ra-1ra-3ra-2P. SzendeG. RadbruchK. LamprechtA. MüllerH. Marcuse    
 
HERBERT MARCUSE
Über den affirmativen
Charakter der Kultur
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"Unter affirmativer Kultur soll jene der bürgerlichen Epoche des Abendlandes angehörige Kultur verstanden werden, welche im Lauf ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum  von innen her, ohne jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann."


I. Ursprung des Kulturbegriffs

Die Lehre, daß alle menschliche Erkenntnis ihrem Sinn nach auf die Praxis bezogen ist, gehört zum Kernbestand der antiken Philosophie. ARISTOTELES war der Ansicht, daß die erkannten Wahrheiten die Praxis führen sollten, sowohl in der alltäglichen Erfahrung wie in den Künsten und Wissenschaften. Die Menschen bedürfen in ihrem Daseinskampf der Anstrengung der Erkenntnis, des Suchens der Wahrheit, weil ihnen nicht unmittelbar schon offenbar ist, was das für sie Gute, Zuträgliche und Richtige ist. Der Handwerker und der Kaufmann, der Kapitän und der Arzt, der Feldherr und der Staatsmann - alle müssen über das rechte Wissen in ihrem Sachgebiet verfügen, um so handeln zu können, wie es die jeweils wechselnde Situation erfordert.

Während ARISTOTELES am praktischen Charakter jeder Erkenntnis festhält, macht er einen bedeutsamen Unterschied zwischen den Erkenntnissen. Er ordnet sie gleichsam in einer Wertreihe, deren unterste Stelle das zweckmäßige Bescheidwissen mit den notwendigen Dingen des alltäglichen Daseins einnimmt und auf deren oberster Stufe die philosophische Erkenntnis steht, die für keinen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck, sondern nur noch um ihrer selbst willen geschieht und die den Menschen das höchste Glück gewähren soll. Innerhalb dieser Reihe liegt ein grundsätzlicher Einschnitt : zwischen dem Notwendigen und Nützlichen einerseits und dem "Schönen" andererseits. "Nun ist aber auch das ganze Leben geteilt in Muße und Arbeit und Krieg und Frieden, und die Tätigkeiten sind geteilt in notwendige und nützliche und in schöne." (1) Indem diese Teilung selbst nicht in Frage gestellt wird, indem mit den anderen Bereichen des "Schönen" die "reine" Theorie sich zu einer selbständigen Tätigkeit neben und über den anderen Tätigkeiten verfestigt, bricht der ursprüngliche Anspruch der Philosophie zusammen : die Praxis nach den erkannten Wahrheiten zu gestalten. Die Trennung des Zweckmäßigen und Notwendigen vom Schönen und vom Genuß ist der Anfang einer Entwicklung, welche das Feld freigibt für den Materialismus der bürgerlichen Praxis einerseits und für die Stillstellung des Glücks und des Geistes in einem Reservatbereich der "Kultur" andererseits.

In der Begründung, welche für die Verweisung der höchsten Erkennnis und der höchsten Lust auf die reine zwecklose Theorie gegeben wir, kehrt ein Motiv immer wieder : Die Welt des Notwendigen, der alltäglichen Lebensbesorgung, ist unbeständig, unsicher, unfrei, - nicht bloß faktisch, sondern in ihrem Wesen. Die Verfügung über die materiellen Güter ist nie ganz das Werk menschlicher Tüchtigkeit und Weisheit; der Zufall herrscht über sie. Das Individuum, welches sein höchstes Ziel : seine Glückseligkeit, in diese Güter setzt, macht sich zum Sklaven von Menschen und Dingen, die seiner Macht entzogen sind : es gibt seine Freiheit auf. Reichtum und Wohlstand kommen und bleiben nicht durch seine autonome Entscheidung, sondern durch die wechselnde Gunst undurchschaubarer Verhältnisse. Der Mensch unterwirft also seine Existenz einem außerhalb seiner selbst liegenden Zweck. - Daß ein solcher äußerer Zweck allein schon den Menschen verkümmert und versklavt, setzt eine schlechte Ordnung der materiellen Lebensverhältnisse voraus, deren Reproduktion durch die Anarchie einander entgegengesetzter gesellschaftlicher Interessen geregelt wird, eine Ordnung, in der die Erhaltung des allgemeinen Daseins nicht mit dem Glück und der Freiheit der Individuen zusammengeht. Sofern die Philosophie um das Glück der Menschen besorgt ist - und die klassische antike Theorie hält an der Eudämonie [Glückseligkeit - wp] als dem höchsten Gut fest -, kann sie es nicht in der bestehenden materiellen Lebensgestaltung finden : sie muß deren Faktizität transzendieren.

