ra-3cr-2ra-2ra-1C. LamprechtH. RickertW. Perpeet     
 
ALOYS MÜLLER
Strukturwissenschaft
und Kulturwissenschaft


"Die unsinnlichen Gegenstände zerfallen in zwei scharf geschiedene Klassen. Zur ersten zählen wir Gegenstände wie die mathematischen (Zahl, Linie, Fläche, euklidischer Raum usw.). Auch die Relationen gehören dazu. Ihre Wirklichkeitsform ist das  zeitlose ideale Sein.  Den zweiten Bereich der unsinnlichen Gegenstände bilden die  Werte,  d. h. all die Gegenstände, von denen man kein Sein, sondern ein  Gelten  aussagen muß."

"Alle anderen Gegenstandsgebiete haben die Kategorie der Rationalität, d. h. der Erfaßbarkeit durch allgemeine Erkenntnis, nur das Gebiet der Geschichtswissenschaft nicht."

"Die empirische Wirklichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle. Es ist also in der Tat nicht  ein  Gegenstand, der von verschiedenen Gesichtspunkten aus geschaut wird."

Das Problem, das die folgenden Ausführungen mit Rücksicht auf seine Gestaltung in den Wissenschaften anfassen wollen, ist  das Problem des Verhältnisses von Gegenstand und Methode. 

Die Methode, mit deren Hilfe eine Wissenschaft den Nachweis der Geltung ihrer Erkenntnisse führt, ist ohne Zweifel typisch für diese und nur für diese Wissenschaft. Die Wissenschaft kann deshalb durch sich charakterisiert werden. Aber der Logiker möchte gern tiefer schauen und möchte wissen, worin die Verschiedenheit der Methoden ihren Grund hat. Sie kann nur auf nichts anderem beruhen als auf der Verschiedenheit der Gegenstände. Eine Methode  allein  ist ein Unding, ein in die Luft zu bauendes Haus; sie ist immer nur mit Rücksicht auf einen Gegenstand. Der Gegenstand wählt sich gleichsam die Methode aus. Ob eine Methode angewandt werden  kann,  hängt von der Beschaffenheit des Gegenstandes ab. Die Methode ist durch den Gegenstand bedingt.

Man verdeckt dieses Verhältnis, wenn man sagt, das  Ziel  einer Wissenschaft bestimmt die Methode. Als ob das Ziel etwas Willkürliches gegenüber dem Gegenstand wäre, das man nach Belieben wechseln kann! Das Ziel ist selbst vom Gegenstand bestimmt.  Einem  Gegenstandsbereicht gegenüber gibt es nur  ein  Ziel, das, wenn man überhaupt Wissenschaft will, vom Gegenstand gefordert und durch die Methode erreicht wird.

Kann das Verhältnis von Gegenstand und Methode nun nicht anders sein, als wie wir es eben beschrieben haben, dann  muß  es logisch möglich sein, eine Umgrenzung der Wissenschaften vom  materialen  Standpunkt aus zu geben. Dann kann eine Wissenschaft nicht ausschließlich  vom formalen  Gesichtspunkt aus verstanden werden, nicht einmal primär von ihm aus; das primäre Moment, das sie charakterisiert, ist vielmehr ihr Gegenstand, das sekundäre ist die Methode. Dann ist es auch unmöglich, daß zwei Wissenschaften  denselben  Gegenstand haben und sich nur formal unterscheiden.

Unser Problem stellt uns deshalb vor zwei Aufgaben. Wir müssen  erstens  versuchen, die Wissenschaften von den Gegenständen her zu scheiden. Wir müssen  zweitens  zeigen, wie die typischen Methoden der Wissenschaften durch ihre Gegenstände bedingt sind. Wenn unsere Untersuchungen also auch aus dem Gedankenkreis RICKERTs herausgewachsen sind, so gehen sie doch zunächst insofern über ihn hinaus, als sie sich auf die Gesamtheit der Wissenschaften beziehen. Daß sie dann fernerhin Umprägungen nötig machen, ist demjenigen nicht weiter verwunderlich, der weiß, daß auch die wissenschaftlichen Gedanken ansich nichts sind, sondern immer nur etwas in Bezug auf die Wahrheit, der sie dienen.


I. Die Strukturwissenschaften

Wir wollen unter Gegenstand alles verstehen, was Subjekt eines Urteils werden kann, und das auch nur, insofern es Subjekt eines Urteils ist. Allen Gegenständen, denen die Hauptarbeit der Wissenschaften gewidmet ist, legen wir Wirklichkeit bei und lassen sie sich durch  die Form ihrer Wirklichkeit  unterscheiden; von den nichtwirklichen Gegenständen sprechen wir weiter nicht. Dann zerfällt die Gesamtheit der (wirklichen) Gegenstände in drei Klassen: die sinnlichen, die übersinnlichen und die unsinnlichen Gegenstände.

Als sinnliche Gegenstände bezeichnen wir alle Gegenstände der tatsächlichen oder möglichen Wahrnehmung und Erfahrung. Hierher gehört also zunächst das, was wir durch unsere Sinne und ihre Erweiterung, die Instrumente, wahrnehmen können. Ferner die psychischen Vorgänge, die ja auch Gegenstände der Erfahrung sind. Aber auch all das müssen wir mitzählen, was zwar nur hypothetisch angenommen, aber als zu derselben Wirklichkeit dieser Gegenstände gehörig betrachtet wird, z. B. Atome, Elektronen, Erbmasse, das unbewußte Psychische. Alle sinnlichen Gegenstände besitzen die Wirklichkeitsform des zeitlich realen Seins.

Zu den übersinnlichen Gegenständen rechnen wir solche, zu deren Annahme man, von den sinnlichen Gegenständen ausgehend, durch Schlüsse kommen kann, die der Erfahrung zu ihrer Deutung unterlegt werden, die selbst aber prinzipiell niemals Gegenstände der Erfahrung sein können. Als Beispiele nenne ich das Ding-ansich, die Seele, die absoluten Raumfaktoren. Die Wirklichkeitsform dieser Gegenstände bedarf noch der genaueren Erforschung.

Die unsinnlichen Gegenstände zerfallen in zwei scharf geschiedene Klassen, die lediglich durch den Gegensatz zu den beiden bereits genannten Klassen zusammengehalten werden, die man aber vielleicht besser als zwei selbständige daneben setzt. Zur ersten zählen wir Gegenstände wie die mathematischen (Zahl, Linie, Fläche, euklidischer Raum usw.). Auch die Relationen gehören dazu. Ihr Wirklichkeitsform ist das  zeitlose ideale Sein.  Den zweiten Bereich der unsinnlichen Gegenstände bilden die  Werte d. h. all die Gegenstände, von denen man kein Sein, sondern ein  Gelten  aussagen muß. Ihre Wirklichkeitsform ist also das zeitlose Gelten.

Wir lassen es dahingestellt, ob unsere Einteilung der (wirklichen) Gegenstände vollständig ist.

Man sieht also, wie sich die gesamte Gegenstandswelt in einzelne Bereiche auseinanderlegen läßt, die durch ihre Wirklichkeitsform fest umrissen sind. Dadurch lassen sich den Bereichen Wissenschaften zuordnen. Auf zwei Dinge ist dabei wohl zu achten. Es kann zunächst im Laufe der Geschichte aus praktischen Gründen vom Material her eine Unterteilung der Gegenstände eines Bereiches erfolgen, so daß eine Wissenschaft in mehrere Einzelwissenschaften zerfällt, die sich aber zu einer großen Wissenschaft zusammenfügen. Ein bekanntes Beispiel bietet die Naturwissenschaft. Es ist aber auch möglich, daß eine Wirklichkeitsform spezialisiert wird, so daß auf diese Weise mehrere Wissenschaften entstehen, die natürlich auch miteinander verwandt sind. So ist es z. B. mit der Mathematik und der Relationstheorie. Dann verhält sich die eine Wissenschaft zur anderen wie ein besonderer Fall zum allgemeinen; der besondere Fall tritt ein, wenn die Gegenstände des allgemeinen gewissen Bedingungen unterworfen sind.

So hätten wir dann nun schon in der Gegenstandstheorie als der Wissenschaft, die die Gegenstände im allgemeinen untersucht, ferner der Mathematik und der Relationstheorie ihre Plätze angewiesen.

Der Naturwissenschaft teilen wir den Bereich der sinnlichen Gegenstände zu. Jetzt verstehen wir  vom Gegenstand her,  daß die Naturwissenschaft phänomenologisch arbeiten muß, daß sie erkenntnistheoretisch neutral ist (1). Sie fragt nicht, was das Physische und Psychische im Grunde sind, ob beides eins oder beides verschieden ist, in welchem Sinn eins oder in welchem Sinn verschieden. Würde sie so fragen, so würde sie in den Bereich der übersinnlichen Gegenstände hineingreifen, der einer anderen Wissenschaft zufällt. Jetzt verstehen wir fern  vom Gegenstand her,  daß die Psychologie auch eine Naturwissenschaft ist. Das Psychische besitzt dieselbe Wirklichkeitsform zeitlichen realen Seins wie das Physische, und  deshalb, weil  das so ist,  muß  die Psychologie dieselben allgemeinen Methoden brauchen wir die sonstigen Naturwissenschaften.

