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KARL LAMPRECHT
(1856 - 1915)
Die kulturhistorische Methode
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"Das Individuelle als Ganzes ist anschaulich; es läßt sich durch eine Beschreibung, durch eine Umschreibung mittels Begriffen wohl der Phantasie einigermaßen vergegenwärtigen, niemals aber völlig exakt wiedergeben. Jeder Versuch der Umschreibung des Individuellen, er sei roh oder fein, gehört daher nicht der Wissenschaft an, sondern der  Kunst:  die Kunst geht auf die Belebung des Anschaulich-Individuellen in der Phantasie."

Der Kernpunkt des erbitterten Kampfes, der sich auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft seit mehr als drei Jahren abspielt, ist jetzt sehr einfach zu ergreifen: ein Zeichen dafür, daß die Polemik, welche mit Unklarheiten selbst in Hauptfragen einsetzte, doch schließlich, wenn auch nach manchem unwürdigen Kampfesmoment, eine nicht mehr zu verkennende Lage geschaffen hat. Nur eins ist zum Verständnis der miteinander ringenden Gegensätze von Neu und Alt nötig: daß man den Standpunkt für die Betrachtung genügend hoch wähle, und daß man sich des logischen Charakters der bisherigen historiographhischen Praxis einigermaßen bewußt werde. Von diesen beiden Voraussetzungen soll im folgenden zur Verdeutlichung der Gegensätze, um die es sich handelt, und damit zugleich zur Erklärung der kulturhistorischen Methode ausgegangen werden.

Gehört die heute bestehende wie die historiographische Praxis überhaupt der Kunst an oder der Wissenschaft? Das ist die erste Vorfrage, die eine Beantwortung erfordert.

Wir suchen der Antwort durch eine Betrachtung zunächst nicht auf dem Gebiet der Geschichte im engeren Sinne, sondern auf dem Gebiet der Naturgeschichte näherzutreten. Kann ich einen bestimmten Baum oder ein bestimmtes, individuelles Tier nach den Seiten hin, die ihre Individualität ausmachen, in denen sie also einzigartig, singulär sind,  wissenschaftlich exakt,  und das heißt logisch erschöpfend, beschreiben? Ich sage von einem Baum aus, er habe einen rissigen Stamm, er habe matte Blätter, er zeige ein konisch geformtes Blätterdach usw., und ich bemerke von einem Tier, es habe einen gefleckten Pelz, es hinke auf einem Fuß usw. Mit anderen Worten, ich umgrenze das individuelle Wesen des Baumes, des Tieres durch die Summe von Urteilen, die auf eine Applikation [Anwendung - wp] allgemeiner Begriffe, wie  rissig, matt, konische Form  usw., auf den zu beschreibenden Gegenstand beruhen.

Erschöpfe ich aber mit einer solchen Charakteristik wissenschaftlich das individuelle Wesen des Baumes, des Tieres? Niemals. Das Individuelle als Ganzes ist anschaulich; es läßt sich durch eine Beschreibung, durch eine Umschreibung mittels Begriffen wohl der Phantasie einigermaßen vergegenwärtigen, niemals aber völlig exakt wiedergeben. Jeder Versuch der Umschreibung des Individuellen, er sei roh oder fein, gehört daher nicht der Wissenschaft an, sondern der Kunst: die Kunst geht auf die Belebung des Anschaulich-Individuellen in der Phantasie.

Dabei ist freilich die Kunst, wie unsere Fälle zeigen, nicht unabhängig von der Wissenschaft. Die künstlerische Umschreibung bedarf der Begriffe als des Hilfsmaterials der Umschreibung: sie arbeitet mit Urteilen. Diese Begriffe können nun der gewöhnlichen Sprache entliehen sein: rissig, matt. In diesem Fall handelt es sich um ein Hilfsmaterial allgemeinst gebräuchlicher Art: wegen des häufigen und sehr evidenten Vorkommens des Rissigen, des Matten hat schon die Sprache diese Vorstellungen aus der Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt abstrahiert und zu Begriffen verdichtet. Die Begriffe können aber auch einen höheren Stadium der Begriffsbildung über der Sprache angehören, dem der Wissenschaft: denn Wissenschaft ist nichts anderes als der Versuch, die Welt der Erscheinungen höheren Begriffen und Begriffssystemen zu unterstellen, als sie die Sprache schon darbietet: Wissenschaft ist eine auf einem anderen, als bloß gemeinsprachlichem Weg fortgesetzte Begriffsbildung. Dahin würde z. B. schon das Urteil gehören: dieser Baum hat ein Blätterdach konischer Form, noch mehr aber andere Urteile, welche etwa den innern Bau des Baumes, seine besonderen physiologischen Merkmale, Krankheitssymptome etwa und dgl. berühren würden.

