cr-2 Das Problem der LehrfreiheitWissenschaft und Macht Bruno Bauer    
 
RUDOLF VIRCHOW
Die Freiheit der Wissenschaft

"Wenn wir die Fortschritte betrachten, welche die letzten Jahre in Bezug auf die Kenntnis des menschlichen Auges gebracht haben, dann liegt es auf der Hand, daß mit jedem Fortschritt der Art ein gewisser Teil der Optik, zunächst der Lehre vom Sehen bestimmt und geändert wird. Wir erfahren damit ganz bestimmt, wie im Inneren des menschlichen Körpers selbst die Einwirkung des Lichts stattfindet und wie ein mehr peripherisches Organ des menschlichen Körpers, nicht etwa das Gehirn, sondern das Auge es ist, welches diese Einwirkung erfährt. Wir erfahren damit, daß dieses Photographieren nicht etwa eine geistige Operation ist, sondern ein chemischer Vorgang, der sich unter Zuhilfenahme gewisser Lebensvorgänge vollzieht und daß wir in Wirklichkeit nicht die äußeren Dinge sehen, sondern die Bilder unseres Auges."

Als mir der ehrenvolle Auftrag unseres geschäftsleitenden Ausschusses zuteil wurde, von dieser Stelle aus zu dieser Versammlung zu sprechen, da habe ich mir die Frage vorgelegt, ob ich nicht, dem von mir angeregten und neulich erst von Herrn KLEBS in Erinnerung gebrachten Gesichtspunkt entsprechend, Ihnen ein besonderes Gebiet der neuesten Entwicklung unserer Wissenschaft vorführen sollte. Ich habe mich jedoch dafür entschieden, diesmal mehr einem allgemeinen Bedürfnis Ausdruck zu geben, hauptsächlich deshalb, weil, wie mir scheint, der Zeitpunkt gekommen ist, wo eine gewisse Auseinandersetzung zwischen der Wissenschaft, wie wir sie vertreten und treiben, und dem allgemeinen Leben stattfinden muß, und weil in der Geschichte gerade unserer, der kontinentalen Völker Europas, der Augenblick immer näher heranrückt, wo die geistigen Geschicke der Völker vielleicht für lange Zeit in den höchsten Entscheidungen bestimmt werden dürften.

Es ist nicht zum ersten Mal, meine Herren, daß ich bei der Gelegenheit einer Naturforscherversammlung warnend auf gleichsam dramatische Ereignisse, welche sich in unserem Nachbarlang vollziehen, hinweisen kann. Zu wiederholten Malen habe ich gerade in der Zeit, wo eine Naturforscherversammlung tagte, auf kurz vorhergegangene Ereignisse jenseits des Rheins hinweisen können, welche, soweit sie scheinbar von unserer Aufgabe abliegen, doch schließlich immer dasselbe strittige Gebiet betreffen, dasjenige, auf dem es sich darum handelt, festzustellen, was die moderne Wissenschaft im modernen Staat gelten soll. Seien wir offen - wir können es hier vielleicht in doppeltem Maße, - es ist die Frage des Ultramontanismus und der Orthodoxie, welche uns immerfort bewegt. Ich kann wohl sagen, mit wahrem Bangen sehe ich den Ereignissen entgegen, welche sich im Laufe der nächsten Jahre bei unserem Nachbarvolk vollziehen werden. Wir hier können in diesem Augenblick mit einem gewissen Stolz um uns blicken und mit einer gewissen Ruhe dem Gang der Dinge zusehen. Heute aber, wo wir beschäftigt sind, die fünfzigste Wiederkehr dieser Versammlung zu feiern, ist es gewiß am Platz, daran zu erinnern, welche große Veränderung in Deutschland, speziell in München sich vollzogen hat seit den Tagen, als OKEN zum ersten Mal deutsche Naturforscher und Ärzte versammelt.

Ich will mich nur ganz kur auf zwei Tatsachen beziehen, bekannt genug, indessen auch wichtig genug, um von Neuem in Erinnerung gebracht zu werden: die eine Tatsache, daß, als im Jahre 1822 die wenigen Männer, welche die erste deutsche Naturforscherversammlung zusammensetzten, in Leipzig tagten, es noch so gefährlich erschien, eine derartige Versammlung abzuhalten, daß sie tatsächlich im Dunkel des Geheimnisses stattfand. Konnten doch die Namen derjenigen Mitglieder, welche aus Österreich beigetreten waren, erst 39 Jahre später, im Jahre 1861, publiziert werden. Die zweite Tatsache, die uns bei der Erinnerung an OKEN unmittelbar berührt, ist die, daß auch er, dieser geschätzte, dieser gefeierte Lehrer, diese Zierde der Hochschule München im Exil sterben mußte, in demselben schweizerischen Kanton, in dem ULRICH von HUTTEN sein viel geplagtes und viel durchkämpftes Leben beschloß. Meine Herren, das bittere Exil, welches OKENs letzte Jahre bedrückte, welches ihn fern von denjenigen Stätten, an denen er die besten Kräfte seines Lebens geopfert hatte, hinsiechen ließ, dieses Exil wird die Signatur der Zeit bleiben, welche wir überwunden haben. Und solange es eine deutsche Naturforscherversammlung gibt, solange sollen wir uns dankbar erinnern, daß dieser Mann bis zu seinem Tod alle Zeichen des Märtyrers an sich getragen hat, so lange sollen wir auf ihn weise als auf einen jener Blutzeugen, welche die Freiheit der Wissenschaft für uns erkämpft haben.