Der Philosophie fallen die Gebiete der übersinnlichen Gegenstände und der absoluten Werte zu. Der Platz der Theologie richtet sich nach der logischen Bestimmung ihres Gegenstandes, die die verschiedensten Formen angenommen hat.

Es ist ohne weiteres verständlich, daß sich in der Praxis auch Mischgebiete herausgebildet haben, die Gegenstände verschiedener Bereiche zusammenfassen. Als solche Mischgebiete werden sich wohl in der Hauptsache die Gegenstände der Gesellschaftswissenschaften, der Pädagogik u. a. auffassen lassen. Dabei ist aber erstens zu beachten, daß man das Wissenschaftliche des rein theoretischen Denkens vom Praktischen Der Normen sorgfältig scheidet, und zweitens, daß das im folgenden Abschnitt zu besprechende Historische gleichfalls in solche Mischgebiete eingehen kann.

Unsere Bemerkungen sollen alles eher sein als eine logische Charakteristik der einzelnen Wissenschaften; die ist heute bei zahlreichen Wissenschaften noch kaum versucht. Sie wollen nur deutlich machen, daß es eine Gruppen von Wissenschaften gibt, die ihren Gegenständen in derselben allgemeinen Weise gegenüberstehen. Alle die Wissenschaften, die wir durch diese Auseinanderlegung der Gegenstandswelt finden können, haben die Aufgabe, die Beschaffenheit, die  Struktur  ihres Gegenstandes zu erforschen. Es ist gar keine andere Aufgabe für sie erfindlich, sie ist die einzig mögliche, und in ihr sind sie alle einig. Wenn sie nun aber wirklich Wissenschaften sein wollen, dürfen sie sich nicht damit begnügen, soweit es ihnen möglich ist, mit photographischer Treue Einzelheiten neben Einzelheiten zu setzen, sondern müssen versuchen,  Allgemeines  über ihre Gegenstände auszusagen. Darum nennen wir sie  Strukturwissenschaften  und bezeichnen ihre  Methode als generalisierend. 

Später wird uns klar werden, wodurch die  logische  Struktur dieser Gegenstände die generalisierende Methode möglich macht und erfordert.


II. Das Irrationale und die
historischen Wissenschaften

Überblickt man dieses Wissenschaftssystem, so sieht man mit einiger Überraschung, daß die historischen Wissenschaften im weitestens Sinn und nur sie darin fehlen.

Wie kommt das das? Haben wir die Ganzheit des Gegenstandesgebietes noch nicht erschöpft? Wir haben es in der Tat nicht. Aber nicht in dem Sinne, als ob sich  neben  die genannten Bereiche noch ein anderer legt, so wie auf einer Landkarte neben einigen Ländern andere liegen; auch nicht in dem Sinne, als ob man noch eine Ganzheit eines Gegenstandsbereichs als eigenen Gegenstand aufstellen könnte (wie wir das schon getan haben), so wie man Europa im allgemeinen neben seinen Ländern betrachten kann. Das alles ist prinzipiell erledigt. Sondern die Ganzheit unseres Gebietes wird überdeckt von einem anders gearteten Gegenstandsbereich, so wie wenn ich über eine politische Karte von Europa die geographische oder die tiergeographische oder die Karte der Religionsformen drucke.

Wie ist dieses neue Gegenstandsgebiet logisch zu charakterisieren? An welchem Punkt hängt es mit dem ersten zusammen? Wie erwächst es gleichsam aus dem ersten? Denn daß es irgendwie zusammenhängen muß, ist uns klar; sonst wäre die Täuschung, als hätten wir bereits das ganze Gegenstandsgebiet restlos erfaßt, nicht so groß gewesen. Wenn wir unser bisher betrachtetes Gegenstandsgebiet einmal genau besehen, so erkennen wir, daß es mit dem Begriffe der  Struktur  logisch noch nicht vollständig allgemein charakterisiert ist. Denn die sinnlichen Gegenstände stehen in der  Zeit,  und deshalb müssen wir als zweiten Begriff den des  Zustandes  hinzunehmen. Der sinnliche Gegenstandsbereich hat nicht nur eine Struktur, sondern auch Zustände.

Zunstand hat stets Bezug auf Zeit. Von Zustand können wir nur da sprechen, woe es den einen und den anderen Zustand geben kann, wo die Zustände  wechseln.  Wir sagen nur dann, ein Bereich hat  einen  Zustand, wenn es auch noch  andere  Zustände für ihn gibt. Ist das aber nicht der Fall, so ist alles, was der Zustandsbegriff besagt, ohne Rest im Strukturbegriff enthalten.

Wir fragen nun weiter: Ist der Zustand des sinnlichen Gegenstandsbereiches in jedem Augenblick  nur  von seiner Struktur abhängig? Ist der Zustand in jedem Augenblick  rational  verständlich oder gibt es auch  Irrationales  darin? Ist das Besondere ganz vom Allgemeinen aus abzuleiten?

Wir überlegen und zunächst einen Augenblick, daß der Zustand  auch  von der Struktur abhängig ist. Die Naturwissenschaft stellt zwar  allgemeine  Gesetze auf, die ein Teil der Struktur sind, aber nach diesen allgemeinen Gesetzen geht eben der zeitliche Ablauf  auch  vor sich. Ja, im größten Teil der sinnlichen Gegenstandswelt geht der Ablauf  nur  danach vor sich. Seinen schärfsten Ausdruck hat das in der MINKOWSKI-Welt der Relativitätstheorie gefunden.  Wäre jedoch der Zustand "ganz" von der Struktur abhängig, dann gäbe es außer den Strukturwissenschaften keine weiteren Wissenschaften mehr.  Er ist aber nicht ganz davon abhängig, es gibt Irrationales im Zustand, also solches, was von den Strukturwissenschaften nicht erfaßt werden kann.

Worauf beruth dieses Irrationale?

Es beruth  erstens  auf dem Charakter des sinnlichen Gegenstandsbereichs. Die sinnliche Welt ist unerschöpflich oder unübersehbar. Dadurch kennt zunächst die Naturwissenschaft nicht alle Gesetze und hat so niemals die Mittel in der Hand, um den Zustand zu bestimmen. Aber selbst wenn sie diese Mittel besäße, wäre es ihr dennoch unmöglich. Denn um die Zustände in der Vergangenheit oder Zukunft zu bestimmen, muß man nicht nur alle Gesetze wissen, sondern auch  einen  Zustand kennen. So genügt z. B. die Kenntnis von NEWTONs Gravitationsgesetz  allein  nicht, um die Konstellationen in unserem Sonnensystem für beliebige Zeitpunkte zu bestimmen, seine absolute Gültigkeit, die Geschlossenheit des Sonnensystems und die klassische Mechanik vorausgesetzt; sondern dazu muß man irgendeinen Anfangszustand kennen, von dem aus man rechnet.  Einen  solchen Zustand der sinnlichen Welt zu bestimmen, ist aber wegen der Unübersehbarkeit dieser Welt unmöglich.

Würden wir aber  zweitens  auch diese Unmöglichkeit wegnehmen, so wäre der Zustand doch nicht ganz von der Struktur abhängig, und zwar deshalb nicht,  weil der Zustand der sinnlichen Welt mitbestimmt ist von den anderen Gegenstandsbereichen.  Muß ich das beweisen, was wir tagtäglich selbst erleben, wenn wir nur hinsehen wollen? Ich wähle ein grobes Beispiel. Nehmen wir an, nach längerem Suchen fände ein in sehr bescheidenen Verhältnissen lebender Mathematiker den Beweis für FERMATs großen Satz; theoretisch gesprochen: wir nehmen an, ein Sinnzusammenhang, als dessen letztes Glied der Sinn des FERMAT'schen Satzes erscheint, knüpfe sich an gewisse psychische Vorgänge in einem menschlichen Kopf. Was sind die Folgen? Er wird seinen Beweis veröffentlichen und der Göttingische Gesellschaft der Wissenschaften einsenden. Er erhält die Wolfskehlstiftung, bekommt möglicherweise einen Ruf als Universitätsprofessor und kann sich nun in anderen Lebensformen einrichten. Zahlreiche Artikel und Schriften erscheinen zu diesem Ereignis. Setzmaschinen, Buchbinder, Post werden dadurch in Bewegung gesetzt. Das läßt sich noch eine Weile so ausspinnen. Uns soll es nur ein Bild davon geben, wie im Ablauf der psychischen Welt direkt der Bereich der Werte durch den Sinn des Urteils, indirekt durch diesen Sinn die sonstigen Gegenstandsbereich mitwirken, wie dann durch Vermittlung des psychischen Bereichs all das auf den Ablauf in der physischen Welt Einfluß hat. Wir verstehen dieses Bild erst ganz richtig, wenn wir noch darauf achten, daß wir im voraus nicht wissen und nicht wissen können, mit welchen Werten und zu welchem Zeitpunkt das Reich der Werte sich mit dem Reich der psychischen Gegenstände berührt.