Die Transzendierung betrifft mit der Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik auch die Psychologie. Wie die außerseelische Welt zerfällt die menschliche Seele in einen niederen und einen höheren Bereich; zwischen den Polen der Sinnlichkeit und der Vernunft spielt sich die Geschichte der Seele ab. Die Abwertung der Sinnlichkeit erfolgt aus denselben Motiven wie die der materiellen Welt : weil sie ein Feld der Anarchie, der Unbeständigkeit, der Unfreiheit ist. Die sinnliche Lust ist nicht ansich schlecht; sie ist schlecht, weil sie sich - wie die niederen Tätigkeiten des Menschen - in einer schlechten Ordnung erfüllt. Die "niederen Seelenteile" binden den Menschen an die Gier nach Erwerb und Besitz, Kauf und Verkauf; er wird dazu geführt, "um sich um nichts anderes zu beeifern als um Geldbesitz und was etwa damit zusammenhängt." (3) Entsprechend wird der "begehrliche" Seelenteil, der sich auf die sinnliche Lust richtet, von PLATO auch der "geldliebende" genannt, "weil vorzüglich durch Geld die Begierden dieser Art befriedigt werden." (4)

In allen ontologischen Einteilungen des antiken Idealismus kommt die Schlechtigkeit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit zum Ausdruck, in der die Erkenntnis der Wahrheit über das menschliche Dasein nicht mehr in die Praxis aufgenommen ist. Die Welt des Wahren, Guten und Schönen ist in der Tat eine "ideale" Welt, sofern sie jenseits der bestehenden Lebensverhältnisse liegt, jenseits einer Gestalt des Daseins, in welcher der größte Teil der Menschen entweder als Sklaven arbeiten oder im Warenhandel ihr Leben verbringen und nur eine kleine Schicht überhaupt die Möglichkeit hat, sich um das zu kümmern, was über die Besorgung und Erhaltung des Notwendigen hinausliegt. Wenn sich die Reproduktion des materiellen Lebens unter der Herrschaft der Warenform vollzieht und das Elend der Klassengesellschaft immer wieder erzeugt, ist das Gute, Schöne und Wahre einem solchen Leben transzendent. Und wenn unter dieser Form alles zur Erhaltung und Sicherung des materiellen Lebens Notwendige hergestellt wird, ist das darüber Hinausliegende allerdings "überflüssig." Das, worauf es eigentlich für den Menschen ankommt : die höchsten Wahrheiten, die höchsten Güter und die höchsten Freuden sind durch einen Abgrund des Sinns vom Notwendigen getrennt, sie sind "Luxus". ARISTOTELES hat den Sachverhalt nicht verhüllt. Die "erste Wissenschaft", bei der auch das höchste Gut und die höchste Lust aufgehoben sind, ist das Werk der Muße einiger weniger, für die alle Lebensnotwendigkeiten schon anderweitig ausreichend besorgt sind. Die "reine Theorie" ist als Beruf einer Elite appropriiert [in Besitz genommen - wp] und durch eiserne gesellschaftliche Schranken vom größten Teil der Menschheit abgeschlossen. - ARISTOTELES hat nicht behauptet, daß das Gute, Schöne und Wahre allgemeingültige und allgemein-verpflichtende Werte sind, die von "oben her" auch den Bereich des Notwendigen : der materiellen Lebensbesorgung, durchdringen und verklären sollten. Erst wenn dies beansprucht wird, ist der Begriff von Kultur ausgebildet, der ein Kernstück der bürgerlichen Praxis und Weltanschauung darstellt. Die antike Theorie meint mit der Höherwertigkeit der über das Notwendige hinausliegenden Wahrheiten auch das soziale "Oben" mit : es sind die Wahrheiten, die bei den herrschenden gesellschaftlichen Schichten beheimatet sein sollen. Und andererseits wird die gesellschaftliche Herrschaftsstellung dieser Schichten von der Theorie dadurch zumindest noch mitbegründet, daß es deren "Beruf" sein soll, um den höchsten Wahrheiten Sorge zu tragen.