Jetzt, meine Herren, ist es leicht, im deutschen Land von Freiheit der Wissenschaft zu reden; jetzt sind wir auch hier, wo man noch vor wenigen Dezennien die Besorgnis hegte, daß vielleicht ein neuer Umschwung der Dinge plötzlich das äußerste Gegenstück zutage fördern würde, sicher und können in aller Ruhe die höchsten und schwierigsten Probleme des Lebens und des Jenseits diskutieren. Gewiß liefern die Erörterungen, welche in den allgemeinen Sitzungen, in der ersten und zweiten, stattgefunden haben, hinreichende Proben davon, daß München jetzt ein Ort ist, welcher es vertragen kann, die Vertreter der Wissenschaft in vollständigster Freiheit zu hören. Ich war nicht in der Lage, alle diese Reden zu hören, aber ich habe seitdem sowohl die Rede des Herrn HAECKEL, als die des Herrn NAEGELI gelesen, und ich muß sagen, wir können nicht mehr verlangen, als daß in dieser Freiheit diskutiert werden darf.

Handelte es sich nur darum, uns dieses Besitzes zu erfreuen, so würde ich hier nicht das Wort über einen solchen Gegenstand genommen haben. Aber, meine Herren, wir befinden uns an einem Punkt, wo es sich darum handelt, zu untersuchen, ob wir hoffen dürfen, diesen faktischen Besitz, in dem wir uns befinden, für die Dauer zu sichern. Die Tatsache, daß wir heute in der Lage sind, so zu diskutieren, ist für jemand, der eine so lange Erfahrung im öffentlichen Leben hinter sich hat, wie ich, keine genügende Bürgschaft dafür, daß es immer so bleiben werde. Darum denke ich, daß wir uns nicht bloß anzustrengen haben, auf daß wir für den Augenblick die Teilnahme Aller fesseln, sondern ich meine, wir haben uns auch zu fragen, was wir zu tun haben, um diesen Zustand zu erhalten. Meine Herren, ich will Ihnen gleich sagen, was ich Ihnen als das Hauptresultat meiner Betrachtungen vorführen, was ich hier besonders beweisen möchte. Ich möchte nämlich dartun, daß wir für uns jetzt nicht mehr zu fordern haben, sondern daß wir vielmehr an dem Punkt angekommen sind, wo wir uns die besondere Aufgabe stellen müssen,  durch unsere Mäßigung, durch einen gewissen Verzicht auf Liebhabereien und persönliche Meinungen  es möglich zu machen, daß die günstige Stimmung der Nation, die wir besitzen, nicht umschlage!

Ich bin der Meinung, wir sind in der Tat in Gefahr, durch eine zu weite Benutzung der Freiheit, welche uns die jetzigen Zustände darbieten, die Zukunft zu gefährden, und ich möchte warnen, daß man nicht in der Willkür beliebiger persönlicher Spekulation fortfahren möge, welche sich jetzt auf vielen Gebieten der Naturwissenschaft breit macht. Die Auseinandersetzungen, welche Ihnen meine Vorgänger gegeben haben, namentlich diejenigen des Herrn NAEGELI, werden für alle, die sie nachlesen, in Bezug auf den Gang der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, in Bezug auf die Grenzen derselben eine Reihe der wichtigsten Gesichtspunkte ergeben, welche zu wiederholen nicht meine Aufgabe sein kann. Ich habe aber auch ihnen gegenüber zu betonen, und ich möchte dafür ein paar praktische Beispiele aus der Erfahrung der Naturwissenschaften beibringen, wie groß der Unterschied desjenigen ist, was wir als wirkliche Wissenschaft im strengsten Sinne des Wortes ausgeben und für welches wir meiner Meinung nach allein die Gesamtheit all der Freiheiten fordern können, welche als Freiheit der Wissenschaft oder, sagen wir vielleicht noch etwas schärfer, als  Freiheit der wissenschaftlichen Lehre  bezeichnet werden kann, im Gegensatz zu dem größeren Gebiet, welches mehr der spekulativen Expansion angehört, welches die Probleme stellt, die Aufgaben findet, auf welche die neue Forschung sich richten soll, welches vorahnend eine Reihe von Lehrsätzen formuliert, die erst zu beweisen sind und deren Tatsächlichkeit erst gefunden werden soll, die jedoch inzwischen zur Ausfüllung gewisser Lücken des Wissens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorgetragen werden können. Wir dürfen nicht vergessen, daß es eine Grenze zwischen dem spekulativen Gebiet der Naturwissenschaft und dem tatsächlich errungenen und vollkommen festgestellten Gebiet gibt. Von uns verlangt man, daß diese Grenze mit immer größerer Schärfe nicht bloß gelegentlich einmal bezeichnet, sondern überhaupt soweit fixiert werde, daß sich jeder Einzelne immer mehr bewußt werde, wo die Grenze liegt, und wieweit von ihm gefordert werden könne, daß er zugestehe, das Gelehrte sei Wahrheit. Das, meine Herren, ist die Aufgabe, an der wir  in uns  zu arbeiten haben.