Ich will nicht noch auf das viel umstrittene Freiheitsproblem eingehen. Wer eine Willensfreiheit annimmt, wird ein weiteres irrationales Moment im Zustand finden. Aber mir scheint, daß dieses Moment im Zustand finden. Aber mir scheint, daß dieses Moment schon in dem zuletzt genannten Irrationalen logisch mit entfalten ist. Denn die Freiheit äußert sich primär im Anerkennungsakt eines geltenden Sinnes; ein Wollen ohne voraufgegangene Erkenntnis kann unter keinen Umständen frei genannt werden.

Wir sehen also, daß der Zustand der sinnlichen Welt von der Naturwissenschaft nicht ganz erfaßt werden kann. Wir können deshalb,  vom materialen Gesichtspunkt ausgehend,  auf die Notwendigkeit einer Wissenschaft schließen, die hier ergänzend eintritt. Das darf natürlich nicht so verstanden werden, als ob sie das Irrationale rational macht. Das ist prinzipiell unmöglich. Sie erfaßt den von der Struktur nicht ganz bestimmten Zustand auf die einzige noch mögliche Weise, indem sie seinen  Wechsel in der Zeit  beschreibt. Nur auf diese Weise geht das Irrationale in die Wissenschaft ein. Versteht man demnach unter Irrationalem all das, was die Strukturwissenschaften nicht erfassen können, so  beruth die Möglichkeit der historischen Wissenschaften auf der Irrationalität des Zustandes der Welt.  Wäre die Irrtionalität nicht vorhanden, so gäbe es keine Geschichtswissenschaft.

Wir wollen uns nun zunächst die beiden Arten des Irrationalen etwa genauer ansehen. Das erste Irrationale ist  tatsächlich  vorhanden und wird sicherlich niemals ganz verschwinden. Aber es schrumpft gleichsam immer mehr in, soweit es uns überhaupt interessiert, weil wir die Struktur der sinnlichen Welt stets besser kennen lernen. Prinzipiell, wenn man also an den  Abschluß  der Wissenschaft denkt, ist dieses Irrationale für die Naturwissenschaft nicht vorhanden. Es ist ein  relatives  Irrationales (2). Das ist beim zweiten anders. Es besteht offensichtlich auch prinzipiell für die Naturwissenschaft, es ist ein  absolutes  Irrationales.

Der besondere, von der Naturwissenschaft nur teilweise zu bestimmende Ablauf der Welt ist also eine Gegenstandsgebiet eigener Art, das sich dem uns schon bekannten Gegenstandsgebiet überlagert. Es fällt mit dem Gebiet der sinnlichen Gegenstände überall dort zusammen, wo der Ablauf prinzipiell zumindest von der Naturwissenschaft erfaßt werden kann. An allen anderen Stellen hebt es sich gleichsam darüber empor. Die zusammenfallenden Stellen wollen wir  Koinzidenzen  nennen.

Die Koinzidenzen scheiden als Gegenstand der historischen Wissenschaften aus.  Es gibt unter ihnen manche, die wir  tatsächlich  historisch behandeln müssen, z. B. die Entwicklungsgeschichte der Organismen. Aber das ist nur ein prinzipiell zumindest vorläufiges Müssen,  ein vorläufiger Ersatz für die strukturwissenschaftliche Behandlung.  Je weiter die Naturwissenschaft fortschreitet, desto mehr schwindet der historische Ersatz, desto mehr relativ Irrationales wird weggeschafft. Es ist nicht prinzipiell unmöglich, daß die Entwicklungsgeschichte der Organismen einmal ganz strukturwissenschaftlich dargestellt wird, wenn wir auch sicher sind, daß hier das historische Ersatzmittel niemals ausscheiden wird. Aber als Gegenstand der historischen Wissenschaften kann das relativ Irrationale nicht in Betracht kommen, weil es eben prinzipiell Gegenstand der Naturwissenschaft ist.

Als Gegenstand der Geschichtswissenschaften bleibt also das absolute Irrationale übrig, d. h. der von den Werten mitbestimmte individuelle Ablauf des Geschehens.  Die prinzipiell historischen Wissenschaften müssen sich deshalb auf die Menschheitsgeschichte beschränken;  alles übrige ist nur vorläufig historisch. So verstehen wir vom Gegenstand her, wie nur die Geschichte von etwas Menschlichem Geschichte ist.

Welches ist der Gegenstandscharakter des Gegenstandes der historischen Wissenschaften? Er hat sicherlich das zeitliche Sein. Es ist aber gut, sich zu erinnern, daß zeitlich Seiendes und Historisches durchaus nicht identisch sind. Soweit der Ablauf in der Struktur miterfaßt ist oder werden kann, ist er nicht historisch. Daß und in welchem Sinn der Gegenstand heterogen ist, werden wir später hören. Was ihn von allen anderen Gegenständen unterscheidet, ist die Irrationalität. Alle anderen Gegenstandsgebiete haben die Kategorie der Rationalität, d. h. der Erfaßbarkeit durch allgemeine Erkenntnis, nur das Gebiet der Geschichtswissenschaft nicht.

Ist nicht die Kausalität auch eine Kategorie des Gegenstandsbereichs der Geschichtswissenschaft? RICKERT unterscheidet bekanntlich gesetzmäßige Kausalität und individuelle Kausalität, die also nicht gesetzmäßig ist, und findet die letztere im historischen Geschehen. Nun ist hier die gesetzmäßige Kausalität ohne Zweifel auszuschließen. Trotzdem gibt es ein Wirken im Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaften, aber dieses Wirken ist nicht kausal.  Daß  nämlich die Werte in der sinnlichen Welt wirken und ihren Ablauf ändern, ist eine tagtägliche festzustellende Tatsache. Aber sie können nicht als Glieder einer Kausalreihe gedacht werden, weil sie dann als psychische Glieder gefaßt werden müßten.  Wie  sie wirken, ist ein Geheimnis (3). Hier ragt etwas  Neues  in die kausale Notwendigkeit herein, etwas, das von ihr nicht mitgefaßt und von ihr aus nicht verstanden werden kann, und gerade dieses Eingreifen des Neuen Konstituiert die Geschichte als Gegenstand einer eigenen Wissenschaft. Damit glaube ich auch den Gedanken NEEFFs (4) gerecht geworden zu sein. Wenn er mit dem Wort "Originalität" den Neuheitscharakter am historischen Geschehen bezeichnen will, so hätte ich gleichfalls nichts einzuwenden. Nur bleiben wir mit dem Gegensatz "Kausalität - Originalität" innerhalb der Grenzen der  empirischen  Wissenschaften.  Wenn  wir einmal das Irrationale als begründendes Moment der Geschichte erkannt haben, kann das Originale ohne die Fessel jenes Gegensatzes als Charakterbezeichnung dienen. Auf diese Weise läßt sich nun auch ganz klar machen, daß durch das Individuelle  allein  der Sinn der Geschichte noch nicht gegeben ist. Sonst müßte jeder Ablauf, auch der ganz in der Struktur erfaßte, historischer ein historischer Gegenstand sein; denn  jeder  Gegenstand einer absout-heterogenen Wirklichkeit ist ein Individuum. Nur das originale Individuelle kommt in Betracht, also das individuelle Geschehen, in dem durch das Wirken der Werte etwas Neues gegenüber dem reinen Kausalgeschehen steckt. Wir können deshalb kurz als Gegenstand der historischen Wissenschaften den original-individuellen Ablauf der Welt nennen. Historisches Geschehen ist danach jenes Geschehen, das im naturwissenschaftlichen Sinn als Exemplar einer Gattung nicht ganz verstanden werden kann.

Wir vermögen nun auch die Frage von TROELTSCH (5) zu beantworten: "Sind das wirklich nur zweierlei Betrachtungsweisen desselben Objekts oder sind das nicht doch Teilungen innerhalb der Objekte, die zum einen Teil dem ersten und zum anderen dem zweiten Erklärungsprinzip unterliegen?" RICKERT (6) hatte ja behauptet: Die empirische Wirklichkeit "wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle." Es ist also in der Tat nicht  ein  Gegenstand, der von verschiedenen Gesichtspunkten aus geschaut wird. Schon für RICKERT selber trifft das nicht genau zu; denn er muß die Wirklichkeit als  wertfrei  ansehen, um den Gegenstand der Naturwissenschaft zu erhalten, die  wertbehaftete  Wirklichkeit ist ihm aber Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Wir können noch sorgfältiger scheiden. Gegenstand der Naturwissenschaft ist die sinnliche Wirklichkeit und demnach auch ihr zeitlicher Ablauf, soweit er rational ist. Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist der original-individuelle Ablauf.