Besteht nun eine Differenz zwischen dem Hilfsmaterial zur künstlerischen Veranschaulichung individueller Erscheinungen der Natur, das die Sprache darbietet, und dem Hilfsmaterial, das die Wissenschaft darbietet? Ein prinzipieller Unterschied gewiß nicht: in beiden Fällen handelt es sich um eine Applikation von Begriffen. Wohl aber ein virtueller. Das Begriffsmaterial der Sprache gestattet nur eine rohe Beschreibung; die Beschreibung wird umso feiner und tiefer, je mehr Begriffsmaterial der Wissenschaft angewandt werden kann; denn dies geht im Reichtum differenzierender wie zusammenfassender Begriffe weit über das Material der Sprache hinaus. Man lese z. B. die Beschreibung einer bestimmten Landschaft, wie sie ein Laie mit dem ansich gewiß reichen Material unserer heutigen Sprache, etwa in einem Roman, gibt, und vergleiche sie mit den Ansichten der Natur ALEXANDER von HUMBOLDTs, in denen das Begriffsmaterial der Wissenschaft zur Beschreibung herangezogen ist, und man wird über den Unterschied an Präzision und Fülle erstaunt sein.

Fassen wir den Inhalt unserer bisherigen Erörterungen zusammen, so hat sich ergeben: in der Naturgeschichte ist die Beschreibung der Erscheinungen nach ihrer individuellen, singulären Seite hin eine Kunst; diese Kunst aber arbeitet mit den Begriffen der Sprache und der Wissenschaft, und sie wird um so voller und feiner, je reichere und subtilere Begriffe ihr beide, und in hochkultivierten zeiten namentlich die zur Weiterbildung der Begriffswelt vornehmlich berufene Wissenschaft zur Verfügung stellen. Sie ist mithin in ihrer Durchbildung abhängig von der Weiterbildung der Begriffe in Sprache und namentlich Wissenschaft. So ist dann z. B. die künstlerische Wiedergabe des Menschen seit spätestens LEONARDO da VINCI von anatomischen Studien abhängig geworden, wie neuerdings - schon GOETHE hat diesen Zusammenhang betont - der Landschaftsmalerei ein gewisses Studium der Botanik zustatten kommt.

Gilt aber nun, was für die Naturgeschichte zutrifft, auch für die Geschichte im einem engeren Sinn des Wortes? Die Frage mit einem vollen Ja zu beantworten. Wie könnte es auch anders sein, da es sich in beiden Fällen um die Anwendung derselben Funktion unseres Seelenlebens auf das Individuelle, Singuläre der Erscheinungen, und nur auf abweichend geartete Ausprägungen dieses Singulären handelt? Will ich einen geschichtlichen Vorgang beschreiben, so tue ich das mit dem Material zunächst der sprachlich niedergelegten Begriffe;, doch tiefer und reicher wird meine Beschreibung erst dann, wenn ich für sie die Begriffswelt der Wissenschaft in Anspruch nehmen kann. Man bemerke den Unterschied, wenn ich berichte: im Jahr 750 war um Fulda eine Hungersnot, so daß sogar Leute aus der Gegend auswanderten, oder wenn ich erzähle: im Jahr 750 war um Fulda eine Hungersnot, die entsprechend dem Zeitalter einen rein naturalwirtschaftlichen Charakter trug bis zu dem Grad, daß selbst Leute auswanderten. Hier eröffnet die zweite Erzählung für den, der den Begriff "reine Naturalwirtschaft" kennt, sofort eine Perspektive, die ganz anders weit ist als die der ersten Erzählung: die Auswanderung erscheint hier deutlich nur als bezeichnender Zug in einem ganzen Gemälde.

Was ist nun nach all dem Gesagten das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft in einer Natur- oder Geschichtsbeschreibung? Beide Beschreibungen sind Künste, aber mit dem Begriffsmaterial der Sprache und der Wissenschaft operierende Künste und darum von der Entwicklung der Sprache und in neueren Zeiten namentlich der betreffenden Wissenschaften abhängig.

Wir werden nun gut daran tun, diese Abängigkeit genauer wieder zunächst auf dem Gebiet der Naturgeschichte zu verfolgen; denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die Naturwissenschaften noch heute verhältnismäßig weiter entwickelt sind als die Geschichtswissenschaft. Indem wir dies aber tun, beginnen wir in die zweite Voraussetzung für das Verständnis der heutigen geschichtswissenschaftlichen Bewegung, in die zweite oben als nötig bezeichnete Voruntersuchung einzutreten: in die Geschichte der Wissenschaften seit dem 16. Jahrhundert.