Die praktischen Fragen, welche sich daran knüpfen, sind sehr naheliegend. Es ist selbstverständlich, daß wir für das, was wir als gesicherte, wissenschaftliche Wahrheit betrachten, auch die vollkommene Aufnahme in den Wissensschatz der Nation verlangen müssen.  Das muß die Nation in sich aufnehmen,  das muß sie verzehren und verdauen, daran muß sie nachher weiter arbeiten. Gerade darin liegt ja die doppelte Förderung, welche die Naturwissenschaft der Nation bietet. Auf der einen Seite der materielle Fortschritt, dieser ungeheure Fortschritt, welchen die Neuzeit aufweist. Alles, was die Dampfmaschine, die Telegraphie, die Photographie usw. gebracht haben, die chemischen Entdeckungen, die Farbentechnik usw., all das basiert wesentlich darauf, daß wir Männer der Wissenschaft die Lehrsätze vollkommen fertig machen und wenn sie ganz fertig und sicher sind, so daß wir ganz bestimmt wissen, dies ist naturwissenschaftliche Wahrheit, sie der Gesamtheit übergeben; dann können auch andere damit arbeiten und neue Dinge schaffen, von denen vorher niemand eine Ahnung hatte, die sich niemand träumen ließ, die ganz neu in die Welt treten und die den Zustand der Gesellschaft und der Staaten umwandeln. Das ist die materielle Bedeutung unserer Leistungen. Ebenso ist es andererseits mit der geistigen Bedeutung derselben. Wenn ich der Nation eine bestimmte wissenschaftliche Wahrheit überliefere, die sicher beglaubigt ist, an der nicht der geringste Zweifel bleiben kann, wenn ich verlange, daß jedermann sich von der Richtigkeit dieser Wahrheit überzeuge, daß er sie in sich aufnehme, daß sie Bestandteil seines Denkens werde, so setze ich als selbstverständlich voraus, daß damit seine Anschauung von den Dingen überhaupt mitbestimmt werden muß. Jede wesentliche Neuigkeit dieser Art muß auf die ganze Vorstellungsweise des Menschen, auf die  Methode des Denkens  einen Einfluß ausüben.

Wenn wir z. B., um einen naheliegenden Fall zu nehmen, die Fortschritte betrachten, welche die letzten Jahre in Bezug auf die Kenntnis des menschlichen Auges gebracht haben, von den ersten Tagen an, wo man die einzelnen Bestandteile des Auges genauer anatomisch auseinanderlegte, dann diese einzelnen anatomisch getrennten Teile wieder einer mikroskopischen Untersuchung unterzog und ihre verschiedene Einrichtung nachwies, bis zu der Zeit, wo wir allmählich die vitalen Eigenschaften, die physiologischen Funktionen dieser verschiedenen Teile kennen gelernt haben, bis man endlich in der Entdeckung des Sehpurpurs und der photographischen Eigenschaften desselben einen Fortschritt gemacht hat, von dem man noch vor einem Jahr kaum eine Ahnung hatte: da liegt es auf der Hand, daß mit jedem Fortschritt der Art ein gewisser Teil der Optik, zunächst der Lehre vom Sehen bestimmt und geändert wird. Wir erfahren damit ganz bestimmt, wie im Inneren des menschlichen Körpers selbst die Einwirkung des Lichts stattfindet und wie ein mehr peripherisches Organ des menschlichen Körpers, nicht etwa das Gehirn, sondern das Auge es ist, welches diese Einwirkung erfährt. Wir erfahren damit, daß dieses Photographieren nicht etwa eine geistige Operation ist, sondern ein chemischer Vorgang, der sich unter Zuhilfenahme gewisser Lebensvorgänge vollzieht und daß wir in Wirklichkeit nicht die äußeren Dinge sehen, sondern die Bilder unseres Auges. Wir sind somit in der Lage, ein neues Moment der Analyse für das Verständnis unserer Beziehungen zur Außenwelt zu gewinnen und den rein geistigen Anteil des Sehens vom rein körperlichen Anteil schärfer auseinander zu legen. Damit wird ein gewisser Teil der Optik und zugleich der Psychologie ganz neu gebildet. Die Chemie tritt mit heran an die Untersuchung von Fragen, mit denen sie sich bisher gar nicht beschäftigt hatte, namentlich an die hochwichtigen Fragen: was ist Sehpurpur? was ist das für eine Substanz? wie wird sie gebildet, wie vernichtet, wie wieder hergestellt? Die Lösung dieser Fragen wird nicht verfehlen, ein neues Gebiet der Forschung zu erschließen; hoffentlich machen wir bald auch auf dem Gebiet der technischen Photographie neue Fortschritte, indem wir bunte Photogramme herstellen lernen. So bildet sich ein Gemisch von Fortschritten, die halb auf geistigem, halb auf körperlichem Gebiet liegen. Und daher, sage ich, muß sich mit jedem wahren Fortschritt des Wissens von der Natur notwendigerweise, wie in den äußeren Verhältnissen der Menschen, so auch in den inneren eine Reihe von Veränderungen sich vollziehen und niemand kann sich dem entziehen, das neue Wissen in sich arbeiten zu lassen. Jedes neue Stück von wirklichem Wissen arbeitet im Menschen fort, es erzeugt neue Vorstellungen, neue Gedankenreihen und niemand kann umhin, schließlich selbst die höchsten Probleme des Geistes mit den natürlichen Vorgängen in eine gewisse Beziehung zu setzen.

