorgedachten Ausgang beeinträchtigt den Wert der Untersuchung und die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses. An dieser Klippe ist schon in denjenigen Zweigen der Naturwissenschaft, welche dem gewöhnlichen Eigennutz ganz entrückt sind, die Reinheit manches Unternehmens gescheitert. Viel größer ist die Gefahr auf dem Gebiet der Statistik, wo das noch jugendliche Verständnis der Phantasie freieren Spielraum gibt, die Heftigkeit politischer Bewegungen die Ruhe gefährdet und der plumpe Eigennutz Erwerbsquellen aufsucht. Wissenschaftliche Autorität und politischer Parteigänger, oder wissenschaftliche Autorität und geschäftlicher Spekulant, oder alles Drei in einer Person vereinigt, sind keine vereinzelte Erscheinung; die Kindheit der Wissenschaft gestattet solche Vorkommnisse, welche sonst nur dem Dilettantismus eigen zu sein pflegen. So im Argen liegt noch die Statistik, welche sich mit den heimischen Zuständen beschäftigt. Der belehrende Vergleich mit anderen Völkern ist angewiesen auf die Berichte, welche auf solche Weise zustande kommen. Der Irrtum wird blindlings geglaubt und den eigenen Forschungen als Erkenntnisquelle zugrunde gelegt; die selbstprüfende Arbeit ist eine seltene Ausnahme. Wie Wenige reisen zu diesem Zweck, und von diesen wie äußerst Wenige mit der Geduld und Ausdauer, welche der Zweck erfordert. Nach Mittelafrika, Inneraustralien, dem Nordpol und anderen schwer zugänglichen Gebieten fremder Erdteile entsenden wir Reisende, welche mit zahllosen Gefahren und Mühen die Beschaffenheit des Bodens und die Sitten der Bewohner erkunden, aber selten verwendet Jemand ähnliche Sorgfalt, um Alltagserscheinungen im Nachbarland an der Quelle zu beobachten. Indessen, trotz der überall hervortretenden Mängel und Unvollkommenheiten, beruhigt doch die Gewißheit, daß wir uns den Beobachtungen zuwenden. Die Systeme und Lehrsätze haben das Zutrauen verloren; nur auf einen flüchtigen Augenblick verschaffen sie sich Gehör, wenn sie der Tagesströmung sich preisgeben und mit dialektischer Gewandtheit den Leidenschaften sich anbequemen. Aber auch diese verderbliche Neigung wird bald unterdrückt sein, wenn wir, wie in der letzten Epoche der Naturwissenschaften, die geschärften Instrumente der Wahrnehmung uns verschaffen und in Einzelforschungen uns ganz versenken. Solange die regen Geister dieser Richtung zustreben, nehmen wir die Abwendung von Grundsätzen, den Spott gegen die methodische Staatsweisheit in Kauf. Auch dürfen wir nicht erschrecken, wenn dereinst die Menge der aufgefundenen Einzelheiten uns bewältigt; der eine Mißstand beseitigt beide. Ist erst der reiche Vorrat angesammelt, dann drängt er uns zum Zusammenfassen und wir kehren so gewiß zur Staatsweisheit zurück, wie gegenwärtig die Rückkehr von naturwissenschaftlichen Experimenten zur zusammenfassenden Philosophie sich vollzieht. Nur das Falsche wird ausgewiesen bleiben. Die Schlagwörter, welche in der Verflachung wie Unkraut gedeihen, werden sich vermindern; die Zudringlichen, welche die Unwissenheit ermuntert, wird die wiedergekehrte Wissenschaft verdrängen. Der gleiche Gang der Entwicklung ruft gleichartige Erscheinungen hervor. Als die Philosophie auf dem tiefsten Grad der Verflachung stand, schwoll die Zahl der Systeme an, und FICHTE beklagte sich über die große Menge der philosophischen Pfuschgenossen. Die Menge der Kenner war endlos; wer kein eigenes System ersonnen hat, war zumindest ein guter Kritiker und richtete über jede aufgeworfene Frage und jede in Betracht gezogene Person bestimmt und entscheidend. Als später die ernsten Arbeiten der Naturwissenschaft wirkliche Kenntnisse verbreiteten, hörte das Wachstum der Systeme auf, die Zunft der Philosophen schmolz zusammen und die Kritik ging in die berufenen Hände der Wissenden über. Jetzt bereiten die Auserlesensten aus der Fülle gewonnener Kenntnisse die Rückkehr vor. Die Verflachung der staatswissenschaftlichen Lehrzweige und politischen Berufsarbeiten hat einen noch größeren Kreis von Pfuschern und Zudringlichen groß gezogen. Noch niemals gabe es eine so große Auswahl neuer Staatsfundamente. Die Hallen sind gefüllt mit Wortführern und wer irgendwo zum Wort gelangt, fühlt sich zur endgültigen Kritik über Personen und Zustände berufen. Vom Markt des politischen Lebens wird das Gedränge nicht verschwinden, aber das erweiterte Wissen wird die Geister nach Verdienst scheiden. Der Raum wird gesäubert werden, auf welchem die Staatsweisheit in der wahren Erkenntnis des Lebens ihre Wurzeln befestigen muß. Wiederum übernimmt die deutsche Nation die Leitung. Dieses Mal ist es die besondere Gunst der Umstände, welche uns zu der hohen Aufgabe beruft. Was uns solange gehindert hat, fördert uns jetzt. Der Kampf um die Bedingungen unserer Existenz hat die Geister lebhaft angeregt und zu großen Unternehmungen erwärmt. Der neugeschaffene Nationalstaat fordert ein ursprüngliches Denken heraus, denn die alten Formeln sind für ihn nicht passend. Die nationale Befriedigung gibt uns die volle Lust zu der schwierigen Arbeit und wir treten mit verjüngtem Gemüt an das Werk. Die Schwierigkeiten schrecken uns nicht ab; die wir Neues gegründet, werden nicht von der unfruchtbar elegischen [Trauerspiel - wp] Stimmung ergriffen, wenn wir Altes verfallen sehen. Wie lange wird die jetzt eingeleitete Entwicklung bis zu ihrem nächsten Abschluß dauern? Die Reihe der Jahre läßt sich auch nicht annähernd bestimmen, weil das Maß der Arbeit auch nicht annähernd übersichtlich ist. Alle Vergleiche passen nur bis zu einer bestimmten Linie; auch der Vergleich zwischen dem Entwicklungsgang der Philosophie und der Staatsweisheit läßt sich nicht so weit ausspinnen, daß ich danach die Länge der Stadien auch nur vermutungsweise bemessen möchte. Aber Arbeit genug ist vorhanden für eine lange Friedensdauer. ![]() |