Von einer Geschichte der Wissenschaften im Mittelalter kann man nur mit einer starken Beschränkung des Ausdrucks sprechen. Die sogenannte wissenschaftliche Tätigkeit des Mittelalters erschöpft sich in der Überlieferung des Wissens, welches die wissenschaftliche Bewegung des Altertums zutage gefördert hatte, und in dessen teilweiser, nach dem eigenen geistigen Vermögen der Zeit modifizierter Verwendung für die Gegenwart: selbständiges wissenschaftliches Denken gehört nicht zu den Kennzeichen dieser Jahrhunderte; erst seit dem 15. Jahrhundert erwacht es, und nur einzelne, besonders selbständige Geister wagen sich früher auf die noch gefährlichen Bahnen autonomen Denkens. Als dann mit dem 15. Jahrhundert, mit dem Anbruch des großen psychischen Umschwungs den wir als Streben nach Individualität bezeichnen, der ganzen geistigen haltung der Zeit gemäß sich überall in denkenden Köpfen wissenschaftliche Triebe regen, als man die Welt der Erscheinungen um vieles tiefer zu begreifen versucht, als das im Komplex der Begriffe der Fall war: da geschah das anfangs nicht in geduldiger wissenschaftlicher Einzelarbeit. Natur und Geist suchte man alsbald als ein Ganzes zu erfassen; einen Schlüssel glaubte man suchen zu müssen, der jedes Geheimnis der Welt alsbald entriegelt; es war ein primitiver, enthusiastischer Beginn wissenschaftlichen Denkens. Und dam man die Welt des Geistes durch psychische Regungen, die Welt der Natur durch Bewegungen, hinter denen man Kräfte wirkend vermutete, beherrscht sah, so bildeten sich pandynamische Theorien aus, nach denen eine Welt von Geistern und hinter der Welt der Erscheinungen stehenden Kräften diese transzendent, bisweilen wohl auch unklar immanent regierte. Es ist die Natur- und Geistesanschauung, die der GOETHEsche  Faust  in unübertrefflicher Weise zusammenfaßt und der heutigen Generation weit anschaulicher vor die Seele stellt, als irgendeine Beschreibung es tun könnte.

War nun aber mit diesem pandynamischen Wissenschaftsbestreben vorwärts zu gelangen? Schon das 16. Jahrhundert machte auf diesem Gebiet die Erfahrungen  Fausts:  die Welt öffnet sich dem Menschengeist nicht als Ganzes.

So mußte man von der intensiven Betrachtung der Einzelvorgänge vorwärts zu gelangen suchen. Schwer und vorläufig unmöglich erwies sich das auf dem Gebiet des Geisteslebens: die psychischen Vorgänge sind noch bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts wenigstens in Deutschland fast ausschließlich vom Standpunkt der großen metaphysischen Systeme der Theologen und Philosophen der Zeit her und nicht von sich aus betrachtet worden. Zugänglicher erwies sich die reine, nur auf sich begrenzte Beobachtung der Vorgänge in der Natur, wie sie sich auf Bewegung (bzw. Gleichgewicht) reduzieren ließen; darum entwickelte sich zuerst die Naturwissenschaft, und zwar vom Ausgangspunkt der Mechanik her. STEVINUS und GALILEI, der große Niederländer und der große Italiener, waren es hier, die zuerst einfache Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung aufstellten; und der Fortschritt der Mathematik gestattete es dann in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, durch die Ausbildung der Differentialrechnung diese Gesetze auf einfachste Formeln zu bringen. Seitdem stand die Wissenschaft der Mechanik als Grundlage aller Naturwissenschaft so ziemlich fertig da, wenn auch spätere Zeiten noch eine weitere Vervollkommnung in der immer stärkeren Reduktion der mechanischen Erfahrungen auf einfache Prinzipien, bis zur Ausbildung einer bloßen Mannigfaltigkeitslehre, gebracht haben.

Mit der Entwicklung der Mechanik als der Lehre von der Bewegung (bzw. von der hinter der Bewegung angenommenen Energie) der Körper war die Grundlage gegeben für die Ausbildung der Physik und der Chemie als gleichsam angewandter Mechanik: seit Mitte des 17. Jahrhunderts werden die in diesem Zusammenhang liegenden Möglichkeiten für die Physik, für die Chemie freilich erst viel später entschiedener ergriffen, beginnt eine zweite Entwicklungsstufe der Naturwissenschaft.

Und von hier aus nähert man sich, vornehmlich etwa seit Mitte des vorigen Jahrhunderts, zuerst nur in rein phantasievollen, enthusiastischer Stimmung entquellenden Spekulationen, sodann in den schon gebundenen Formen der Naturphilosophie, schließlich in einem strengwissenschaftlichen Denken den biologischen Problemen. Ein neuer Begriff taucht hier als entscheidend auf neben dem älteren der Bewegung: der der Entwicklung. Kann man die physikalischen und chemischen Gesetze, wie sie sich in der Bewegung abspielen, als zeitlos ansehen - wenigstens für unsere Auffassung zeitlos, weil seit Menschengedenken ihrem Wesen nach unverändert; tatsächlich sind sie es nicht, da das Universum nicht stillsteht, sondern sich in einseitiger Entfaltung befindet, so daß auch auf dem Gebiet des natürlichen Geschehens keine Augenblick dem anderen gleicht - kann man also, sage ich, die Bewegungsgesetze als relativ zeitlos ansehen, so erscheinen die biologischen Vorgänge vielmehr für uns und unseren irdisch-zeitlich begrenzten Blick keinesfalls als zeitlos, sondern getaucht in das Moment einer an unserem Zeitbegriff zu messenden einseitigen Entwicklung.