Wir wollen zum Schluß noch ein Bild bringen, das den Gegenstand des naturwissenschaftlichen und des historischen Ablaufs zu veranschaulichen vermag. Unter einer Brücke fließt ein Fluß. Von der inneren Wölbung des Brückenbogens aus gehen eine Anzahl von Eisengittern bis dicht über die Oberfläche des Wassers. Wo die Oberfläche ruhig ist, berührt das Wasser das Gitter nicht. Aber bald hier, bald dort wirft sie eine kleine Welle, und diese Welle trifft einen Stab des Gitters. Wenn auch nur eine einzige Welle ein einziges Mal einen Gitterstab berührt, so ist von diesem Augenblick an der Zustand des Flusses hinter der Berührungsstelle anders, als er sein würde, wenn die Berührung nicht stattgefunden hätte. Für den makroskopischen Beobachter freilich nicht, aber für den mikroskopischen. Der Fluß ist der Ablauf des Geschehens. Die Gitterstäbe sind die Werte. Die Berührungen eines Stabes durch eine Welle bedeuten die Zeitpunkte, wo ein Wert an einen psychischen Ablauf geknüpft wird und damit als wirkendes, wenn auch nicht kausal wirkendes Glied in den Ablauf des Geschehens eintritt und ihn ändert. Für den makrokosmischen Beobachter des Ganzen der Naturwelt verschwindet das, für ihn gibt es keine Geschichte. Aber der mikroskopische Beobachter sieht an den Punkten der Naturwelt, wo es erkennende Wesen gibt, Geschichte. So erscheint die Geschichte wie winzige Kräuselungen auf einem gewaltigen Strom, und doch ringt sich in ihr der Sinn der Welt erst zur Bewußtheit durch.


III. Heterogenität und Homogenität

Wir haben unsere erste Aufgabe, die Wissenschaften von den Gegenständen her zu bestimmen, gelöst, soweit es in den Grenzen dieser kleinen Skizze möglich ist. Unsere zweite Aufgabe ist, zu zeigen, wie die allgemeinen Methoden durch die Gegenstände bedingt sind. Für dieses Ziel müssen wir vorher die Begriffe der Heterogenität und der Homogenität genauer analysieren.

Um eine kurze Terminologie für diesen und die folgenden Abschnitte zu gewinnen, knüpfen wir an einen Begriff der Logistik an. Nach der Logistik bestimmt jede Satzfunktion (7) eine Klasse oder Menge, d. h. die Gesamtheit der Werte, die sie bestätigen. Wir wollen die Klasse auch Umfang nennen. Umfang ist also die Menge der Subjekte, die durch eine Satzfunktion bestimmt wird. Unter Inhalt verstehen wir nun die Menge aller Prädikate, die von dem durch eine Satzfunktion festgesetzten Umfang gelten. Auch jeder  einzelne  Gegenstand, d. h. ein solcher, der nicht  durch Klassenbildung  entstanden ist, bildet einen Umfang, zu dem ein Inhalt gehört. Alle Prädikate, die einen Inhalt bilden, nennen wir die  Teile  dieses Inhalts. Ein Prädikat kann also gleichzeitig Inhalt und Inhaltsteil sein. Inhaltsteile sind auseinander ableitbar, sie stehen in einer notwendigen Verknüpfung - oder nicht. Im ersten Fall heißen sie gleichartige oder unechte Teile, im zweiten ungleichartige oder echte Teile. Temperatur und Größe eines Körpers sind unechte, Größe und spezifisches Gewicht sind echte Teile.

Wir wollen nun zunächst an zwei Beispielen die Merkmale der Heterogenität und der Homogenität aufweisen.

Als erstes Beispiel nehmen wir die sinnliche Wirklichkeit. Wenn wir sie heterogen nennen, so wollen wir damit zwei Momente hervorheben: erstens hat jeder ihrer Gegenstände einen  unübersehbaren  Inhalt, zweitens ist in jeder ihrer Gegenstände ein Umfang, zu dem ein  anderer  Inhalt gehört. Dieses letztere Merkmal beruth auf dem ersteren. Wäre der Inhalt jedes Gegenstandes nicht unübersehbar, dann wäre die Wahrscheinlichkeit größer, daß es absolut gleiche Gegenstände gibt. Der Heterogenität der sinnlichen Wirklichkeit ist nun aber eine Homogenität übergelagert. Wenn auch jeder Umfang einen anderen Inhalt besitzt, so haben diese Inhalte doch unechte Teile. Die Folge davon ist, daß man Gegenstände mit  gemeinsamen  Teilen findet, daß also doch auch eine gewisse Homogenität in der sinnlichen Wirklichkeit herrscht. Man stellt z. B. fest, daß  immer  dann, wenn man die Temperatur eines beliebigen Körpers um denselben Betrag wachsen läßt, auch die Größe des Körpers um einen bestimmten Betrag wächst. Alle diese Körper (Gegenstände) haben als gemeinsames Prädikat ihres Inhaltes also diesen Zusammenhang zwischen Größe und Temperatur.

An zweiter Stelle betrachten wir die Wirklichkeit der mathematischen Gegenstände. In ihr gibt es absolut gleiche Gegenstände (8), d. h. nicht  jeder  ihrer Gegenstände ist ein Umfang, zu dem ein  anderer  Inhalt gehört. Die mathematische Wirklichkeit kennt auch keine unübersehbaren Inhalte. Die Beschreibung, die die Mathematik von einem ihrer Gegenstände gibt, ist notwendig und hinreichend, um diesen Gegenstand mit all seinen Besonderheiten zu bestimmen. Daß in dieser Wirklichkeit Inhalte mit gemeinsamen Teilen bestehen, braucht wohl nicht eigens hervorgehoben zu werden.

Die beiden Merkmale der Übersehbarkeit (bzw. Unübersehbarkeit) und der Andersartigkeit bestimmen durch ihre verschiedenen Kombinationen die Typen der Heterogenität und der Homogenität.  Die Andersartigkeit hat rein formal zwei Grenzfälle: erstens den Fall, wo  keine  gemeinsamen Teile vorhanden sind, zweitens den Fall, wo  alle  Teile gemeinsam sind. Dazwischen liegen die möglichen anderen Fälle. Wir wollen nun nicht durch Kombination alle Typen ableiten, die rein formal möglich sind. Einige davon sind vom inhaltlichen Standpunkt aus in sich unmöglich. So der Fall, daß keine gemeinsamen Teile vorhanden sind; denn zumindest den einen Teil, daß sie Inhalte sind, haben alle Inhalte. Übrigens lassen sich auch die formal abgeleiteten Kombinationen nach anderen Gesichtspunkten noch unterteilen.

Als die wichtigsten Kombinationen sehen wir die folgenden vier an.

Eine Wirklichkeit besitzt  absolute Heterogenität,  wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem ein anderer und unübersehbarer Inhalt gehört, und die Inhalte gemeinsame Teile haben. Wie wir wissen, ist die sinnliche Wirklichkeit ein Beispiel für diesen Typus.

Eine Wirklichkeit besitzt  relative Heterogenität,  wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem ein anderer und unübersehbarer Inhalt gehört und die Inhalte gemeinsame Teile haben. Die Wirklichkeit der Werte hat u. a. diese Heterogenität.

Eine Wirklichkeit besitzt  absolute Homogenität,  wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem derselbe Inhalt gehört und dieser Inhalt ein Minimum ist. Ein Beispiel ist das nur homogene Medium (9).

Eine Wirklichkeit besitzt  relative Homogenität,  wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem nicht immer ein anderer und immer ein übersehbarer Inhalt gehört, und die Inhalte gemeinsame Teile haben. Wir haben bereits die Wirklichkeit der mathematischen Gegenstände als zu diesem Typus gehörig erkannt.

Schließlich bemerken wir noch, daß wenn eine Wirklichkeit lediglich einen einzigen Gegenstand besitzt, dieser Gegenstand von der Heterogenität nur das Merkmal der Übersehbarkeit (bzw. Unübersehbarkeit), und die Homogenität nur insofern haben kann, als man seine Inhaltsteile als Gegenstände ansieht.

Wir wollen nun an den drei Beispielen der Geschichtswissenschaft, der Naturwissenschaft und der Mathematik das Herauswachsen der besonderen Formen der  allgemeinen  Methoden aus dem Gegenstand studieren. Dabei verstehen wir unter allgemeiner Methode die Art des Erkenntnisstrebens, die durch das Ziele einer Wissenschaft oder durch das Verhältnis der Erkenntnisse zum Gegenstand charakterisiert ist.


IV. Die allgemeine Methode der
Geschichtswissenschaften

Gegenstand der Geschichtswissenschaften ist, wie wir wissen, das Original-Individuelle, d. h. der Ablauf des Geschehens, soweit er von Werten mitbestimmt ist. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit einer Anwendung der generalisierenden Methode in der Geschichtswissenschaft. Das ist ja gerade das begriffliche Merkmal des Irrationalen, daß man es nicht generalisierend fassen kann. Es gibt also keine allgemeinen historischen Erkenntnisse über den historischen Gegenstand. Da Gesetze auch allgemeine Erkenntnisse darstellen,  so gibt es auch keine historischen Gesetze. 