Die antike Theorie steht mit der aristotelischen Philosophie gerade an dem Punkt, wo der Idealismus vor den gesellschaftlichen Widersprüchen die Fahne streicht und diese Widersprüche als ontologische Sachverhalte ausspricht. Die plationische Philosophie kämpfte noch gegen die Lebensordnung der warenhandelnden Gesellschaft Athens. PLATOs Idealismus ist von gesellschaftskritischen Motiven durchzogen. Was von den Ideen her gesehen als Faktizität erscheint, ist die materielle Welt, in der Menschen und Dinge als Waren einander entgegentreten. Die rechte Ordnung der Seele wird zerstört durch die "Gier nach Reichtum, die den Menschen so in Anspruch nimmt, daß er für nichts anderes Zeit hat als für die Sorge um sein Hab und Gut. Daran hängt der Bürger mit ganzer Seele, und so kommt es eben, daß er an nichts anderes denkt als den täglichen Gewinn ..." (5) Und es ist die eigentliche idealistische Grundforderung, daß diese materielle Welt entsprechend den in der Erkenntnis der Ideen gewonnenen Wahrheiten verändert und verbessert wird. PLATOs Antwort auf die Forderung ist sein Programm einer Neuorganisation der Gesellschaft. Aus ihm wird offenbar, wo er die Wurzel des Übels gesehen hat : er verlangt für die maßgebenden Schichten die Aufhebung des Privateigentums (auch an Frauen und Kindern) und das Verbot des Warenhandels. Aber dasselbe Programm will die Gegensätze der Klassengesellschaft in der Tiefe des menschlichen Wesens begründen und verewigen : während der größte Teil der Mitglieder des Staates von Anfang bis Ende ihres Dasein auf die freudlose Besorgung der Lebensnotwendigkeiten abgerichtet ist, bleibt der Genuß des Wahren, Guten und Schönen einer kleinen Elite als Beruf vorbehalten. - ARISTOTELES läßt zwar noch die Ethik in der Politik enden, aber die Neuorganisation der Gesellschaft steht bei ihm nicht mehr im Zentrum der Philosophie. In dem Maße wie er "realistischer" als PLATO ist, ist sein Idealismus auch schon resignierter vor den geschichtlichen Aufgaben der Menschheit. Der wahre Philosoph ist für ihn nicht mehr wesentlich der wahre Staatsmann. Die Entfernung zwischen Faktizität und Idee ist größer geworden, gerade weil sie enger zusammengedacht werden. Der Stachel des Idealismus : die Idee zu verwirklichen, stumpft sie ab. Die Geschichte des Idealismus ist auch die Geschichte seines Sich-Abfindens mit dem Bestehenden.

Hinter der ontologischen und erkenntnistheoretischen Trennung von Sinnen- und Ideenwelt, von Sinnlichkeit und Vernunft, von Notwendigem und Schönem steckt nicht nur die Verwerfung, sondern zugleich auch schon die Entlastung einer schlechten geschichtlichen Form des Daseins. Die materielle Welt (womit hier die mannigfachen Gestalten des jeweils "unteren" Beziehungsgliedes jener Relation zusammengefaßt sein sollen) ist ansich bloßer Stoff, bloße Möglichkeit, mehr dem Nicht-Sein als dem Sein verwandt und wird nur, sofern sie an der "oberen" Welt teilnimmt, zur Wirklichkeit. In allen ihren Gestalten bleibt die materielle Welt eben Materie, Stoff für etwas anderes, das ihr erst Wert verleiht. Alle Wahrheit, Güte und Schönheit kann ihr nur "von oben" kommen : von Gnaden der Idee. Und alle Tätigkeit der materiellen Lebensbesorgung bleibt ihrem Wesen nach unwahr, schlecht, häßlich. Mit diesen Charakteren aber ist sie so notwendig, wie der Stoff notwendig ist für die Idee. Das Elend der Sklavenarbeit, die Verkümmerung von Menschen und Dingen zur Ware, die Freudlosigkeit und Gemeinheit, in der sich das Ganze der materiellen Daseinsverhältnisse immer wieder reproduziert, stehen diesseits des Interesses der idealistischen Philosophie, weil sie ja noch gar nicht die eigentliche Wirklichkeit sind, die Gegenstand dieser Philosophie ist. Aufgrund ihrer unabdingbaren Stofflichkeit ist die materielle Praxis von der Verantwortung für das Wahre, Gute und Schöne entlastet, das vielmehr in der Beschäftigung mit der Theorie aufgehoben sein soll. Die ontologische Sonderung der ideellen von den materiellen Werten beruhigt den Idealismus in allem, was die materiellen Lebensvorgänge betrifft. Aus einer bestimmten geschichtlichen Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Klassenschichtung wird ihm eine ewige, metaphysische Form des Verhältnisses von Notwendigem und Schönem, Materie und Idee.