Wie sich nun dieses Gebietes bemächtigen, in dem jedes zusammenhängendere Ganzes von Bewegungen die Tendenz einer bestimmten Ausgestaltung zeigt, in dem chemisch-physikalische Vorgänge aus dem Keim zur Pflanze, von der Blüte zur Frucht, von absterbenden Floren und Faunen führen, - in einem gewissen System physikalisch-chemischer Vorgänge in der Pflanze, im Tier, im Menschen, ja, wenn man will, in der Erde selbst als Organismen erscheinen? Wie den hier überall auftauchenden Begriff des Lebens fassen? Nicht die Einzeluntersuchung eröffnet hier den ersten Blick, sondern die Zusammenfassung; denn das Leben, das es zu begreifen gilt, ist selbst ein Moment der Zusammenfassung. Darum ist auch die wissenschaftliche Eroberung des biologischen Gebietes von einer stärkeren Phantasie und Spekulation, als sonst in den Naturwissenschaften üblich ist, ausgegangen, und die ersten Meister der neuen Wissenschaft waren diejenigen, in denen sich umfassendster spekulativer Sinn mit innigster und klarster Hingebung an die Welt der Erscheinungen vereinigte: hier z. B. tritt die wissenschaftliche Größe GOETHEs zutage. Das Ergebnis dieser Tätigkeit aber war: die Aufstellung geologisch-biologischer Zeitalter der Erdentwicklung für den allgemeinsten Zusammenhang der biologischen Erscheinungen und der Nachweis der Entwicklung der heutigen Lebensformen der Organismen im Verlauf dieser Zeitalter von einfachsten Formen aus. Nachdem aber und während die Schemata der geologischen Zeitalter gewonnen wurden und die Entwicklungsgeschichte der Organismen im Zusammenhang mit ihnen abgeleitet war, entstand zugleich die Pflanzen- und Tierphysiologie zum Nachweis der allen Zeitaltern und Organismen gemeinsamen Triebe und Komponenten und ihres regulären Entwicklungsgangs.

Fassen wir jetzt die Momente zusammen, welche in der Entwicklung der Naturwissenschaft der modernen Völker als die wesentlichen erscheinen, so werden wir sagen: Mechanik als Grundwissenschaft der physischen Energie (Bewegung), zuerst entwickelt; Physik und Chemie, an zweiter Stelle in Angriff genommen: Anwendung der Lehre von der Bewegung auf die nach herkömmlicher Anschauung unveränderlich erscheinenden Vorgänge der Natur; Biologie, zuletzt ergriffen: Lehre von den nach deutlicher Anschauung in bestimmter Richtung veränderlich erscheinenden lebendigen Systemen physischer Energien, und zwar Nachweis der Entwicklung derselben aus einfachen Formen im Verlauf geologischer Zeitalter und Nachweis derjenigen physiologischen Elemente derselben, welche allen Formen der verschiedenen Zeitalter gemeinsam sind.

Hat nun die Entwicklung der Geisteswissenschaften der modernen Völker mit der Entwicklung der Naturwissenschaft irgendwelche Parallelen aufzuweisen? Oder fällt wenigstens aus der Entwicklung der Naturwissenschaft auf die der Geisteswissenschaften ein aufhellendes Licht?

Wir müssen uns hier zunächst über den Begriff der Geisteswissenschaften verständigen, wobei sich zugleich die Bedeutung der Geschichtswissenschaft innerhalb der Geisteswissenschaften ergeben wird.

Gibt es in den Geisteswissenschaften Parallelen zu der Stellung, welche die Mechanik, die Physik und Chemie, welche schließlich die biologischen Disziplinen in der Naturwissenschaft einnehmen? Die Geisteswissenschaften umfassen die Wissenschaften der seelischen Vorgänge, der seelischen Bewegungen, der psychischen Energie, wie die Naturwissenschaft die der physischen. Da liegt nun auf der Hand, daß eine induktive, nicht von irgendwelchen besonderen deduktiven, metaphysischen Systemen abhängige Psychologie ebenso die Grundwissenschaft der geistigen Erscheinungen sein muß wie die Mechanik der physischen. Und auch für die Stellung der Physik und Chemie finden sich analoge Erscheinungen in den Geisteswissenschaften: sie werden von denjenigen Wissenschaften gebildet, welche die seelischen Vorgänge zur Ausbildung gewisser Systeme praktisch als unveränderlich, als nicht in fortdauernder Entwicklung befindlich betrachten. Die hierhergehörigen Wissenschaften sind namentlich die Theologie und die Jurisprudenz; indem sie ihre Systeme aufstellen, gehen sie von der Voraussetzung aus, daß die diesen Systemen zugrunde liegende pychische Konstellation nicht die eines bestimmten Zeitalters, sondern eine unveränderliche, ständig währende ist. Wenigstens war das die Auffassung in der Zeit, als sich die wichtigsten und ältesten dieser Wissenschaften ausbildeten, in der Zeit des Naturrechts und der natürlichen Religion, im 17. und in einem großen Teil des 18. Jahrhunderts; später, im Zeitalter eines Geisteslebens, das in den Naturwissenschaften der Biologie zum Durchbruch verhalf und überhaupt alles unter dem Begriff der Entwicklung zu betrachten lernte, haben sie sich dann mehr als zuvor zu historischen Wissenschaften umgestaltet, wenn gleich sie auch heute noch als systematisch-praktische Wissenschaften von der Voraussetzung auszugehen suchen, daß die psychische Konstellation zumindest des eigenen Zeitalters nicht einer ständigen Entwicklung von Augenblick zu Augenblick unterworfen ist, sondern vielmehr ein in sich abgeschlossenes Ganzes bildet. - Was schließlich die Biologie angeht, so ist es klar, daß ihr auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften die Geschichtswissenschaft im weitesten Sinne entspricht, d. h. der Bereich all derjenigen Wissenschaften, die sich mit der geschichtlichen Entwicklung des Seelenlebens beschäftigen.