Gewiß ergeben sich durch das gleichmäßige  Verhalten  der Menschen gewisse Regelmäßigkeiten, gewisse Typen von Erscheinungen in der Geschichte. Das sind aber keine historischen Gesetze, sondern massenpsychologische Regelmäßigkeiten. Je mehr es sich um Massenvorgänge handelt, desto deutlicher heben sich solche Typen heraus, desto mehr tritt die Wirkung des Irrationalen zurück und das rein naturwissenschaftlich zu erfassende Geschehen in den Vordergrund. Am reinsten offenbart sich das Original-Individuelle in den Persönlichkeiten, und umso vollkommener, je höher die Persönlichkeit über das allgemein Menschliche hinauswächst. Die Geschichte ist ein wundersames Gewebe von Irrationalem und Rationalem, dessen Fäden ganz zu verfolgen menschlichen Augen für immer versagt bleibt. Aber begrifflich müssen die Dinge auseinandergehalten werden; historisches Geschehen ist nur das original-individuelle Geschehen.

Am häuigsten wird unter den typischen Erscheinungen der Geschichte der  Organismentyp  auftreten, d. h. das Aufblühen und Absterben eines Gebildes. Er ist ja der auffallendste Typ alles Lebendigen im naturwissenschaftlich zu erfassenden Geschehen und bestimmt dadurch auch bis zu einer gewissen Grenze den Ablauf des historischen Geschehens. Die ausschließliche Einstellung auf diesen Typ charakterisiert die Auffassung der Geschichtswissenschaft von SPENGLER (10). Er dehnt diesen Typ so weit aus, daß er erstens das Eintreten der Werte in die Wirklichkeit, das Irrationale, und zweitens sogar die Geltung der Werte mitumfaßt, und das ist der Grund, warum wir ihm hier einige Worte widmen müssen. Beides ist falsch, und nur von diesen  beiden  Gesichtspunkten aus läßt sich aus seinen Gedanken das Richtige herausschälen. Das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit ist nun einmal irrational. Freilich schafft das naturwissenschaftlich zu erfassende Geschehen Dispositionen und bildet dadurch mitunter Regelmäßigkeiten, aber nicht der Zeitpunkt des Eintretens, nicht der Umfang und Inhalt der Werte und darum auch nicht die Folgen lassen sich strukturgesetzlich ableiten. SPENGLER versucht dies auch gar nicht, sondern überträgt einfach einen in seinen Grenzen wohlgesicherten Typ auf  alles  Geschehen, und sieht nicht ein, daß diese Übertragung nur dann gerechtfertigt wäre, wenn er nachweisen könnte, daß auch das Irrationale  gesetzmäßig  zu verstehen ist. Daher finden sich in seinem Buch neben richtigen Charakterisierungen völlig falsche. Man denke z. B. bei seiner Behauptung vom Niedergang der abendländischen Wissenschaft an die Physik, die wohl niemals in so tiefgreifenden, fruchtbaren und folgenreichen Gedankenkreisen gestanden hat, wie sie heute die Relativitätstheore und die Forschungen über das Innere der Atome bilden. Diese ganze Auffassung wird aber erst möglich durch die zweite Verallgemeinerung, in der SPENGLER den Organismentyp auch auf die  Geltung  der Werte ausdehnt. Er sieht den eigenartigen Gegenstandescharakter der Werte nicht. Für ihn gibt es keine allgemeingültige, absolute Wahrheit (11). Er ist extremer Relativist und nur dadurch wird es ihm möglich, die Werte formell in den Gegenstandsbereich des naturwissenschaftlich zu erfassenden Ablaufs einzustellen und seinen Typen zu unterwerfen. hier muß man ansetzen, wenn man seine Theorie der Geschichtswissenschaft an ihrer tiefsten und zugleich wundesten Stelle angreifen will. Schwer wird die Überwindung nicht, wenn es auch sicher ist, daß das Feuerwerk der letzten Konsequenzen der Theorie noch lange blenden wird. Man könnte zeigen, wie der Satz "Es gibt keine ewigen Wahrheiten" sich selbst widerspricht; er mag richtig oder unrichtig sein, immer folgt daraus, daß es doch solche Wahrheiten gibt. Man frag sich voll Erstaunen, wie es SPENGLER möglich macht, einen Standpunkt  über  den Kulturen zu gewinnen. Seine Theorie ist ja  auch  ein Erzeugnis abendländischer Wissenschaft. Wenn nun alle Wahrheit und Wissenschaft nur für einen bestimmten Kulturkreis gilt, dann auch offenbar die seinige. Glänzender hat noch nie jemand in der Wissenschaft seine eigenen Gedanken selbst widerlegt, als SPENGLER es getan hat.

Wir halten also an der negativen Erkenntnis fest, daß die Geschichtswissenschaft keine Gesetzeswissenschaft sen kann. Wie erfaßt nun die Geschichte ihren Gegenstand, wenn sie es nicht generalisierend tut? Auch am original-individuellen Ablauf läßt sich vieles generalisierend betrachten. Aber das muß sie der Strukturwissenschaft überlassen. Was den Gegenstand zu  ihrem  Gegenstand macht, ist nicht dieses Allgemeine,  das der Gegenstand sogar mit Gegenständen gemeinsam haben kann, die überhaupt nichts Historisches besitzen,  sondern es ist das Besondere, das Individuelle, das, was ihn von den anderen unterscheidet, das, was wegen der Irrationalität eben gar nicht anders denn als Individuelles verstanden und erfaßt werden kann. Die Geschichtswissenschaft muß also, wenn sie  ihren  Gegenstand erfassen will, auch  abstrahieren,  nur nicht im Sinne der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft sieht vom Individuellen ab und behält das Allgemeine, die Geschichtswissenschaft sieht vom Allgemeinen ab und behält das Individuelle. Dort ist die  generalisierende Abstraktion hier die  individualisierende Abstraktion  die Methode. Aber wohlverstanden: nicht bei  allem  individuellen Geschehen macht die Geschichtswissenschaft das so, sondern nur beim original-individuellen.

Die Wirklichkeit des Original-Individuellen besitzt absolute Heterogenität. Die vollständige Darstellung dieser Wirklichkeit ist für die Geschichtswissenschaft deshalb unmöglich. Gibt es aber hier keine Scheidung in Wesentliches und Unwesentliches? Ohne Zweifel kann man sie machen. Wenn ich in diesem Augenblick vom Schreibtisch aufstehen und zufällig sehen würde, daß ein Buch meiner Bibliothek nicht an seinem richtigen Platz ist und dadurch späteres Suchen erschwert wird, so würde ich es richtig einstellen. Dieses Geschehen wäre ein historisches Geschehen, aber es wäre der Geschichtswissenschaft höchst gleichgültig.  Wie  trennt nun die Geschichtswissenschaft das Wesentliche vom Unwesentlichen? Hier hilft im Grunde dasselbe Moment, das ihr Gegenstandsgebiet überhaupt herstellt, das Irrationale. Das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit stellt etwas Neues in die Naturwelt hinein, es schafft langsam Gebilde, die ohne es nicht da wären, es macht eben, daß das historische Geschehen  auch  von Werten gelenkt wird. Es ist die Ursache, daß wir nicht nur Natur, sondern auch Kultur haben. Historisch wesentlich nennt die Geschichtswissenschaft nun das, was nicht für ein Individuum, sondern für mehr oder weniger große Gemeinsamkeiten von Menschen bedeutsam ist, mit anderen Worten, was eine Beziehung auf Kulturgüter hat.

Die allgemeine Methode der Geschichtswissenschaft ist also  zweifach.  Das Irrationale zwingt sie zur  individualisierenden Abstraktion,  zum Abheben des Individuellen vom strukturgesetzlich nicht ganz erfaßbaren Ablauf; die absolute Heterogenität zwingt sie zur  isolierenden Abstraktion,  zum Scheiden des historisch Wesentlichen vom Unwesentlichen. Die individualisierende Methode der historischen Wissenschaften ist  nicht  das genaue Gegenstück zur generalisierenden der Strukturwissenschaften. Denn während die generalisierende Methode schon dort, wo es nötig ist, die Heterogenität überwindet und das Wesentliche heraushebt, tut die individualisierende Methode das nicht, und zwar aus dem einfachen Grund nicht, weil das Individuelle eben der Ausdruck der Heterogenität ist. Sie muß deshalb eine Ergänzung durch eine andere Methode, die isolierende, bekommen, die das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt. Es ist also nicht der Begriff der Kultur, der das historische Geschehen charakterisiert und der die individualisierende Abstraktion nötig und möglich macht, sondern das alles schafft das Irratione. Aber in der vom Irrationalen bestimmten historischen Wirklichkeit hilft der Kulturbegriff die absolute Heterogenität überwinden, macht also die Geschichtswissenschaft als Wissenschaft möglich. Weil nun aber das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit die Kultur hervorbringt, beruth letzten Endes auch diese Möglichkeit auf dem Dasein des Irrationalen. So sind beide Methoden vom Gegenstand her bestimmt, und auch von diesem Standpunkt aus wird das logische Wesen der Geschichtswissenschaft richtig bezeichnet, wenn man sie Kulturwissenschaften nennt.