In der bürgerlichen Epoche hat die Theorie des Verhältnisses zwischen Notwendigem und Schönem, Arbeit und Genuß entscheidende Veränderungen erfahren. Zunächst verschwindet die Ansicht, nach der die Beschäftigung mit den höchsten Werten an bestimmte gesellschaftliche Schichten als Beruf appropriiert sein soll. An ihre Stelle tritt die These von der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit der "Kultur". Die antike Theorie hatte mit gutem Gewissen ausgesprochen, daß die meisten Menschen ihr Dasein mit der Besorgung der Lebensnotwendigkeiten verbringen müssen, während ein kleiner Teil sich dem Genuß und der Wahrheit widmet. So wenig sich der Sachverhalt geändert hat : das gute Gewissen ist verloren gegangen. Die freie Konkurrenz stellt die Individuen als Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft einander gegenüber. Die reine Abstraktheit, auf welche die Menschen in ihren gesellschaftlichen Beziehungen reduziert sind, erstreckt sich auch auf den Umgang mit den ideellen Gütern. Es soll nicht mehr wahr sein, daß die einen geboren und würdig sind für die Arbeit, die anderen für die Muße, die einen für das Notwendige, die anderen für das Schöne. Wie jedes Individuum unmittelbar zum Markt ist (ohne daß seine persönlichen Eigenschaften und Bedürfnisse anders relevant werden als warenmäßig), so auch unmittelbar zu Gott, unmittelbar zu Schönheit, Güte und Wahrheit. Als abstrakte Wesen sollen alle Menschen an diesen Werten in gleicher Weise teilnehmen. Wie sich in der materiellen Praxis das Produkt von den Produzenten trennt und in der allgemeinen Dingform des "Gutes" sich verselbständigt, so verfestigt sich in der kulturellen Praxis das Werk, sein Gehalt zu einem allgemeingültigen "Wert". Die Wahrheit eines philosophischen Urteils, die Güte einer moralischen Handlung, die Schönheit eines Kunstwerks sollen ihrem Wesen nach jeden ansprechen, jeden betreffen, jeden verpflichten. Ohne Unterschied des Geschlechts und der Geburt, unbeschadet ihrer Stellung im Produktionsprozeß haben sich die Individuen den kulturellen Werten zu unterwerfen. Sie haben sie in ihr Leben aufzunehmen, ihr Dasein von ihnen durchdringen und verklären zu lassen. Die "Zivilisation" wird beseelt durch die "Kultur".