Und so wiederholt sich dann die historisch gegebene naturwissenschaftliche Einteilung auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. Dabei macht sich aber freilich ein Übergewicht der Geschichtswissenschaft bemerkbar, das man, bei durchaus rein logischem Denken, auf naturwissenschaftlichem Gebiet auch schon für die Biologie geltend machen kann. Wenn nämlich der ganze Naturprozeß sich einseitig vollzieht in dem Sinne, daß in der Entwicklung des uns bekannten Systems von tausend und abertausend Welten kein jeweilig gegenwärtiger Augenblick einem vergangenen oder einem zukünftigen gleicht, nur daß unserem menschlichen Bewußtsein das ungeheure Ganze dennoch herkömmlich als stabil erscheint, so ist klar, daß auch die Mechanik und die ihr angeschlossenen Wissenschaften der Physik und Chemie im tiefsten Grund nicht dieselben bleiben können, sondern dem Prinzip der Entwicklung, wenn auch erst in ungeheuer langen Zeiträumen, unterliegen müssen, mithin der Biologie unterzuordnen sind. Was aber hier für das naturwissenschaftliche Gebiet nur gefolgtert, nicht aber leicht zu einer Evidenz von praktischen Folgen gebracht werden kann, das liegt auf geisteswissenschaftlichem Gebiet offen und folgenreich zutage. Wir wissen und können quellenmäßig beweisen, daß das seelische Leben etwa der Deutschen des 10. Jahrhunderts ein anderes war als das seelische Leben der Deutschen der Gegenwart. Folglich hätte auch eine mit den Hilfsmitteln der Gegenwart an Deutschen des 10. Jahrhunderts entwickelte Psychologie anders ausfallen müssen als die Psychologie des 19. Jahrhunderts, - genau wie die Psychologie der sogenannten Wilden heute vielfach eine andere ist als die der zivilisierten Nationen. Und beziehen sich die Differenzen dieser Psychologien nach heutiger Kenntnis anscheinend nur auf Nebendinge, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß diese Differenzen sehr wachsen würden, wenn es möglich wäre, die Psychologie nicht mehr lebender Urmenschen neben die moderne zu stellen. Kurz, ganz anders als die Mechanik erscheint die Psychologie der Entwicklung und damit der Geschichtswissenschaft eingeordnet. Daß das aber in noch viel höherem Grad von den praktisch-systematischen Geisteswissenschaften gilt, braucht kaum ausgeführt zu werden: wie verschieden, und zwar infolge der Abhängigkeit vom seelischen Habitus der Zeitalter, ist die Theologie oder die Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts von der des neunzehnten!

Was folgt nun aus all dem?

Es folgt, daß noch ganz anders wie in der Naturwissenschaft die Biologie in den Geisteswissenschaften die Geschichtswissenschaft (im weitesten Sinn des Wortes: die Wissenschaft von den seelischen Veränderungen menschlicher Gemeinschaften) die führende Wissenschaft ist. Darauf beruth es, daß jeder wirkliche, d. h. methodische Fortschritt in ihr von größter Bedeutung für den Fortschritt der Kultur überhaupt ist; und darum ist es gerechtfertigt, die Entwicklung der Geisteswissenschaften seit dem 16. Jahrhundert vor allem am Verlauf der Geschichtswissenschaft zu betrachten.