Noch ein Wort über die besondere Form, die die individuaisierende Methode annimmt. Weil die Geschichtswissenschaft es mit dem original-individuellen Ablauf des Geschehens zu tun hat, die Induktion aber das bleibende Homogene erfassen will, so kennt die Geschichtswissenschaft eine Induktion im eigentliche Sinn nicht. Es gibt also empirische Wissenschaft ohne Induktion. Weil nun aber die Vergangenheit vom Historiker nur in einem winzigen Ausmaß unmittelbar erlebt wird, so kann die Geschichtswissenschaft zu ihr nur in den Zeugnissen der Vergangenheit in Beziehung treten: sie  muß  als individualisierende Wissenschaft  Zeugniswissenschaft  sein.

Somit haben wir den RICKERTschen Gegensatz "Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft"  erweitert  in den Gegensatz  "Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft",  und zwar in zwingender Folgerichtigkeit aus dem Versuch heraus, die Wissenschaften vom Gegenstand her zu bestimmen. Mir scheint zunächst, daß Struktur ganz gut das ausdrückt, was hier im Gegensatz zur Kultur gemeint ist und was Natur im engeren Rahmen bezeichnet.  Struktur  bedeutet zunächst das Ungemachte, Selbstgewachsene, das natürlich Seiende im Gegensatz zum Gepflegten, Geschaffenen der Kultur. Man spricht kaum von der Struktur einer Statue, wohl aber von der Struktur des Marmors. Und wenn das Wort einmal von Kulturdingen gebraucht wird, da meint es in der Regel Strukturwissenschaftliches, das ja mit allen Kulturdingen verknüpft ist.  Struktur  bezeichnet zweitens das Ruhende, das zeitlos Seiende im Gegensatz zum zeitlich Ablaufenden der Kulturerscheinungen. Das Begriffspaar  Struktur - Kultur  behält hier auch dieselbe Aufgabe wie das RICKERTsche Paar. Der Begriff "Kultur" ist auch hier das, was die Geschichtswissenschaft als Wissenschaft begründet, indem es die Heterogenität ihres Gegenstandsbereichs überwinden hilft.  Natur  ist bei RICKERT mit Gesetz untrennbar verbunden: Wo Natur, da Gesetz. Weil nun das Gesetz als Erfassung des Homogenen die Heterogenität des sinnlichen Gegenstandsbereiches überwindet und so die Naturwissenschaft als Wissenschaft möglich macht, ist die Gegenüberstellung  Natur - Kultur  gestattet. Damit weist aber dieser Gegensatz schon über sich selbst hinaus. Denn in  allen  Gegenstandsgebieten mit Ausnahme des historischen gibt es Gesetze. Wo Struktur ist, das ist Gesetz, und, so können  wir  hinzufügen, wo Gesetz ist, da ist Struktur. Der Gegensatz  Struktur - Kultur  hat demnach denselben logischen Typus wie der engere RICKERTsche Gegensatz  Natur - Kultur,  und somit bietet sich der Strukturbegriff als eine selbstverständlich verblaßte, aber doch treffende Erweiterung des Naturbegriffs zum Gebrauch in der Wissenschaftstheorie an.


V. Die allgemeine Methode
der Naturwissenschaft

Wir haben schon angedeutet, daß die allgemeine Methode der Naturwissenschaft (die das ausdrückt, was den Methoden der Strukturwissenschaft gemeinsam ist) generalisierend ist und auf dem Dasein von Homogenem beruth. Die generalisierende Methode nimmt nun in der Naturwissenschaft die besondere Form der  Induktion  an. Wir dürfen aber, um das richtig zu verstehen, eine wichtige Unterscheidung nicht aus den Augen lassen. Die Generalisationen der Naturwissenschaft werden  erreicht  nicht nur auf dem Weg der Induktion, sondern auch durch Deduktion, Vergleich, Analogie, Intuition usw. Aber  gerechtfertigt  werden sie ausschließlich durch die Induktion. Die auf irgendeine Weise gefundene Bestätigung in der Erfahrung ist der einzige legitime Weg, auf dem letzten Endes die Geltung der naturwissenschaftlichen Generalisationen erwiesen wird.

Wir zerlegen unsere Ableitung der Induktion aus dem Gegenstandscharakter der sinnlichen Wirklichkeit in zwei Teile. An erster Stelle zeigen wir, wie sich aus der Struktur dieser Wirklichkeit die sogenannte Inhalt-Umfang-Relation (I-U-R) ergibt, an zweiter Stelle, wie die I-U-R eine notwendige Bedingung der Induktion ist. Der Zusammenhang, den wir hier beschreiben, ist von ZILSEL (12) aufgewiesen worden. Wir ändern seine Darstellung ein wenig ab.

Man kann mehrere oder alle Gegenstände derselben Art zu einer Klasse zusammenfassen und nennt sie dann Glieder einer Klasse. Im ersten Fall sprechen wir von  immanenter  Klassenbildung und interessieren uns im folgenden nur für sie. Jede Klasse kann wieder als  ein  Gegenstand mit  einem  Inhalt betrachtet werden. Es ist nur von vornherein nicht klar, was wir unter dem Inhalt einer Klasse verstehen sollen. An und für sich kann man zweierlei damit meinen: entweder faßt man  alle  Inhaltsteile der Glieder zusammen oder nur diejenigen, die den Gliedern gemeinsam sind. Das erstere ist aber wegen der Heterogenität der sinnlichen Wirklichkeit ausgeschlossen. So bleibt das zweite allein übrig. Um seine Rechtmäßigkeit einzusehen, braucht man nur zu überlegen, daß die gemeinsamen Inhaltsteile der Glieder zusammen oder nur diejenigen, die den Gliedern gemeinsam sind. Das erstere ist aber wegen der Heterogenität der sinnlichen Wirklichkeit ausgeschlossen. So bleibt das zweite allein übrig. Um seine Rechtmäßigkeit einzusehen, braucht man nur zu überlegen, daß die gemeinsamen Inhaltsteile der Glieder ja  alle  Teile sind, die die Klasse als  ein  Gegenstand besitzt.

Wir fragen uns nun, wie sich Inhalt und Umfang bei immanenter Klassenbildung zueinander verhalten.

Wenn ich zu einem einzelnen Gegenstand  I1 U1  einen zweiten  I2 U2  hinzufüge, so entsteht eine Klasse  (I1 U1 I2 U2 als neuer Gegenstand, dessen Umfang man mit  U1 + U2 dessen Inhalt man aber, weil er nur die  gemeinsamen Teile faßt, mit I1 I2  bezeichnen kann.

Ist, wenn wir unser Augenmerk auf die  Anzahl  der Inhaltsteile richten  I1 I2  größer, gleich oder kleiner als  I1

Es kann nicht größer sein. Denn selbst wenn  I2  größer als  I1  ist, so kann doch, weil  I1 I2  ja die  gemeinsamen  Teile bedeutet,  I1 I2  höchstens gleich  I1  sein.

I1 I2  kann aber auch nicht gleich  I1  sein. Ein Merkmal der Heterogenität ist ja die Andersartigkeit, die besagt, daß jeder Inhalt auch Teile hat, die andere Inhalte nicht haben.  I1  hat also auch andere Teile als  I2 Da nun  I1 I2  die gemeinsamen Teile bedeutet, kann es nicht gleich  I1  sein, sondern muß kleiner sein als  I1

Fügen wir nun zu  (I1 U1 I2 U2 einen weiteren Gegenstand  I3 U3  hinzu, so können wir diese Betrachtung mit dem gleichen Ergebnis wiederholen. Das Ergebnis hat also allgemeine Geltung. Gehen wir umgekehrt von der Klasse aus und lassen Glieder weg, so nimmt der Inhalt ab. es ergibt sich also schließlich die  I-U-R:  Mit wachsendem Umfang nimmt der Inhalt ab und umgekehrt.

Betrifft die Inhaltsabnahme nun alle Teile in der gleichen Weise? Sie tut das nicht. Denn da es in der sinnlichen Wirklichkeit auch unechte Teile gibt, die bei Gegenständen derselben Art zahlreiche gemeinsame Teile erzeugen, so werden offensichtlich die echten Teile in erster Linie von der Inhaltsabnahme betroffen. Was nun aber hier die der Heterogenität überlagerte Homogenität tut, das kann ich bei immanenter Klassenbildung mit Absicht bei echten Teilen tun, nämlich einen echten Teil so festhalten, daß die Inhaltsabnahme ihn nicht betrifft. Wenn ich z. B. eine elastische Kugel oft unter einem Winkel von 30° gegen eine feste Wand stoßen lasse, dann habe ich unter den unendlich vielen Gegenständen "Stoß der elastischen Kugel gegen die feste Wand" diejenigen wirklich erzeugt, die den echten Inhaltsteil "unter einem Winkel von 30°" besitzen. Anstatt zu sagen, daß man einen Inhaltsteil festhält, kann man also auch sagen, man wählt aus einer Klasse Individuen unter einem bestimmten Gesichtspunkt aus, und diesen Gesichtspunkt liefert eben der festgehaltene Inhaltsteil.