Aber wir haben noch eine andere, ungleich näher liegende Seite der praktischen Betrachtung. Überall im ganzen deutschen Vaterland beschäftigt man sich damit, das Unterrichtswesen neu zu gestalten, zu erweitern, zu entwickeln, die bestimmten Formen dafür zu finden. Preussens Unterrichtsgesetz steht auf der Schwelle der kommenden Ereignisse. In allen deutschen Staaten baut man größere Schulhäuser, schafft man neue Lehranstalten, erweitert man die Universitäten, richtet man höhere und Mittelschulen ein. Es fragt sich endlich, was soll der Hauptinhalt dessen sein, was gelehrt wird? wohin soll die Schule führen? nach welchen Richtungen soll sie arbeiten? Wenn die Naturwissenschaft verlangt, wenn wir alle seit Jahren dahin gedrängt haben, daß wir Einfluß gewinnen auf die Schule, wenn wir fordern, daß die Naturerkenntnis in höherem Maße in die gewöhnliche Lehre aufgenommen werde, daß schon frühzeitig den jugendlichen Geistern dieses fruchtbare Material geboten werde als Grundlage einer neuen Anschauung, dann werden wir uns auch sagen müssen, es ist in der Tat höchste Zeit, daß wir uns selbst verständigen über das, was wir verlangen können und verlangen wollen. Wenn Herr HAECKEL sagt, es sei eine Frage der Pädagogen, ob man jetzt schon die Deszendenztheorie [Abstammungstheorie - wp] dem Unterricht zugrunde legen und die Plastidul-Seele [Protoplasma-Moleküle - wp] als Grundlage aller Vorstellungen über geistiges Wesen annehmen, ob man die Phylogenie [Stammesgeschichte - wp] des Menschen bis in die niedersten Klassen des organischen Reiches, ja darüber hinaus bis zur Urzeugung verfolgen soll, so ist das meiner Meinung nach eine Verschiebung der Aufgaben. Wenn die Deszendenzlehre so sicher ist, wie Herr HAECKEL annimmt, dann müssen wir verlangen, dann ist es eine notwendige Forderung, daß sie auch in die Schule muß. Wie wäre das denkbar, daß eine Lehre von solcher Wichtigkeit, die so vollkommen revolutionierend eingreift in jedes Bewußtsein, die unmittelbar eine Art von neuer Religion schafft, nicht ganz in den Schulplan eingefügt würde! Wie wäre es möglich, eine solche - Enthüllung, kann ich ja sagen, in der Schule gewissermaßen tot zu schweigen, oder die Überlieferung der größten und wichtigsten Fortschritte, die unsere Anschauungen im ganzen Jahrhundert gemacht haben, in das Ermessen des Pädagogen zu stellen! Ja, meine Herren, das wäre in der Tat eine Resignation der schwersten Art und in Wirklichkeit würde sie auch gar nicht geübt werden. Jeder Schulmeister, der diese Lehre in sich aufnähme, würde sie, auch unwillkürlich, lehren. Wie sollte er das ander machen! Er müßte sich gänzlich verstellen, er müßte sich auf die allerkünstlichste Weise zeitweise seines eigenen Wissens berauben, um nicht zu verraten, daß er die Deszendenztheorie kennt und festhält, und daß er genau weiß, wie der Mensch entstanden ist und woher er kommt. Wenn er auch nicht weiß, wohin er geht, so würde er doch wenigstens glauben genau zu wissen, wie sich im Laufe von Aeonen die fortschreitende Reihe gestaltet hat. Ich sage also, wenn wir die Aufnahme der Deszendenzlehre in den Schulplan wirklich nicht verlangten, so würde sie sich von selbst vollziehen.

Wir dürfen doch nicht vergessen, meine Herren, daß das, was wir hier vielleich noch mit einer gewissen schüchternen Zurückhaltung aussprechen, von denen da draußen mit einer tausendfach gesteigerten Zuversicht weiter getragen wird. Ich habe z. B. einmal den Satz aufgestellt - im Gegensatz zu der damals herrschenden Lehre von der Entwicklung des organischen Lebens aus unorganischer Masse - daß jede Zelle von einer Zelle herstamme, allerdings zunächst mit besonderer Rücksicht auf die Pathologie und vorzugsweise für den Menschen. Ich bemerke nebenbei, daß ich in den beiden Beziehungen auch noch heutigentags diesen Satz für vollkommen richtig halte. Allein als ich diesen Satz ausgesprochen und den Ursprung der Zelle aus der Zelle formuliert hatte, haben die anderen nicht gefehlt, welche diesen Satz nicht bloß im Organischen über die Grenzen dessen, wofür ich ihn aufgestellt hatte, hinaus ausgedehnt, sondern welche ihn über die Grenzen des organischen Lebens hinaus als allgemeingültig hingestellt haben. Ich habe die wundervollsten Zusendungen aus Amerika und Europa bekommen, in welchen die ganze Astronomie und Geologie auf Zellenlehre basiert war, weil man es für unmöglich hielt, daß etwas, was für das Leben der organischen Natur auf dieser Erde entscheidend sei, nicht auch auf die Gestirne angewendet werden sollte, die doch auch runde Körper seien, welche sich geballt haben und Zellen darstellen, die im großen Himmelsraum umherfahren und dort eine ähnliche Rolle spielen, wie die Zellen in unserem Leib.