Wie sehr dieser rein logisch gewonnnene Standpunkt auch tatsächlich zutrifft, zeigt sich alsbald, wenn wir in die allgemeine Geschichte der Geisteswissenschaften vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart eintreten. Da ergibt sich nämlich, daß alle Geisteswissenschaften bis zu dem Augenblick, da in sie das historische Moment hineingetragen wurde, nicht selbständig geworden sind, sondern unter der Kuratel der Philosophie gestanden haben, und zwar einer Philosophie, die anfangs durch die Tradition der Antike, vor allem des späteren Stoizismus, später gar durch die Naturwissenschaften beeinflußt war! In diesen Zirkel gehören alle Psychologien und alle wissenschaftlichen Systeme der Theologie und der Jurisprudenz bis etwa zur Mitte des vorigen Jahrhunderts. Erst dann, als ein neues geistiges Zeitalter hervorbrach, zu dessen frühester Eigenart es gehört, den Begriff der Entwicklung zunächst geahnt, dann gefunden zu haben, erfolgte der Bruch, wurden die Geisteswissenschaften selbständig. Jetzt entfalteten sich schüchter, von CREUZs "Versuch über die Seele" (1754) etwa an, die ersten Regungen einer selbständigen Psychologie; jetzt wurden die praktischen Geisteswissenschaften autonom, indem sie ihr Wesen aus ihrer eigenen Geschichte zu erkennen begannen, - und jetzt übernahm ebendamit die Geschichtswissenschaft die Führung der Geisteswissenschaften.

Man sieht nun den Unterschied von der Entwicklung der Naturwissenschaften. Die Psychologie nimmt in der Führung der Geisteswissenschaften zunächst und noch bis auf heute keineswegs die beherrschende Stellung der Mechanik in den Naturwissenschaften ein. Vermöge des viel ausgeprägteren historischen Charakters der Geisteswissenschaften, infolge der in ihrem Ablauf viel leichter sichtbaren Geschichte des Geisteslebens gegenüber der viel langsamer verlaufenden Geschichte des Naturlebens nimmt vielmehr die Biologie des geschichtlichen Geisteslebens, die Geschichtswissenschaft, ihre Stelle ein, und die Psychologie ordnet sich dieser zwar nicht unter - denn noch wird Psychologie nicht als historische Disziplin getrieben - tritt aber doch in den allgemeinen Einwirkungen hinter ihr zurück. Und so wird dann der autonome Aufschwung der Geisteswissenschaften seit Mitte des vorigen Jahrhunderts (umso mehr, als sich die praktisch-systematischen Geisteswissenschaften ganz an sie anlehnen) vor allem zum Aufschwung der Geschichtswissenschaft: diese führt, und von den Fortschritten auf ihrem Gebiet werden die Fortschritte der übrigen Geisteswissenschaften größtenteils abhängig.

Aufschwung der Geschichtswissenschaft aber heißt Aufschwung der historischen Methode, Aufschwung des systematischen, zu Begriffen hinführenden Denkens auf geschichtlichem Gebiet.

In welchen Erscheinungen ist nun dieser Aufschwung verlaufen?

Vor allem handelte es sich darum, das überaus umfangreiche geschichtliche Material aus seiner teilweise verschütteten, entstellten und trümmerhaften Überlieferung heraus so aufzubereiten, daß es höheren, wissenschaftlichen Erwägungen zugänglich wurde. Es ist das eine nur  vorbereitende  Arbeit, aber eine Arbeit, deren wirkliche Bewältigung mit unendlichen Mühen und der Entwicklung weitausgreifender Methoden verknüpft ist. Denn es handelt sich darum, aus all den sagenhaften Traditionen, den flüsternden Gerüchten, den parteiischen Aufzeichnungen, den aus ursprünglicheren Quellen abgeleiteten Überlieferungen die reine Wirklichkeit des einstmaligen Geschehens, das nackte Gerippe der historischen Tatsachen festzustellen.