Um nun zu sehen, wie die Induktion auf der  I-U-R  beruth, nehmen wir das Beispiel von vorhin. Ich lasse eine elastische Kugel beliebig oft gegen eine feste Wand stoßen und wähle dann unter all den Gegenständen dieser Klasse diejenigen mit dem echten Inhaltsteil "unter einem Winkel von 30°" aus. Dann wird sich zeigen, daß bei den ausgewählten Gegenständen  stets  außer diesem Teil noch ein weiterer Teil konstant geblieben ist, nämlich das "Abprallen unter einem Winkel von 30°". Es treten also konstante Verknüpfungen von Inhaltsteilen auf. Weil nun nach der  I-U-R  die echten Teile in erster Linie von der Inhaltsabnahme betroffen werden, so müssen wir schließen, daß der festgehaltene Teil gar kein echter Teil ist, sondern mit dem anderen notwendig verknüpft ist. Wir schließen demnach aufgrund der  I-U-R  von der Konstanz einer Verknüpfung auf die Notwendigkeit, und das ist der Typus jedes Induktionsschlusses. Wende ich die  I-U-R  noch öfter auf die genannte Gegenstandsklasse an, so ergibt das schließlich den allgemeinen Satz, daß das Abprallen stets unter demselben Winkel wie das Aufprallen geschieht. Wir sehen, daß  jede Induktion ein System von immanenten Klassenbildungen mit festgehaltenen Inhaltsteilen enthält. 

Sicher ist also nach dieser Analyse, daß jede Induktion auf der  I-U-R  beruth; es fragt sich nur, ob sie darauf beruhen  muß,  ob also die  I-U-R  eine  notwendige  Bedingung der Induktion ist. Wir wollen einmal annehmen, die  I-U-R  gilt nicht. Was würde die Folge sein? Dann müßten außer den notwendigen Verknüpfungen noch andere auftreten, die zufällig sind, und es wäre uns unmöglich, die zufälligen von den notwendigen zu unterscheiden. Wenn ich, um bei dem genannten Beispiel zu bleiben, die Kugel unter einem Winkel von 30° mit verschiedenen Geschwindigkeiten  V1, V2, V3 ... Vn  aufprallen ließe, so würde sich etwa ergeben, daß das Abprallen stets unter einem Winkel von 30° mit der gleichen Geschwindigkeit  V3  erfolgt, so daß also dann der eine festgehaltene Inhaltsteil "Stoß unter 30°" mit den  beiden  Inhaltsteilen "Abprall unter 30° und "Abprall mit der Geschwindigkeit  V3 verknüpft erschiene. Die Induktion wäre in diesem Fall ausgeschlossen. Daraus folgt, daß die Induktion die I-U-R notwendig voraussetzt. Da nun aber die I-U-R, wie wir sahen, nur bei einer bestimmten Struktur der sinnlichen Wirklichkeit vorhanden ist, so ergibt sich, daß die Induktion bei dieser und nur bei dieser Struktur einer Wirklichkeit möglich ist, daß sie die Methode ist, die diese Struktur sich aus allen Methoden auswält.

Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich noch betonen, daß die I-U-R durchaus nicht die  einzige  Bedingung der Induktion ist. Sie hilft die konstanten Verknüpfungen finden. Der Schluß von der Konstanz auf die Notwendigkeit aber muß eigens logisch gerechtfertigt werden. Das geht nun über die Grenze hinaus, die wir uns gezogen haben. Es genügt für unsere Aufgabe, wenn wir erkannt haben, daß die I-U-R eine  notwendige  Bedingung der Induktion ist.


VI. Die allgemeine Methode der Mathematik

Auch die Mathematik generalisiert (aber ohne Abstraktion). Diese Behauptung mag auf den ersten Blick Verwunderung erregen und Widerspruch wachrufen. Bei genauerem Zusehen erweist sie sich aber als richtig. Die Mathematik generalisiert schon, wenn sie Buchstaben für Zahlen setzt. Sie faßt die Gleichungen der verschiedenen Kegelschnitte in der allgemeinen Kegelschnittsgleichung zusammen. Sie begnügt sich nicht damit, beliebige Primzahlen rechnerisch zu erhalten, sondern sucht allgemenie Gesetze der Verteilung der Primzahlen. Sie stellt allgemeine Sätze über die Wurzeln von Gleichungen auf. Sie versucht ganze Gebiete einheitlich zu verstehen, z. B. vom Gruppenbegriff aus die euklidische Geometrie oder die Gleichungen in GALOIS' Theorie. Kurz, sie forscht immer nach allgemeinen Standpunkten, die das Besondere einschließen und von wo aus es sich infolgedessen erfassen läßt.

Auch zu den mathematischen Generalisationen  führen  die verschiedensten Methoden: Induktion, Deduktion, Analogie, der Instinkt, den jeder echte Forscher hat. Aber die einzige Methode, durch die die mathematischen Generalisationen  bewiesen  werden, ist die  Deduktion. 

Wir führen nun den Beweis dafür, daß die Generalisation vom Gegenstand der Mathematik gefordert wird, und zwar in der eigenartigen Form, in der sie hier auftritt, auf indirektem Weg. Wir werden erstens sehen, daß die Struktur des mathematischen Gegenstandsbereichs die Induktion ausschließt. Die Deduktion bleibt also als einziges legitimes Beweismittel übrig; die Deduktion führt aber zur Generalisation oder setzt sie voraus. Wir werden zweitens erkennen, wie der absolut sichere Charakter der mathematischen Deduktion gleichfalls auf jener Struktur beruth.

Die Struktur des Wirklichkeitsbereiches der mathematischen Gegenstände ist so, daß in ihm die Andersartigkeit zum Teil, die Unübersehbarkeit ganz geschwunden ist. Nehmen wir zunächst den Fall, daß zwei absolut gleiche Gegenstände u einer Klasse vereinigt werden, so ist offenbar der  ganze  Inhalt jedes Gegenstandes der gemeinsame Inhalt. Er bleibt konstant, so viele von den absolut gleichen Gegenständen wir auch hinzunehmen. Hier gilt also jedenfalls die I-U-R nicht.

Fassen wir nun zwei mathematische Gegenstände mit verschiedenem Inhalt zusammen, z. B. die Zahlen  5  und  7  oder zwei Ellipsen, so tritt  im allgemeinen  gleich mit diesem Schritt der Klassenbildung schon die Konstanz des Inhaltes ein; der Inhalt ist jetzt, weil er nicht unübersehbar ist, bereits zusammengeschrumpft auf das, was  allen  Gliedern der Klasse gemeinsam ist. Es kann natürlich durch Zufall vorkommen, daß die Konstanz noch nicht gleich beim ersten Schritt vorhanden ist, wenn ich z. B. zwei Ellipsen nehme, deren kleine Achsen gleich sind. Aber solche Zufälligkeiten müssen außer Betracht bleiben. Die I-U-R verlangt einen bei jeder Umfangszunahme abnehmenden Inhalt. Sie gilt also auch im vorliegenden Fall nicht.

Das Nichtbestehen der I-U-R im mathematischen Gegenstandsgebiet läßt sich auch indirekt beweisen. Wir hörten im vorigen Abschnitt, daß, wenn die I-U-R nicht gilt, zufällige Konstanzen auftreten müssen und wir außerstande sind, zufällige von notwendigen zu unterscheiden. Dieser Zustand liegt nun tatsächlich auf mathematischem Gebiet vor. Daß z. B. der Ausdruck x2 + x + 41 eine Primzahl ist, ist eine für alle Fälle zufällig auftretende Verknüpfung; sie ist aber nicht notwendig, denn für  x = 40  ist sie z. B. falsch. Ob ferner der Satz, daß jede gerade Zahl sich als die Summe zweier Primzahlen darstellen läßt, notwendig gilt oder nur zufällig für die bis jetzt untersuchen geraden Zahlen, wissen wir nicht.

Wir sehen also, daß die I-U-R im Bereich der mathematischen Gegenstände nicht besteht.  Weil sie aber eine notwendige Bedingung der Induktion ist, kennt die Mathematik auch keine Induktion.  Wir wollen nur einen Augenblick darauf aufmerksam machen, daß die Mathematik die I-U-R sozusagen in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn nämlich ihre Generalisationen Aussagen über Relationen zwischen homogen-quantitativen Gegenständen sind, so enthalten diese Aussagen nicht die  gemeinsamen  Inhaltsteile der Gegenstände, sondern  alle  Inhaltsteile. Die Ellipsengleichung enthält  alle  Besonderheiten aller Ellipsen, die Kegelschnittsgleichung  alle  Besonderheiten aller Kegelschnitte, die Gleichung der Flächen zweiter Ordnung alle Besonderheiten aller Flächen zweiter Ordnung usw.

Man könnte unseren Beweis dafür, daß die Deduktion von der Struktur des mathematischen Gegenstandsbereiches gefordert wird, deshalb noch nicht für geschlossen halten, weil doch die sogenannte  vollständige  Induktion in der Mathematik möglich ist. Hier muß man unterscheiden. Wenn man mit WINDELBAND (13) den Schluß vom universalen auf das generelle Urteil als vollständige Induktion bezeichnet, so ist, wie WINDELBAND selbst bemerkt, kein Unterschied von der eigentlichen Induktion vorhanden. Jener Schluß ist aber in der Mathematik unmöglich. Denn in ihr ist jedes universale Urteil zugleich ein generelles, weil alle möglichen, d. h. widerspruchsfreien Gegenstände des mathematischen Bereichs wirklich sind. In allen anderen Fällen ist die sogenannte vollständige Induktion überhaupt keine Induktion.