Ich kann nicht sagen, daß das etwa lauter ausgemachte Narren und Toren gewesen wären, die das gemacht haben; ich habe aus einzelnen ihrer Auseinandersetzungen vielmehr die Vorstellung gewonnen, daß mancher an sich gebildete Mann, der viel studiert hatte und sich endlich an die Probleme der Astronomie machte, nicht begreifen konnte, daß die Zweckmäßigkeit der Himmelserscheinungen in anderer Weise begründet sein sollte, wie die Zweckmäßigkeit der menschlichen Organisation, so daß er, um eine einheitliche Anschauung zu gewinnen, zuletzt dahin kam, anzunehmen, der Himmel müßte auch ein Organismus, ja die ganze Welt müßte ein zweckmäßig gestalteter Organismus sein und darin könnte kein anderes Prinzip als das Zellenprinzip gelten. Ich führe das nur an, um zu zeigen, wie sich nach außen hin die Dinge machen, wie sich die "Theorie" vergrößert, wie unsere Sätze in einer für uns selbst erschreckenden Gestalt zu uns zurückkehren. Nun stellen sie sich einmal vor, wie sich die Deszendenztheorie heute schon im Kopf eines Sozialisten darstellt!

Ja, meine Herren, das mag manchem lächerlich erscheinen, aber es ist sehr erst und ich will hoffen, daß die Deszendenztheorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbarland angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt wird, eine ungemein bedenkliche Seite und daß der Sozialismus mit ihr Fühlung genommen hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein. Wir müssen uns das ganz klar machen.

Nichtsdestoweniger, die Sache möchte so gefährlich sein, wie sie will, die Bundesgenossen möchten so schlimm sein, wie sie wollen, so sage ich doch: in dem Augenblick, wo wir die Überzeugung gewönnen, die Deszendenztheorie sei eine vollständig stabilisierte Lehre, welche so sicher ist, daß wir sie beschwören, daß wir sagen können, so ist es, - da würden wir kein Bedenken tragen dürfen, sie ins Leben einzuführen, sie nicht bloß jedem Gebildeten zu überliefern, sondern sie jedem Kind mitzugeben, sie zur Grundlage unserer ganzen Vorstellung von der Welt, der Gesellschaft und dem Staat zu machen und daraufhin den Unterricht zu gründen.

Das halte ich für eine Notwendigkeit.

Ich scheue dabei auch gar nicht vor dem Vorwurf zurück, der zu meinem Erstaunen, während ich in Russland abwesend war, in meinem preußischen Vaterland großen Rumor gemacht hat, vor dem Vorwurf des  Halbwissens.  Merkwürdigerweise hat eine unserer sogenannten liberalen Zeitungen die Frage aufgeworfen, ob nicht der große Schaden dieser Zeit und der Sozialismus insbesondere auf der Ausbreitung des Halbwissens beruhe. In dieser Beziehung möchte ich doch auch hier, in Mitte der Naturforscherversammlung, konstatieren, daß  alles  menschliche Wissen Stückwerk ist. Wir alle, die wir uns Naturforscher nennen, besitzen nur Stücke von der Naturwissenschaft; keiner von uns kann hierhertreten und mit gleicher Berechtigung jede Disziplin vertreten und an einer Diskussion in jeder Disziplin teilnehmen. Im Gegenteil, wir schätzen die einzelnen Gelehrten gerade deshal so sehr, weil sie in einer gewissen einseitigen Richtung sich entwickelt haben. Auf anderen Gebieten befinden wir uns alle im Halbwissen. Könnten wir nur dahinkommen, dieses Halbwissen mehr zu verbreiten, könnten wir es zustande bringen, daß wir wenigstens die Mehrzahl aller Gebildeten soweit förderten, daß sie die Hauptrichtungen, welche die einzelnen Disziplinen der Naturwissenschaften verfolgen, soweit übersehen, um ohne zu große Schwierigkeiten der Entwicklung derselben folgen zu können und daß sie, auch wenn sie sich nicht in jedem Augenblick der Totalität aller Einzelbeweise klar wären, doch vom Gesamtgang der Wissenschaft durchdrungen würden. Viel weiter kommen wir ja auch nicht. Ich habe mich z. B. in meinem Leben redlich bemüht, chemische Kenntnisse zu erwerben; ich habe selbst chemisch gearbeitet, allein ich fühle mich ganz außerstande, mich ohne weiteres etwa in ein chemisches Konventikel zu setzen und moderne Chemie in allen Richtungen zu diskutieren. Nichtsdestoweniger bin ich befähigt, mich in einiger Zeit soweit in das Verständnis zu bringen, daß mir keine chemische Neuerung als ein unfaßbares Ding entgegentritt. Aber dieses Verständnis muß ich mir immerhin erst neu erwerben, ich habe es nicht schon; wenn ich es gebrauchen will, muß ich es erst wieder erwerben. Das, was mich ziert, ist eben  die Kenntniss meiner Unwissenheit.  Das ist das Wichtigste, daß ich genau weiß, was ich von Chemie  nicht  verstehe. Wüßte ich das nicht, dann würde ich allerdings immer hin- und herschaukeln. Da ich aber, wie ich mir einbilde, ziemlich genau weiß, was ich nicht weiß, so sage ich mir jedesmal, wenn ich genötigt bin, in ein für mich noch verschlossenes Gebiet einzutreten: "jetzt mußt du wieder anfangen zu lernen, jetzt mußt du neu studieren, jetzt mußt du es machen, wie jemand, der in die Wissenschaft eintritt". Der große Irrtum, der sich eben auch bei vielen Gebildeten fortsetzt, beruth darin, daß man sich nicht vergegenwärtigt, wie bei der immensen Größe der Naturwissenschaften und bei der unerschöpflichen Fülle des Einzelmaterials es für keinen Lebenden möglich ist, die Gesamtheit aller dieser Einzelheiten zu beherrschen. Daß man soweit kommt, in den  Grundlagen  der Naturwissenschaften klar zu sein, und die Lücken, die man selbst besitzt, genau kennen zu lernen, damit man jedesmal, wo man auf eine solche Lücke stößt, sich sagt, jetzt gehst du in ein dir unbekanntes Gebiet hinein, - das ist das, war wir erreichen müssen. Wenn sich jedermann darüber hinreichend klar würde, so würde mancher an seine Brust klopfen und bekennen, daß es eine bedenkliche Sache ist, ganz allgemeine Folgerungen zu ziehen in Bezug auf die Geschichte aller Dinge, während man selbst nicht einmal ganz Herr über das Material ist, aus welchem heraus man diese Schlüsse ziehen will.