Die Notwendigkeit dieser Arbeit ist schon früh begriffen worden, ja bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts hinein und teilweise darüber hinaus hat man in ihr die  eigentliche und letzte  Aufgabe der Geschichtswissenschaft erblick. Gleichwohl sind die für die Lösung dieser Aufgabe notwendigen Kunstgriffe ganz erst im Verlauf der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entwickelt und vollständig eigentlich erst in den Arbeiten NIEBUHRs zur Anwendung gebracht worden. Es hängt das aufs Engste mit den großen seelischen Wandlungen während des vorigen Jahrhunderts zusammen. Das Zeitalter des Rationalismus, der indivudualistischen Kultur, dem im allgemeinen noch die ganze erste Hälfte dieses Jahrhunderts angehörte, sah die Individuen und ihre Handlungen isoliert und führte daher die Herstellung des reinen, einfachen historischen Tatsachenzusammenhangs nur in dem Sinne durch, daß es für jede einzelne Tatsache die entsprechenden Quellenbelege, und zwar mit Vorliebe Urkunden und gleichzeitige Überlieferungen, als lauterste Zeugen zusammenbrachte, miteinander verglich und nun nach dem Maßstab der im Verlauf der Tatsachen selbst liegenden Wahrscheinlichkeiten die Wahrheit zu finden trachtete. Dem entsprach es, wenn z. B. im großen Quellenwerk der französischen Geschichte aus dieser Zeit, der vielbändigen Ausgabe der  Scriptores rerum francicarum,  die Werke der einzelnen Historiker der verschiedenen Jahrhunderte nicht als Ganzes abgedruckt sind - also z. B. das Gesamtwerk HUGOs von FLAVIGNY oder das des ORDERICUS VITALIS für sich usw. -, sondern man vielmehr vorgezogen hat, diese Werke zu zerstückeln und die einzelnen Stücke verschiedener Autoren jeweils zu demjenigen Ereignis oder derjenigen Ereignisreihe zusammenzufassen und in fortlaufender Reihenfolge abzudrucken, worauf sie sich gemeinsam beziehen. Gegenüber diese Art des Verfahrens, welche auf die Qualität des historischen Zeugnisses im allgemeinen nur insofern Rücksicht nimmt, als sie gleichzeitige Angaben bevorzugt, hat dann erst das geistige Leben der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine tiefere und die gestellten Aufgaben definitiv erledigende Auffassung gestattet. Jetzt war man in eine seelische Haltung eingetreten, welche den einzelnen als zwar selbständigen, doch aber von seiner Umgebung mannigfach bewegten und beeinflußten Mikrokosmos begriff: - und darum begann man an die historischen Zeugen die Frage nach ihrer subjektiven Bedingtheit, ihrem persönlichen Charakter, sowie nach der Einwirkung der Umwelt auf diesen und ihr Wissen zu stellen. Erst damit war eine wirklich objektive Abwägung der mannigfaltigen Arten und Personen der historischen Überlieferung gewährleistet, und erst jetzt setzte daher ein wahres Verständnis für den Charakter sagenhafter Traditionen, für das Wesen von Memoiren und Pamphleten, für die Bedeutung des Subjektiven und des Milieus in den Geschichtsschreibern der Vergangenheit ein: das neue Jahrhundert begann die Quellen nach diesen Prinzipen zu sondern und zu gruppieren, und in strenger Durchführung der neuen Methode wurden die wesentlichsten Gebiete der Vergangenheit wenigstens der antiken und der westeuropäischen Völkerfamilie auf diesem Weg tatsächlich aufgehellt. Heute kann man sagen, daß diese sogenannte NIEBUHRsche Methode der historischen Kritik Gemeingut der wissenschaftlichen Forschung geworden ist; allenthalben wird sie ausgeübt, und in der Tat ist es notwendig, daß sie auf alle Quellen jeder Vergangenheit, auch die der außereuropäischen, erstreckt werde.

Es liegt nun jedoch auf der Hand, daß diese Kritik für die höheren geschichtswissenschaftlichen Aufgaben nur unterbauend und vorbereitend wirkt. Sie stellt für diese die isolierte historische Tatsache und die einfache historische Tatsachenreihe unmittelbar aus den Quellen abgeleitet zur Verfügung: darüber, welche höheren - und zugleich tieferen - Zusammenhänge diese Tatsachen und Tatsachenreihen als Ganzes beherrschen, sagt sie nichts aus. Sie bereitet den Stoff auf, bleibt aber an seinen Einzelheiten haften: was dieser Stoff nun für das menschliche Denken, d. h. wissenschaftlich in einem höheren Sinn bedeutet, das ist eine andere Frage.

Die Probleme, die sich auf diesem höheren Gebiet erheben, haben nun erst die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, das Zeitalter des Geisteslebens, das noch heute weiter verläuft, eingehender zu beschäftigen begonnen; dem Zeitalter des Individualismus waren sie noch fremd; noch MASCOV, einer der vorzüglichsten deutschen Historiker der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, begnügt sich in seiner "Geschichte der Teutschen" mit der atomhaften Zusammenstellung von Tatsachen und einfachen Tatsachenreihen, ohne deren höherem Zusammenhang nachzugehen, - ist also noch eigentlich Chronist. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dagegen im Zeitalter GOETHEs, SCHILLERs und KANTs, erwacht das wissenschaftliche Bedürfnis, höhere Zusammenhänge zu finden, die unendliche Vielheit der Tatsachen höheren Kategorien des Denkens zu unterstellen.

Und es geschieht das alsbald in doppelter Weise. Man sucht, der Hauptsache nach auf spekulativem Weg, den ganzen Verlauf der Weltgeschichte in geistig besonders charakterisierte Abschnitte oder Zeitalter zu zerlegen, und man sucht, der Hauptsache nach von einem induktiven Weg her beginnend, einzelne einfache Tatsachenreihen unter einem gemeinsamen Gedanken, einer "Idee" zu einem Ganzen zu vereinigen. Der erste Weg wird von JSELIN, vor allem aber von HERDER in seinen "Ideen zur Geschichte der Menschheit" eingeschlagen und ist dann von der deutschen Geschichtsphilosophie bis auf HEGEL und über ihn und seine Anhänger hinaus mit großer Lebhaftigkeit verfolgt worden. Er läuft etwa darauf hinaus, in bestimmten Kulturen, z. B. der der Griechen oder der Römer, eine besondere Ausbildung der Humanität, als des Kerns der menschlichen Entwicklung, zu erblicken, hier etwa die besondere Ausbildung der künstlerischen, dort der politischen Anlagen, während er den Germanen wieder andere, besondere Ausbildungsvorteile zuweist, oder er sucht in anderer, aber verwandter Weise die Geschichte der europäischen, bisweilen wohl auch noch der asiatischen und afrikanischen Völkerwelt in ein bei der großen notwendigen Abstraktion doch wesentlich spekulatives Netz einzufangen. Der Gedanke ist seit HERDER tausendfach variiert worden; zu Hilfe kam ihm die hergebrachte Anschauung von einem besonderen, einzigartigen und nie wieder erreichbaren Wert der antiken Kultur. Ist der aber wissenschaftlich haltbar?