Es bleibt noch ein Wort über den absolut sicheren Charakter der mathematischen Deduktion. Worauf er beruth, können wir auf indirekte Weise folgendermaßen finden. Wir suchen die Wissenschaften, die die gleiche Gewißheit wie die Mathematik ergeben, und lesen dann die Übereinstimmungen zwischen ihren Gegenständen ab. Es gibt nun nur eine einzige Wissenschaft von derselben Gewißheit, die Relationstheorie; die mathematische Naturwissenschaft kommt nicht in Betracht, weil sie ihre Gewißheit ja nur von der Mathematik hat. Mathematik und Relationstheorie stimmen nun darin überein und unterscheiden sich dadurch von allen anderen Wissenschaften, daß sie sich mit  homogenen  Gegenständen beschäftigen. Auf der Homogenität ihres Gegenstandsbereiches beruth also die Gewißheit der Mathematik (14).


VII. Allgemeine Resultate

Da es sich in den vorstehenden Ausführungen zum Teil um einen ersten Versuch handelt, in das Wesen gewisser Zusammenhänge einzudringen, und ich die großen Linien nicht durch vieles Beiwerk überdecken mochte, habe ich möglichste Kürze angestrebt. Dadurch sind vielleicht mehr Probleme aufgegeben als gelöst worden. Trotzdem sind wir in der Lage, auch etwas Allgemenes über unser Hauptproblem des Verhältnisses von Gegenstand und Methode abzuheben.

Dieses Verhältnis stellt sich etwa so dar. Der  allgemeine  Charakter der Methode einer Wissenschaft hängt davon ab, ob  für sie  die Gegenstände ihres Bereiches nur heterogen oder auch homogen sind. Besitzt das Gegenstandsgebiet einer Wissenschaft auch Homogenität, die nicht ausschließlich von der Gegenstandstheorie erfaßt wird, so ist die Generalisation möglich und nötig. Weil das in den Gegenstandsgebieten der Strukturwissenschaften der Fall ist, läßt sich ihre Methode allgemein als generalisieren (nicht immer durch Abstraktion) charakterisieren. Daß die historischen Wissenschaften trotz der homogenen Bestandteile ihres Gegenstandsgebietes nicht generalisieren, liegt daran, daß diese homogenen Teile von der Naturwissenschaft und der Gegenstandstheorie schon erfaßt werden. Der  besondere  Charakter, den die generalisierende Methode einer Wissenschaft annimmt, ist durch das Maß bestimmt, in dem das Heterogene vom Homogenen durchherrscht wird.

Wir lassen die Frage offen, ob das Begriffspar heterogen-homogen ausreicht, um auf  allen  Gegenstandsgebieten den Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methode aufzuweisen. Noch zwei Bemerkungen zum Schluß.

Zunächst läßt die Abhängigkeit der Methode vom Gegenstand der  Persönlichkeit des Forschers  einen großen Spielraum. Der Gegenstand eines Gebietes verlangt nur eine bestimmte allgemeine Methode der  Rechtfertigung.  Wie diese Methode im einzelnen Fall gehandhabt und ausgebaut wird, ist Sache des Forschers. Ein Vergleich kann das verdeutlichen: wenn jemand sich einen Anzug aussucht, so verlangt seine Gestalt einen zu ihr passenden Anzug; aber der Stoff, die Farbe, der Schnitt usw. können beliebig ausgewählt werden. Fast  ganz  Sache des Forschers ist die Art und Weise, wie er die Wahrheiten seiner Wissenschaften  findet;  dabei kommt es übrigens weniger auf die Methode, sondern mehr auf die Problemstellung an.

Nachdem ich schon in den einleitenden Worten angedeutet habe, daß unsere Überlegungen zwar ihre Wurzel in RICKERTschen Gedankenkreisen haben, aber nicht nur über sie hinauswachsen, sondern sie auch manchmal durchbrechen, möchte ich endlich, um Mißverständnisse bei solchen, die die RICKERTschen Gedanken noch immer nicht verstehen können, auszuschließen, die hauptsächlichsten Gegensätze zu RICKERT - und  nur  diese - noch kurz zusammenstellen.
    1. Nach RICKERT können zwei Wissenschaften denselben Gegenstand haben und sich nur durch ihre Methode unterscheiden; das ist für ihn z. B. der Fall bei Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Ich bin der Ansicht, daß jede Wissenschaft einen ihr und nur ihr eigentümlichen Gegenstand besitzt und daß von diesem Gegenstand her die allgemeine Methode der Wissenschaft und ihre besondere Form bestimmt sind. Nur von diesem Standpunkt aus ist die Verschiedenheit der Methoden zu verstehen und zu begründen, wie ich praktisch an drei Beispielen gezeigt habe. Wir sehen also bei RICKERT eine Überschätzung der Methode und eine Unterschätzung des Gegenstandes, die vermutlich mit seiner Erkenntnistheorie zusammenhängen.

    2. Als Gegenstand der Geschichtswissenschaft haben wir aus dem Gegenstandssystem abgeleitet den original-individuellen Ablauf des sinnlichen Geschehens, während RICKERT ihn in der sinnlichen Wirklichkeit selbst erblickt. Für uns ergibt sich so ohne weiteres, daß nur Menschheitsgeschichte Geschichte ist, und manche der von RICKERT sogenannte Mischformen unter den Wissenschaften, wie z. B. die Biologie, machen uns keine Schwierigkeit mehr.

    3. RICKERT stellt die generalisierende Abstraktion als Methode der Naturwissenschaft und die individualisierende Abstraktion als Methode der Geschichtswissenschaft in eine genaue Parallele. Aber dieser Parallelismus besteht nicht. Denn die individualisierende Methode leistet nicht all das auf ihrem Gegenstandsgebiet, was die generalisierende auf dem ihren leistet, sondern nur einen Teil davon. Den anderen Teil - die Überwindung der Heterogenität des Gebietes - übernimmt bei der Geschichtswissenschaft die isolierende Abstraktion. -
Alle unsere Überlegungen bewegen sich außerhalb der erkenntnistheoretischen Sphäre. Wie sie sich in das Transzendentalproblem einfügen, mag eine später Arbeit zeigen.
LITERATUR - Aloys Müller, Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft, Kant-Studien, Bd. 27, Leipzig 1922
    Anmerkungen
    1) Über den phänomenologischen Standpunkt der Naturwissenschaft vgl. mein Buch "Die philosophischen Probleme der Einsteinschen Relativitätstheorie", erster Abschnitt.
    2) Die relative Irrationalität deckt sich  hier,  wo wir nur von der Naturwissenschaft sprechen, mit der RICKERTschen Irrationalität, die in der extensiven und intensiven Unübersehbarkeit liegt. Man kann den Begriff selbstverständlich auch auf andere Gegenstandesgebiete ausdehnen. Alles, was man gewöhnlich irrational nennt, ist nur relativ irrational. Nicht als ob wir das jemals ganz erkennen würden. Ein unerkannter Rest bleibt uns Menschen immer; insofern ist es unerkennbar. Aber wir erhalten immer neue Erkenntnisse darüber.  Unsere  Erkenntnis des relativ Irrationalen verhält sich zur vollen Erkenntnis wie die Asymptote zur Kurve; sie nähert sich ihr, ohne sie jemals zu erreichen.  Unsere  Erkenntnis des absoluten Irrationalen verhält sich zur vollen Erkenntnis wie eine Parallele zur Achse; sie besitzt von ihr stets denselben Abstand.
    3) Vgl. darüber meine Schrift "Wahrheit und Wirklichkeit", 1913, Seite 56f. Damals hatte ich den Wertbegriff noch nicht in seiner vollen Reinheit erfaßt.
    4) FRITZ NEEFF, Kausalität und Originalität, 1918
    5) E. TROELTSCH, Gesammelte Schriften II, 1913, Seite 720
    6) H. RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1913, Seite 224
    7) Vgl. COUTURAT in der "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", Bd. 1, 1912, Seite 150.
    8) Vgl. dazu H. RICKERT, Das Eine, die Einheit und die Eins, Logos, Bd. 2, Tübingen 1911/12, Seite 26 und meine Schrift "Der Gegenstand der Mathematik mit besonderer Beziehung auf die Relativitätstheorie".
    9) Siehe RICKERT, Das Eine usw. a. a. O.
    10) OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, Bd. I, 1920
    11) SPENGLER, a. a. O., Seite 34, 58, 65.
    12) EDGAR ZILSEL, Das Anwendungsproblem, 1916
    13) WINDELBAND in der "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", Bd. 1, 1912, Seite 40
    14) Eingehenderes über die Probleme dieses Abschnittes und vor allem über ihre gegenstandstheoretische Grundlage in meiner im III. Abschnitt zitierten Schrift über den Gegenstand der Mathematik.