Es ist leicht gesagt: "eine Zelle besteht aus kleinen Teilchen, und diese nennen wir Plastidule; Plastidule aber bestehen aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff und sind mit einer besonderen Seele ausgestattet; diese Seele ist das Produkt oder die Summe der Kräfte, welche die chemischen Atome besitzen." Das ist ja möglich, ich kann es nicht genau beurteilen. Es ist das eine von den für mich noch unnahbaren Stellen; ich fühle mich da, wie ein Schiffer, der auf eine Untiefe gerät, deren Ausdehnung er nicht übersehen kann. Aber ich muß doch sagen, ehe man mir nicht die Eigenschaften von Kohlen-, Wasser-, Sauer-, und Stickstoff so definieren kann, daß ich begreife, wie aus ihrer Summierung eine Seele wird, eher kann ich nicht zugestehen, daß wir etwa berechtigt wären, die Plastidul-Seele in den Unterricht einzuführen, oder überhaupt von jedem Gebildeten zu verlangen, daß er sie so sehr als wissenschaftliche Wahrheit anerkenne, um damit logisch zu operieren und daraufhin seine Weltanschauung zu begründen. Das können wir wirklich nicht verlangen. Im Gegenteil, ich meine, bevor wir solche Thesen als den Ausdruck der Wissenschaft bezeichnen, bevor wir sagen, das ist moderne Wissenschaft, müßten wir erst eine ganze Reihe von langwierigen Untersuchungen durchführen.  Wir müssen daher den Schullehrern sagen, lehrt das nicht.  Das, meine Herren, ist die Resignation, welche meiner Meinung auch diejenigen üben müßten, welche ansich eine solche Lösung für das wahrscheinliche Ende der wissenschaftlichen Untersuchung halten. Darüber können wir doch keinen Augenblick streiten, daß wenn diese Seelenlehre wirklich richtig wäre, sie erst durch eine lange Reihe wissenschaftlicher Forschung sicher gestellt werden könnte.

Es gibt eine Reihe von Erlebnissen in den Naturwissenschaften, an denen wir zeigen können, wie lange gewisse Probleme schweben, ehe es möglich wird, ihre wirkliche Lösung zu finden. Wenn diese Lösung endlich gefunden wird, in einem Sinne, der vielleicht schon Jahrhunderte vorher vorgeahnt war, so folgt daraus nicht, daß während dieser, bloß der Ahnung oder der Spekulation angehörigen Zeiten das Problem als eine wissenschaftliche Tatsache hätte gelehrt werden dürfen.

Herr KLEBS hat neulich das Contagium animatum [lebender Krankheitserreger - wp] verliert sich in das Dunkel des Mittelalters. Wir haben diesen Namen von unseren Vorvätern überkommen, er tritt schon scharf hervor im 16. Jahrhundert. Wir besitzen aus jener Zeit einzelne Werke, welche das Contagium animatum als einen wissenschaftlichen Lehrsatz aufstellen, mit derselben Zuversicht, mit derselben Art der Begründung, wie die Plastidul-Seele gegenwärtig aufgestellt wird. Nichtsdestoweniger hat man lange Zeit hindurch die lebendigen Krankheitsursachen nicht auffinden können. Das 16. Jahrhundert hat sie nicht gefunden, das 17. nicht, das 18. nicht. Im 19. Jahrhundert hat man angefangen, Stück für Stück Contagia animata wirklich zu finden. Die Zoologie, wie die Botanik haben ihre Beiträge dazu geliefert; wir haben Tiere und Pflanzen kennen gelernt, welche Contagien darstellen und es hat sich ein gewisser Teil der Contagienlehre in Zoologie und Botanik aufgelöst, ganz im Sinne der Theorien des 16. Jahrhunderts. Sie werden schon aus dem Vortrag des Herrn KLEBS ersehen haben, daß man noch lange nicht am Ende der Beweisführung ist. Wenn man auch noch so sehr disponiert ist, die Allgemeingültigkeit der alten Lehre zuzugestehen, nachdem nun eine Reihe von neuen lebenden Contagien hinzugekommen ist, nachdem wir den Milzbrand, die Diphterie als Krankheiten erkannt haben, die durch besondere Organismen bedingt sind, so darf man doch noch nicht sagen, es müssen nun  alle  contagiösen oder gar alle infektiösen Krankheiten durch lebendige Ursachen bedingt sein. Nachdem sich gezeigt hat, daß eine Lehre, welche schon im 16. Jahrhundert aufgestellt wurde, und welche seitdem hartnäckig in den Vorstellungen der Menschen immer wieder aufgetaucht ist, endlich seit dem zweiten Dezennium dieses Jahrhunderts nach und nach immer mehr positive Beweise für ihre Richtigkeit erhalten hat, so könnte man wohl meinen, es sei eine Pflicht, sich im Sinne der induktiven Erweiterung unseres Wissens vorzustellen, alle Contagien und Miasmen [Ansteckungen - wp] in der bezeichneten Zwischenzeit für wirklich belebte Wesen zu halten, haben doch immer gesagt, sie stehen den belebten Wesen sehr nahe, sie haben Eigenschaften an sich, welche wir sonst nur bei belebten Wesen sehen, sie pflanzen sich fort, sie vermehren sich, sie regenerieren sich unter besonderen Umständen; sie erscheinen wie wirkliche organische Körper. Allein trotzdem haben sie mit Recht gewartet, bis der Nachweis der infizierenden Organismen geliefert war. Und so gebietet die Vorsicht auch jetzt noch Zurückhaltung.