Auf die verschiedenen Versuche, den Begriff der Kultur zu definieren, wird hier nicht eingegangen. Es gibt einen Kulturbegriff, der ein für die Sozialforschung wichtiges Werkzeug darstellen kann, weil in ihm die Verflochtenheit des Geistes in den geschichtlichen Prozeß der Gesellschaft ausgesprochen wird. Er meint das jeweilige Ganze des gesellschaftlichen Lebens, sofern darin sowohl die Gebiete der ideellen Reproduktion (Kultur im engeren Sinne, als die "geistige Welt") als auch der materiellen Reproduktion (der "Zivilisation) eine historisch abhebbare und begreifbare Einheit bilden (6). Es gibt jedoch noch eine andere sehr verbreitete Verwendung des Kulturbegriffs, bei welcher die geistige Welt aus einem gesellschaftlichen Ganzen herausgehoben und hierdurch die Kultur zu einem (falschen) Kollektivum und zu einer (falschen) Allgemeinheit erhöht wird. Dieser zweite Kulturbegriff (besonders ausgeprägt in Wendungen wie "nationale Kultur", "germanische Kultur" oder "romanische Kultur") spielt die geistige Welt gegen die materielle Welt aus, indem er die Kultur als das Reich der eigentliche Werte und Selbstzwecke der gesellschaftlichen Nutz- und Mittel-Welt entgegenhält. Durch ihn wird die Kultur von der Zivilisation unterschieden und vom Gesellschaftsprozeß soziologisch und wertmäßig entfernt (7). Er ist selbst schon auf dem Boden einer bestimmten geschichtlichen Gestalt der Kultur erwachsen, die im folgenden als affirmative [zustimmende - wp] Kultur bezeichnet wird. Unter affirmativer Kultur soll jene der bürgerlichen Epoche des Abendlandes angehörige Kultur verstanden werden, welche im Lauf ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum "von innen her", ohne jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann. Erst in dieser Kultur gewinnen die kulturellen Tätigkeiten und Gegenstände ihre hoch über den Alltag emporgesteigerte Würde : ihre Rezeption wird zu einem Akt der Feierstund und der Erhebung.

Mag die Unterscheidung von Zivilisation und Kultur auch erst in jüngster Zeit zum terminologischen Rüstzeug der Geisteswissenschaften geworden sein, - der durch sie ausgedrückte Sachverhalt ist für die Lebenspraxis und Weltanschauung des bürgerlichen Zeitalters seit langem charakteristisch. "Zivilisation und Kultur" ist nicht einfach eine Übersetzung des antiken Verhältnisses von Zweckmäßigem und Zwecklosem, Notwendigem und Schönem. Indem das Zwecklose und Schöne verinnerlicht und mit den Qualitäten der verpflichtenden Allgemeingültigkeit und der erhabenen Schönheit zu den kulturellen Werten des Bürgertums gemacht werden, wird in der Kultur ein Reich scheinbarer Einheit und scheinbarer Freiheit aufgebaut, worin die antagonistischen Daseinsverhältnisse eingespannt und befriedet werden sollen. Die Kultur bejaht und verdeckt die neuen gesellschaftlichen Lebensbedingungen.

Die Welt des Schönen jenseits des Notwendigen war für die Antike wesentlich eine Welt des Glücks, des Genusses. Die antike Theorie hatte noch nicht bezweifelt, daß es den Menschen auf dieser Welt zuletzt um ihre irdische Befriedigung, um ihr Glück geht. Zuletzt, - nicht zuerst. Zuerst ist der Kampf um die Erhaltung und Sicherung des bloßen Daseins. Angesichts der dürftigen Entfaltung der Produktivkräfte in der antiken Wirtschaft kam es der Philosophie nicht in den Sinn die materielle Praxis könne jemals so gestaltet werden, daß in ihr selbst Raum und Zit für das Glück entstünde. Die Angst steht am Anfang aller idealistischen Lehren, die höchste Glückseligkeit in der ideellen Praxis zu suchen : Angst vor der Unsicherheit aller Lebensverhältnisse, vor dem "Zufall" des Verlusts, der Abhängigkeit, des Elends, aber auch Angst vor der Sättigung, dem Überdruß, dem Neid, der Menschen und Götter. Doch die Angst um das Glück, welche die Philosophie zur Trennung des Schönen vom Notwendigen getrieben hatte, hält die Forderung nach Glück noch in der getrennten Sphäre aufrecht. Das Glück wird zum Reservatbereich, damit es überhaupt noch da sein kann. Es ist die höchste Lust, die der Mensch in der philosophischen Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen finden soll. Sie trägt die Gegenzüge der materiellen Faktizität : sie gibt das Dauernde im Wechsel, das Reine im Unreinen, das Freie im Unfreien.