Die Parallele mit dem gleichzeitig auftretenden Gedanken der geologischen Zeitalter liegt nahe. Dieser Gedanke, anfangs auch vielfach mehr deduktiv als völlig induktiv ergriffen, hat sich wissenschaftlich bewährt. Es hat sich gezeigt, daß die geologischen Zeitalter, zunächst nur in einigen Teilen Europas erforscht und für diese festgelegt, tatsächlich in der partikular gefundenen Reihenfolge auf dem ganzen Erdball wiederkehren, daß wir in ihnen also für die ganze Erde, und das heißt für unsere Welt schlechthin gültige Perioden der geologischen Entwicklung vor uns haben. Mithin ist es möglich, die ganze Entwicklungsgeschichte der Organismen den geologischen Zeitaltern einzuordnen. Dabei war freilich vorauszusetzen, daß die geologischen Zeitalter, einmal an einer Stelle entdeckt, diesen für die ganze Erdentwicklung schlechthin zwingenden Charakter haben würden: denn ihre Entwicklung beruhte an dieser einen Stelle auf genau denselben allgemeinen Ursachen, die für alle anderen Stellen gelten, nämlich auf allgemeinen astronomischen und tellurischen Voraussetzungen und Einwirkungen, Abkühlung der Erde, Verwitterungsprozessen usw.

Läßt sich nun für die universalhistorischen Zeitalter von vornherein eine gleich allgemeine Voraussetzung machen? Sie sind in der Zeit, da sie zuerst aufgestellt wurden, abstrahiert aus einer nach unseren heutigen Begriffen begrenzten und nur  cum grano salis  [mit einer Brise Salz - wp] eigentlich universalgeschichtlichen Kenntnis; sie würden, auch wenn man sie aus der ausgedehntesten heutigen Kenntnis abstrahieren wollte, immer noch das Produkt einer mit Rücksicht auf den Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte überaus eng beschränkten Vergleichung sein. Sie würden mithin bestenfalls den auf kleine Teile Europas begrenzten Sondierungen entsprechen, aus denen die früheren Aufstellungen der Erdzeitalter hervorgingen. Wäre dies aber der Fall: stände ihnen dann die Vermutung zur Seite, daß sie das Ganze des geschichtlichen Verlaufs auch an anderen Orten decken würden? Das träfe doch nur dann zu, wenn sich nachweisen ließe, daß die Geschichte der Menschheit, in sich so vielfach getrennt und unzusammenhängend, überall zu gleicher Zeit unter gleich überwiegend einheitlichen Einflüssen gestanden hätten wie etwa die tellurische Entwicklung. Dieser Nachweis aber würde sich allenfalls für den physischen Menschen, d. h. den Menschen als Teil der tellurischen Entwicklung, einmal erbringen lassen, niemals aber für den Menschen als historisches Wesen.

Damit fällt diese ganze Theorie der universalhistorischen Zeitalter. Ihre Durchführung für einen begrenzten historischen Stoff hat gewiß eine Summe von Gedanken zutage gefördert, deren viele anregend gewirkt haben und noch wirken: als Ganzes ist sie unbrauchbar, weil unwissenschaftlich. Das ist auch auf seiten der Historiker schon längst erkannt worden, und darum sind alle universalhistorischen Spekulationen und mit ihnen die nach ihnen aufgebaute Weltgeschichte selbst in Mißkredit geraten. Und in der Tat muß heute, nach dem Fall der alten Weltgeschichte, offen eingestanden werden, daß sich vorläufig darüber, wie eine wissenschaftliche Weltgeschichte aussehen könnte, ein genaues Bild noch nicht geben läßt. Nicht als ob nicht neue methodische Grundsätze die Aussicht auf eine wirklich wissenschaftliche Weltgeschichte eröffneten - inwiefern etwa, werden wir weiter unten sehen (1) -, wohl aber ist die Aufbereitung des universalhistorischen Stoffs, der heutzutage die volle Welt umfaßt, noch zu wenig fortgeschritten, um seine tatsächliche tiefere, wirklich wissenschaftliche Durchdringung zu ermöglichen.
LITERATUR Karl Lamprecht, Die kulturhistorische Methode, Berlin 1900
    Anmerkungen
    1) im Anhang