Wir dürfen nicht vergessen, daß die Geschichte unserer Wissenschaften eine große Menge von Tatsachen darbietet, welche uns lehren, daß sich sehr verwandte Erscheinungen auf sehr verschiedene Weise vollziehen können. Als die Gärung auf besondere Pilze zurückgeführt war, als man erfuhr, daß die Fermentation an die Entwicklung gewisser Pilze geknüpft sei, da lag es in der Tat sehr nahe, sich vorzustellen, daß nach Art der Fermentation all jene ihr verwandten Prozesse sich vollzögen, für die man den Namen der "katalytischen" aufgestellt hat und die sich so vielfach im menschlichen und tierischen Körper, wie in den Pflanzen vorfinden. Es hat in der Tat nicht an Gelehrten gefehlt, welche sich vorgestellt haben, daß die Verdauung, welche ja einer der Vorgänge ist, die eine große Ähnlichkeit mit den fermentativen Prozessen haben, dadurch entstehe, daß im Magen - speziell beim Rindvieh ist die Frage praktisch diskutiert worden, - gewisse Pilze, welche vielfach vorkommen, in ähnlicher Weise die Verdauung vermittelten, wie die Gärungspilze die Gärung vermitteln. Wir wissen jetzt, daß die Verdauungssäfte absolut nichts zu tun haben mit Pilzen. So sehr sie katalytische Eigenschaften besitzen, so sicher sind wir doch, daß ihre wirksamen Stoffe chemische Körper sind, die wir extrahieren, die wir von den übrigen Stoffen isolieren und isoliert ohne irgendeine Beimischung lebender Gebilde wirken lassen können. Wenn der menschliche Speichel befähigt ist, in der kürzesten Zeitfrist Stärke und Gummi in Zucker umzuwandeln, und wenn jedesmal, wenn wir Brot essen, in unserem Mund diese Neu-Erzeugung "süßen" Brotes sich vollzieht, so ist daran kein Pilz beteiligt, kein Gärungsorganismus, sondern es sind chemische Substanzen, welche in ganz ähnlicher Weise, wie das im Innern eines Pilzes geschieht, die Umsetzung der Stoffe zustande bringen. Wir sehen also, daß zwei Prozesse, die sich sehr nahe stehen, der eine im Innern eines Gärungspilzes, der andere im menschlichen Verdauungstrakt auf verschiedene Weise erregt werden; der gleiche Vorgang ist das eine Mal geknüpft an einen bestimmten pflanzlichen Organismus, das andere Mal wird er ohne einen solchen, einfach durch freie Flüssigkeit vollzogen.

Ich würde es für ein großes Unglück halten, wenn man nicht in gleicher Weise, wie es hier geschehen ist, fortfahren wollte, in jedem einzelnen Fall zu ermitteln, ob die  Voraussetzung,  die man hat, die  Vorstellung,  die man sich gebildet hat und die höchst wahrscheinlich sein mag, auch wirklich wahr, ob sie  tatsächlich  berechtigt ist. Ich will in dieser Beziehung daran erinnern, daß wir auch unter den infektiösen Krankheiten Fälle haben, bei denen ganz unzweifelhaft ein gleicher Gegensatz vorliegt. Mein Freund KLEBS wird mir wohl verzeihen müssen, wenn ich auch noch jetzt, trotz der neuen Fortschritte, welche die Lehre von den infizierenden Pilzen gemacht hat, immer noch in der Reserve beharre, daß ich immer nur denjenigen Pilz zugestehe, der wirklich nachgewiesen ist, und daß ich alle anderen Pilze so lange leugne, bis sie mir nicht faktisch entgegen getreten sind. Es gibt unter den Infektionskrankheiten eine gewisse Gruppe, die durch organische Gifte entstehen, - ich will nur eine daraus hervorheben, die meiner Meinung nach sehr lehrreich ist, die Vergiftung durch Schlangenbiss, eine sehr berühmte und höchst merkwürdige Form. Wenn diese Art von Vergiftung verglichen wird mit denjenigen Arten von Vergiftung, die wir gewöhnlich Infektionskrankheiten nennen (Infektion heißt nicht viel anderes als Vergiftung), so muß man zugestehen, daß die größen Analogien im Verlauf in beiden Fällen vorhanden sind. Nichts würde in Bezug auf den Verlauf der Annahme entgegenstehen, daß die Summe von Vorgängen, welche sich nach einem Schlangenbiß im menschlichen Körper vollziehen, zustande komme, indem Pilze in den Körper eindringen und in verschiedenen Organen Veränderungen hervorriefen. In der Tat kennen wir gewisse Prozesse, z. B. septische, bei denen sich ganz ähnliche Erscheinungen zeigen, und es ist nicht zu verkennen, daß gewisse Formen von Schlangenbißvergiftung und gewisse Formen von septischer Infektion sich so ähnlich sehen, wie ein Ei dem andern. Und doch haben wir nicht den mindesten Grund, beim Schlangenbiß den Import von Pilzen zu vermuten, während wir umgekehrt bei septischen Prozessen diesen Import anerkennen.