Das abstrakte Individuum, welches mit dem Beginn der bürgerlichen Epoche als Subjekt der Praxis auftritt, wird, allein schon durch die neue gesellschaftliche Frontenbildung, auch zum Träger einer neuen Glücksforderung. Nicht mehr als Vertreter oder Delegat höherer Allgemeinheiten, sondern als je einzelnes Individuum soll es nun die Besorgung seines Daseins, die Erfüllung seiner Bedürfnisse selbst in die Hand nehmen, unmittelbar zu seiner "Bestimmung", seinen Zwecken und Zielen stehen, ohne die sozialen, kirchlichen und politischen Vermittlungen des Feudalismus. Sofern in einer solchen Forderung dem einzelnen ein größerer Raum individueller Ansprüche und Befriedigungen zugewiesen war - ein Raum, den die sich entfaltende kapitalistische Produktion mit immer mehr Gegenständen möglicher Befriedigung als Waren zu füllen begann -, bedeutet die bürgerliche Befreiung des Individuums die Ermöglichung eines neuen Glücks. Ihre Allgemeingültigkeit wird sogleich zurückgenommen, da die abstrakte Gleichheit der Individuen in der kapitalistischen Produktion sich als konkrete Ungleichheit realisiert : nur ein kleiner Teil der Menschen verfüft über die nötige Kaufkraft, um sich die zur Sicherung seines Glücks erforderliche Warenmenge verschaffen zu können. Auf die Bedingungen zur Erlangung der Mittel erstreckt sich die Gleichheit nicht mehr. Bei den Schichten des bäuerlichen und städtischen Proletariats, auf die das Bürgertum im Kampf gegen die feudalen Mächte angewiesen war, konnte die abstrakte Gleichheit nur als wirkliche Gleichheit einen Sinn haben. Für das zur Herrschaft gekommene Bürgertum genügte die abstrakte Gleichheit, um wirkliche individuelle Freiheit und wirkliches individuelles Glück erscheinen zu lassen : es verfügte bereits über die materiellen Bedingungen, die eine solche Befriedigung verschaffen konnten. Ja das Stehenbleiben bei der abstrakten Gleichheit gehörte selbst zu den Bedingungen seiner Herrschaft, die durch das Weitertreiben des Abstrakten zum konkreten Allgemeinen gefährdet werden mußte. Andererseits konnte es den allgemeinen Charakter der Forderung : daß sie sich auf alle Menschen erstreckt, nicht aufgeben, ohne sich selbst zu denunzieren und den beherrschten Schichten offen zu sagen, daß für den größten Teil der Menschen in Bezug auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse alles beim Alten bleibt; es konnte dies umso weniger, je mehr der steigende gesellschaftliche Reichtum die wirkliche Erfüllung der allgemeinen Forderung zur realen Möglichkeit machte und mit dem relativ wachsenden Elend der Armen in Stadt und Land kontrastierte. So wird aus der Forderung ein Postulat, aus ihrem Gegenstand eine Idee. Die Bestimmung des Menschen, dem die allgemeine Erfüllung in der materiellen Welt versagt ist, wird als Ideal hypostasiert [vergegenständlicht - wp].

Die aufsteigenden bürgerlichen Gruppen hatten ihre Forderung nach einer neuen gesellschaftlichen Freiheit durch die allgemeine Menschenvernunft begründet. Dem Glauben an die gottgesetzte Ewigkeit einer hemmenden Ordnung hielten sie ihren Glauben an den Fortschritt, an eine bessere Zukunft entgegen. Aber die Vernunft und die Freiheit reichten nicht weiter als das Interesse eben jener Gruppen, das mehr und mehr zum Interesse des größten Teils der Menschen in einen Gegensatz trat. Auf die anklagenden Fragen gab das Bürgertum eine entscheidende Antwort : die affirmative Kultur. Sie ist in ihren Grundzügen idealistisch. Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der der Pflicht. Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen Gesellschaft alle diese Ideen einen fortschrittlichen, über die erreichte Organisation des Daseins hinausweisenden Charakter, so treten sie in steigendem Maß mit der sich stabilisierenden Herrschaft des Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener massen und der bloßen rechtfertigenden Selbsterhebung : sie verdecken die leibliche und psychische Verkümmerung des Individuums.

Aber der bürgerliche Idealismus ist nicht nur eine Ideologie : er spricht auch einen richtigen Sachverhalt aus. Er enthält nicht nur die Rechtfertigung der bestehenden Daseinsform, sondern auch den Schmerz über ihren Bestand; nicht nur die Beruhigung bei dem, was ist, sondern auch die Erinnerung an das, was sein könnte. Indem die große bürgerliche Kunst das Leid und die Trauer als ewige Weltkräfte gestaltet hat, hat sie die leichtfertige Resignation des Alltags immer wieder im Herzen der Menschen zerbrochen; indem sie die Schönheit der Menschen und Dinge und ein überirdisches Glück in den leuchtenden Farben dieser Welt gemalt hat, hat sie neben dem schlechten Trost und der falschen Weihe auch die wirkliche Sehnsucht in den Grund des bürgerlichen Lebens eingesenkt. Wenn sie den Schmerz und die Trauer, die Not und die Einsamkeit zu metaphysischen Mächten steigert, wenn sie die Individuen über die gesellschaftlichen Vermittlungen hinweg in nackter seelischer Unmittelbarkeit gegeneinander und gegen die Götter stellt, so steckt in dieser Übersteigerung die höhere Wahrheit : daß eine solche Welt nicht durch dieses oder jenes geändert werden kann, sondern nur durch ihren Untergang. Die klassische bürgerliche Kunst hat ihre Idealgestalt so weit vom alltäglichen Geschehen entfernt, daß die in diesem Alltag leidenden und hoffenden Menschen sich nur durch den Sprung in eine total andere Welt wiederfinden können. So hat die Kunst den Glauben genährt, dß die ganze bisherige Geschichte zum kommenden Dasein nur die dunkle und tragische Vorgeschichte ist. Und die Philosophie hat die Idee ernst genug genommen, um noch für ihre Verwirklichung besorgt zu sein. HEGELs System ist der letzte Protest gegen die Entwürdigung der Idee : gegen das geschäftige Spiel mit dem Geist als einem Gegenstand, der mit der Geschichte der Menschen eigentlich nichts zu tun hat. Der Idealismus hat immerhin daran festgehalten, daß der Materialismus der bürgerlichen Praxis nicht das letzte Wort ist und daß die menschheit darüber hinaus zu führen ist. Er gehört einer fortschrittlicheren Stufe der Entwicklung an als der späte Positivismus, der (wie an anderer Stelle dieses Heftes gezeigt) in seinem Kampf gegen die metaphysischen Ideen nicht nur ihren metaphysischen Charakter, sondern auch ihre Inhalte durchstreicht und sich unentrinnbar der bestehenden Ordnung verbindet.