Die Geschichte unserer Naturwissenschaft hat zahlreiche Beispiele welche uns immer mehr dahinbringen sollten, daß wir die Gültigkeit unserer Lehrsätze auf die allerstrikteste Weise auf dasjenige Gebiet begrenzen, auf dem wir sie wirklich dartun können, und daß wir nicht auf dem Weg der Induktion soweit gehen, Lehrsätze, welche nur für einen oder einige Fälle bewiesen sind, ohne weiteres ins Ungemessene auszudehnen. Nirgends ist die Notwendigkeit einer solchen Beschränkung mehr zutage getreten, als gerade auf dem Gebiet der Entwicklungsgeschichte. Die Frage von der ersten Entstehung organischer Wesen, diese Frage, welche auch dem fortgeschrittenen Darwinismus zugrunde liegt, ist ein uralte. Wer zuerst die einzelnen Lösungen dafür zu finden versucht hat, das weiß man gar nicht. Wenn wir uns aber die alte populäre Lehre vergegenwärtigen, wonach alle möglichen lebenden Wesen, Tiere und Pflanzen, aus je einem Erdkloß hervorgehen können, - einem Klößchen unter Umständen, - so sollten wir uns zugleich erinnern, daß die berühmte Lehre von der Generatio aequivoca [Urzeugung organischer aus unorganischen Stoffen - wp], der Epigenesis [nachträgliche Entstehung - wp], damit eng zusammenhängt, und daß sie in aller Vorstellung seit Jahrtausenden ist. Nun ist mit dem Darwinismus die Lehre von der Urzeugung wieder aufgenommen worden, und ich kann nicht leugnen, es hat etwas sehr Verführerisches, diesen Abschluß der Deszendenztheorie zu machen, und, nachdem man die ganze Reihe der Lebensformen von den niedrigsten Protisten bis zum höchsten menschlichen Organismus aufgestellt hat, diese lange Reihe auch noch anzuknüpfen an die unorganische Welt. Es entspricht das jener Richtung zur Generalisation, welche so sehr menschlich ist, daß sie zu allen Zeiten bis in die graueste Vorzeit hin in den Spekulationen der Völker ihren Platz gefunden hat. Wir haben unweigerlich das Bedürfnis, die organische Welt nicht herauszulösen aus dem Ganzen, als etwas vom Ganzen sich Trennendes, sondern vielmehr ihren Zusammenhang mit dem Ganzen zu sichern. In diesem Sinn hat es etwas Beruhigendes, wenn man sagen kann, die Atomengruppe Kohlenstoff und Co. - das ist vielleicht zu kurz gesagt, aber doch korrekt, insofern Kohlenstoff das Wesentliche sein soll - also diese Genossenschaft, Kohlenstoff und Co., habe sich zu einer gewissen Zeit vom gewöhnlichen Kohlenstoff abgelöst und unter besonderen Umständen das erste Plastidul gegründet und sie gründe nun auch gegenwärtig weiter. Dem gegenüber muß aber betont werden, daß alle wirkliche wissenschaftliche Kenntnis über die Lebensvorgänge den umgekehrten Weg gegangen ist. Wir datieren den Anfang unserer wirklichen Kenntnisse von der Entwicklung der höheren Organismen von jenem Tag an, wo HARVEY den berühmten Satz aussprach: omne vivum ex ovo, jedes lebende Wesen stammt aus einem Ei. Dieser Satz ist, wie wir jetzt wissen, in seiner Allgemeinheit unrichtig. Wir können ihn heutzutage als einen vollberechtigten nicht mehr anerkennen; wir wissen im Gegenteil, daß eine Menge von Zeugungen und Fortpflanzungen ohne Ei existiert. Von HARVEY bis auf unserer berühmten Freund von SIEBOLD, der der Parthenogenesis [asexuelle Fortpflanzung - wp] zu ihrer vollen Anerkennung verholfen hat, liegt eine ganze Reihe von immer weiteren Beschränkungen vor, welche dartun, daß der Satz: omne vivum ex ovo in seiner Allgemeinheit unrichtig war. Nichtsdestoweniger würde es die höchste Undankbarkeit sein, wenn wir nicht anerkennen wollten, daß in dem Gegensatz, in den HARVEY zur alten Generatio aequivoca trat, der größte Fortschritt begründet gewesen ist, den die Wissenschaft auf diesem Gebiet gemacht hat. Man hat nachher eine große Reihe von neuen Formen kennen gelernt, in denen sich die Fortpflanzung der verschiedenen Arten lebendiger Wesen vollzieht, in denen neue Individuen entstehen, - die direkte Teilung, die Knospenbildung, den Generationswechsel. Alle diese Erfahrungen einschließlich der Parthenogenesis sind Errungenschaften, welche uns dahin gebracht haben, jedes einheitliche Schema für die Erzeugung organischer Individuen aufzugeben. An die Stelle des einheitlichen Satzes ist eine Mehrheit von Erfahrungssätzen getreten; wir haben jetzt gar keinen einheitlichen Satz mehr, durch welchen wir jemanden ein für allemal klar machen könnten, wie ein neues tierisches Wesen beginnt.
LITERATUR: Rudolf Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat, Berlin 1877