Die Kultur soll die Sorge für den Glücksanspruch der Individuen übernehmen. Aber die gesellschaftlichen Antagonismen, die ihr zugrundeliegen, lassen den Anspruch nur als verinnerlichten und rationalisierten in die Kultur eingehen. In einer Gesellschaft, welche sich durch die wirtschaftliche Konkurrenz reproduziert, stellt schon die Forderung nach einem glücklicheren Dasein des Ganzen eine Rebellion dar : den Menschen auf den Genuß irdischen Glücks verweisen, das bedeutet, ihn jedenfalls nicht auf die Erwerbsarbeit, nicht auf den Profit, nicht auf die Autorität jener ökonomischen Mächte verweisen, die dieses Ganze am Leben erhalten. Der Glücksanspruch hat einen gefährlichen Klang in einer Ordnung, die für die meisten Not, Mangel und Mühe bringt. Die Widersprüche einer solchen Ordnung treiben dazu, den Anspruch zu idealisieren. Aber die wirkliche Befriedigung der Individuen läßt sich nicht in eine idealistische Dynamik einspannen, welche die Erfüllung immer wieder hinausschiebt oder überhaupt nur in das Streben nach dem nie schon Erreichten verlegt. Nur  gegen  die idealistische Kultur kann sie sich durchsetzen; nur  gegen  diese Kultur wird sie als allgemeine Forderung laut. Sie tritt auf als die Forderung nach einer wirklichen Veränderung der materiellen Daseinsverhältnisse, nach einem neuen Leben, nach einer neuen Gestalt der Arbeit und des Genusses. So bleibt sie wirksam in den revolutionären Gruppen, die seit dem ausgehenden Mittelalter die sich ausbreitende neue Ungerechtigkeit bekämpfen. - Und während der Idealismus die Erde der bürgerlichen Gesellschaft überläßt und seine Ideen selbst unwirklich macht, indem er sich mit dem Himmel und der Seele begnügt, nimmt die materialistische Philosophie die Sorge um das Glück ernst und kämpft um seine Realisierung in der Geschichte. In der Philosophie der Aufklärung wird dieser Zusammenhang deutlich.
    "Die falsche Philosophie kann, wie die Theologie, uns ein ewiges Glück versprechen und, uns in schönen Chimären wiegend, dorthin uns führen auf Kosten unserer Tage oder unserer Lust. Die wahre Philosophie, wohl verschieden von jener und weiser als sie, gibt nur ein zeitliches Glück zu; sie sät die Rosen und Blumen auf unserem Pfad und lehrt uns sie zu pflücken." (8)
Daß es um das Glück der Menschen geht, gibt auch die idealistische Philosophie zu. In der Auseinandersetzung mit dem Stoizismus übernimmt die Aufklärung aber gerade jene Gestalt der Glücksforderung, welche in den Idealismus nicht eingeht und mit der die affirmative Kultur nicht fertig wird:
    "Und wie werden wir Anti-Stoiker sein! Diese Philosophen sind streng, traurig, hart; wir werden zart, froh und gefällig sein. Ganz Seele, abstrahieren sie von ihrem Körper; ganz Körper, werden wir von unserer Seele abstrahieren. Sie zeigen sich unzugänglich der Lust und dem Schmerz; wir werden stolz sein, das eine wie das andere zu fühlen. Auf das Erhabene ausgerichtet, erheben sie sich über alle Geschehnisse und glauben sich nur soweit wahrhaft Mensch zu sein, als sie überhaupt aufhören zu sein. Wir, wir werden nicht verfügen über das, was uns beherrscht; wir werden nicht unseren Empfindungen gebieten : indem wir ihre Herrschaft und unsere Knechtschaft zugestehen, werden wir versuchen, sie uns angenehm zu machen, in der Überzeugung, daß eben hier das Glück des Lebens liegt; und schließlich werden wir uns umso glücklicher glauben, je mehr wir Mensch sind, oder umso würdiger des Daseins, je mehr wir Natur, Menschlichkeit und alle sozialen Tugenden empfinden; wir werden keine anderen anerkennen, noch ein anderes Leben als dieses hier." (9)

LITERATUR: Herbert Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang IV, Heft 1, Paris 1937
    Anmerkungen
    1) Diese Arbeit ist durch Ausführungen MAX HORKHEIMERs über den "affirmativen Charakter" und den "falschen Idealismus" der neueren Zeit angeregt worden (vgl. diese Zeitschrift, Jahrgang V, 1936, besonders Seite 219)
    2) ARISTOTELES, Politik, 1333a
    3) PLATO, Republik, 525 und 553 (Übersetzung von SCHLEIERMACHER)
    4) PLATO, Republik, Seite 581.
    5) PLATO, Leges 831. - Vgl. JÜRGEN BRAKE, Wirtschaften und Charakter in der antiken Bildung, Ffm 1935, Seite 124f.
    6) Vgl. Studien über Autorität und Familie, Schriften des Instituts für Sozialforschung, Bd. V, Paris 1936, Seite 7f
    7) OSWALD SPENGLER faßt das Verhältnis von Zivilisation und Kultur nicht als Gleichzeitigkeit, sondern als "notwendiges organisches Nacheinander" auf: die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal und Ende jeder Kultur (Der Untergang des Abendlandes, Bd. I, 23-32. Auflage, München 1920, Seite 43f. An der oben angedeuteten traditionellen Bewertung von Kultur und Zivilisation wird durch eine solche Umformulierung nichts geändert.
    8) LAMETTRIE, Discours sur le Bonheur, Oeuvres Philosophiques, Berlin 1775, Bd. II, Seite 102
    9) LAMETTRIE, a. a. O., Seite 86f